Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen

Greta Sparzynski*

A. Einführung

I. Gesellschaftliche Relevanz und Entwicklung

Deutschland gehört im internationalen Vergleich zu den eher arbeitskampfarmen Ländern.1 Trotzdem kann keinesfalls ein Rückgang an Arbeitskampfmaßnahmen verzeichnet werden. Vielmehr unterliegt die Anzahl an Streikenden und Ausfalltagen stetigen Schwankungen, wie in der folgenden Grafik2 zu erkennen ist:

Die hier abgebildete Entwicklung zeigt, dass nach jedem Tief ein Hoch zu erwarten ist. Demzufolge sollte in den kommenden Jahren nach dem Tief im Jahr 2019 ein erneutes Wachstum zu verzeichnen sein. Unterstützt wird die statistische Prognose durch die aktuelle gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie.

Gesamtwirtschaftlich betrachtet bedeutete das Jahr 2020 für 69 % der Unternehmen einen merkbaren Umsatzrückgang.3 Bereits Mitte des Jahres kündigten 20 % der Unternehmen an, dass die Beschäftigungspläne pandemiebedingt zu einem Personalabbau führen werden.4 Insbesondere nach Ende der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und nach beendeter Zahlung umfangreicher Staatshilfen ist mit einer „Insolvenzwelle“ zu rechnen.5 Viele Unternehmen werden nun vor schwerwiegende Entscheidungen gestellt: die endgültige Schließung von Betrieben, die Standortverlagerung als kosteneinsparende Umstrukturierungsmaßnahme oder, langfristig gesehen, auch die Verlegung ins kostengünstigere Ausland.

Gleichzeitig wächst jedoch das Bedürfnis der Gesellschaft und der einzelnen Arbeitnehmerinnen nach finanzieller Stabilität. Sofern die Arbeitnehmerin das Glück hatte, in der unsicheren Zeit ihren Arbeitsplatz behalten zu dürfen, besitzt sie nun umso mehr den Wunsch nach Kontinuität. Eine Standortentscheidung mit erheblichen Folgen für den Fortbestand des eigenen Arbeitsplatzes wird demnach nicht kampflos hingenommen werden.

Die Beurteilung einer Arbeitskampfmaßnahme, die explizit auf den Erhalt eines Standortes und Verhinderung der geplanten unternehmerische Maßnahme ausgerichtet ist, wurde bisher in der Rechtsprechung bewusst offen gelassen.6

II. Gegenstand und Gang der Untersuchung

Mit der pandemiebedingten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung geht die Prognose einer tendenziellen Steigung der standortsichernden Arbeitskämpfe in den nächsten Jahren einher. Trotzdem sieht der deutsche Gesetzgeber die Gewährleistung angemessener und transparenter Regeln für die Führung und Rechtmäßigkeit von Streiks durch die höchstrichterliche Rechtsprechung als ausreichend an.7 Eine Erweiterung der gesetzlichen Ausgangslage hält er – trotz Zuständigkeit – nicht für erforderlich.8 Mangels gesetzlicher Regelungen in Kombination mit der fehlenden konkreten höchstrichterlichen Rechtsprechung bezüglich Standortarbeitskämpfen gewinnt die Frage nach der Rechtmäßigkeit entsprechender Streikmaßnahmen umso mehr an Bedeutung.

Die Untersuchung konzentriert sich deshalb darauf, die Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen anhand wesentlicher, durch Rechtsfortbildung entstandener und anerkannter Kriterien zu beurteilen, zu analysieren und theoretisch sowie praktisch aufzuschlüsseln. Maßgebend für die Untersuchung sind deutsche Sachverhalte und das deutsche Recht.

Zu Beginn sind die konfligierenden Interessen herauszuarbeiten (B.), wobei ein besonderes Augenmerk auf den Umfang der verfassungsrechtlich gewährleisteten Koalitionsfreiheit gelegt wird (B.II.2.). Daran anknüpfend soll das entscheidende Zulässigkeitskriterium – das Kampfziel – sowohl allgemein (C.I.) als auch konkret in Bezug auf Standortarbeitskämpfe (C.II.) untersucht und detailliert erörtert werden. Abschließend wird auf Basis der unter C. erzielten Ergebnisse ein Modellvorschlag für die Umsetzung und Anwendung in der gerichtlichen Praxis unterbreitet (D.).


*Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 BT-Drucks. 16/10003, S. 2.

2 Statista Research Department, „Anzahl der Streikenden und durch Streiks ausgefallene Arbeitstage in Deutschland von 2004 bis 2019“, v. 11.08.2020: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/221563/umfrage/arbeitskaempfe-streikende-ausgefallene-arbeitstage/.

3 Umfrage des DIHK, November 2020: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1134714/umfrage/anteil-der-unternehmen-mit-umsatzrueckgang-wegen-corona-nach-branchen/\#professional.

4 Umfrage des DIHK, Juni 2020: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1110554/umfrage/umfrage-unter-deutschen-unternehmen-zu-auswirkungen-des-coronavirus-auf-beschaeftigsplaene/.

5 Spiegel Wirtschaft, „Auskunftei erwartet 2021 Insolvenzwelle“, 19.03.2021: https://www.spiegel.de/wirtschaft/insolvenzen-wirtschaftsauskunftei-crif-buergel-haelt-2021-verdoppelung-fuer-moeglich-a-249ccb81-0952-4305-b24e-d61491399c8e.

6 BAG, Urt. v. 24.04.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987 (998 f.), Rn. 111; Olschewski, S. 66.

7 BT-Drucks. 16/10003, S. 5.

8 Odenthal, S. 19; für einen gelungenen Gesetzesvorschlag siehe etwa Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter.

Sparzynski, Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen46

III. Leitfallbeispiele

Zur Visualisierung der einzelnen Aspekte und Ergebnisse sollen drei repräsentative, innerdeutsche Fallbeispiele als Leitfaden dienen.

In der ersten Fallkonstellation geht es um Einzelunternehmerin A. Sie möchte ihren einzigen Betrieb mit zehn Arbeitnehmerinnen schließen, um sich dadurch vollständig aus ihrem Tätigkeitsbereich in den wohlverdienten Ruhestand zurückzuziehen. Das zweite Beispiel handelt von der B-GmbH, die 23 Betriebe in ganz Deutschland mit einer Belegschaft von 480 Personen besitzt. Aufgrund erheblicher wirtschaftlicher Einbußen möchte sie jetzt einen ihrer Betriebe in Norddeutschland zur Kostenreduzierung endgültig schließen. Die dritte Unternehmerin C ist eine von drei Gesellschafterinnen einer oHG, der ebenfalls zahlreiche Betriebe gehören. C möchte das Unternehmen mit den 170 Arbeitnehmerinnen wesentlich umstrukturieren, indem sie die Produktion der sieben Betriebe am Hamburger Stammwerk konzentriert. Dafür verlagert sie unter anderem einen Betrieb aus München nach Hamburg.

In allen Konstellationen stellt sich für die betriebsangehörigen Arbeitnehmerinnen die Frage, ob und wie sie ihren Arbeitsplatz durch Einwirkung auf die unternehmerische Entscheidung und mit Hilfe ihrer Gewerkschaft sichern können.

B. Ausgangslage: Widerstreitende Interessen

Es können zwei sich gegenüberstehende Interessengruppen herausgearbeitet werden: zum einen die Seite des entscheidungstreffenden Unternehmens und der dahinterstehenden Arbeitgeberin, zum anderen die Seite der streikführenden Gewerkschaft, worunter die Interessen der einzelnen Arbeitnehmerinnen fallen.

