Zur Digitalisierung der (juristischen) Bildung – ein Revolutionsaufruf

RA Dr. iur. Julian B. Hageböke, B. Sc. (Univ. Passau)*

„Nichts ist so geeignet, unser Denken nach allen Richtungen mit einem Schlage von den beengenden Fesseln der Schablonen zu befreien, wie eine revolutionäre Periode.“

(Rosa Luxemburg1)

A. Einleitung

Hinter mir liegt das Erste Juristische Staatsexamen, ein Bachelorstudiengang in Business Administration & Economics, eine Promotion im Fachbereich Rechtswissenschaften und das Zweite Juristische Staatsexamen. In den letzten knapp neun Jahren habe ich somit einen guten Einblick in unser juristisches Bildungssystem erlangt, das ich zudem mit einem Bachelorstudiengang vergleichen kann.

Seit der Examensvorbereitung auf das Erste Juristische Staatsexamen stellt sich mir immer wieder die Frage, ob das System der juristischen Lehre noch zeitgemäß ist. Trotz dessen ich in beiden Staatsexamina überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen konnte, komme ich zum Ergebnis, dass das System veraltet ist, abgeschafft und von Grund auf erneuert werden muss.

Die Überschrift ruft zur (freilich friedlichen) Revolution auf. Eine Reform reicht nicht aus, weil ihr Denkverbote immanent sind; schließlich wird bei dieser am bestehenden System nichts geändert, sondern es werden lediglich Anpassungen getroffen. Das ist in den meisten Fällen ausreichend, weil bestehende Systeme in aller Regel durchdacht, ausgereift und bewährt sind. Das gilt für die juristische Ausbildung aber schon lange nicht mehr. Lassen Sie uns die (juristische) Bildung deshalb auf Grundlage eines weißen Blatt Papiers neu denken.

Die derzeitigen Überlegungen, etwa einen verbindlichen Bachelor of Laws in das Studium zu integrieren, das Examen am Computer schreiben zu lassen oder den Schwerpunkt abzuschaffen, reichen bei Weitem nicht aus. Es werden hierdurch lediglich Symptome und nicht das eigentlich krankhafte System bekämpft.

B. Probleme der Lehre an Universitäten (und Schulen)

„Der Bildungsföderalismus muss weg!“

Diese Auffassung wird bezogen auf die schulische Bildung keineswegs mehr nur von zentralistischen Hardlinern vertreten. So sprachen sich im ifo Bildungsbarometer 2020 fast 90 Prozent der Befragten für einheitliche Lehrpläne in der gymnasialen Oberstufe und für gleichlautende Abiturprüfungen aus. 60 Prozent befürworteten sogar den Vorschlag, dass bildungspolitische Entscheidungen grundsätzlich vom Bund getroffen werden.2

In Anbetracht dieser Stimmungslage überrascht es umso mehr, dass die Schwächen der Bildungs-Kleinstaaterei in der juristischen Ausbildung bisher nur Wenige zu öffentlicher Empörung getrieben haben. So sind doch die Probleme, die das Nebeneinander von 15 (im Ersten Juristischen Staatsexamen) bzw. 13 (im Zweiten Juristischen Staatsexamen) Justizprüfungsämtern3 verursachen, keineswegs geringer als jene, die die Kultusminister und ihre Ministerien hervorrufen. Das fängt schon beim Wechsel des Studienorts an und hört gewiss nicht beim unterschiedlichen Ansehen der Staatsexamina auf. Beste Grüße bei dieser Gelegenheit von einem in Bayern (Erst-)Examinierten an die – so behaupten manche verallgemeinernd – zweit- bis drittklassigen juristischen Nordlichter.

