Pauline Mühleck*
A. Einleitung
Selten ist eine im Kern außerstrafrechtliche und interdisziplinär diskutierte Fragestellung so grundsätzlich relevant für das Strafrecht wie die Frage nach der Willensfreiheit.
Obwohl sich die Philosophie schon seit ihren Anfängen1 mit dieser Kernfrage des Menschseins beschäftigt, wird sie aufgrund neurowissenschaftlicher Erkenntnisse heutzutage besonders intensiv diskutiert.
Da die Willensfreiheit oft als Bedingung von Verantwortung im ethischen Sinne angesehen wird,2 ist es nicht verwunderlich, dass sich auch das Schuldstrafrecht dieser Diskussion nicht enthalten kann. Während der BGH in seinem zentralen Urteil 1952 noch festhielt, der „innere Grund des Schuldvorwurfes l[äge] darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt [sei], sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden“3, wird heute kontrovers diskutiert, ob und wie sich das Strafrecht im Streit um die Willensfreiheit positionieren muss.
Inwiefern das Strafrecht zu diesem außerstrafrechtlichen Streit Stellung beziehen sollte, wird daher im Folgenden erörtert. Dabei soll auch auf den philosophischen Diskurs um die Willensfreiheit sowie auf die Forderung nach der Abschaffung des Schuldstrafrechts eingegangen werden.
B. Grundsätzliches und philosophische Grundbegriffe
Die Verknüpfung zwischen dem Strafrecht und der Frage nach der Willensfreiheit ergibt sich aus dem Schuldprinzip. Im heutigen Strafrecht stellt Strafe einen „sozialethischen Tadel“4 dar, der an der individuellen Verantwortlichkeit des Täters orientiert ist. Im Rahmen der Schuld soll festgestellt werden, inwiefern dem Täter das verwirklichte Unrecht vorwerfbar ist und ihm zugeschrieben werden kann.5 Dies erfordert jedoch, dass der ihr zugrunde liegende Grundsatz der Verantwortlichkeit normativ angemessen ist — nur wenn der Mensch nach seinen Dispositionen „schuldig“ sein kann, ist die Strafsanktion des Schuldstrafrechts gerechtfertigt.6
Im philosophischen Diskurs haben sich differenzierte Positionen zur Frage nach der Willensfreiheit des Menschen herausgebildet. Besonders fällt auf, dass verschiedene Strömungen jeweils unterschiedlich starke Definitionen der Willensfreiheit zugrunde legen. Es stellt sich für das Strafrecht also nicht die Frage, „ob“ der Mensch willensfrei ist, sondern „wie“ willensfrei er ist.
Materiell wird die Willensfreiheit, die mit der „Entscheidungsfreiheit“ gleichzusetzen ist,7 überwiegend über den Begriff des „Andershandelnkönnens“ definiert. Das „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“ (im Folgenden als PAM abgekürzt)8 wird als Bedingung für Willensfreiheit angesehen: Eine Handlung ist Ausdruck einer willensfreien Entscheidung, sofern der Handelnde auch hätte anders handeln können. Zudem werden oft für Verantwortlichkeit die „Urheberschaft“ und „Kontrolle“ (bzw. Intelligibilität) über eine Entscheidung als notwendig angesehen.9
Traditionell wurde die philosophische Debatte zwischen dem Libertarismus und universalen Determinismus geführt, denen die Annahme zugrunde lag, mit einer deterministischen Welt seien Willensfreiheit und Verantwortlichkeit nicht vereinbar. Heutzutage ist unter den die Willensfreiheit verneinenden Strömungen vor allem der neurophysiologische Determinismus prominent, der aussagt, menschliche Entscheidungen seien an neurophysiologische Prozesse gebunden.10 Der Kompatibilismus, der die Frage nach dem Determinismus offenlässt und aussagt, unabhängig davon sei der Mensch für seine Taten verantwortlich,11 hat zusätzlich den Fokus der Debatte verändert: Im heutigen Diskurs liegt der größte Streitpunkt in der Frage, ob und wie Willensfreiheit, Verantwortung und Determinismus vereinbar sind.
C. Begründung des Schuldstrafrechts über eine Stellungnahme zum philosophischen Diskurs
Es stellt sich die Frage, inwiefern der Schuldgrundsatz angesichts dieses Diskurses aufrechterhalten werden kann.12 Dies könnte zunächst durch eine Positionierung im philosophischen Diskurs gelingen.
I. Libertarischer Ansatz der Rechtsprechung
Die Rechtsprechung schließt sich bei der Frage nach der Willensfreiheit dem Libertarismus an: Wie bereits der BGH 195213 hält das BVerfG zum Beispiel im Lissabon-Urteil14 am traditionellen Verständnis der Schuld im Sinne eines „Andershandelnkönnens“ fest, das dem Menschen aufgrund seiner Eigenverantwortung gegeben sei.15
1. Libertarismus als philosophische Strömung
Dieses Menschenbild entspricht dem des Libertarismus, welcher ausgehend vom Indeterminismus die Willensfreiheit des Menschen annimmt.
* Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School, Hamburg.
1 So hat z. B. bereits Aristoteles einen erheblichen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Determinismus geliefert; vgl. Keil, Willensfreiheit3, 2017, S. 22.