I. Arbeitgeberinnenseite

1. Grundrechtspositionen nach Art. 12 I GG

a) Berufsfreiheit

Der Art. 12 I GG schützt das einheitliche Grundrecht auf Berufsfreiheit, welches gleichermaßen die Berufswahl- und Berufsausübungsfreiheit umfasst.9 Die Berufsausübung unterliegt einer weiten Interpretation.10 Insbesondere geschützt sind die Dispositions-, Investitions- und Produktionsfreiheit.11 Darunter fällt das Recht auf freie Planungs- und Grundsatzentscheidungen sowie auf autonome Bestimmung über Kapitaleinsatz und Art und Umfang der Produktion.12 Ebenfalls umfasst sind Entscheidungen über den Ort und die Lage der Tätigkeit.13 Neben der positiven Dimension existiert die negative Berufsfreiheit, also das Recht auf Berufsbeendigung.14 Bei der negativen Dimension ist die Berufswahlfreiheit als einschlägige Grundrechtsposition betroffen.15

Im Fall der Einzelunternehmerin A, die endgültig durch die Betriebsschließung ihren gewählten Beruf aufgibt, ist ihre (negative) Berufswahlfreiheit betroffen.16 Ein ähnlich deutliches Bild ergibt sich bei der B-GmbH. Zwar wird wie bei A ein Betrieb geschlossen, sodass die B-GmbH zumindest für den einen Ort die Option der Tätigkeitsaufgabe trifft. Sie besitzt jedoch weitere Betriebe, in denen sie denselben Beruf zukünftig fortsetzen wird. Die Schließung ist damit lediglich eine wirtschaftliche Disposition und muss unter die Berufsausübungsfreiheit subsumiert werden.17 C als natürliche Person steht dem Betrieb in persönlicher Hinsicht immerhin näher als die B-GmbH. Angesichts der bloßen Verlagerung und der Anzahl an weiteren Betrieben, in denen sie ihrem Beruf weiter nachgeht, ist auch in ihrem Fall die Berufsausübungsfreiheit einschlägig.18

b) Unternehmerische Entscheidungsfreiheit

Im Mittelpunkt und mit der Berufsfreiheit unmittelbar verbunden steht die unternehmerische Entscheidungsfreiheit. Obwohl keine ausdrückliche Regelung existiert, wird die Unternehmensautonomie als anerkannte Rechtsposition gewährleistet.19 Der Schutz wird sowohl aus Art. 12 I GG als auch aus Art. 2 I GG hergeleitet.20 Die Unternehmerfreiheit bezeichnet das Recht zum selbstverantwortlichen unternehmerischen Handeln bei der Schaffung, Organisation und Führung von Unternehmen sowie die freie Bestimmung über Bestand, Umfang und Zielsetzung.21 Die darin umfasste unternehmerische Dispositionsfreiheit erstreckt sich unter anderem auf Standortentscheidungen.22 Folglich wird die Disposition in Form des Entschlusses zu einer Betriebsstilllegung oder -verlegung speziell durch die in Art. 12 I, 2 I GG garantierte unternehmerische Freiheit geschützt.

2. Eigentumsfreiheit

Teilweise wird angenommen, dass die arbeitgeberische Entscheidung zusätzlich von Art. 14 I GG geschützt wird.23 In dem Kontext wird das Unternehmen selbst als Eigentumsposition verstanden. Angeknüpft wird dafür an den zivilrechtlichen Begriff des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes als sonstiges Recht im Sinne des § 823 I BGB.24 Die Gegenansicht25 verneint die Auffassung


9 Sachs-Mann, Art. 12 GG, Rn. 14, 77.

10 Mangoldt/Klein/Starck-Manssen, Art. 12 GG, Rn. 67.

11 Sachs-Mann, Art. 12 GG, Rn. 79.

12 Mangoldt/Klein/Starck-Manssen, Art. 12 GG, Rn. 69.

13 Vgl. Münch/Kunig-Kämmerer, Art. 12 GG, Rn. 54; Sachs-Mann, Art. 12 GG, Rn. 79.

14 Maunz/Dürig-Scholz, Art. 12 GG, Rn. 288.

15 Mangoldt/Klein/Starck-Manssen, Art. 12 GG, Rn. 56; Münch/Kunig-Kämmerer, Art. 12 GG, Rn. 50.

16 Vgl. Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1025); Münder, RdA 2020, 340 (352).

17 Vgl. Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1025).

18 Vgl. Ebd.

19 Kissel, § 35, Rn. 23; Odenthal, S. 136.

20 BAG, Urt. v. 03.04.1990 – 1 AZR 123/89, NZA 1990, 886 (889); Jacobs, in: Rieble, Rn. 21; Landmann/Rohmer-Eisenmenger, § 1 GewO, Rn. 98; Odenthal, S. 137 f.

21 Hoffmann, BB 1995, 53 (53); Jacobs, in: Rieble, Rn. 21.

22 Dreier-Wieland, Art. 12 GG, Rn. 53; Münder, RdA 2020, 340 (349).

23 Beckerle, NJW 2017, 439 (441); Jacobs, in: Rieble, Rn. 21; Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1021); MHdB ArbR-Ricken, § 272, Rn. 40; Scholz, NJW 1986, 1587 (1588).

24 Sachs-Wendt, Art. 14 GG, Rn. 26.

25 ErfK-Schmidt, Art. 14 GG, Rn. 5, 20; Dreier-Wieland, Art. 14 GG, Rn. 63.

Sparzynski, Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen47

mit dem Argument, dass das Unternehmen selbst lediglich die tatsächliche Gesamtheit an dazugehörigen, bereits geschützten Sachen darstellt und deswegen keines weiteren Schutzes bedarf.26 Dem wird wiederum entgegengehalten, dass der spezifische Mehrwert des Unternehmens als organische Betriebseinheit über die Summe der Einzelteile hinausgeht.27 Erst der zusätzliche Schutz des Unternehmens als ein in sich geschlossener Wirtschaftskörper mit eigener ökonomischer Funktion erzielt eine sachgerechte, den Schutz der Einzelpositionen überschreitende Wirkung.28 Dafür spricht auch der Aspekt, dass das Unternehmen in der Realität vielmehr als wirtschaftliche Einheit betrachtet wird. Dadurch erhält es sogar in der nicht-juristischen und ökonomischen Wirklichkeit eine größere Bedeutung als die Gesamtheit der einzelnen Geräte, Gebäude und Betriebsmittel.29 Somit überzeugt es, der Arbeitgeberinnenseite ebenfalls die Grundrechtsposition nach Art. 14 I GG zuzusprechen.

II. Arbeitnehmerinnen- und Gewerkschaftsseite

1. Berufsfreiheit

Regelmäßig führt die Standortentscheidung der Arbeitgeberin unausweichlich zu zahlreichen betriebsbedingten Kündigungen.30 Dadurch sind die gekündigten Arbeitnehmerinnen in ihrem dem Art. 12 I GG zugehörigen Bestandsinteresse betroffen.31 Einschlägige Grundrechtsposition ist dabei die Wahlfreiheit des Arbeitsplatzes.32 Das Bundesverfassungsgericht hat die erhebliche Bedeutung und Tragweite treffend beschrieben:

„Der Arbeitsplatz ist die wirtschaftliche Existenzgrundlage […]. Lebenszuschnitt und Wohnumfeld werden davon bestimmt, ebenso gesellschaftliche Stellung und Selbstwertgefühl. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird dieses ökonomische und soziale Beziehungsgeflecht in Frage gestellt. […] Gelingt es [der Arbeitnehmerin] nicht, alsbald einen neuen Arbeitsplatz zu finden, gerät [sie] häufig in eine Krise […].“33

Damit wird verdeutlicht, dass die unternehmerische Entscheidung wesentliche Lebensbereiche der Arbeitnehmerinnen unmittelbar und nachhaltig betrifft.

2. Koalitionsfreiheit

Als kollektive Grundrechtsposition kommt weiterhin Art. 9 III GG in Betracht.

a) Schutzbereich

Der Artikel schützt das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Dabei ist er als Doppelgrundrecht aufzufassen.34 Neben einem individuellen Freiheitsrecht der Arbeitnehmerinnen wird der Gewerkschaft die selbständige Grundrechtsinhaberschaft anerkannt und garantiert.35

Über den Wortlaut hinaus wird die Koalitionsbetätigungsfreiheit geschützt, worunter der Abschluss von Tarifverträgen und die Durchführung von Arbeitskampfmaßnahmen zählen.36 Aus der Dynamik der sozialen Realität resultiert, dass die Gewährleistung offen gefasst werden muss und sich die Koalitionszuständigkeit nicht auf abschließende Zwecke reduzieren lassen darf.37 Dabei muss dennoch zwischen Verbandsfunktionen mit und ohne verfassungsrechtlichem Autonomieschutz differenziert werden.38 Der Schutz wird ausschließlich für Funktionen gewährt, die sich innerhalb der durch die Vorschrift selbst gesetzten Grenze der „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ befinden („Koalitionszweckgarantie“).39 Nur soweit eine Standortentscheidung unter die Anforderungen an eine koalitionsspezifische Betätigung subsumiert werden kann, können damit verbundene Arbeitskämpfe in den Schutzbereich des Art. 9 III GG fallen.

aa) Bedeutung und Reichweite der „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“

Zu Beginn müssen die Begriffe „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ analysiert und definiert werden. Grundsätzlich kann es keine starren Definitionen geben, sodass lediglich ein äußerer und flexibler Rahmen abgesteckt werden kann.40 Daraus folgt eine Vielzahl an Auffassungen über die tatsächlichen Grenzen. Im gleichen Prüfungsrahmen sind die Auswirkungen der verschiedenen Grenzziehungen im Hinblick auf die generelle Einordnung unternehmerischer Entscheidungen zu betrachten.