Spätestens diese Aussage sollte nun auch dem letzten Bildungsföderalismus-Fanatiker aufstoßen. Im Kampf um die beste Bildung konkurrieren nicht die Universität Freiburg mit der Universität Heidelberg und auch nicht Bayern mit Schleswig-Holstein, sondern Deutschland mit Estland4 und dem Rest der Welt. Das beste innerdeutsche System muss


*Der Autor Hageböke ist Rechtsanwalt am Hamburger Standort der Kanzlei BRL Boege Rohde Luebbehuesen und zudem Lehrbeauftragter der Bucerius Law School. Ein herzlicher Dank gilt meinem Kollegen Herrn Stud. iur. Nikolaos Massuras (Bucerius Law School) für seine hilfreiche Unterstützung.

1 Je nach politischer Ideologie ist ihr nicht in allen Äußerungen – vielleicht sogar nur in dieser – zuzustimmen.

2 https://tinyurl.com/55f57f9r, Abruf am 03.12.2022.

3 https://de.wikipedia.org/wiki/Landesjustizprüfungsamt, Abruf am 03.12.2022.

4 https://tinyurl.com/4p98mntc, Abruf am 03.12.2022.

Hageböke, Zur Digitalisierung der (juristischen) Bildung – ein Revolutionsaufruf2

für ganz Deutschland gelten und dann punktuell angepasst werden.

Viel eklatanter aber ist die Ineffizienz unseres gegenwärtigen Systems. Andreas Schleicher, OECD-Bildungskoordinator, zeigte anhand der Pisa-Studie auf, dass nicht die Bildungsausgaben für eine gute Bildung entscheidend sind, sondern vielmehr, wie man das Geld ausgibt. Das ist – außer für unsere Bildungspolitiker – eine Binsenweisheit! Schauen Sie vergleichend in die Fußballwelt: Manchester City ist der einzige Verein, dessen Kader über eine Milliarde Euro wert ist5 und sie haben trotzdem noch nie die Champions League gewonnen.

Die Ineffizienz besteht in zweifacher Hinsicht: zum einen in der Wissensvermittlung und zum anderen im Einsatz des Lehrpersonals. So gibt es etwa 850 ordentliche Professoren6 an über 40 juristischen Fakultäten in Deutschland.7 An allen juristischen Fakultäten heißt es dann im Herbst (und teilweise auch im Frühling) ganz nach dem Klassiker Dinner for One: „Same procedure as every year.“

Trotz manch lokaler Unterschiede unterrichten an nahezu jeder juristischen Fakultät ein Professor die Erstsemester im Allgemeinen Teil des BGB, ein weiterer im Verfassungsrecht und mancherorts ein anderer im Allgemeinen Teil des Strafrechts. Im zweiten, dritten und den weiteren Semestern geht es ähnlich weiter.8 Ich verrate vermutlich kein Geheimnis, dass nicht jeder Professor ein begnadeter Didaktiker und Redner ist. Hinzu kommt, dass Professoren unterschiedliche Lehrstile haben und ihre Zuhörer unterschiedliche Lehrmethoden bevorzugen. So kann es durchaus vorkommen, dass etwa der Lehrstil des Strafrechts-Professors aus Hamburg am besten zum Lernstil des Studenten in Münster passt, während der Lehrstil des Münsteraner Professors am besten zum Lernstil des Freiburger Studenten passt. Aktuell beschäftigen also viele Fakultäten eine Vielzahl an hochqualifizierten Professoren damit, fast parallel dieselben Sachen zu erklären, während die Hälfte ihres Publikums eigentlich in einem anderen Hörsaal besser aufgehoben wäre. Eine fast schon skurrile Situation!

Bei genauem Hinsehen offenbaren sich mithin zwei immense Schwachstellen in unserem gegenwärtigen Bildungssystem: für die Studenten hängt die Qualität der Lehre vom Zufall des lehrenden Professors ab und die Lehrenden verschwenden ihre Zeit damit, immer wieder dasselbe zu unterrichten.

