Telemedizin – Zulässigkeit und zivilrechtliche Haftungsrisiken

Moritz Hahn*

A. Einleitung

„Die von der IT-Lobby gepushte Telemedizin ist entzaubert worden“, bemerkte Wieland Dietrich, Vorsitzender der Freien Ärzteschaft, im Mai 2020. Er kritisierte, dass Telemedizin „bei weitem nicht die gleiche Qualität“ erreichen könne wie der klassische Arzt1 -Patienten-Kontakt. Im Zuge der COVID-19-Pandemie sei klargeworden, dass eine Videosprechstunde nicht die persönliche Begegnung vor Ort ersetzen könne.2

Das überrascht: Telemedizin gilt für viele nach wie vor als der Hoffnungsträger neuer medizinischer Möglichkeiten. Bereits 2015 beschloss der Bundestag mit dem neuen „E-Health-Gesetz“3 die Förderung der Teleradiologie und Videosprechstunde (vgl. § 291g I, IV SGB V a. F.). Telemedizin solle einen Beitrag leisten, die aus der demographischen Entwicklung und der Versorgungssituation in ländlichen Regionen resultierenden Herausforderungen zu bewältigen.4 Als weitere positive Aspekte gelten die einfachere Hinzuziehung von Experten („Telekonsile“) und geringere Kosten im Vergleich zur Präsenzbehandlung.5 Kritiker befürchten hingegen, dass das zusätzliche Fehlerpotenzial, das insbesondere durch den Einsatz der Technik und die potenziell verringerte Wahrnehmung bedingt wird, ein Absinken des ärztlichen Standards auf Kosten des Patienten zur Folge haben würde.6

Realisieren sich solche Risiken, stellt sich die Frage, wer unter welchen Voraussetzungen dafür haftbar gemacht werden kann.

B. Telemedizin

I. Begriff

Der Begriff „Telemedizin“ wird nicht einheitlich verwendet.7 Dies hat auch die Bundesärztekammer (BÄK) erkannt und aus diesem Grund den Begriff auf dem 118. Ärztetag im Mai 2015 für sich eingeordnet:

„Telemedizin ist ein Sammelbegriff für verschiedenartige ärztliche Versorgungskonzepte, die als Gemeinsamkeit den prinzipiellen Ansatz aufweisen, dass medizinische Leistungen der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie bei der ärztlichen Entscheidungsberatung über räumliche Entfernungen (oder zeitlichen Versatz) hinweg erbracht werden. Hierbei werden Informations- und Kommunikationstechnologien eingesetzt.”8

Ausgenommen aus dieser Definition sind Telematikanwendungen im Gesundheitswesen, die über den eigentlichen Arzt-Patienten-Kontakt hinausgehen, wie etwa die digitale Gesundheitsakte. „Telemedizin“ im Sinne dieser Definition kann daher synonym mit dem Begriff der „Fernbehandlung“9 verwendet werden,10 was auch für die folgenden Ausführungen gilt.

II. Erscheinungsformen

Noch vielfältiger als die Definitionen ist das Spektrum an Möglichkeiten, das telemedizinische Anwendungen bereits heute bieten.

Am greifbarsten sind sicher Konzepte, die den klassischen Besuch beim Hausarzt über die Distanz, etwa per Telefon oder Video-Chat („Videosprechstunde“), ermöglichen.11 Diese Behandlungsformate haben insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie an Popularität gewonnen.12 Sogar Portale, die ausschließlich schriftlichen, asynchronen Arzt-Patienten-Kontakt anbieten („Online-Sprechzimmer“13) können ein telemedizinisches Verfahren darstellen.

Bedeutung erlangen „digitale Arztbesuche“ auch bei chronischen Krankheiten. Mit einem speziell dafür entwickelten Gerät („Supported Ambulance Medication“) können etwa Parkinson-Patienten von zu Hause per Video therapiert werden. Da so das häusliche Umfeld berücksichtigt werden kann, ermögliche dies unter anderem eine verbesserte Medikamenteneinstellung.14

Einen Sonderfall stellt die spezialgesetzlich geregelte Teleradiologie dar (vgl. § 123 StrlSchV). Dabei wird durch


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen die männliche Form verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

2 www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/markt/von-der-it-lobby-gepushte-telemedizin-entzaubert/, abgerufen am: 22.9.2020.

3 Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen sowie zur Änderung weiterer Gesetze, idF. v. 21.12.2015, BGBl. I 2015, 2408.