Im Sinne einer extensiven Sichtweise sind die beiden Begriffe alternativ und getrennt zu behandeln, wodurch ein sehr weiter Inhaltsbereich eröffnet wird.41 Demgegenüber steht eine äußerst restriktive Auffassung, welche den „Wirtschaftsbedingungen“ keine zusätzliche Wirkung beimisst und sich auf die Grenze der „Arbeitsbedingungen“ beschränkt.42 Neben den Extrempositionen erfährt ein differenziertes Verständnis der „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ viel Befürwortung.43 Die Begriffe werden als funktionale Einheit mit wechselseitiger Beziehung und Sinnzusam-


26 Dreier-Wieland, Art. 14 GG, Rn. 63.

27 Mangoldt/Klein/Starck-Depenheuer/Froese, Art. 14 GG, Rn. 133.

28 Sachs-Wendt, Art. 14 GG, Rn. 26; Odenthal, S. 135.

29 Odenthal, S. 135.

30 Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1023); Münder, RdA 2020, 340 (348 f.).

31 GK Kündigungsrecht-Kiel, § 1 KSchG, Rn. 446.

32 BVerfG, Urt. v. 24.04.1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667 (1667); Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1025).

33 BVerfG, Beschl. v. 27.01.1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470 (471 f.).

34 BeckOK GG-Cornils, Art. 9 GG, Rn. 3; SWK ArbR-Ubber, „Arbeitskampf“, Rn. 2.

35 Dreier-Bauer, Art. 9 GG, Rn. 34; Maunz/Dürig-Scholz, Art. 9 GG, Rn. 169, 170.

36 BVerfG, Beschl. v. 06.02.2007 – 1 BvR 978/05, NZA 2007, 394 (395); Sachs-Höfling, Art. 9 GG, Rn. 71.

37 Bruhn, S. 77; Säcker/Oetker, S. 64.

38 Maunz/Dürig-Scholz, Art. 9 GG, Rn. 162.

39 Bruhn, S. 77; Maunz/Dürig-Scholz, Art. 9 GG, Rn. 162; Olschewski, S. 116.

40 Odenthal, S. 130.

41 Berg/Wendeling-Schröder/Wolter, RdA 1980, 299 (307); Däubler, Rn. 1112a; Dürig, NJW 1955, 729 (729 f.).

42 Höpfner, RdA 2020, 129 (132 ff.); Lobinger, in: Rieble, Rn. 22 ff.

43 Badura, ArbRGegw 1978, 17 (27 f.); Christ, S. 92 f.; Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1023); Maunz/Dürig-Scholz, Art. 9 GG, Rn. 256; Söllner, NZA 1996, 897 (898 f.); Waltermann, NZA 1991, 754 (757 ff.); Wiedemann, in: FS Riesenfeld, S. 302 ff.

Sparzynski, Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen48

menhang gedeutet.44 Unter das Begriffspaar ist zumindest alles zu fassen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der persönlich geleisteten, abhängigen Arbeit unmittelbar tangiert.45

Eine sachgerechte Bewertung wird nur durch Auslegung des Art. 9 III GG erreicht.

Der Wortlaut des Art. 9 III GG und insbesondere die Nutzung der Konjunktion „und“ sowie der Bindestrich zeigen, dass zwischen den beiden einzelnen Begriffen zwar ein Sinnzusammenhang besteht, sie aber keineswegs deckungsgleich sind.46 Eine Tautologie darf dem Gesetzgeber nicht voreilig unterstellt werden.47

Historisch muss dem Begriffspaar eine lediglich neutrale Klarstellungsfunktion ohne eindeutige Rückschlüsse auf die historisch gewollte Reichweite zugerechnet werden.48

Ausschlaggebendes Gewicht kommt dem Telos der Koalitionsfreiheit zu. Ihre zentrale Aufgabe besteht darin, für die im Spannungsverhältnis zur Arbeitgeberin strukturell unterlegene Arbeitnehmerinnenseite eine angemessene, grundrechtlich gewährleistete Gegenposition zur Verfügung zu stellen.49 Zusätzlich gebietet der stetige, dynamische Wandel von Gesellschaft und Technologie eine grundlegende Offenheit des Schutzbereiches.50

Nach den Erwägungen wird deutlich, dass nur die vermittelnde Ansicht imstande ist, sowohl dem arbeitnehmerinnenbezogenen Zweck der Tarifautonomie als auch zugleich den unternehmerischen Bedenken angemessen zu begegnen. Daraus folgt die berechtigte Betätigung der Koalition im Bereich unternehmerischer Entscheidungen nur so weit, wie tatsächlich arbeitnehmerische Interessen nachhaltig berührt sind.51 Anders formuliert: Die unternehmerische Entscheidung fällt immer dann in den Regelungsbereich des Art. 9 III GG, wenn die wirtschaftliche und soziale Seite der unternehmerischen Maßnahme nicht trennbar sind.52 Insgesamt ist der vermittelnden, funktionellen Ansicht bezüglich der sachlichen Reichweite der Koalitionsfreiheit zu folgen.

bb) Standortentscheidungen als Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen

Anschließend an die allgemeine Betrachtung wird im Folgenden konkret auf die Standortentscheidung eingegangen. Betriebsstillegungen und Standortverlagerungen befinden sich grundsätzlich im inhaltlichen Bereich der „Wirtschaftsbedingungen“.53 Wie unter B.II.1. verdeutlicht, führen die Arten der arbeitgeberischen Disposition unausweichlich zur erheblichen Beeinträchtigung der Arbeitnehmerinnen – regelmäßig in Form des Verlustes des Arbeitsplatzes und den damit einhergehenden sozialen Folgen. Standortentscheidungen betreffen die Arbeitnehmerinnen deshalb in „kaum zu überbietender Unmittelbarkeit“.54 Die wirtschaftliche und soziale Seite unterliegen einer untrennbaren und intensiven Verbindung.55 Derartige Entscheidungen tangieren deshalb unmittelbar die Voraussetzungen und Bedingungen der persönlich geleisteten, abhängigen Arbeit. Demzufolge fallen sie in die relevante Schnittmenge des als funktionelle Einheit zu verstehenden Begriffspaares der „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“.56 Standortentscheidungen können sogar als Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen „ersten Ranges“ klassifiziert werden.57 Folglich ist der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit bei koalitionsspezifischen Tätigkeiten mit Bezug zu Standortdispositionen grundsätzlich eröffnet.

b) Schutzbereichsbegrenzung durch Unternehmensautonomie?

Neben der begriffsbestimmten Auslegung wird dennoch eine weitere Schutzbereichsbegrenzung des Art. 9 III GG durch Einbezug des Art. 12 I GG gefordert.58

Die Überlegung wird damit begründet, dass ein angemessener Spielraum zur Entfaltung der Unternehmerinitiative unantastbar sein müsse.59 Beide gewährleisteten Autonomiebereiche, die Unternehmensautonomie und die Tarifautonomie, sind in dem Sinne zu deuten und auszuüben, dass die jeweils andere nicht leerläuft.60 Der Ausgleich kann nur gelingen, wenn schon auf Ebene des Schutzbereiches gewisse, zwingend unternehmensautonome Gegenstände ausgeklammert werden.61

Bezüglich der Grenzziehung sind verschiedene Ansatzpunkte möglich.62 Es ist sinnvoll und interessengerecht, einen Mittelweg zwischen Unternehmens- und Tarifautonomie zu definieren. Die Reichweite des Schutzbereiches des Art. 9 III GG kann dafür in eine „innere“ und eine „äußere“ Ebene getrennt werden.63 Der „äußere“, unternehmensautonome Teil umfasst dabei Entscheidungen zur Preispolitik, zu Betriebserweiterungen oder -neugründungen und zu Produkt- und Finanzfragen.64 Selbst wenn die Dispositionen mittelbar Kündigungen nach sich ziehen können, führt der Umstand nicht zu einer Schutzbereichseröffnung


44 Badura, ArbRGegw 1978, 17 (27); Söllner, NZA 1996, 897 (898 f.).

45 ErfK-Linsenmaier, Art. 9 GG, Rn. 73; Münch/Kunig-Winkler, Art. 9 GG, Rn. 147; Odenthal, S. 130; Waltermann, NZA 1991, 754 (757); Wiedemann, in: FS Riesenfeld, S. 303.

46 Christ, S. 92; Olschewski, S. 119 f.; Patett, S. 76.

47 Söllner, ArbRGegw 1978, 19 (23).

48 Glückert, S. 127, 140 f.; Säcker/Oetker, S. 63 f.

49 Vgl. Olschewski, S. 122; Waltermann, NZA 1991, 754 (758).

50 Säcker/Oetker, S. 64.

51 Krause, S. 62; Wiedemann, in: FS Riesenfeld, S. 303.

52 BAG, Urt. v. 03.04.1990 – 1 AZR 123/89, NZA 1990, 886 (889).

53 Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1023).