In jedem anderen Bereich wird versucht, repetitive Aufgaben auf Maschinen und zur Not auf weniger gut qualifiziertes Personal zu übertragen. An den Fließbändern deutscher Automobilfabriken steht wohl kaum dauerhaft die internationale Ingenieur-Elite. In unserem Bildungssystem hingegen erledigen nach wie vor die Crème de la Crème der Juristen die Fließbandarbeit. Das lässt sich am Beispiel des Zivilrechts hervorragend veranschaulichen: Große Teile des BGB haben sich seit vielen Jahren kaum verändert. So sind sogar eine Vielzahl an Vorschriften im BGB heute noch in der Fassung, wie sie in dem Jahr 1900 in Kraft getreten sind. Nun zu behaupten, Professoren erzählen auf diesen Gebieten seit über 120 Jahren dasselbe ginge zwar zu weit, weil sich Dogmatik und Rechtsprechung weiterentwickelt haben. Trotzdem wird wohl keiner ernsthaft behaupten, die Entwicklungen etwa im Minderjährigenrecht seien so rapide, dass jedes Jahr eine neu konzipierte Vorlesung nötig sei.

Angesichts dieser Probleme drängt sich die Frage auf, womit die politische Trägheit zu erklären ist, die das krankende Bildungssystem am Leben hält. Die Antwort ist so offensichtlich wie ernüchternd. Die „Verlierer“ von Bildungsreformen sind zuvörderst die Bürokraten in den Landesministerien sowie die Parteien auf Landesebene, die weniger Parteisoldaten mit Posten ausstatten könnten und damit insgesamt weniger Macht hätten. Dass diese die Revolution nicht inbrünstig anführen, liegt auf der Hand. Schlimmer ist aber, dass sie die Veränderungen wegen des Zustimmungsvorbehalts des Bundesrats verhindern können.9

Hinzukommt in der Juristerei noch ein weiteres Phänomen, nämlich das fast schon neurotische Festhalten am omnipräsenten Mantra in Behördenmanier: „Das haben wir schon immer so gemacht.“ Die Lehre des Rechts ist so alt wie das Recht selbst. Während sich aber das Recht über einige Jahrtausende hinweg modernisiert (nicht zu verwechseln mit: verbessert) hat – denken Sie in jüngster Zeit nur an die vielen harmonisierenden Verordnungen und Richtlinien des europäischen Gesetzgebers – gilt dies für die Rechtslehre nicht. Dass das heutige juristische Ausbildungssystem noch auf dem preußischen Gesetz über die juristischen Prüfungen und die Vorbereitung zum höheren Justizdienst aus dem Jahr 1869 beruht10, dürfte nicht nur Menschen mit leichtem Hang zum Progressivismus verwundern. Überspitzt könnte man behaupten, dass der Weggang von Tafel und Tageslichtprojektor hin zu Beamer und PowerPoint-Präsentation die größte Entwicklung der Rechtslehre ist; nicht einmal so weit ist schon jeder Professor.

C. Lösung

Alles was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert.

(Carly Fiorina, CEO von Hewlett-Packard im Jahr 2009)

Die Lösung vieler unserer Bildungsprobleme – ob solche in der Oberstufe oder in der Erwachsenenbildung – liegt in der Digitalisierung. Veranschaulichen möchte ich das anhand der Rechtslehre.

Die Digitalisierung der Rechtslehre ist nicht neu. Müsste ich ein paar Namen nennen, fallen mir aus meiner Zeit als Student Horst Eidenmüller mit seinem Podcast zum Sachenrecht, Stephan Lorenz mit seinem Podcast zum Grundkurs Zivilrecht, und nicht zuletzt Martin Fries mit seinen unzähligen (zivilrechtlichen) Video-Vorlesungen auf YouTube ein. Unbenommen sind die Genannten und all Nichtgenannte, die sich der Digitalisierung der Rechtslehre


5 https://www.transfermarkt.de/spieler-statistik/wertvollstemannschaften/marktwertetop, Abruf am 03.12.2022.

6 https://tinyurl.com/bdcpfnrt, Abruf am 03.12.2022.

7 https://www.lto.de/karriere/jura-studium/unis, Abruf am 03.12.2022.