4 BT-Drs. 18/5293, S. 1.

5 Kalb, GesR 2018, 481, 483.

6 Ebd.

7 Insbesondere in älteren Quellen wird Telemedizin oft als Sammelbegriff für Telematik im Gesundheitswesen verwendet. Weites Verständnis: Gaidzik, GesR 2003, 229; Dierks, in: Dierks/Feussner/Wienke (Hrsg.), Rechtsfragen der Telemedizin, 2001, S. 1, 3; Pflüger, VersR 1999, 1070. Enges Verständnis: Ulsperger, in: Wenzel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht4, 2020, Kap. 19 Rn. 7; Dochow, Grundlagen und normativer Rahmen der Telematik im Gesundheitswesen, 2017, S. 93 f.; Wendelstein, Kollisionsrechtliche Probleme der Telemedizin, 2012, S. 1.

8 118. Deutscher Ärztetag (DÄT), Beschlussprotokoll, S. 334.

9 Vgl. § 9 S. 1 HWG.

10 Dochow (Fn. 7), S. 133: „Telebehandlung”.

11 Vgl. Fischer, in: FS Höland, 2015, S. 621.

12 Balzter/Scherff, Sprechstunde im Internet, FAZ 2020, abgerufen am: 21.8.2020, www.faz.net/aktuell/finanzen/telemedizin-in-corona-zeiten-kann-sie-den-arztbesuch-ersetzen-16741821.html.

13 www.meinarztdirekt.de, abgerufen am 24.8.2020.

14 www.ikk‑gesundplus.de/gesundheit/erkrankungen_behandeln/videotherapie_fuer_parkinsonpatienten/, abgerufen am 22.9.2020; Bergmann, MedR 2016, 497, 499.

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ärztliches (Hilfs-)Personal eine radiologische Untersuchung durchgeführt, ohne dass der Radiologe selbst vor Ort ist. Insbesondere kleinere Kliniken können so ihr Versorgungsangebot ausbauen.15 Einen ähnlichen Ansatz weist die „Tele-Stroke-Unit“ auf, die zur Schlaganfallbehandlung die Zuschaltung von Neuroradiologen und -chirurgen aus einem Experten-Netzwerk ermöglicht.16

Doch auch in anderen Bereichen der Intensivmedizin wird die telematische Hinzuziehung von Experten praktiziert. Studien konnten diesen Verfahren positive Effekte im Hinblick auf Mortalität und Verweildauer von Intensivpatienten im Krankenhaus attestieren.17

Einen weiteren wachsenden Anwendungsbereich bietet das Telemonitoring. Dabei werden die Vitalparameter (z. B. Blutdruckdaten) von Patienten in Echtzeit an ein medizinisches Servicecenter übertragen, das die Daten aufbereitet und im Bedarfsfall an einen Arzt übermittelt.18 Praktische Anwendung findet dieses Verfahren bei Risikopatienten, etwa mit chronischer Herzinsuffizienz oder Schwangerschaftshypertonie.19

C. Zulässigkeit

I. Entwicklung der Rechtslage

Die berufsrechtliche Zulässigkeit von Telemedizin richtet sich nach der im jeweiligen Bundesland gültigen Berufsordnung der Landesärztekammer. Um die Einheitlichkeit der einzelnen Berufsordnungen zu fördern, wird von der BÄK die (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO‑Ä)20 erlassen. Diese ist selbst nicht rechtserheblich, sondern entfaltet lediglich Empfehlungswirkung.21

Dort war in § 7 IV MBO-Ä a. F. bis zum Mai 2018 vorgesehen, dass Ärzte eine individuelle ärztliche Behandlung, nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen durften. Auch bei telemedizinischen Verfahren war zu gewährleisten, dass eine Ärztin oder ein Arzt die Patientin oder den Patienten unmittelbar behandelt. Zweck der Regelung war der Patientenschutz.22 Der Arzt sollte sich ein Bild durch die eigene Wahrnehmung machen können, ohne sich auf subjektive Schilderungen des Patienten oder Dritter verlassen zu müssen.23 Die Regelung stand der Fernbehandlung unbekannter Patienten ohne physischen Erstkontakt im Wege.24

Mit Beschluss vom 121. Deutschen Ärztetag in Erfurt wurde schließlich im Mai 2018 § 7 IV MBO-Ä novelliert:25

„Ärztinnen und Ärzte beraten und behandeln Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt. Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.“

II. Voraussetzungen rechtmäßiger


Fernbehandlung

Der § 7 IV MBO-Ä wurde nach und nach von beinahe allen Landesärztekammern wörtlich oder sinngemäß26 in ihre Berufsordnungen (BO-Ä) übernommen. Einzig die Landesärztekammer Brandenburg hält noch an einem Verbot der ausschließlichen Fernbehandlung fest (§ 7 IV BO‑Ä BB).