54 Patett, S. 82.

55 LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 20.02.2019 – 4 Sa 40/18, BeckRS 2019, 5464, Rn. 122.

56 Hensche, AuR 2004, 443 (448); Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1023); Odenthal, S. 132.

57 Gamillscheg, S. 220.

58 Dieterich, AuR 2007, 65 (70); Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1023 f.); Meyer, NZA 2004, 366 (368); Olschewski, S. 126 f.

59 BVerfG, Beschl. v. 14.10.1970 – 1 BvR 306/68, NJW 1971, 368 (369); Olschewski, S. 127.

60 BAG, Urt. v. 03.04.1990 – 1 AZR 123/89, NZA 1990, 886 (889).

61 Olschewski, S. 128; vgl. Waltermann, RdA 2007, 257 (261).

62 Siehe für verschiedene Ansätze etwa Beuthien, ZfA 1984, 1 (12 f.); Cherdron, S. 264; Gamillscheg, S. 339 ff.; Wiedemann, in: FS Riesenfelds, S. 303.

63 Gamillscheg, S. 339 ff.; Odenthal, S. 139.

64 BAG, Urt. v. 03.04.1990 – 1 AZR 123/89, NZA 1990, 886 (889); Gamillscheg, S. 339; Waltermann, NZA 1991, 754 (759).

Sparzynski, Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen49

des Art. 9 III GG.65 Demgegenüber steht ein „innerer“ Bereich, welcher sich auf Lohn- und Beschäftigungsfragen bezieht, also Entscheidungen mit direkten Auswirkungen auf die Arbeitnehmerinnen umfasst.66 Hierunter fallen auch Standortentscheidungen.67 Dass der „innere“ Bereich von der Tarifautonomie umfasst wird, steht im Einklang mit ihrem arbeitnehmerinnenbezogenen Zweck und der bereits herausgearbeiteten begriffsbestimmten Auslegung.68 Der unzulässigen Überdehnung des sachlichen Schutzbereiches wird wiederum mit der Ausklammerung der „äußeren“ Ebene entgegengewirkt. Daneben werden also weiterhin tariffreie Bereiche der Unternehmensautonomie ermöglicht. Eine weitergehende Begrenzung bezüglich Standortentscheidungen ist an der Stelle weder erforderlich noch für die Tarifautonomie hinnehmbar.69 Die Auflösung konkreter Grundrechtskollisionen bleibt schließlich auf Zulässigkeitsebene im einfachen Recht weiterhin erhalten.70

c) Zwischenfazit

Insgesamt bestätigt sich das bisherige Ergebnis, dass Standortentscheidungen als Gegenstand vom Schutzbereich der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 III GG grundsätzlich umfasst sind. Verfassungsrechtlich gesehen fallen sie damit in den inhaltlichen Zuständigkeits- und Tätigkeitsbereich der Tarifparteien. Inwiefern ein Streik gegen eine Standortentscheidung zulässig ist, ist eine Frage des einfachen Rechts71 und wird im Folgenden näher ausgeführt.

C. Standortentscheidungen im Kontext des Arbeitskampfrechts der Koalitionen

Nach „Überwindung der ersten Hürde“ der generellen Zuständigkeit, ist nun die Zulässigkeit näher zu betrachten. Das zentrale Spannungsverhältnis bei Streiks gegen Standortentscheidungen liegt in der Rechtmäßigkeitsvoraussetzung des „zulässigen Kampfzieles“. Zuerst gilt es daher festzustellen, welche allgemeine Anforderung an ein rechtmäßiges Kampfziel zu stellen ist (C.I.). Danach wird anhand und unter Konkretisierung des erarbeiteten Maßstabs die Einordnung einer direkten Beeinflussung der Standortentscheidung als Kampfziel erörtert (C.II.1.). Daran anknüpfend wird auf die Erstreikbarkeit (C.II.2.) und mögliche Ausnahmen (C.II.3.) eingegangen.

I. Anforderung an die Zulässigkeit eines Kampfzieles

Das Arbeitskampfrecht ist Richterrecht, sodass etwaige Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen allein rechtsfortbildende, nicht aber gesetzliche Verankerungen aufweisen.72 Ein wichtiger Aspekt für die Zulässigkeit eines Streiks ist dessen Ausrichtung auf ein zulässiges Kampfziel.73

Die ständige Rechtsprechung74 verlangt grundsätzlich ein „tarifvertraglich regelbares Ziel“. Die Voraussetzung fußt auf dem Grundsatz der Tarifbezogenheit des Arbeitskampfes. Er dient funktional als notwendiges Mittel zum Zweck des Tarifvertragsschlusses.75 Maßgeblich für seine schützenswerte Existenz ist demnach seine sicherstellende Hilfsfunktion für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie.76 Dem in der Rechtsprechung anerkannten Erfordernis wird überwiegend zugestimmt.77 Insgesamt ist die „tarifliche Regelbarkeit“ eine grundlegende Voraussetzung für das zulässige Kampfziel und die Rechtmäßigkeit einer Arbeitskampfmaßnahme.

II. Unmittelbarer Streik gegen Standortentscheidungen

Ein Streik unmittelbar gegen Standortentscheidungen verfolgt das Ziel, die unternehmerische Entscheidung zu beeinflussen, sie im Idealfall zu verhindern und eine Standortzusage der Arbeitgeberin zu erhalten. Fraglich ist nun, inwieweit sich eine derartige Forderung tarifvertraglich regeln lässt und in dem Zusammenhang erstreikbar ist.

1. Tarifvertragliche Regelbarkeit der Standortentscheidung

a) Form der Regelbarkeit

Der Frage, ob eine Standortentscheidung im Anschluss an die bereits bejahte Zuständigkeit78 auch von der Regelungsbefugnis der Koalitionen umfasst ist, muss auf einfachrechtlicher Ebene durch Auslegung und Anwendung des § 1 TVG nachgegangen werden.79 Die Forderungsgrundlage, die es einzuordnen gilt, ist die arbeitgeberische Standortzusage. § 1 I TVG unterscheidet zwischen einem schuldrechtlichen Vertragsteil und einem normativen Teil.

aa) Normative Regelbarkeit

Standortsichernde Vereinbarungen unterfallen keinem der in § 1 I HS 2 TVG aufgezählten Normbereiche, sodass sie nicht normativ regelbar sind.80

bb) Schuldrechtliche Regelbarkeit

Neben dem normativen Teil verbleibt den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, Rechte und Pflichten schuldrechtlich zu vereinbaren. Mangels gesetzlicher Vorgaben in § 1 I TVG


65 Beuthien, ZfA 1984, 1 (12); Olschewski, S. 136; Wiedemann, in: FS Riesenfeld, S. 303 f.

66 Gamillscheg, S. 340.

67 Gamillscheg, S. 340; Odenthal, S. 139; vgl. Ausführungen zur Unmittelbarkeit unter B.II.2.a)bb).

68 Siehe B.II.2.a)aa).

69 ErfK-Linsenmaier, Art. 9 GG, Rn. 73, 75; Olschewski, S. 128, 132 ff.

70 Münder, RdA 2020, 340 (349); Olschewski, S. 128, 135.

71 Münder, RdA 2020, 340 (349).

72 Höfling/Engels, NJW 2007, 3102 (3103); Linsenmaier, RdA 2019, 157 (167 f.).

73 BAG, Beschl. v. 21.04.1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668 (1669).

74 Siehe etwa BAG, Beschl. v. 21.04.1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668 (1668 f.); BVerfG, Beschl. v. 26.06.1991 – 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809 (810); BAG, Urt. v. 26.07.2016 – 1 AZR 160/14, NZA 2016, 1543 (1549), Rn. 52.

75 Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, S. 16, 32 f.

76 BAG, Urt. v. 24.04.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987 (995), Rn. 79; Beckerle, NJW 2017, 439 (440); Münder, RdA 2020, 340 (340).

77 Brox/Rüthers-Rüthers, Rn. 130, 138; ErfK-Linsenmaier, Art. 9 GG, Rn. 114; Kissel, § 24, Rn. 2.; Löwisch/Rieble, Grundl., Rn. 493; MHdB ArbR-Ricken, § 272, Rn. 38 ff.

78 Siehe B.II.2.c).

79 Olschewski, S. 114 f., 140; Wiedemann-Jacobs, Einl., Rn. 174.

80 Krause, S. 56 f.; Lobinger, in: Rieble, Rn. 13; Olschewski, S. 140 f.

Sparzynski, Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen50

ist die Grenze der schuldrechtlichen Regelungsbefugnis allerdings umstritten. Zwei wesentliche Auffassungen stehen sich gegenüber. Die eine beurteilt die Grenze einfachrechtlich anhand der normativen Grenzen nach § 1 I HS 2 TVG, während der entgegengesetzte Standpunkt auf die verfassungsrechtliche Grenze des Art. 9 III GG zurückgreift.