8 Eine Ausnahme besteht etwa für die Vorlesungen zu den Landesrechten. Hier gleichen sich die Systeme nur innerhalb des Bundeslandes.

9 Um dem Bund die Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Bildung zu verleihen, müsste Art. 73 oder 74 GG geändert werden. Dafür sind gemäß Art. 79 Abs. 2 GG zwei Drittel der Stimmen des Bundesrates erforderlich.

10 Nossek, BRJ 2016, 31 ff.

Hageböke, Zur Digitalisierung der (juristischen) Bildung – ein Revolutionsaufruf3

verbürgt haben, wahre Pioniere. Sie waren es, die mit der Machete den Weg durch einen bis dahin unergründeten Dschungel skizziert haben. Durch die Nutzungszahlen haben sie der juristischen Ausbildungswelt gezeigt, dass digitale Lehre mehr als nur eine Daseinsberechtigung hat. Das dürfte nicht zuletzt an dem bereits beschriebenen Phänomen der Fehlallokation von Professoren und Studenten liegen.

Pionierarbeiten ist allerdings immanent, dass die Produkte noch in Kinderschuhen stecken. Obwohl allesamt fachlich und didaktisch hervorragend sind, sind die optischen und auditiven Gestaltungen nicht gerade oscarverdächtig. Es ist nun die Aufgabe der Nachzügler den Trampelpfad schrittweise in eine Autobahn auszubauen. Die Pioniere haben einen guten Schritt in der Evolution von analoger zu digitaler Lehre geleistet. Das reicht jedoch nicht! Es braucht eine Revolution, keine Evolution. Das sollte in den letzten drei Jahren Corona-Pandemie jedem klar geworden sein. Dabei verstehe ich Revolution als einen grundlegenden sowie nachhaltigen strukturellen Wandel des Systems, der (hoffentlich) abrupt und in relativ kurzer Zeit erfolgt.

Im Folgenden möchte ich Ihnen gerne meine Vorstellungen darstellen. Freilich sind diese nicht von heute auf morgen umsetzbar und es handelt sich dabei lediglich um eine Vision.

Statt eines Professors pro Fach pro Fakultät werden die repetitiven Teile der Vorlesung nur noch von fünf Professoren pro Fach gemacht. Dies geschieht jedoch nicht in Form einer klassischen Vorlesung oder eines mit überschaubarem Budget hergestellten Podcasts, sondern als hochwertig produzierter „Wissensblockbuster“ mit Animationen, guter Kamera- und Tonqualität, Einspielern, interaktiven Einblendungen und Querverbindungen (crosslinks) zu anderen Videos, am besten auch aus anderen Wissenschaftsdisziplinen (Psychologie, Medizin, Betriebswirtschaftslehre etc.). Diese „Wissensblockbuster“ sind auf einer einzigen (hoch-)schul- und länderübergreifenden Plattform allen Deutschen frei und kostenlos zugänglich. Schließlich sind es auch alle Steuerzahler, die das Bildungssystem im Wesentlichen tragen. Es ist – ganz nebenbei – unerklärlich, aus welchen Gründen aktuell die meisten Kursunterlagen öffentlicher Hochschulen nur im eigenen Intranet abrufbar sind. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist es selbstverständlich, dass jeder Zugriff hat, weil dieser auch von der Allgemeinheit bezahlt wird. Für Lerninhalte kann nichts anderes gelten. Was aus Steuergeld bezahlt wird, muss auch dem Steuerzahler zugänglich sein.

Dies hätte den Vorteil, dass allen Mitbürgern jegliche Art von schulischer und akademischer Bildung zugänglich gemacht werden würde. So würde auch das interdisziplinäre Verständnis gefördert und akademisches Wissen für Nichtakademiker geöffnet werden. Ist dann innerhalb eines Fachgebiets ein Wissensblockbuster (oder eine Stelle) subjektiv unverständlich, besteht ohne Weiteres die Möglichkeit, sich von einem der vier anderen Dozenten das Thema erklären zu lassen.