Die Sätze 1 und 2 des § 7 IV MBO-Ä stellen klar, dass die persönliche Behandlung von Patienten nach wie vor den „Goldstandard“ darstellt. Telemedizinische Verfahren sollen eine Ergänzung zum herkömmlichen persönlichen Kontakt darstellen, diesen aber nicht ersetzen.27 Satz 3 stellt die Voraussetzungen einer berufsrechtlich zulässigen Behandlung über Kommunikationsmedien auf. Der Begriff „Kommunikationsmedien“ ist dabei weit und in Anlehnung an § 312c II BGB zu verstehen.28

1. Ärztliche Vertretbarkeit

Zentrale Voraussetzung des § 7 IV 3 MBO-Ä n. F. ist die ärztliche Vertretbarkeit. Es liegt in der Verantwortung des Arztes, zu entscheiden, ob es im konkreten Fall vertretbar ist, den Patienten über die Ferne zu behandeln. Die Entscheidung für oder gegen eine Fernbehandlung liegt somit in seiner Risikosphäre.

Insbesondere ist dabei zu beachten, dass die Wahrnehmung des Arztes – abhängig von der Art des Kommunikationsmittels – mitunter stark eingeschränkt sein kann.29 Dies birgt das Risiko eines Informationsverlusts, der zu Fehldiagnosen und als Folge dessen Fehlbehandlungen führen kann.30 Denkbar wäre beispielsweise, dass ein Arzt im Fall akuter Schlaganfallsymptome eine Fernbehandlung via Videochat zulässt, obwohl es ihm auf diese Weise nicht möglich ist, beispielsweise über eine Computertomographie, den


15 Ulsperger (Fn. 7), Kap. 19 Rn. 24-26.

16 www.aerzteblatt.de/archiv/60641/Schlaganfallversorgung-Mindestkriterien-fuer‑Telemedizin, abgerufen am 21.9.2020.

17 Marx et al., Anästh Intensivmed 2019, 191, 195 f.

18 Ulsperger (Fn. 7), Kap. 19 Rn. 13.

19 Krüger-Brand, DÄBl 2006, A-522.

20 (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 – idF. der Beschlüsse des 121. Deutschen Ärztetages 2018 in Erfurt, geändert durch Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer am 14.12.2018.

21 Scholz, in: Spickhoff (Hrsg.), Kommentar zum Medizinrecht3, 2018, MBO-Ä Vorwort Rn. 1.

22 OLG München, BeckRS 2016, 12673, Rn. 48.

23 Scholz, in: Spickhoff (Fn. 21), MBO-Ä § 7 Rn. 14.

24 BÄK, Hinweise und Erläuterungen zu § 7 Abs. 4 MBO-Ä, Stand: 11.12.2015, S. 2; Scholz, in: Spickhoff (Fn. 21), MBO-Ä § 7 Rn. 18. Anderer Ansicht zufolge musste nicht zwangsläufig ein physischer Erstkontakt stattgefunden haben: So Vorberg/Kanschik, MedR 2016, 411, 412; Dierks, MedR 2016, 405, 408.

25 121. DÄT, Beschlussprotokoll, 2018, S. 288-290.

26 So beispielsweise § 7 IV der Berufsordnung der Landesärztekammer Schleswig-Holstein, der darauf abstellt, dass eine zulässige Fernbehandlung, ärztlich vertretbar und ein persönlicher Kontakt nicht erforderlich ist.

27 121. DÄT, Beschlussprotokoll, 2018, S. 289.

28 121. DÄT, Beschlussprotokoll, 2018, S. 289.

29 BÄK, Hinweise und Erläuterungen zu § 7 Abs. 4 MBO-Ä, Stand: 22.3.2019, S. 3.

30 120. DÄT, Beschlussprotokoll, 2017, S. 295.

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Verdacht fundiert zu überprüfen.

Sollte sich erst nach begonnener Fernbehandlung herausstellen, dass der Patient an Symptomen leidet, die auf diese Weise nicht überprüft werden können, so ist die Behandlung zu unterbrechen und persönlich fortzusetzen.31

2. Einzelfallprüfung

Die Formulierung „im Einzelfall“ legt nahe, dass eine Fernbehandlung nur in wenigen Ausnahmefällen zulässig sein soll. Portale, die darauf spezialisiert sind, Videosprechstunden in breiter Masse anzubieten, könnten bei unbefangener Lektüre des Wortlauts daher als unzulässig erscheinen. Die Bundesärztekammer stellt allerdings klar, dass durch die Formulierung nicht per se Modelle ausgeschlossen werden sollen, die auf eine Beratung ausschließlich über Kommunikationsmedien ausgerichtet sind, sondern durch das Tatbestandsmerkmal vielmehr die Pflicht des Arztes zur Prüfung des Einzelfalls zum Ausdruck kommt.32 Solange also jede einzelne Behandlung auf ihre ärztliche Vertretbarkeit geprüft wird, ist diese auch zulässig.