2 Vgl. Burghardt, Zufall und Kontrolle, 2018, S. 2.
3 BGHSt 2, 194 (200).
4 Eisele, in: Eser (Hrsg.), StGB Kommentar30, 2019, Vor § 13 Rn. 103/104.
5 BGHSt 2, 194 (200); Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, 1907, S.14.
6 Ob das Problem im Rahmen einer „Schuldidee“ (Eisele, in: Sch/Sch (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 108) oder der Strafbegründungsschuld (Radtke, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 24, 2020, Vor § 38 Rn. 15) aufkommt, kann offenbleiben.
7 Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld2, 2014, S. 16.
8 So auch in der philosophischen Literatur herrschend; Merkel (Fn. 7), S. 17.
9 Kane, The Significance of Free Will, 1998, S. 4ff.
10 So z. B. Duttge, in: ders. (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, 2009, S. 13, 23.
11 So z. B. Strawson, in: ders. (Hrsg.), Freedom and Resentment and Other Essays, 2008, S. 1, 9ff.
12 Auch die Möglichkeit der Ersetzung des Schuldstrafrechts durch ein Maßregelrecht wird dabei evaluiert; s. D.II.4.b).
13 BGHSt 2, 194 (200).
14 BVerfGE 123, 267.
15 BVerfGE 123, 267 (413).
Diesem wird der Zufallseinwand entgegengesetzt: Wenn sich ein Mensch unter gleichen Umständen, also auch gleichen Motiven, anders hätte entscheiden können, würde seine Entscheidung rein zufällig fallen, weshalb er nicht dafür verantwortlich wäre.16 Es stellt sich also die „Intelligibilitätsfrage“, inwiefern indeterminiert willensgemäße Entscheidungen getroffen werden können.
Zur Lösung dieser Frage kann ein cartesianischer Dualismus von Leib und Seele angenommen werden: Entscheidungen werden vom Geist, einer nicht-materiellen Instanz, getroffen. Das dadurch aufgeworfene Leib-Seele-Problem ist jedoch philosophisch ebenso umstritten wie die Frage nach der Willensfreiheit, außerdem metaphysisch und nicht beweisbar.17 Auch naturalistische Lösungen wie die kantische Akteurskausalität18 führen zum Leib-Seele-Problem zurück.19 Moderne Ansätze wie der „fähigkeitsbasierte Libertarismus“ Keils20 vermögen die Intelligibilitätsfrage auch nicht zu lösen.21
Der Libertarismus stützt sich also auf metaphysische Erwägungen und ist philosophisch nicht „beweisbar“.
2. Strafrechtliche Begründung des Schuldprinzips
So verweist die Rechtsprechung zur Begründung des Schuldstrafrechts nicht auf philosophische „Beweise“, sondern konstatiert, es handele sich bei der Willensfreiheit um eine normative Frage, die vom Menschenbild einer Rechtsordnung abhängig sei.22 Das BVerfG begründet die Willensfreiheit vielmehr aus Art. 1 I GG, der auf einem von Autonomie geprägten Menschenbild beruhe.23
Grundsätzlich lässt sich aus der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes, u.a. nach der kantischen Freiheitskonzeption, die Willensfreiheit des Menschen herleiten.24 Die Anwendung verfassungsrechtlicher Vorgaben liegt auch nahe, da der Schuldgrundsatz nach dem BVerfG auf dem Grundgesetz beruht.25
Die Begründung des Schuldstrafrechts durch bloße rechtliche Prämissen lässt vermuten, dass die Rechtsprechung doch eine agnostische Position einnimmt. Zwar zeigt diese Schuldkonzeption Ähnlichkeiten zur später darzulegenden „normativen Setzung“ der Willensfreiheit, dennoch bekennen sich BGH und BVerfG zum Indeterminismus,26 legen zumindest nicht offen, dass es sich lediglich um ein Postulat innerhalb des Schuldgrundsatzes handele.
Zweifelhaft ist dann, ob durch einen bloßen rechtspositivistischen Verweis auf das Menschenbild des Grundgesetzes die Willensfreiheit innerhalb der gesamten Rechtsordnung angenommen werden darf. Hauptsächlich ist aber gegen den Ansatz der Rechtsprechung einzuwenden, dass selbst unter Annahme der Willensfreiheit ein vom Schuldbegriff gefordertes „Andershandelnkönnen“ des individuellen Täters zum Tatzeitpunkt empirisch nicht feststellbar ist. Zwar ist der Grundsatz „in dubio pro reo“ hinsichtlich menschlicher Erkenntnisgrenzen nicht anwendbar,27 problematisch ist aber nicht die Willensfreiheit an sich: Da das empirische Merkmal des individuellen „Anderskönnen“ des Täters nicht feststellbar ist, müsste der Grundsatz „in dubio pro reo“ zum Freispruch aller Täter führen.28 Auch über einen sozialen Schuldbegriff bei Maßgabe eines „Normalbürgers“ ist das Problem nicht lösbar, da man das nach der personalen Straftatlehre individuelle „Andershandelnkönnen“ nicht über Dispositionen anderer Menschen begründen kann.29
Somit ist die Auffassung der Rechtsprechung aufgrund der Konzeption des „Andershandelnkönnens“ angreifbar.
II. Deterministische Ansätze
Teilweise wird hingegen angenommen, ein Schuldstrafrecht sei bei Annahme des Determinismus und eines Fehlens von Willensfreiheit möglich. Dies betont die Lehre von der Charakterschuld, „wiederbelebt“30 durch Herzberg.