Vor allem aber entlastet dieses Modell das Lehrpersonal massiv. Dieses könnte bei den Präsenzveranstaltungen das Wissen der Videos voraussetzen und sich auf punktuelle Vertiefung und das Beantworten von Fragen konzentrieren. Wird beispielsweise in eine neue Rechtsmaterie eingetaucht, wurde bisher ein erheblicher Teil der Vorlesungszeit damit verbracht, die einschlägigen Normen vorzulesen und in ihrer Grobstruktur durchzusprechen. Wird dieser Teil auf Wissensblockbuster ausgelagert, könnten sich die Studenten einerseits besser und in ihrem eigenen Tempo auf die Materie vorbereiten und andererseits würde die Fließbandarbeit von einigen wenigen gemacht werden. Wir sollten doch als Steuerzahler ein Interesse daran haben, dass die durch uns finanzierte Bildung effizient ist. Des Weiteren wird diese Aufgabe auch der Stellung des Professors gerecht. Professoren sind die gut (aber nicht gut genug) bezahlte Speerspitze unseres Bildungssystems. Es ist nicht ihre (Lehr-)Aufgabe, Erwachsenen das beizubringen, was sich – sehr überspitzt ausgedrückt – jeder mit einem Hauch an geistigen Fähigkeiten in fünf Minuten bei Google zusammensuchen kann, sondern vielmehr Missverständnisse auszuräumen, in die Tiefe zu gehen, den geistigen Horizont zu erweitern und die Grenzen des eigenen Intellekts zu ergründen und bestenfalls auszuweiten.

Skeptiker würden jetzt vermutlich einwenden, dass eine professionelle Videoproduktion das Letzte sei, was die Bildungsbudgets aktuell hergeben. Doch das ist Quatsch! Wir haben bei Weitem genug Geld, um alles zu finanzieren, was wir (richtiger: die Politiker) wollen. Infolge der Invasion Russlands in die Ukraine tauchten aus dem Nichts innerhalb von knapp 3,5 Monaten 100 Milliarden Euro für eine – so behauptet es jedenfalls die Bundesregierung – „leistungsstarke Bundeswehr“11 auf. Abgesehen von all der in diesem Zusammenhang möglichen Kritik an dieser und den vergangenen Bundesregierungen zeigt dies doch, dass Staatsfinanzierungen immer eine Frage der Prioritäten sind.

Im Jahr 2020 haben deutsche Hochschulen fast fünf Milliarden Euro für die Fächer Rechtswissenschaft und Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ausgegeben,12 und dafür bestenfalls mittelmäßige Lehre hervorgebracht. Insgesamt betrugen die Bildungskosten 64 Milliarden Euro.13 Dieses Geld reicht bei Weitem aus, um auch wirklich herausragende Lehre zu produzieren. Erinnern Sie sich an die Worte von Andreas Schleicher!

Schauen Sie bei Gelegenheit doch mal auf der Website https://www.masterclass.com/masterclass.com vorbei. Etwa in dieser Art könnte ich mir eine solche Online-Plattform vorstellen. Klar ist jedenfalls, dass eine solche Website in „Apple-Manier“ an Benutzerfreundlichkeit nicht zu überbieten sein darf. Die Zeiten von staatlichen „Windows XP-Websites“ muss endlich vorbei sein. Die besagte Plattform Masterclass hat seit ihrer Gründung 2015 rund 500 Millionen Euro14 an Risikokapital erhalten. Das ist nicht einmal ein Prozent des jährlichen Budgets für Hochschulen in Deutschland!


11 https://tinyurl.com/2z38v8bc, Abruf am 03.12.2022.

12 Statistisches Bundesamt: Fachserie 11, Reihe 4.5, „Finanzen der Hochschulen“, S. 21.

13 Statistisches Bundesamt: Fachserie 11, Reihe 4.5, „Finanzen der Hochschulen“, S. 10.

14 https://tinyurl.com/3fas7tpz, Abruf am 03.12.2022.