(1) Gleichlauf zum normativen Teil

Die restriktive Grenzziehung verortet den Bereich des schuldrechtlich Regelbaren innerhalb des normativen Bereiches.81 Wenn man dem Tarifvertrag ein funktionales Gesamtverständnis zugrunde legt, ergeben sich für beide Vertragsteile rechtlich gesehen dieselben Höchstschranken.82 Danach gilt: Nur was normativ vereinbart werden kann, darf schuldrechtlich vereinbart werden. Standortentscheidungen können nicht normativ geregelt werden, sodass ihnen die tarifvertragliche Regelbarkeit ausnahmslos versagt bliebe.

(2) Rückgriff auf „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ nach Art. 9 III GG

Abweichend von der einfachrechtlichen Grenze in § 1 I TVG könnte die Beschränkung der Regelungsbefugnis verfassungsrechtlich hergeleitet werden.83 Der Art. 9 III GG bietet mit den „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ einen direkten Anknüpfungspunkt.84 Alles was danach unter die funktionale Einheit des Begriffspaares subsumiert werden kann, ist schuldrechtlich regelbar. Wie unter B.II.2.a) ausgeführt, sind Standortentscheidungen in die inhaltliche Schnittmenge der beiden Begriffe einzuordnen. Sie sind demnach vom Schutzbereich des Art. 9 III GG umfasst und können Gegenstand einer schuldrechtlichen Vereinbarung der Tarifvertragsparteien sein.85

(3) Stellungnahme zur schuldrechtlichen Regelbarkeit

Von der Grenzziehung der schuldrechtlichen Regelungsbefugnis hängt es also maßgeblich ab, ob eine Standortentscheidung tarifvertraglich regelbar ist und als Kampfziel in Frage kommt. Bei Verneinung der tarifvertraglichen Regelbarkeit ist der Arbeitskampf aufgrund des zwingenden Tarifbezuges schon von vornherein ausgeschlossen.

Für den Gleichlauf zum normativen Teil spricht zunächst, dass der Art. 9 III GG keine schrankenlose Regelungsbefugnis gewährt.86 Die normativen Grenzen des § 1 I TVG spiegeln die zulässige gesetzgeberische Ausgestaltung wider, an die sich auch der schuldrechtliche Teil zu halten hat.87 Ansonsten bestimme die Gewerkschaft einen ihrer Normsetzung entzogenen Gegenstand einfach durch schuldrechtliche Tarifregeln und umgeht dadurch gesetzlich vorgesehene Grenzen.88 Die Schrankenübertragung ist allerdings weder grammatikalisch noch dem direkten Wortlaut des § 1 I TVG zu entnehmen.89 Die Vorschrift unterscheidet die beiden Regelungsformen vielmehr durch die Konjunktion „und“.90 Außerdem spricht im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte die ungenaue Formulierung „Rechte und Pflichten“ tendenziell gegen eine gewollte weitergehende Beschränkung der schuldrechtlichen Regelbarkeit.91

Eine Grenzziehung ohne Bezug zum verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutzbereich ist darüber hinaus inkonsistent und birgt Rechtsunsicherheiten.92 Die Tarifautonomie ist grundrechtlich verankert und muss daher im Umfang des Art. 9 III GG generell gewährleistet werden.93 Ein legitimer Grund für eine Begrenzung, wie es im normativen Teil etwa die Bindung Dritter mit sich bringt, existiert für schuldrechtliche Vereinbarungen nicht.94 Den Gewerkschaften wird eine Betätigung mit Bezug zu einem verfassungsrechtlich geschützten und gewährleisteten Gegenstand grundlos verwehrt. Faktisch gesehen führt die normative Grenzziehung daher zu einer unzulässigen Rechtsversagung.

Ein weites Verständnis kann zusätzlich den völkerrechtlichen Bedenken95 gegenüber der tariflichen Regelbarkeit als Zulässigkeitsvoraussetzung eher gerecht werden.96 Das Erfordernis einer völkerrechtskonformen Auslegung spricht also für eine weite Regelungsbefugnis. Somit ist ein Rückgriff auf Art. 9 III GG geboten.

cc) Zwischenfazit

Vereinbarungen bezüglich Standortentscheidungen sind von der schuldrechtlichen Regelungsbefugnis umfasst und damit tarifvertraglich regelbar.

b) Art des Tarifvertrages

Die Regelung der Standortentscheidung innerhalb eines Firmentarifvertrages ist praktisch gesehen am sinnvollsten.97

c) Zwischenfazit

Insgesamt sind Standortentscheidungen in Form von Standortzusage- oder Standortsicherungsklauseln im schuldrechtlichen Teil eines Firmentarifvertrages regelbar.

2. Erstreikbarkeit

Die herausgearbeitete tarifvertragliche Regelbarkeit der Standortentscheidung erfüllt grundsätzlich die Voraussetzung eines zulässigen Arbeitskampfzieles. Dennoch besteht Uneinigkeit darüber, ob eine derartige Regelung tatsächlich


81 Hueck/Nipperdey, S. 168, 336 ff.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG, Rn. 1311; Mayer-Maly, BB 1965, 829 (833); Mayer-Maly, BB 1966, 1067 (1069).

82 Beuthien, ZfA 1983, 141 (159 f.); MHdB ArbR-Klumpp, § 258, Rn. 3, 12; Säcker/Oetker, S. 160 ff.

83 Däubler, Rn. 175d; Gamillscheg, S. 1070; Krause, S. 57 f.; Patett, S. 70 ff., 73 ff.

84 Münder, RdA 2020, 340 (350 f.).

85 Zustimmend etwa LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 20.02.2019 – 4 Sa 40/18, BeckRS 2019, 5464, Rn. 122; Däubler-Däubler, § 13, Rn. 46, 51; Hanau/Thüsing, ZTR 2001, 1 (53).

86 Säcker/Oetker, S. 160.

87 Löwisch/Rieble, § 1 TVG, Rn. 1312; Säcker/Oetker, S. 160.

88 Hueck/Nipperdey, S. 337; Mayer-Maly, BB 1965, 829 (833).

89 Krause, S. 58.

90 Olschewski, S. 150; Patett, S. 70.

91 Krause, S. 58; Leydecker, S. 227.

92 Vgl. Däubler, Rn. 175a.

93 Patett, S. 71.

94 Leydecker, S. 226 f.; Patett, S. 72.

95 Siehe C.I.

96 Münder, RdA 2020, 340 (350).

97 Lobinger, in: Rieble, Rn. 6; Olschewski, S. 171.

Sparzynski, Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen51

durch Gewerkschaften erstreikt werden kann.

a) Keine Erstreikbarkeit trotz tarifvertraglicher Regelbarkeit

Die Ansicht gegen eine Erstreikbarkeit stützt sich unter anderem auf den generellen Arbeitskampfausschluss bei schuldrechtlichen Regelungen.98 Ausschließlich Aspekte, die normativ regelbar sein können, dürfen zum Gegenstand eines rechtmäßigen Arbeitskampfes gemacht werden.99 Die weite Öffnung der schuldrechtlichen Regelungsinhalte führe zwangsläufig zu einer begrenzenden Anpassung der Verhandlungsinstrumente.100 Standortzusagen können lediglich im schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrages geregelt werden, sodass Arbeitskampfmaßnahmen in dem Rahmen stets unzulässig wären.

b) Weite Auffassung: Sowohl schuldrechtliche als auch normative Regelungen

Diametral entgegengesetzt argumentiert eine weite Sichtweise, die die Erstreikbarkeit sowohl für den normativen als auch für den schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages bejaht.101 Die Erweiterung der Kampfbefugnis gründet vor allem auf einer gebotenen Einheitlichkeit von Regelbarkeit und Erstreikbarkeit.102 Außerdem gewährleiste Art. 9 III GG den Arbeitskampf unabhängig von einer normativen oder schuldrechtlichen Regelbarkeit.103 Nach der Perspektive wären Arbeitskämpfe gegen Standortentscheidungen zulässig.

c) Stellungnahme zur Erstreikbarkeit

Die Diskussion ist wesentlich für die Beantwortung der Kernthese: Können Arbeitskämpfe gegen Standortentscheidungen jemals zulässig sein? Sofern die ausschließliche Erstreikbarkeit des normativen Teils befürwortet wird, ist eine generelle Unzulässigkeit gegeben. Bei Zustimmung zur weiten Auffassung des Arbeitskampfes muss dagegen eine grundsätzliche Zulässigkeit festgestellt werden.