3. Ärztliche Sorgfalt

Ferner ist die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation zu wahren. Dies ist Ausdruck des § 630a II Hs. 1 BGB, wonach eine Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen hat.33 Das Tatbestandsmerkmal hat somit eher klarstellenden Charakter.34

4. Aufklärung

Außerdem muss der Arzt den Patienten über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufklären. Auch dies entspricht einem allgemeinen Grundsatz, der in den §§ 8 MBO‑Ä, 630e BGB kodifiziert ist. Das kann beispielsweise bedeuten, dass der Arzt darauf hinweisen muss, dass die Behandlung von der Qualität der Datenübertragung abhängig ist.35 Teilweise wird auch der Hinweis empfohlen, dass nicht alle diagnostischen Methoden, wie beispielsweise das Abtasten des Bauchs, im Rahmen der Fernbehandlung zur Verfügung stehen. Auch wenn das jedem einleuchten dürfte, sei hierzu, um dem Risiko eines Arzthaftungsprozesses zu entgehen, zu raten.36 Das bringt zum Ausdruck, dass – zumindest bis es höchstrichterliche Rechtsprechung in diesem Punkt gibt –37 auch bei der Aufklärung höchste Sorgfalt geboten ist und weitreichend aufgeklärt werden sollte. Die inhaltlichen Anforderungen an die Aufklärung bleiben dabei eher unkonkret.

III. Rechtsfolgen der Überschreitung

Führt ein Arzt eine Fernbehandlung durch, ohne dass die in der jeweiligen Berufsordnung vorgeschriebenen Voraussetzungen dafür erfüllt sind, so wird häufig die ärztliche Sorgfalt (§ 630a II BGB) nicht gewahrt worden sein. Das hat zur Folge, dass der Verstoß sowohl berufsrechtlich (Verstoß gegen §§ 2, 7 IV 3 BO-Ä) als auch zivilrechtlich (Verstoß gegen § 630a II BGB) geahndet werden kann.38 Zudem kommt eine Klage nach §§ 3, 3a i.V.m. § 8 I 1 UWG wegen Verstoßes gegen das Verbot unlauterer geschäftlicher Handlungen in Betracht.39

IV. Weitere Regelungen im Zusammenhang mit Fernbehandlungen

Im Nachgang der Änderung des § 7 IV MBO-Ä wurden mit der Aufhebung des Werbeverbots für Fernbehandlungen (vgl. § 9 S. 2 HWG n. F.) sowie des Verbotes der Abgabe verschreibungspflichtiger Medikamente ohne persönliche Anamnese (§ 48 I 2 AMG a. F.) wichtige Schritte zur Liberalisierung des Fernbehandlungsrechts gemacht.40

Zurückhaltung besteht allerdings weiterhin bei der Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. In einem Urteil vom 3.9.2019 hat das LG Hamburg für ein Portal, das AU-Bescheinigungen via WhatsApp ausstellte, nachdem der Patient seine Erkältungssymptome über ein Auswahlmenü übermittelt hatte, entschieden, dass die in § 25 HmbBO-Ä normierte ärztliche Sorgfalt bei der Ausstellung dieser Gesundheitszeugnisse nicht gewahrt sei.41 In der Literatur wird dennoch angenommen, dass unter engen Voraussetzungen bereits jetzt die Ausstellung von AU-Bescheinigungen – auch über die pandemiebedingte befristete Lockerung der AU-RL hinaus –42 zulässig sein soll.43 Unklar ist, ob Gerichte diese Ansicht teilen würden, weshalb eine gesetzgeberische Klarstellung wünschenswert ist.

D. Zivilrechtliche Haftungsrisiken

Im Rahmen der zivilrechtlichen Haftung kommen als Anspruchsgegner nicht nur der Arzt, sondern auch der Hersteller bzw. Entwickler der dafür notwendigen Geräte oder Software in Betracht. Denn häufig wird die erforderliche Software nicht vom Behandelnden selbst entwickelt, sondern vielmehr von einem Dritten zu diesem Zweck bereitgestellt werden.44


31 BÄK, Hinweise und Erläuterungen zu § 7 Abs. 4 MBO-Ä, Stand: 22.3.2019, S. 3; Braun, MedR 2018, 563, 565.

32 BÄK, Hinweise und Erläuterungen zu § 7 Abs. 4 MBO-Ä, Stand: 22.3.2019, S. 3.

33 Braun, MedR 2018, 563, 565. Siehe dazu auch D. I. 2. a) aa).

34 Vgl. BÄK, Hinweise und Erläuterungen zu § 7 Abs. 4 MBO-Ä, Stand: 22.3.2019, S. 3.

35 BÄK, Hinweise und Erläuterungen zu § 7 Abs. 4 MBO-Ä, Stand: 22.3.2019, S. 4.

36 Kuhn/Heinz, GesR 2018, 691, 693.

37 Ebd.

38 Stellpflug, GesR 2019, 76, 77; Braun, MedR 2018, 563, 565.

39 Zu § 7 IV MBO-Ä a. F. SG München, Urt. v. 20.1.2014 – S 38 KA 805/13 ER, juris, Rn. 113; OLG Düsseldorf, Urt. v. 4.5.2013 – I-20 U 137/12, juris, Rn. 18. § 4 Nr. 11 UWG a. F. entspricht § 3a UWG n. F.; Dierks, MedR 2016, 405, 407.