Hageböke, Zur Digitalisierung der (juristischen) Bildung – ein Revolutionsaufruf4

Dass meine Vorstellungen nicht absurd sind, zeigen etwa die Videos der Bucerius Law School zum Allgemeinen Verwaltungsrecht15: gutes Mikrofon, kein „Parallelvideo“ vom Dozenten und eine übersichtliche Darstellung. Zwar gibt es auch hier noch Optimierungspotentiale hin zu einem Wissensblockbuster. Ein Beispiel guter digitaler Lehre ist es aber gleichwohl.

Ich stelle mir die Videos wie eine Loseblattsammlung vor. So kann durch punktuelle Aktualisierungen die ganze Videoreihe mit überschaubarem Aufwand aktuell gehalten werden. Videos zu Rechtsprechungen sollten nicht Teil der Videos sein, sondern können an einer entsprechenden Stelle (vielleicht am streitigen Tatbestandsmerkmal) verlinkt werden. So können auch andere Dozenten content liefern. Als Beispiel für solche Videos könnte die von mir ehemals mitherausgegebene „Aktuelle Rechtsprechung in 200 Sekunden“16 herangezogen werden. Freilich müssten auch diese Videos auf das Niveau eines Wissensblockbusters angehoben werden.

Zudem würde ich zur Förderung der Interaktivität nach bestimmten Abschnitten Testfragen in die Videos einbauen. Hier können die Videos von Kämmerer zum Staatsorganisationsrecht als gute Beispiele genannt werden.17

D. Vorteile dieses Ansatzes

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist nicht allein meine juristische Ausbildung und ihre Schwächen, sondern auch mein Unmut über die Vergabepraxis der Universitäten über ihre Studienplätze. Mit diesem Ansatz löst man im Vorbeigehen dieses Problem gleich mit.

Die meisten Universitäten nutzen – zumindest partiell – das numerus-clausus-Verfahren (Abiturnote). Der Aussagegehalt des Abiturs über die Eignung für einen Studiengang ist meines Erachtens jedoch recht überschaubar. Ich habe beispielsweise an der Universität Passau, bei der sich lediglich für den Studiengang Rechtswissenschaften eingeschrieben werden muss, die Erfahrung gemacht, dass auch aus solchen Kommilitonen, die nur eine durchschnittliche oder unterdurchschnittliche Hochschulzulassung vorweisen können, hervorragende Rechtswissenschaftler werden können. Andere, die sich mit einer überdurchschnittlichen Hochschulzulassung einschrieben, haben währenddessen nicht einmal die Zwischenprüfung bestanden.

Aus dieser Erfahrung heraus plädiere ich dafür, dass grundsätzlich allen die Möglichkeit offenstehen muss, den gewünschten Studienplatz anzutreten. Im Konflikt steht das freilich mit den zur Verfügung stehenden Kapazitäten der jeweiligen Universität. Dieses Spannungsfeld lässt sich heute durch die Möglichkeiten der Digitalisierung relativ simpel lösen: Online-Vorlesungen im ersten Semester/Jahr, anschließend wird aus den geschriebenen fachspezifischen Klausuren ein Ranking erstellt, nach der im Rahmen der zur Verfügung stehenden Kapazitäten die „endgültigen“ Studienplätze vergeben werden. Freilich wird hiermit nur das Kapazitätsproblem auf einen späteren Zeitpunkt verlagert. Der Vorteil besteht aber darin, dass nicht mehr auf die Abiturnote abgestellt wird. Die Abiturnote sagt nämlich nach eigener Erfahrung nur überschaubar etwas darüber aus, ob eine Person etwa ein (nur aus akademischer Sicht) guter Arzt, Jurist oder Psychologe wird. Sollen doch alle anfangen dürfen ein bestimmtes Fach (auch Medizin in Deutschland) zu studieren. Ich wäre gespannt, wie viele Nicht-1,0-Abiturienten den – wie man im Golf sagt – cut schaffen würden.