Für die Verneinung der Erstreikbarkeit spricht, dass zwischen Betätigungsmittel und Betätigungsfeld zu differenzieren ist.104 Obwohl die Gewerkschaften inhaltlich zuständig sind, wäre ein Verweis auf kampflose Betätigungsmittel verfassungsgemäß.105 Außerdem sollte der Arbeitskampf als „Ausnahmeerscheinung“ behandelt werden, bei der Erweiterungen restriktiv vorzunehmen sind.106 Andererseits schützt Art. 9 III 3 GG dem Wortlaut nach jeden Arbeitskampf, der zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geführt wird. Allein daraus lässt sich eine gesetzlich festgeschriebene Zulässigkeitsgrenze herleiten. Der Arbeitskampf in Bezug auf schuldrechtliche Regelungen, die selbst der Grenze der „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ unterliegen, werden demnach immer grundrechtlich geschützt.107 Selbst § 1 I TVG stellt den schuldrechtlichen und den normativen Teil gleichberechtigt nebeneinander.108 Sowohl verfassungsrechtlich als auch aus § 1 I TVG ergibt sich die auf normative Regeln beschränkte Erkämpfbarkeit daher nicht. Es birgt zudem eine erhebliche Rechtsunsicherheit, wenn eine normativ regelbare Forderung zufälligerweise schuldrechtlich geregelt werden soll und allein deshalb der Arbeitskampf in Frage gestellt werden könnte.109

Andererseits könnte das fehlende Bedürfnis der Erkämpfbarkeit bei schuldrechtlichen Regelungen angemerkt werden. Im konkreten Kontext geplanter Standortänderungen könnte etwa kritisiert werden, dass die durch einen Streik vorenthaltene Arbeitsleistung sowieso schon ihren Wert verloren hätte, der Arbeitskampf dadurch seinen eigentlichen Zweck als Druckmittel verliert und zu einer reinen „Verzweiflungstat“ verkümmert.110 Doch die Einschätzung kann eine derart tiefgreifende Beschränkung der bedeutsamen Parität nicht rechtfertigen.111

Tatsächlich spricht das augenscheinliche Gegenargument eher für eine gebotene Zulässigkeit. Sofern sich der Arbeitskampf aus Gewerkschaftssicht nicht rentiert, wird sie trotz Zulässigkeit wohl kaum zum Streik aufrufen. Zulässigkeit heißt eben nicht gleich tatsächliche Durchführung. Hinzu kommt, dass ein grundrechtsschonender Ausgleich im Einzelfall durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen erreicht wird.112 Der Diskurs behandelt erst die Möglichkeit der Erstreikbarkeit, wobei die Rechtmäßigkeit des konkreten Arbeitskampfes als zusätzliche Schranke einer späteren Prüfung unterliegt.113 Die generelle Einschränkung der gewährleisteten Koalitionsbetätigungsfreiheit unabhängig vom konkreten Gewicht der Grundrechtspositionen und der Konstellation im Einzelfall ist dagegen nicht zu billigen.

Durch ein umfassendes Arbeitskampfverbot läuft das System der Tarifautonomie leer und die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmerinnen könnte nicht angemessen ausgeglichen werden.114 Tarifverhandlungen ohne Streikrecht sind nicht mehr als „kollektives Betteln“.115 Eine vollständige Ausgrenzung eines Regelungsgebietes von der Möglichkeit des Arbeitskampfes ist, wie gesehen, weder verfassungsrechtlich geboten noch erforderlich.116

Insgesamt ist dem Prinzip der Einheitlichkeit von Regelbarkeit und Erstreikbarkeit zuzustimmen. Aufgrund der Befürwortung einer schuldrechtlichen Regelbarkeit von


98 Jacobs, jurisPRArbR 2018, unter C; Löwisch, RdA 2017, 255 (257).

99 Franzen, ZfA 2005, 315 (329); Höpfner, RdA 2020, 129 (140); Lieb, DB 1999, 2058 (2066 f.); Löwisch/Rieble, Grundl., Rn. 508 ff.; Wiedemann-Jacobs, Einl., Rn. 509.

100 Lobinger, in: Rieble, Rn. 16.

101 Brox/Rüthers-Rüthers, Rn. 260 ff.; ErfK-Linsenmaier, Art. 9 GG, Rn. 114; Däubler, Rn. 178; Däubler-Däubler, § 13, Rn. 10, 46; Gamillscheg, S. 1070; Hensche, AuR 2004, 443 (450); Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1026 f.); MHdB ArbR-Ricken, § 272, Rn. 40.

102 Patett, S. 99 ff.

103 Brox/Rüthers-Rüthers, Rn. 260; ErfK-Linsenmaier, Art. 9 GG, Rn. 114.

104 Lobinger, in: Rieble, Rn. 18.

105 Ebd.

106 Lobinger, in: Rieble, Rn. 29.

107 Vgl. Bruhn, S. 144; Glückert, S. 177.

108 Däubler-Däubler, § 13, Rn. 10.

109 Brox/Rüthers-Rüthers, Rn. 261; Däubler-Däubler, § 13, Rn. 10 f.; Münder, RdA 2020, 340 (342).

110 Lobinger, in: Rieble, Rn. 30.

111 Vgl. Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1026 f.); Patett, S. 101.

112 Vgl. Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1027).

113 Vgl. Olschewski, S. 177 f.

114 Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, S. 16; Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1026); Odenthal, S. 145; Patett, S. 101.

115 BAG, Urt. v. 10.06.1980 – 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642 (1643).

116 Däubler-Däubler, § 13, Rn. 10.

Sparzynski, Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen52

Standortentscheidungen sind sie demzufolge auch erstreikbar.

3. Korrektur: Praktische Konkordanz

Das Ergebnis allein kann jedoch nicht vollständig überzeugen. Die uneingeschränkte Zuordnung der Standortentscheidung unter Art. 9 III GG und Befürwortung einer Einheitlichkeit von Regelbarkeit und Erstreikbarkeit führen zwangsläufig zur generellen Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen. Es fehlt die Möglichkeit einer sachgerechten Differenzierung im Einzelfall. Entsprechend dem momentanen Ergebnis wäre es in allen drei Leitfällen ohne Rücksicht auf die offensichtlichen Unterschiede der Betroffenheit117 möglich, gegen die unternehmerische Entscheidung zu streiken. Vielmehr muss eine Korrektur vorgenommen werden.118

a) Maßstab und abstrakte Grundsätze

Den Tarifvertragsparteien darf jedenfalls keine weitergehende Befugnis als dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber eingeräumt werden, weswegen auch sie – unabhängig von der dogmatischen Herleitung und Wirkungsart – an die Grundrechte gebunden sind.119 Gegenüber stehen sich die Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie nach Art. 9 III GG und die arbeitgeberische Berufsfreiheit und Unternehmensautonomie als Teil der Art. 12 I, 14 I GG.120 An der Stelle kommt auch die objektive Gewährleistungsdimension der Grundrechte zum Tragen.121 Grundrechtskollisionen sind im Wege der praktischen Konkordanz auszugleichen.122 Die Herstellung praktischer Konkordanz erfordert eine einzelfallbezogene Gewichtung der widerstreitenden Grundrechtsposition und anschließende Kompromissfindung durch wechselseitige Abwägung.123 Während die Position der Gewerkschaft und Arbeitnehmerinnen in ihrer Intensität konstant bleibt, verändert sich das Gewicht der arbeitgeberischen Rechtsposition abhängig von der jeweiligen Fallkonstellation.124 Für eine Abwägung sollte also ein allgemeingültiger, abstufender Maßstab für die Bestimmung der Bedeutung der Arbeitgeberinnenseite aufgestellt werden.125

Die „Drei-Stufen-Lehre“126 bietet einen ersten Ansatzpunkt.127 Dabei kommt der Berufsauswahlfreiheit als unantastbarer, persönlicher Kern des Grundrechts mehr Gewicht zu als der Berufsausübungsfreiheit.128 Im Verhältnis zu Art. 9 III GG könnte dadurch folgender Grundsatz gebildet werden: Die Gewerkschaftsposition unterliegt bei Betroffenheit der Berufswahlfreiheit und überwiegt bei Beeinträchtigung des weniger bedeutsamen Bereichs der Berufsausübung.129 Doch die „Drei-Stufen-Theorie“ ist nicht allein in der Lage den notwendigen Bewertungsmaßstab zu bieten.130 Der Grad an Sensibilität der unternehmerischen Standortentscheidung kann bei der unscharfen Trennung von Berufswahl und -ausübung divergieren.131 Es bedarf demnach einer darüberhinausgehenden Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall.132 Orientiert an der Berufswahlfreiheit als persönlichem Kern des Art. 12 I GG ist ein generelles Persönlichkeitskriterium in die Bewertung mitaufzunehmen.133 Das Kriterium spiegelt die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen auf die Arbeitgeberin als Individuum wider, die durch den Streikdruck und dadurch erzwungenen Regelungen entstünden.134 Die Wesentlichkeit der Auswirkungen hängt von der persönlichen Nähe zum Betrieb ab. Im dem Rahmen kann ein zweiter Grundsatz gebildet werden: Je größer der persönliche Bezug der Arbeitgeberin zum Unternehmen, desto eher überwiegen die Interessen der Arbeitgeberin.