40 Diese Schritte wurden auch in der Literatur gefordert. So beispielsweise Braun, MedR 2018, 563, 566; Kuhn/Heinz, GesR 2018, 691, 694; Hahn, MedR 2018, 384, 389; Rehmann, A&R 2017, 153, 156.

41 LG Hamburg, MMR 2020, 201, Rn. 10.

42 In der Fassung vom 20.3.2020 war nach § 4 I AU-RL bei Verdacht auf COVID-19 die Ausstellung einer AU-Bescheinigung nach telefonischer Anamnese zulässig.

43 Schulte/Tisch, NZA 2020, 761, 764 f.; Hahn, MedR 2020, 370, 373; Braun, GesR 2018, 409, 411 f.

44 Die Kassenärztliche Bundesvereinigung führt aus diesem Grund eine Liste zertifizierter Videodienstanbieter für Ärzte: www.kbv.de/media/sp/Liste_zertifizierte-Videodienstanbieter.pdf, abgerufen am 12.9.2020.

Hahn, Telemedizin – Zulässigkeit und zivilrechtliche Haftungsrisiken 50

I. Haftung des Herstellers

Bringt der Hersteller ein fehlerhaftes Produkt zur telemedizinischen Behandlung in den Verkehr, das einen Schaden herbeiführt, so kann er dafür haftbar gemacht werden. Anknüpfungspunkt bietet zunächst § 1 I 1 ProdhaftG,45 der – vorbehaltlich der Entlastungstatbestände in § 1 II  ProdhaftG – eine verschuldensunabhängige Haftung normiert. Voraussetzung dafür ist, dass ein Produkt nach § 2 ProdHaftG vorliegt. Da dies nach dem Wortlaut eine „bewegliche Sache“ (§ 90 BGB) voraussetzt, wird in der Literatur überzeugend eine entsprechende Anwendung auf Softwareprodukte diskutiert.46 Es stelle letztlich Willkür dar, ob die Software auf einem Datenträger verkörpert – und somit als bewegliche Sache – oder als Download angeboten wird.47 Relevanz erlangt diese Frage etwa bei Dienstleistern, die Software für Videosprechstunden anbieten.

Zudem kann ein verschuldensabhängiger Anspruch aus Deliktsrecht nach den §§ 823 I, II BGB bestehen.48 Es bedarf somit einer hohen Sorgfalt bei der Entwicklung, um das Risiko einer Haftung zu minimieren.

II. Haftung des Arztes

Auch der Arzt kann aus verschiedenen Gründen haften. Einerseits ist denkbar, dass der Arzt den Patienten nicht nach dem zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden allgemein anerkannten fachlichen Standards behandelt hat (§ 630a II BGB). Dabei kann es sich um rein menschliches Versagen – zum Beispiel eine unzureichende Befunderhebung – oder auch um technisches Versagen handeln, etwa weil falsche oder ungenaue Daten übertragen wurden. Andererseits kann der Arzt auch haften, weil er seinen Aufklärungspflichten (§§ 630d, 630e BGB) nicht (hinreichend) nachgekommen ist.

1. Grundlagen der Haftung

Die dem Arzt obliegenden vertraglichen und deliktischen Sorgfaltspflichten sind grundsätzlich identisch.49 Somit kommen gleichzeitig Ansprüche aus Vertrag (§§ 630a ff. i.V.m. § 280 I BGB) und Delikt (§ 823 BGB) in Betracht. Beide Ansprüche stehen in Idealkonkurrenz zueinander.50

a) Vertragliche Haftung

Eine vertragliche Haftung nach § 280 I BGB ergibt sich aus dem Schuldverhältnis des Behandlungsvertrags (§ 630a BGB). Dieser kommt zwischen dem Behandelnden und dem Patienten zustande.

Bei telemedizinischen Verfahren können darüber hinaus unkompliziert Dritte in das Behandlungsverhältnis einbezogen werden. Eine denkbare Konstellation wäre beispielsweise, dass ein behandelnder Präsenzarzt mittels Videochats einen Konsiliararzt hinzuzieht, um sich einen weiteren Rat einzuholen. Ob zusätzlich zu dem Vertrag zwischen dem Patienten und dem Präsenzarzt auch ein Behandlungsverhältnis zum Konsiliararzt begründet wird, ist vom Einzelfall abhängig.51 Wenn der Patient die Behandlung durch den Konsiliararzt ausdrücklich wünscht und ihr zustimmt, liegt ein Vertragsverhältnis nahe.52