1. Determinismus als philosophische Strömung
Der (harte) Determinismus lässt sich auf verschiedene Weisen begründen. Gemeinsam haben die Ansätze, dass aus der Determiniertheit des Menschen seine Willensunfreiheit folgt — das PAM könne schließlich nicht erfüllt werden.
a) universaler Determinismus
Der universale Laplace-Determinismus geht davon aus, dass die Zukunft nach den Kausal- und Naturgesetzen zwingend durch die Vergangenheit festgelegt sei.31 Der Mensch könne nie anders handeln als determiniert, was Willensfreiheit ausschließe.32
Der Vorstellung liegt die klassische Physik zugrunde. Durch die Heisenberg’sche Unschärferelation zeigt sich aber, dass schon physikalisch nicht von einer durchgängigen Geltung des Kausalprinzips ausgegangen werden darf.33
Insbesondere ist im Sinne Kants zu bemerken, dass eine durchgängige Geltung des Kausalgesetzes zu einem infiniten Regress führen müsste, wolle man die hinreichende Ursache einer Entscheidung bestimmen.34 Ähnlich fragen andere Philosophen nach einer Modalitätsquelle des Determinismus: „Naturgesetze“ haben keinen präskriptiven Charakter, sondern beschreiben nur Vorgänge. Um einen universalen Determinismus annehmen zu können, müsste man also eine allumfassende Existenz voraussetzen, die begründet, wieso die Zukunft notwendigerweise kausal festgelegt ist.35
Dies entlarvt den universalen Determinismus als metaphysische „theory of everything“.36
16 Burghardt (Fn. 2), S. 346; zur Kritik dazu Bröckers, Strafrechtliche Verantwortung ohne Willensfreiheit, 2015, S. 157ff.
17 Burghardt (Fn. 2), S. 344.
18 Kant, KrV B 563 / A 535.
19 Merkel (Fn. 7), S. 51ff.
20 Keil (Fn. 1), S. 146ff.
21 Burghardt (Fn. 2), S. 245ff.
22 Eisele, in: Sch/Sch (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 110.
23 BVerfGE 123, 267 (413).
24 Möllers, in: Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, 2008, S. 250, 260f.
25 BVerfGE 130, 1 (26).
26 Z. B. BVerfGE 123, 267 (413);
vgl. auch Radtke, in: MüKo (Fn. 6), Vor § 38 Rn. 21.
27 Verrel/Linke/Koranyi, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Bd. 213, 2021, § 20 Rn. 17.
28 Roxin, ZStW 96 (1984), 641, 643; vgl. auch Burghardt, der dieses Problem als „Existenzfrage“ des philosophischen relativen Kontrollbegriffs bezeichnet, Burghardt (Fn. 2), S. 247ff.
29 Bröckers (Fn. 16), S. 57ff.
30 Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, 2013, S. 46.
31 Laplace, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten, übers. v. Schwaiger, 1886, S. 1f.
32 Vgl. das Konsequenzargument van Inwagens; Van Inwagen, An Essay on Free Will, 1983, S. 16.
33 So resümiert Heisenberg gar, der Mensch könne nie die Natur losgelöst von seinem Erkenntnishorizont betrachten; Bröckers (Fn. 16), S. 27.
34 Kant, KrV B 474 / A 446.
35 Sie wäre „Letztursache“ im kantischen Sinn.
36 Keil (Fn. 1), S. 39.
b) neurophysiologischer Determinismus
Heutzutage wird ein Fehlen der Willensfreiheit daher auf bereichsspezifische Determinismen gestützt. Der neurophysiologische Determinismus postuliert, das menschliche Entscheiden sei durch unkontrollierbare und oft unbewusste Prozesse des Gehirns determiniert.37
Bereits das grundlegende Libet-Experiment, in dem bei Probanden vor einer Entscheidung schon ein „Bereitschaftspotential“ gemessen wurde, lässt sich hinterfragen. Mit Libet selbst ließe sich eine „Veto-Fähigkeit“ des Bewusstseins im Menschen annehmen.38 Vor allem aber handelt es sich im Experiment um simple Bewegungen in einem unnatürlichen Kontext: Der Handlungsentschluss könnte bereits über die Anweisung zu Beginn des Experiments geschaffen worden sein.39
Der neurophysiologische Determinismus lässt sich auch allgemein anzweifeln: Fraglich ist, ob die empirische Forschung überhaupt normative Aussagen treffen kann. Zweifelhaft ist außerdem, ob ein Bereichsdeterminismus an sich exis\-tieren kann: Wieso ausgerechnet sollte der Wille des Menschen determiniert sein, wenn es die Welt als Ganzes nicht ist?40 Vor allem kann Neurowissenschaftlern eine philosophische Einseitigkeit vorgeworfen werden. Sie setzen sich nicht mit der Frage auseinander, ob Determinismus und Willensfreiheit vereinbar sind. Die Möglichkeit des Kompatibilismus wird also nicht in Betracht gezogen, obwohl sie in der philosophischen wie juristischen Literatur sehr verbreitet ist.41
2. Strafrechtliche Begründung des Schuldprinzips
Nach der Lehre von der Charakterschuld wird auf deterministischem Fundament behauptet, der Schuldvorwurf knüpfe am Charakter als Ursprung der Tat und „nur durchgangsweise“ an der Tat an.42
Dies widerspricht allerdings dem sich aus dem Tatstrafrecht ergebenden Einzeltatschuldprinzip: Strafe kann schon rein prozessual niemals ein Urteil über die „Täterpersönlichkeit“43 sein — die gesamte „Täterpersönlichkeit“ lässt sich nicht vor Gericht erfassen. Vor allem aber darf das Strafrecht den Täter nur in den Grenzen seiner Tat verantwortlich machen, der Schuldvorwurf darf nicht an sein „So-Sein“ anknüpfen.44
Überdies ist fraglich, wie Täter im Determinismus überhaupt für ihren Charakter verantwortlich sein können. Zwar geht Herzberg davon aus, die Freiheit des Menschen liege in der Bestimmung zu sich selbst.45 Dadurch wird das Problem der Willensfreiheit jedoch nur von der Tathandlung zur Konstitution des Charakters verschoben.46
III. Zwischenergebnis
Bereits strafrechtsdogmatisch enthalten die Lehre von der Charakterschuld und die Ansicht der Rechtsprechung Unschlüssigkeiten.