Insgesamt muss allerdings beachtet werden, dass die Koalitionsfreiheit nicht voreilig beschränkt wird. Die Korrektur ist vielmehr als restriktives Mittel anzuwenden.135

b) Konkrete Grundsätze und fallbezogene Anwendung

Aus dem abstrakten Maßstab lassen sich konkrete Richtlinien herleiten. Der personale Bezug nimmt etwa mit der steigenden Größe des Unternehmens ab.136 Für Großunternehmen ist eine Standortentscheidung eher vergleichbar zu einer sonstigen wirtschaftlichen Disposition ohne Betroffenheit der eigenen Person.137 Außerdem ist die gewählte Rechtsform ein Indiz für das Gewicht des Persönlichkeitskriteriums.138 Anteilhaberinnen an einer Kapitalgesellschaft werden in der Regel weniger von der Entscheidung individuell betroffen und besitzen einen geringeren persönlichen Bezug zum Betrieb als eine Einzelunternehmerin.139

Für die drei Leitfälle ergeben sich differenzierte, aber im Ergebnis interessengerechte Zuordnungen. Die Gewichtung der Situationen ergibt bei der B-GmbH ein deutliches Unterliegen und bei A ein sicheres Überwiegen der Unternehmens- und Berufsfreiheit im Verhältnis zur Grundrechtsposition der Gewerkschaft. Im Kontext der restriktiven Anwendung der Korrektur ist bei C ebenfalls eine Unterlegenheit im


117 Siehe B.I.1.a).

118 ErfK-Linsenmaier, Art. 9 GG, Rn. 116; Däubler-Däubler, § 13, Rn. 46 ff.; Krause, S. 93 ff., 96 ff.; Münch/Kunig-Winkler, Art. 9 GG, Rn. 156.

119 Cherdron, S. 218 f., 223; Christ, S. 103 ff., 109 f.; Hanau/Thüsing, ZTR 2001, 1 (5 f.); Kissel, § 35, Rn. 15; Säcker/Oetker, S. 263.

120 Siehe ausführlich unter B.

121 Patett, S. 87 ff.

122 Krause, S. 94; Münder, RdA 2020, 340 (350).

123 LAG Hessen, Urt. v. 09.09.2015 – 9 SaGa 1082/15, NZA 2015, 1337 (1339 f.), Rn. 22; ErfK-Linsenmaier, Art. 9 GG, Rn. 44, 73; Kalenborn, JA 2016, 6 (8 f.).

124 Münder, RdA 2020, 340 (352); a.A.: Beckerle, NJW 2017, 439 (441); Franzen, ZfA 2005, 315 (317, 329, 336 f.); Gamillscheg, S. 1070; Wank, RdA 2009, 1 (6) – wonach die Unternehmerfreiheit bei Standortentscheidungen immer überwiegt.

125 Krause, S. 96 ff.

126 BVerfG, Urt. v. 11.06.1958 – 1 BvR 596/56, NJW 1958, 1035 (1037 f.).

127 Münch/Kunig-Kämmerer, Art. 12 GG, Rn. 46, 49; Patett, S. 128 ff.

128 Däubler-Däubler, § 13, Rn. 49; Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1025).

129 Münder, RdA 2020, 340 (342).

130 Krause, S. 97 f.; Münch/Kunig-Kämmerer, Art. 12 GG, Rn. 46 ff.

131 Münder, RdA 2020, 340 (352).

132 Sachs-Mann, Art. 12 GG, Rn. 142 ff.

133 Vgl. Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1025).

134 Krause, S. 98 ff.

135 Vgl. Münder, RdA 2020, 340 (352); Olschewski, S. 196.

136 LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 20.02.2019 – 4 Sa 40/18, BeckRS 2019, 5464, Rn. 123; Patett, S. 132 f.

137 Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1025); Odenthal, S. 149.

138 Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1025).

139 Vgl. ErfK-Linsenmaier, Art. 9 GG, Rn. 116; Münder, RdA 2020, 340 (343).

Sparzynski, Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen53

Vergleich zur Position der Gegenseite anzunehmen.

c) Rechtliche Folge

Nach der Feststellung, dass es einer abwägenden Einschränkung im Einzelfall bedarf, ist die Erörterung der genauen Folgenausgestaltung eine notwendige Anschlussfrage: Was bewirkt eine Abwägungsentscheidung zu Gunsten der Arbeitgeberinnenseite?

Zwei verschiedene Ansätze sind denkbar, wobei der Anknüpfungspunkt entweder im Verfassungsrecht oder im einfachen Recht liegt. Im Endeffekt wird durch beide Ansätze jedoch dieselbe Methode der praktischen Konkordanz und dasselbe differenzierte Abwägungsergebnis erreicht – nur auf verschiedenen Ebenen.

Überzeugender ist es, die Zuständigkeit bezüglich Standortentscheidungen entsprechend der Ausführungen unter B.II.2. grundsätzlich zu bejahen. Die Eingrenzung sollte vielmehr als einzelfallbezogene Ausnahme vom Einheitlichkeitsgrundsatz auf Ebene der Erstreikbarkeit stattfinden.140 Die Tarifvertragsparteien können demnach freiwillig Standortentscheidungen regeln, ohne dass die Gewerkschaft dahingehend einen Arbeitskampf führen darf.141

Anders als bei C.II.2. geht es nicht um die Frage „Streik“ oder „niemals Streik“ – bei der man sich eindeutig für ersteres entscheidet – sondern um die Entscheidung zwischen „noch nicht einmal zuständig“ und „zumindest freiwillig regelbar“. Grundlage für die Auflösung im Sinne der Freiwilligkeit ist das Konzept des (freiwilligen) Grundrechtsverzichts auf Arbeitgeberinnenseite.142 Der Kritik, freiwillige Tarifverträge seien systemwidrig und der Arbeitskampf reduzierte sich auf einen Wertungsmaßstab für Tarifforderungen,143 sind der rechtmäßige Grundrechtsverzicht und die Privatautonomie entgegenzuhalten.144 In dem freiwilligen Verzicht auf eine Rechtsposition ist eine eigenständige Grundrechtsausübung zu sehen.145 Es besteht kein rechtliches Bedürfnis den Tarifvertragsparteien einen freiwilligen Tarifvertragsschluss vorzuenthalten.146 Es bedarf also für eine rechtmäßige Lösung keiner abstrakt-generellen Verkürzung des Bereichs der Tarifautonomie.147 Die Vorgehensweise beachtet schließlich beide Interessengruppen gleichermaßen. Sie schafft Raum für Verhandlungen und Mitwirkungen der Betroffenen, ohne jedoch die Arbeitgeberin unter Druck zu setzen oder den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit einzuengen.

Folglich bleibt festzuhalten: Sofern eine Abwägungsentscheidung zu Gunsten der Arbeitgeberin ausfällt, bleibt ein standortsichernder Tarifvertrag als freiwillig vereinbar bestehen.

4. Zwischenfazit

Insgesamt sind Standortentscheidungen tarifvertraglich im schuldrechtlichen Teil regelbar. Sie sind damit ein zulässiges Kampfziel und ebenfalls durch einen Streik erkämpfbar. Im Einzelfall kann allerdings dem erheblichen Gewicht der Berufsfreiheit der Arbeitgeberin mehr Bedeutung zugemessen werden. In den Situationen kommt den Tarifvertragsparteien lediglich eine freiwillige Regelungsbefugnis ohne Arbeitskampfmöglichkeit zu.

D. Modellvorschlag für die Praxis

Die erreichte theoretische Lösung verfolgt eine differenzierende, einzelfallbezogene Sichtweise. Größtes Problem dabei ist – wie bei Einzelfallbewertungen üblich – die praktische Umsetzung und Durchführung einer interessengerechten Bewertung. Einzelfallentscheidungen neigen dazu mit Rechtsunsicherheiten behaftet zu sein.148 Insofern muss dem rechtsstaatlichen Erfordernis der Vorhersehbarkeit genüge getan werden. Dem Vorwurf, es fehle an handhabbaren Kriterien für eine Grenzziehung,149 kann allein auf praktischer Ebene begegnet werden.

Ein bereits anerkannter, arbeitsrechtlicher Weg, um intransparente, ungerechte Bewertungen zu umgehen, lässt sich etwa bei Kündigungen finden. Für die Sozialauswahl werden in der Praxis häufig Punkteschemata zur Gewichtung der einzelnen Sozialkriterien angewandt.150 Ein weiteres Beispiel ist das Quotenschema für die Verhältnismäßigkeit einer Aussperrung.151 Deshalb soll auch für die Bewertung der Zulässigkeit von Standortstreiks ein Modellvorschlag für die Praxis unterbreitet werden.