In den Bereichen, in denen wegen den Kapazitäten ein überwiegend digitales Semester/Jahr stattfindet, darf dies aber nicht mit der Einschränkung von gerade zu Beginn des Studiums wichtigen Sozialkontakten zu den Kommilitonen einhergehen. Hier sind entsprechende Veranstaltungen von den Fakultäten anzubieten.

E. Fazit

Macht man sich frei von jeglichen gedanklichen Zwängen und denkt gesellschaftliche Probleme neu, würden wir ohne Berücksichtigung der Umsetzungsproblematiken mit ziemlicher Sicherheit in einer besseren Welt leben. Nun können und sollten wir nicht im Stile Neros das alte System niederbrennen, ein neues System implementieren und all die vom Altsystem Betroffenen in die Röhre schauen lassen – stellen Sie sich das nur mit unserem überschaubar guten Rentensystem vor. Es geht allerdings auch nicht, dass Umsetzungsprobleme Ideen und Visionen gedanklich einzwängen. Richtig wäre doch ein gedanklicher Zweischritt: Zunächst wird ganz im Stile eines Revolutionärs überlegt, was aus der historischen Erfahrung heraus aber ohne Berücksichtigung jeglicher Umsetzungsprobleme sinnvoll ist. Erst danach stellt sich die Frage der Umsetzbarkeit.

Nach der Lektüre dieses Beitrags dürften wir uns einig sein, dass sich in der deutschen Bildungslandschaft etwas ändern muss – dringend! Es kann nicht sein, dass ein Land wie Deutschland, deren Quelle des Wohlstands allein in der Bildung besteht, in Bildungsfragen so rückständig ist. Leider hat dieses Thema keinerlei Priorität, weder in der Politik noch unter unseren Mitbürgern. Nach meiner Wahrnehmung spielte die Bildungspolitik bei den letzten Koalitionsverhandlungen bestenfalls eine untergeordnete Rolle, es interessierte sich kein Toppolitiker ernsthaft für diese Position und mehr als jeder fünfte Bundesbürger gab bei einer Umfrage an, auch drei Monate nach Amtsantritt des Kabinetts unsere Bildungsministerin nicht zu kennen.18 Sollte Ihnen der Name nun auch nicht einfallen, spricht das vermutlich weniger gegen Sie als gegen unsere Ministerin. Bildung sollte nach meinem Dafürhalten zur Chefsache werden und Frau Stark-Watzinger (so heißt unsere Bildungsministerin) durch einen umsetzungswilligen Visionär ersetzt werden.


15 https://youtu.be/04h4nPGxqT0, Abruf am 03.12.2022

16 https://youtu.be/QIQK8v0kGBo, Abruf am 03.12.2022.

17 https://youtu.be/MjFg5IAmIkU (Die besagten Funktionen sind allerdings nur beim Abspielen auf playposit.com nutzbar), Abruf am 03.12.2022.

18 https://tinyurl.com/bdercnwb, Abruf 03.12.2022.

Hageböke, Zur Digitalisierung der (juristischen) Bildung – ein Revolutionsaufruf5

Ich strebe eine Revolution unseres Bildungssystems an. Aus meiner Sicht liegt die Lösung vieler unserer Bildungsprobleme in der Digitalisierung. Doch bevor in einem zweiten Schritt eine kostenfreie und für jedermann zugängliche Bildungsplattform in Apple-Manier aufgebaut wird, müssen zunächst die Entscheidungen in einem Haus gebündelt werden; dazu ist der Bildungsföderalismus abzuschaffen. Auf die digitale Plattform sollten jegliche Bildungs-Fließbandarbeiten ausgelagert werden. Das kommt allen zu Gute: den Studenten, den Professoren und den Steuerzahlern. Dafür braucht es freilich schnelles und konsequentes politisches Handeln, clevere Köpfe und den Mut, in Bildungsfragen keinen Stein auf dem anderen zu lassen.