Anders dürfte der Fall jedenfalls dann zu beurteilen sein, wenn der Patient den Konsiliarius gar nicht kennt. In diesem Fall wird ein Vertretenmüssen des Konsiliararztes dem Präsenzbehandler nach § 278 S. 1 Var. 2 BGB zugerechnet.53 Der Vertrag zwischen dem Konsiliar- und Präsenzarzt entfaltet dann auch keine Schutzwirkung zugunsten des Patienten, da diesem bereits über §§ 280 I, 278 S. 1 Var. 2 BGB ein inhaltsgleicher, vertraglicher Anspruch gegen den Präsenzbehandler zusteht. Es fehlt an der Schutzwürdigkeit.54

Häufig bedarf es einer Zurechnung über § 278 S. 1 BGB aber schon nicht.55 Der Präsenzbehandler kann auch aus eigener Pflichtverletzung durch Unterlassen haften, wenn er pflichtwidrig auf die Arbeit des Konsiliarius vertraut. Da der Arzt aber grundsätzlich auf die fehlerfreie Mitwirkung des Kollegen vertrauen darf (Vertrauensgrundsatz), ist das nur dann der Fall, wenn der Konsiliarius einen offensichtlichen Behandlungsfehler macht.56

b) Deliktische Haftung

Mittels Deliktsrechts kommt auch ein direkter Anspruch gegen den Telekonsiliararzt nach § 823 BGB in Betracht. Voraussetzung ist, dass der Anspruchsgegner vorsätzlich oder fahrlässig Körper oder Gesundheit (Art. 2 II 1 GG) widerrechtlich verletzt hat. Eine Haftung des Präsenzbehandlers für den Konsiliarius gemäß § 831 BGB dürfte hingegen an der Weisungsgebundenheit57 scheitern.58

Da vertragliche und deliktische Haftung im Ergebnis weitgehend gleichlaufen,59 wird im Folgenden ausschließlich auf die vertraglichen Vorschriften, die die Rechtsprechung zu den §§ 823 ff. BGB kodifizieren,60 Bezug genommen.


45 Rehmann, A&R 2017, 153, 156; Ortner/Daubenbüchel, NJW 2016, 2918, 2919; Rübsamen, MedR 2015, 485, 489.

46 Dazu beispielsweise Förster, in: BeckOK BGB58, ProdHaftG § 2 Rn. 22-24; Rebin, in: BeckOGK, Stand: 1.3.2020, ProdHaftG § 2 Rn. 49; Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB (MüKoBGB)8, 2020, ProdHaftG § 2 Rn. 21-27.

47 Wagner, in: MüKoBGB (Fn. 46), ProdHaftG § 2 Rn. 22.

48 Näher dazu Rübsamen, MedR 2015, 485, 489.

49 BGH, NJW 1989, 767, 768.

50 Quaas, in: Quaas/Zuck/Clemens (Hrsg.), Medizinrecht4, 2018, § 14 Rn. 59.

51 Fischer (Fn. 11), S. 621, 625; Dierks, Rechtliche und praktische Probleme der Integration von Telemedizin in das Gesundheitswesen in Deutschland, 1999, S. 25.

52 Vgl. BGHZ 142, 126, 132-135; Bergmann, MedR 2016, 497, 500; Ulsenheimer/Heinemann, MedR 1999, 197, 199.

53 Bergmann, MedR 2016, 497, 500; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp (Hrsg.), Arztrecht7, 2015, Kap. XI Rn. 2; Kern, in: Dierks/Feussner/Wienke (Hrsg.), Rechtsfragen der Telemedizin, 2001, S. 55, 63; Pflüger, VersR 1999, 1070, 1074.

54 LG Amberg, BeckRS 2016, 21364; Fischer (Fn. 11), S. 621, 626.

55 Vgl. Wendelstein (Fn. 7), S. 98.

56 Beispielsweise BGH, NJW 1980, 649, 650; Ulsenheimer/Heinemann, MedR 1999, 197, 199.

57 Hierzu BGHZ, 45, 311, 313; 103, 298, 303.

58 Wendelstein (Fn. 7), S. 100; Pflüger, VersR 1999, 1070, 1074; Ulsenheimer/Erlinger in: Dierks/Feussner/Wienke (Hrsg.), Rechtsfragen der Telemedizin, 2001, S. 67, 78; OLG Stuttgart, BeckRS 2004, 4208: Der niedergelassene Arzt ist als Konsiliararzt bei stationärer Krankenhausaufnahme nur Erfüllungs-, nicht aber Verrichtungsgehilfe.