Vor allem gibt es aktuell keine überzeugende philosophische Antwort auf die Frage nach der Willensfreiheit.47 Da Determinismus und Libertarismus sich nicht von metaphysischen Grundfragen lösen lassen, könnte man sogar behaupten, die Willensfreiheit sei nicht beweisbar und es handele sich um ein „Ewigkeitsproblem“ außerhalb der Erkenntnisgrenzen des Menschen.48
Da jedenfalls heutzutage auf die Frage nach der Willensfreiheit keine überzeugende Antwort vorliegt, kann das Strafrecht nicht zu ihr Stellung nehmen.
D. Begründung des Schuldstrafrechts über eine Fiktion im Sinne einer normativen Setzung
Zur Begründung des Schuldstrafrechts bleibt also noch, im Rahmen der Schuld im Sinne einer „Fiktion“49 von der Willensfreiheit auszugehen. Dies wird überwiegend über eine „normative Setzung“ nach dem Roxin’schen Schuldbegriff durchgeführt.
I. Grundzüge und philosophischer Hintergrund
Roxin begreift Schuld als „unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit“50. Nach seiner Schuldkonzeption handelt ein Täter normativ ansprechbar und folglich schuldhaft, wenn er zum Tatzeitpunkt „seiner geistigen und seelischen Verfassung nach für den Anruf der Norm disponiert war“51.
Dabei macht Roxin die Schuld nicht von einem individuellen „Andershandelnkönnen“ des Täters in der konkreten Tatsituation abhängig, sondern behandelt ihn nur so, sofern dessen normative Ansprechbarkeit im Sinne einer empirisch feststellbaren Steuerungsfähigkeit festgestellt wurde. Diese sei anzunehmen, sofern keine Schuldausschließungsgründe einschlägig seien.52
Sobald der Täter jedoch normativ ansprechbar ist, wird ein „Andershandelnkönnen“ des Täters angenommen, ohne dies der Willensfreiheit entsprechend zu beweisen.53 Damit legt Roxin die Normativität seines Schuldbegriffs54 offen und zeigt, dass es sich bei der individuellen Möglichkeit, anders handeln zu können, und der Willensfreiheit um bloße Postulate innerhalb der Schuld handelt.
Die Roxin’sche Ansicht wird oft als „agnostischer Kompatibilismus“ bezeichnet, weist jedoch starke Unterschiede zum agnostischen Kompatibilismus in der Philosophie auf.
37 Duttge (Fn. 10), S. 13, 23.
38 Libet, übers. v. Schröder, in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung — Neues Strafrecht?, 2006, S. 111, 111ff., 118ff.
39 Hörnle (Fn. 30), S. 19; Rösler, in: Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, 2008, S. 140, 156ff.
40 Bröckers (Fn. 16), S. 28.
41 Bröckers (Fn. 16), S. 35ff.
42 Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, 2010, S. 99.
43 Kaufmann, Das Schuldprinzip2, 1976, S. 187.
44 Eisele, in: Sch/Sch (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 105/106.
45 Herzberg (Fn. 43), S. 27; Streng genommen ist er also nicht harter, sondern weicher Determinist, dazu s. D.I.
46 Roxin/Greco, Strafrecht AT I5, 2020, § 19 Rn. 29.
47 Auch der Kompatibilismus überzeugt nicht; s. D.I.
48 Vgl. Radtke, in: MüKo (Fn. 6), Vor § 38 Rn. 20 m.w.N.
49 Der Begriff ist irreführend; vgl. Roxin/Greco (Fn. 47), § 19 Rn. 49. Er suggeriert aber eine Stellungnahme im philosophischen Diskurs zugunsten des Fehlens von Willensfreiheit — nur dann wäre eine „Fiktion“ notwendig. Der Theorie der „normativen Setzung“ liegt jedoch der Agnostizismus zugrunde. Da der Begriff „Fiktion“ aber in der Literatur verbreitet ist, soll er trotzdem verwendet werden.
50 Roxin/Greco (Fn. 47), § 19 Rn. 36.
51 Ebd.
52 Ebd.
53 Roxin/Greco (Fn. 47), § 19 Rn. 37.
54 Aufgrund der empirisch festzustellenden „normativen Ansprechbarkeit“ ist der Roxin’sche Schuldbegriff streng genommen gemischt empirisch-normativ; Roxin/Greco (Fn. 47), § 19 Rn 46.