Im Mittelpunkt für die Beurteilung der Zulässigkeit stehen das Gewicht der individuellen Berufsfreiheit sowie die Stärke des persönlichen Bezuges zwischen der Arbeitgeberin und dem Betrieb.152 Grundlegendes Kriterium ist eine Einordnung als kleines, mittelständisches oder großes Unternehmen.153 Folgende Indizien sind für die Bewertung sinnvoll: die Rechtsform, die Anzahl der Arbeitnehmerinnen und die Anzahl weiterer vom Unternehmen geführter Betriebe.154

Bei der Rechtsform muss vor allem zwischen Einzelunternehmerinnen, Personengesellschaften mit mehreren Gesellschafterinnen (etwa oHG, KG oder Partnerschaftsgesellschaften) und Kapitalgesellschaften (etwa AG oder GmbH) abgestuft werden. Die Einzelunternehmerin weist dabei regelmäßig eine stärkere persönliche Bindung auf, während bei Personengesellschaften eine geringe und bei Kapitalgesellschaften schon kaum mehr eine individuelle Beziehung zu verorten ist. Der Abstufung genau entgegen-


140 ErfK-Linsenmaier, Art. 9 GG, Rn. 116; Gamillscheg, S. 344, 1070; Hohenstatt/Schramm, DB 2004, 2214 (2216 f.); Münder, RdA 2020, 340 (342).

141 LAG Hessen, Urt. v. 09.09.2015 – 9 SaGa 1082/15, NZA 2015, 1337 (1340), Rn. 23; Franzen, ZfA 2005, 315 (336 f.); Gamillscheg, S. 344.

142 Hanau/Thüsing, ZTR 2001, 1 (52); Hohenstatt/Schramm, DB 2004, 2214 (2217); Patett, S. 90 ff.

143 MHdB ArbR-Ricken, § 272, Rn. 43.

144 Dreyer, S. 237; Patett, S. 91 f.

145 Christ, S. 113; Patett, S. 91 f.

146 Christ, S. 67 ff., 72, 115 ff.

147 ErfK-Linsenmaier, Art. 9 GG, Rn. 73, 116; Wolter, RdA 2002, 218 (221 f.); vgl. Ausführungen unter B.II.2.b).

148 Cherdron, S. 264.

149 Willemsen/Mehrens, NZA 2018, 1382 (1383).

150 SWK ArbR-Mohnke, „betriebsbedingte Kündigung“, Rn. 76.

151 BAG, Urt. v. 10.06.1980 – 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642 (1651); ErfK-Linsenmaier, Art. 9 GG, Rn. 241 ff.; Linsenmaier, RdA 2019, 157 (168).

152 Siehe Ausführungen unter C.II.3.

153 Vgl. Odenthal, S. 150.

154 Ebd.

Sparzynski, Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen54

gesetzt lässt sich die Unternehmensgröße vermuten.155 Die Vermutung kann durch die Anzahl an Arbeitnehmerinnen und Betrieben gestützt werden. Je höher die Anzahl, desto eher ist ein Großunternehmen gegeben. Hinzukommt, dass die personale Verbindung mit steigender Anzahl naturgemäß abnimmt. Außerdem muss Betrieben im selben Sektor oder Tätigkeitsbereich ein größeres Gewicht eingeräumt werden als Betrieben mit anderer fachlicher Ausrichtung. Ein Großunternehmer in der Baubranche der sein einziges Café schließt, wird trotzdem eine essentielle Grundrechtsposition im Bereich der Berufswahlfreiheit innehaben.

Im Ganzen kann eine sachgerechte Wertung nur unter Gesamtbetrachtung der Indizien stattfinden. Dafür kann eine Scoring-Tabelle entworfen werden. Jedem Indiz werden dabei in den verschiedenen Ausformungen Punkte zugewiesen. Für jeden Betrieb gibt es 0,5 Punkte, wobei für jeden Betrieb im selben Sektor wie der betroffene Betrieb zwei Punkte zu vergeben sind. Für Arbeitnehmerinnen werden pro 10 Arbeitnehmerinnen 0,5 Punkte angesetzt.156 Die drei gebildeten Rechtsform-Gruppen werden aufgrund ihrer wesentlichen Bedeutung für das Persönlichkeitskriterium in 10-Punkte-Schritten abgestuft. Der daraus resultierende Score dient als Vermutung für Unternehmensgröße und persönliche Bindung. Je höher der Wert, desto geringer der personale Bezug und desto weniger stark darf die Berufsfreiheit gewichtet werden. Besonders hohe Zahlen führen also zur vermuteten Zulässigkeit des Arbeitskampfes. Folgendes System ergibt sich aus der beispielhaften Wertung und Punkteverteilung:

Die Punkteverteilung spiegelt die Einordnung der Konstellationen unter C.II.3. wider. Während Fall 1 eindeutig der korrektiven Einzelfallbeschränkung bezüglich des Arbeitskampfes unterliegt, ist ein Streik im Fall 2 jedenfalls zulässig. Fall 3 lässt mehr Spielraum. Der personale Bezug bei C ist als moderat einzuschätzen und das Unternehmen als mittelständisch. Trotzdem muss die grundlegende Erwägung, dass Einschränkungen der Gewerkschaftstätigkeit restriktiv vorzunehmen sind, berücksichtigt werden. Danach ist der Punktebereich, in dem ein Streik unzulässig wäre, als kleiner und eben nicht proportional zum Punktebereich der Zulässigkeit zu erachten. Demzufolge liegt der Score des zweiten Falles im größer gefassten Punktebereich, sodass – entsprechend obiger Ausführungen – der Arbeitskampf tendenziell zulässig ist.

Die fallbezogene Anwendung bestätigt die Zweckmäßigkeit des Modells. Dem Erfordernis nach Vorhersehbarkeit kann sich die Praxis dadurch annähern.

E. Fazit und Ausblick

Schlussendlich lässt sich folgende Antwort auf die Frage nach der Zulässigkeit von Streiks gegen Standortentscheidungen geben: Es kommt darauf an. Die in der erfolgten Untersuchung erlangten rechtlichen Ergebnisse sollen in fünf Leitgrundsätzen festgehalten werden:

1. Standortentscheidungen werden unter den „inneren“ Bereich unternehmerischer Entscheidungen gefasst, welcher in den Schutzbereich der Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit nach Art. 9 III GG fällt.

2. Die Tarifvertragsparteien sind befugt, Standortentscheidungen im schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrags zu regeln. Konkret bietet sich dafür eine Standortsicherungsklausel in einem Firmentarifvertrag an.

3. Die Forderung nach einer Vereinbarung bezüglich der Standortentscheidung ist ein zulässiges Arbeitskampfziel.

4. Arbeitskampfmaßnahmen unmittelbar gegen die Standortentscheidung sind wegen der Einheitlichkeit von Regelbarkeit und Erstreikbarkeit grundsätzlich zulässig.

5. Im Einzelfall und sofern eine persönliche Ebene erreicht oder der Kernbereich der Berufsfreiheit der Arbeitgeberin betroffen ist, muss eine korrektive Begrenzung auf freiwillige Regelungen vorgenommen werden. Daraus folgt, dass Arbeitskampfmaßnahmen in den Konstellationen unzulässig sind.

Die aktuelle Diskussion in der Rechtsprechung und in der Literatur bewegt sich hauptsächlich auf der theoretischen Ebene und lässt eine ausführliche Auseinandersetzung im praktischen Gefüge missen. Nichtsdestotrotz ist und bleibt die Problematik um die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Arbeitskampfrechts in Deutschland bedeutsam. Insbesondere Auswirkungen der Globalisierung und der COVID-19-Pandemie werden die Thematik der Standortentscheidung und das damit einhergehende Konfliktpotential weiter ins Blickfeld der Gerichte rücken. In Zukunft ist demnach auf einen umfangreicheren Diskurs in der Rechtspraxis zu hoffen. Die Ausarbeitung eines Modells für die reale Anwendung kann jedoch schon zum jetzigen Zeitpunkt in Angriff genommen werden. Eine schematische Scoring-Tabelle könnte in dem Kontext ein lösungsorientierter Ansatz sein, um Rechtsunsicherheiten vorbeugenden zu begegnen.


155 Statistische Erhebung (2019): https://de.statista.com/statistik/daten/studie/237346/umfrage/unternehmen-in-deutschland-nach-rechtsform-und-anzahl-der-beschaeftigten/.

156 Maßstab basierend auf Anwendungsgrenze des Kündigungsschutzgesetz (§ 23 I KSchG) und entsprechend unterer Grenze für „Kleinstunternehmen“ nach Empfehlung der Europäischen Kommission, v. 06.05.2003, 2003/361/EG, Anhang, Art. 2.