59 Wendelstein (Fn. 7), S. 102.

60 Spickhoff, in: Spickhoff (Fn. 21), BGB § 630a Rn. 3.

Hahn, Telemedizin – Zulässigkeit und zivilrechtliche Haftungsrisiken 51

2. Behandlungsfehler

Die Haftung nach Vertrags- und Deliktsrecht greift, wenn dem Arzt schuldhaft (vgl. § 276 I 1 BGB) ein Behandlungsfehler unterläuft. Unter einem Behandlungsfehler wird das nach dem Stand der Medizin unsachgemäße Verhalten des Arztes verstanden.61 Es wird verglichen, ob die geleistete Behandlung der geschuldeten entspricht (Ist-/Soll-Betrachtung).62 Somit liegt ein Behandlungsfehler in der Regel dann vor, wenn die allgemein anerkannten fachlichen Standards nicht eingehalten wurden (§ 630a II BGB).

a) Maßstab der Sorgfaltspflicht

aa) Ärztlicher Standard

Der von § 630a II BGB geforderte „fachliche Standard“ wird vom Gesetz nicht genauer definiert. Laut Gesetzesbegründung soll dieser die Konkretisierung der allgemeinen Sorgfaltspflicht des § 276 II BGB darstellen. Für Ärzte sei im Regelfall auf den „jeweiligen Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis und ärztlicher Erfahrung abzustellen, der zur Erreichung des Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat.“63 Es kommt somit nicht darauf an, wozu der individuelle Arzt fähig ist, sondern vielmehr darauf, was ein durchschnittlich qualifizierter Arzt leisten kann.64

Dabei kann es sich um in der Praxis bereits befolgte – und dem wissenschaftlichen Stand entsprechende – Behandlungsmuster handeln.65 Diese können in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände kodifiziert sein. Allerdings hat der BGH in einem Urteil vom 15.4.2014 festgestellt, dass solche Leitlinien „nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt“ werden dürfen. Es müsse beachtet werden, dass diese veralten können oder gerade zum Zweck einer Standardverbesserung erlassen wurden. Nichtsdestotrotz können sie „im Einzelfall den medizinischen Standard zum Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben“ und somit als Indiz dienen.66

Immer wenn kein Standard besteht, muss auf die Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt in der konkreten Behandlungssituation nach den Behandlungsmöglichkeiten geblickt werden, wobei die bestmögliche Schonung der körperlichen Integrität des Patienten zu beachten ist.67

bb) Standard in der Telemedizin

Die Bundesärztekammer betont stetig, dass der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt den „Goldstandard“ ärztlichen Handelns darstelle (vgl. § 7 IV 1, 2 MBO-Ä). Digitale Formate sollten die ärztliche Tätigkeit unterstützen, nicht aber den persönlichen Kontakt ersetzen.68 Es liegt also nahe, dass im Falle von vermeidbaren Risiken, die auf die Fernbehandlung als solche zurückzuführen sind, ein schuldhaft verursachter Behandlungsfehler vorliegt, für den der Arzt einzustehen hat.69

Für Fernbehandlungsleistungen hat sich bislang kein spezifischer Standard herausgebildet, sodass es in der Regel auf die Einhaltung der verkehrserforderlichen Sorgfalt im Einzelfall ankommt.70 Auch existieren, anders als in der Teleradiologie (vgl. § 123 StrlSchV), keine Normen, die über § 7 IV MBO-Ä hinaus, die Anforderungen an eine rechtmäßige Fernbehandlung konkretisieren.

Das führt zu erheblichen Haftungsrisiken für den behandelnden Arzt. Da für die meisten Bereiche keine Leitlinien existieren, die einen Hinweis auf den ärztlichen Standard geben können, ist auch schwer abzusehen, welche konkreten Sorgfaltsanforderungen zu wahren sind.

Ein Beispiel für einen etablierten Standard liefert die Seeschifffahrt.71 Dort ist es etwa üblich, dass ein halbautomatischer Defibrillator mit EKG-Übertragungsmöglichkeit zum funkärztlichen Notdienst an Bord installiert wird.72 Anders als in den meisten anderen Bereichen der Telemedizin konnte sich hier durch die Notwendigkeit funkärztlicher Beratung über die Zeit ein Standard etablieren.73

Ähnliche Leitlinien, die auch Vorgaben im Hinblick auf Datenschutz, Gerätesicherheit und IT sowie praktische Verhaltensmuster beinhalten,74 sind auch für andere Bereiche der Telemedizin wünschenswert.75 Erschwerend kommt hinzu, dass ein Standard, der gerade den „Stand ärztlicher Erfahrung“ abbildet, ohne solche Erfahrung kaum zu entwickeln ist. Aus diesem Grund scheint der Vorschlag von Gaßner und Strömer begrüßenswert, auf den Erfahrungsschatz aus der Seeschifffahrt zurückzugreifen.76

Zwar wären solche Leitlinien nicht zwangsläufig rechtlich bindend,77 doch würden sie Rechtsprechung und Ärzten eine gewisse Orientierung bieten. Insbesondere erscheinen Leitlinien auch im Hinblick auf Qualitätssicherung und Patientenschutz notwendig.78