Kompatibilistische Meinungen in der Philosophie positionieren sich insbesondere zur Vereinbarkeitsthese: Während sich weiche Deterministen zum Determinismus bekennen und ihn für vereinbar mit der Willensfreiheit halten,55 lassen agnostische Kompatibilisten die Frage nach dem Determinismus offen. Sie postulieren, Determinismus und Indeterminismus seien mit der Willensfreiheit oder zumindest der Zuschreibung von Verantwortung vereinbar.56
Problematisch ist jedoch, dass Kompatibilisten die Vereinbarkeitsthese meist bejahen, indem sie den Begriff der Willensfreiheit abschwächen. Viele sehen das PAM nicht als notwendige Bedingung der Willensfreiheit an, verwechseln jedoch die negative und positive Willensfreiheit,57 bedienen sich widersprüchlicher Gedankenexperimente58 oder fehleranfälliger Modelle.59 Insofern bietet der Kompatibilismus auch keine zufriedenstellende Lösung für das Problem der Willensfreiheit.
Diese Einwände muss Roxin jedoch nicht gegen sich gelten lassen: Er ist nur insofern „agnostischer Kompatibilist“, als er die Verantwortungszuschreibung der Schuld unabhängig von einer Positionierung im Streit um Determinismus und Willensfreiheit annimmt. Kompatibilist im Streit um Willensfreiheit ist er nicht, denn dann könnte Roxin von vornherein von der Willensfreiheit ausgehen und müsste keine Fiktion vornehmen.
II. Legitimation
Scheinbar bietet die „normative Setzung“ eine einfache Lösung für das Problem der Willensfreiheit im Strafrecht — da Willensfreiheit philosophisch weder beweisbar noch widerlegbar ist, könne man sie als Agnostiker, so Merkel pointiert, „mit der Geste des Achselzuckens“60 vornehmen.
Problematisch ist aber, dass auch bei einer „normativen Setzung“ die Frage nach der Willensfreiheit des Täters und auch der Möglichkeit, sich in der konkreten Situation für das Recht zu entscheiden, auf tatsächlicher Ebene offenbleibt.61 Da man genauso eine „Willensunfreiheit“ fingieren könnte, ist eine Legitimation der „normativen Setzung“ erforderlich. Sonst würde dadurch die fehlende Feststellbarkeit der individuellen Entscheidungsfreiheit nur umgangen.
1. Subjektives Freiheitsempfinden
Zunächst erscheint plausibel, die Fiktion der Willensfreiheit anhand des subjektiven Freiheits- und Verantwortlichkeitsempfindens zu rechtfertigen. Burkhardt führt aus, bei der Fiktion einer Willensfreiheit ginge es nicht um normative Annahmen, sondern ob die Rechtsordnung „den Standpunkt des handelnden Subjekts einnehmen“62 könne. Vergleichbar zum kantischen subjektiv-epistemischen Indeterminismus63 legt Burkhardt dar, die rechtliche Zuschreibung von Willensfreiheit und Verantwortung begründe sich dadurch, dass ein Straftäter seine Handlungen notwendigerweise subjektiv als frei empfinde.64
Dass sich alle Menschen, auch Deterministen, subjektiv in ihren Entscheidungen frei fühlen müssen, lässt sich durch das MacKay’sche „philosophische Relativitätsprinzip“ begründen: Auch im Determinismus könnten Menschen ihre Entscheidung nicht vollständig sicher prognostizieren, da sie diese „Prognose“ dann als Grundlage für ihre — möglicherweise daraufhin andere — Entscheidungsfindung hätten.65
Durch das Kriterium des Freiheitsbewusstseins ist jedoch keine Abgrenzung bezüglich der Schuldfähigkeit und der Möglichkeit des „Andershandelnkönnens“ möglich: Auch ein Geisteskranker und nach § 20 StGB Schuldunfähiger kann sich in seinen Entscheidungen frei fühlen.66
Überhaupt einen objektiven Schluss für eine Zuschreibung von Verantwortung aus dem subjektiven Empfinden von Individuen zu ziehen, würde das Strafrecht vor erhebliche Probleme stellen. Schließlich muss sich die strafrechtliche Verantwortungszurechnung, da sie die für den Bürger nachteilige Strafsanktion rechtfertigt, objektiv begründen lassen können.67
Die „normative Setzung“ kann also nicht durch das subjektive Freiheitsbewusstsein legitimiert werden.
2. Soziale Rechtfertigung und Menschenbild des Grundgesetzes
Roxin selbst sieht die „normative Setzung“ der Willensfreiheit darin begründet, dass die Zuschreibung von Verantwortung eine Prämisse des gesellschaftlich-sozialen Zusammenlebens und auch für das Recht eine zentrale Grundlage sei.68
Insofern lässt sich die „normative Setzung“ der Willensfreiheit auch aus dem Menschenbild des Grundgesetzes, besonders über Art. 1 I GG, rechtfertigen.69 Genau wie Art. 1 I GG also fordert, den Bürger als willensfrei zu behandeln, kann die Willensfreiheit auch im Strafrecht als „rechtliches Regelungsprinzip“ vorausgesetzt werden.70
Die starke gesellschaftliche wie rechtliche Verankerung der Willensfreiheit zeigt auch die „reductio ad absurdum“, die einem deterministischen Maßregelrecht entgegengehalten wird: Bei Annahme einer Willensunfreiheit müsste nicht nur das Schuldstrafrecht, sondern auch das Zivilrecht, die Demokratie und das Recht an sich aufgegeben werden.71 Somit sind Willensfreiheit und Verantwortung grundlegende Voraussetzungen der gesellschaftlich-sozialen Ordnung. Dadurch lässt sich auch der Einwand Duttges entkräften, bei einer Fiktion der Willensfreiheit im Strafrecht müsse das Recht jegliche
55 So z. B. Hobbes, Hume und Locke; übersichtsartig Keil (Fn. 1), S. 59.
56 Der modernste Ansatz ist dabei wohl Strawsons „reactive-attitudes-theory“; vgl. Strawson (Fn. 11), S. 1, 9ff.
57 Dies ist an Moores konditionaler Analyse des „Könnens“ zu kritisieren; vgl. Burghardt (Fn. 2), S. 268; Bröckers (Fn. 16), S. 221; zur Unterscheidung s. Merkel (Fn. 7), S. 13f.
58 Die Grundlagen von Frankfurts Gedankenexperiment über den kontrafaktischen Manipulator sind so hinterfragbar; Bröckers (Fn. 16), S. 237ff.
59 An Strawsons „reactive-attitudes-theory“ lässt sich neben seiner fehlenden Präzision kritisieren, dass von „Gefühlen“ auf Verantwortung geschlossen wird; Burghardt (Fn. 2), S. 165ff.
60 Merkel (Fn. 7), S. 134.
61 Vgl. Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht, 2008, S. 118f.
62 Burkhardt, in: FS Lenckner, 1998, S. 1, 22.
63 Nach Kant ist u.a. aufgrund einer subjektiven „Idee der Freiheit“ auch die objektive Freiheit „in praktischer Rücksicht“ anzunehmen; Kant, GMS, AA IV, S. 449.
64 Burkhardt (Fn. 63), S. 1, 3ff.
65 Vgl. MacKay, On the Logical Indeterminacy of a Free Choice, in:
Mind 69 (1960), S. 31, 31ff.
66 Merkel (Fn. 7), S. 120f.; vgl. auch BGHSt 40, 341, in dem ein Epileptiker mangels Schuldfähigkeit für eine in Freiheitsbewusstsein begangene Straftat nicht verurteilt wurde.
67 Burghardt (Fn. 2), S. 371.
68 Roxin/Greco (Fn. 47), § 19 Rn. 38a.
69 Näher zur Rechtfertigung aus dem Menschenbild des Grundgesetzes Joite, BLJ 2013, 86, 89ff.
70 Roxin, ZStW 96 (1984), 641, 650.
71 Roxin/Greco (Fn. 47), § 19 Rn. 52o.
Vorurteile der Gesellschaft in sich aufnehmen.72 Schließlich gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen gesellschaftlichen Vorurteilen und der Willensfreiheit als gesellschaftlich zentrale Annahme außerhalb der Erkenntnisgrenzen des Menschen. Dies zeigt auch Duttges Argumentation, der die „normative Setzung“ letztlich durch „Strukturbedingungen einer rechtlichen Ordnung“73 begründet.
Somit ließe sich eine „normative Setzung“ der Willensfreiheit aufgrund sozialer und grundgesetzlicher Prämissen rechtfertigen. Aus dem Menschenbild der heutigen Gesellschaft und des Grundgesetzes kann aber nur auf die normative Notwendigkeit der Willensfreiheit, nicht direkt auf die Notwendigkeit des klassischen Schuldstrafrechts, geschlossen werden.74 Daher müssen nun funktionelle Rechtfertigungen einer „normativen Setzung“ und des Schuldstrafrechts untersucht werden.
3. Bedürfnis nach Normstabilisierung
Ein Ansatz, der die „normative Setzung“ über den Zweck des Schuldbegriffs und der Strafe rechtfertigt, ist der Jakobs‘. Nach seinem funktionalen Schuldbegriff lässt sich das Schuldstrafrecht allein aus funktionalen Erwägungen, unabhängig von der Willensfreiheit, rechtfertigen. Begründung, Inhalt und Grenze der Schuld werden nach diesem Schuldverständnis allein durch den Strafzweck konstituiert, nämlich der „Stabilisierung des durch das deliktische Verhalten gestörten Ordnungsvertrauens“75. Durch die Verhängung von Strafe werde somit die durch die Straftat enttäuschte Erwartung der Gesellschaft in die Rechtsordnung kompensiert, indem die Straftat als Fehler dargestellt werde.76
Mit diesem Ansatz alleinig am Zweck der Generalprävention geht eine Preisgabe der strafbarkeitseinschränkenden Funktion des Schuldprinzips einher:77 Durch generalpräventive Erwägungen lässt sich nicht begründen, wieso schuldunfähigen Tätern keine Schuld zugesprochen werden sollte, sofern für ihre Krankheit kein Heilmittel gefunden wurde.78 Auch Rückfalltäter könnten nicht entlastet werden.79 Jakobs‘ funktionaler Schuldbegriff steht zweifach mit dem Grundgesetz im Konflikt: Einerseits macht er den Täter zum Objekt gesellschaftlicher Zwecke, was der Menschenwürde widerspricht. Andererseits bleibt unbestimmt, was genau zur Stabilisierung des Normvertrauens notwendig ist, was zu Willkür führen kann.80 Der funktionale Schuldbegriff Jakobs‘ überzeugt daher nicht zu einer funktionalen Rechtfertigung des Schuldstrafrechts.
4. Rechtsstaatlich-täterfreundliche Funktion der Schuld
Roxin selbst rechtfertigt seine „normative Setzung“ in Kombination mit dem sozialen Schuldbegriff anhand des Zwecks der Schuld: Es müsse von der Willensfreiheit des Täters ausgegangen werden, um Täter vor stärkeren Eingriffen zu bewahren, die durch ein reines Präventionsrecht möglich wären.81
a) Grundsätzliche Argumentation Roxins
Dabei argumentiert er, die Schuld habe eine genuin täterfreundliche Funktion.
Zunächst sei das heutige Strafrecht kein Vergeltungsrecht mehr. Dem muss zugestimmt werden, da, wie Roxin selbst anmerkt,82 sich die „absoluten“ Strafzwecktheorien nur durch metaphysische Erwägungen begründen lassen. Für einen Deterministen muss die Abschaffung eines Vergeltungsstrafrechts ohnehin logische Konsequenz der fehlenden Willensfreiheit sein; ein zu sühnender Vorwurf könne dem Täter nicht gemacht werden. Auch für einen Indeterministen kann Strafe nicht zweckgelöst nur der Sühne dienen.83
Aus der Rechtfertigung von Strafe durch präventive Gesichtspunkte folgert Roxin, die Schuld sei keine hinreichende, sondern nur notwendige Bedingung der Strafbarkeit, und müsse durch ein Kriterium der präventiven Notwendigkeit ergänzt werden.84 Dann sei sie dogmatisch rein strafbegrenzend.
Der Schritt ist zur Rechtfertigung des Schuldstrafrechts jedoch gar nicht nötig: Neben der straflimitierenden85 besitzt die Schuld auch eine strafbegründende Funktion, jedoch lassen sich diese Funktionen ohnehin nicht strikt trennen.86 Da die Schuld in der Strafrechtsgeschichte viele täterfreundliche Fortschritte bewirkt hat, so zum Beispiel die Einführung des unvermeidbaren Verbotsirrtums oder die Abschaffung der Erfolgshaftung, ist der Schuldgrundsatz vielmehr als genuin straflimitierend zu verstehen.87
Weshalb die Schuld im Vergleich zu einem rein an (positiv) generalpräventiven Bedürfnissen ausgerichtetem Strafrecht strafbegrenzend wirkt, wurde bereits in Auseinandersetzung mit Jakobs gezeigt.88 Wieso das Schuldstrafrecht auch verglichen mit einem reinen Maßregelrecht aufrechterhalten werden muss, soll nun gezeigt werden.
b) Vergleich zu reinem Maßregelrecht
Besonders Neurowissenschaftler wie Singer89 fordern aufgrund des neurophysiologischen Determinismus ein Maßregelrecht als „humaneren“ Umgang mit Straftätern. Insofern umfasse das Maßregelrecht lediglich die „Wegsperrung“ von Straftätern sowie „Erziehungsprogramme“, die Sanktionen enthielten.90 Kritik wurde bereits an den Vorstellungen der Neurowissenschaftler von Willensfreiheit geübt.91 Dabei soll erneut betont werden, dass die normative Zuschreibung von Verantwortung nur bedingt durch empirische Beweisführung tangiert wird.92
72 Duttge (Fn. 10), S. 13, 40.
73 Duttge (Fn. 10), S. 13, 41.
74 Vgl. Hörnle (Fn. 30), S. 27.
75 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 31.
76 Jakobs (Fn. 76), S. 9.
77 Roxin/Greco (Fn. 47), § 19 Rn. 34.
78 Jakobs (Fn. 76), S. 17f.
79 Jakobs (Fn. 76), S. 26.
80 Roxin/Greco (Fn. 47), § 19 Rn. 35.
81 Roxin/Greco (Fn. 47), § 19 Rn. 46.
82 Roxin, ZStW 96 (1984), 641, 644f.
83 Roxin, MSchKrim 1973, 316, 323.
84 Roxin, ZStW 96 (1984), 653ff.;
zur Kritik dazu Radtke, in: MüKo (Fn. 6), Vor § 38 Rn. 24f.
85 Vgl. § 46 StGB.
86 Freund, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 14, 2020, Vor § 13 Rn. 240.
87 Roxin, ZStW 96 (1984), 641, 641f.
88 S. D.II.3.
89 Im Gegensatz zu bspw. Roth und Prinz, für die das Schuldstrafrecht funktional im Sinne Jakobs‘ legitimiert ist; überblicksartig Roxin/Greco (Fn. 47), § 19 Rn. 52i.
90 Singer, Ein neues Menschenbild?, 2003, S. 34.
91 S. C.II.1.b).
92 Eisele, in: Sch/Sch (Fn. 4),Vor § 13 Rn. 110a.
Aber die Forderung, das Schuldstrafrecht abzuschaffen, wird auch unabhängig von der Debatte um die Neurowissenschaften, bspw. durch die Lehre von der „défense sociale“, vertreten. Entscheidend für die Höhe der Sanktion ist für sie die prognostizierte Gefährlichkeit des Täters für die Gesellschaft und die Rechtsgüter anderer.93
Dieses „Besserungs- und Sicherungsrecht“ umgeht das Problem der Willensfreiheit, da staatliche Sanktion nicht von der Verantwortlichkeit des Täters abhängt.94 Zwar kennt das heutige zweispurige Sanktionensystem auch Maßregeln,95 dennoch wäre ein reines Maßregelrecht unhaltbar im heutigen Rechtsstaat.
Maßregeln, die stigmatisierend wirken können,96 sind nicht zwingend täterfreundlicher als Strafe. Problematisch ist vor allem, dass das Maßregelrecht zukunftsorientiert nach Präventionsbedürfnis sanktioniert, was zu keiner für das Tatstrafrecht notwendigen Verbindung zwischen Ausmaß der Straftat und Maßregelvollzug führt.97 Straftaten könnten nicht mehr der Schwere des Unrechts nach sanktioniert werden, was auch nicht durch die Einführung eines Verhältnismäßigkeitsprinzips bewirkt werden könnte.98 Bei einem reinen Maßregelrecht könnte der Staat also auf Basis eines unbestimmten „Schutzinteresse der Allgemeinheit“99 willkürlich sanktionieren, was Täter zu einem Objekt staatlichen Handelns machen würde.
Das Schuldprinzip begrenzt somit Strafe in „für die Legitimität modernen Rechts wesentlichen Hinsichten“100, ein reines Maßregelrecht könnte gar gegen das Rechtsstaatsprinzip und die Menschenwürde verstoßen.101
c) Ergebnis
Wie Roxin richtig konstatiert, dient das Schuldprinzip der rechtsstaatlichen Begrenzung der Strafgewalt.102 Es wirkt täterfreundlich und entspricht dem gesellschaftlich verankerten Menschenbild. Die „normative Setzung“ der Willensfreiheit stellt folglich eine „freiheitsverbürgende Annahme“103 dar. Sie betrifft nicht nur die Täter individuell, sondern dient der Aufrechterhaltung des Rechtsstaats an sich.104
III. Zwischenergebnis
Eine Fiktion der Willensfreiheit lässt sich somit durch verschiedene Ansätze rechtfertigen, die alle kritisierbar sind. Am vielversprechendsten ist wohl die Roxin’sche Rechtfertigung über die sozial-gesellschaftliche Verankerung der Willensfreiheit kombiniert mit der strafbegrenzenden Funktion der Schuld. Er vereint dabei soziale und funktionale Aspekte. Indem Roxin aber die „normative Setzung“ primär auf deren gesellschaftliche Notwendigkeit stützt und in diesem Kontext erst funktionale Erwägungen einbezieht, bleibt Schuld ein normatives Kriterium der individuellen Verantwortlichkeit und ist nicht nur auf präventive Zwecke gerichtet. Die Bindung dieses Schuldbegriffs an Verantwortlichkeit und Empirie heißt auch Schünemann gut, der zwischen einem „zweckrationalen Normativismus“ nach Roxin und einem „empiriefreien Normativismus“ nach Jakobs unterscheidet.105
Gegenüber dem libertarischen Ansatz der Rechtsprechung ergeben sich keine signifikanten Unterschiede, dennoch geht Roxin transparenter vor: Er legt eindeutig zugrunde, dass es sich bei der Annahme der Willensfreiheit um ein bloßes normatives Postulat des Strafrechts handelt.
E. Fazit
Aufgrund des Problems um Willensfreiheit kann der Strafzweck insgesamt nicht Vergeltung sein, aber auch ein rein an Prävention ausgerichtetes Maßregelrecht ist rechtsstaatswidrig — ein auf Verantwortung gründendes Schuldprinzip muss somit zusammen mit dem Strafzweck der Prävention aufrechterhalten werden.
Willensfreiheit und Verantwortung bleiben jedoch Grundprinzipien des gesamten (Straf-)Rechts, von denen sich das Recht als gesellschaftliches Konstrukt nicht losgelöst verstehen darf.
93 Vgl. Melzer, JZ 1970, 764, 766.
94 Dies zeigt Ähnlichkeiten zum funktionalen Schuldbegriff Jakobs‘. Im Unterschied dazu kann ein Maßregelrecht aber nicht dem Zweck der Normbestätigung dienen, da es von vornherein nur auf Besserung und Sicherung zielt; Verrel/Linke/Koranyi, in: LK (Fn. 27), § 20 Rn. 27.
95 Vgl. §§ 61ff. StGB.
96 Vgl. OLG Karlsruhe NJW 1975, 1571, 1572.
97 Radtke, in: MüKo (Fn. 6), Vor § 38 Rn. 26.
98 Radtke, in: MüKo (Fn. 6), Vor § 38 Rn 27.
99 Lindemann, FoStra 2/2019, 99, 99.
100 Mohr, in: Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, 2008, S. 72, 77.
101 Vgl. BVerfGE 130, 1 (26).
102 Roxin, ZStW 96 (1984), 641, 645.
103 Roxin/Greco (Fn. 47), § 19 Rn. 49.
104 Merkel (Fn. 7), S. 124.
105 Schünemann, in: FS Roxin I, 2001, S. 1, 14.