Bei der Diskussion um den Standard in der Telemedizin darf zudem nicht außer Acht gelassen werden, dass die Telemedizin sich mit Fortschreiten der Entwicklung selbst zum neuen Standard entwickeln könnte. Das Unterlassen einer Fernbehandlung würde dann eine Haftung begründen.79 Das wäre nach dem BGH dann der Fall, wenn Telemedizin risikoärmer wäre oder bessere Heilungschancen verspräche


61 Katzenmeier (Fn. 53), Kap. X Rn. 4.

62 Katzenmeier (Fn. 53), Kap. X Rn. 5.

63 BT-Drs. 17/10488, S. 19.

64 Katzenmeier (Fn. 53), Kap. X Rn. 8.

65 BT-Drs. 17/10488, S. 19.

66 BGH, VersR 2014, 879, 881.

67 Katzenmeier (Fn. 53), Kap. X Rn. 9; BT-Drs. 17/10488, S. 19.

68 121. DÄT, Beschlussprotokoll, 2018, S. 289; 120. DÄT, Beschlussprotokoll, 2017, S. 295.

69 Stellpflug, GesR 2019, 76, 77.

70 Katzenmeier, NJW 2019, 1769, 1771; Bergmann, MedR 2016, 497, 501.

71 Dazu Gaßner/Strömer, VersR 2015, 1219.

72 Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Sechste Bekanntmachung des Standes der medizinischen Anforderungen in der Seeschifffahrt (Stand der medizinischen Erkenntnisse) vom 18.2.2020 BAnz AT 2.6.2020 B8, S. 26.

73 Gaßner/Strömer, VersR 2015, 1219 f.

74 Bergmann, MedR 2016, 497, 500.

75 So auch Hahn, MedR 2018, 384, 388; Gaßner/Strömer, VersR 2015, 1219, 1220 f.

76 Gaßner/Strömer, VersR 2015, 1219, 1221.

77 D. II. 2. a) aa).

78 Katzenmeier (Fn. 53), Kap. X Rn. 11.

79 Kuhn, GesR 2016, 748, 751; Rübsamen, MedR 2015, 485, 490; Link, Telemedizinische Anwendungen in Deutschland und Frankreich, 2007, S. 189 f.; vgl. Steffen, in: FS Stoll, 2001, S. 71, 73 f.

Hahn, Telemedizin – Zulässigkeit und zivilrechtliche Haftungsrisiken 52

und in der Wissenschaft im Wesentlichen unumstritten wäre.80 Mit Blick auf die derzeitige COVID-19-Pandemie ist folgendes Szenario denkbar: Wenn beim Besuch in einer ärztlichen Praxis das Infektionsrisiko für einen Patienten wesentlich erhöht ist, könnten bereits erprobte und anerkannte telemedizinische Verfahren insbesondere für „Risikogruppen“ die risikoärmere Methode, den Standard, darstellen.

cc) Abweichung vom Standard durch Vereinbarung

Um das Haftungsrisiko zu minimieren, wäre es für den Arzt denkbar, eine vertragliche Vereinbarung über den Standard zu treffen.81 Denn § 630a II Hs. 2 BGB ordnet auf Grundlage der Dispositionsfreiheit82 der Parteien die Geltung des anerkannten fachlichen Standards nur an, „soweit nicht etwas anderes vereinbart ist“. Dadurch stellt sich die Frage, ob eine Behandlung, die im konkreten Fall nicht den Standards einer persönlichen Behandlung („Goldstandard“) entspricht, über eine vereinbarte Standardabweichung legitimiert werden kann.

Man könnte annehmen, dass der Patient – nach vorangegangener Aufklärung über die Risiken – durch seine Einwilligung in die telemedizinische Behandlung bereits konkludent mit dem Arzt eine Abweichung vom Standard nach § 630a II Hs. 2 BGB vereinbart.83 Dabei ist zu beachten, dass ein strenger Maßstab an eine solche Vereinbarung anzulegen ist. Im Gegensatz zur wirksamen Einwilligung in die Behandlung, für die es ausreicht, dass der Patient ein Maß an Verstandesreife erreicht hat, dass er die „Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Gestattung zu ermessen vermag“,84 müssen für eine Vereinbarung iSd. § 630a II Hs. 2 BGB zwei übereinstimmende Willenserklärungen (vgl. §§ 104 ff. BGB) vorliegen.85 An einer Willenserklärung kann es dann scheitern, wenn sich der Patient der Konsequenz eines verringerten Standards nicht bewusst ist.86

Liegt eine wirksame Vereinbarung vor, so muss diese im Streitfall einer Prüfung durch die Rechtsprechung standhalten. Haftungsausschlüsse seien unter anderem dann unwirksam (§§ 138 I, 242 BGB), wenn der Patient in einer Notlage zustimmt87 oder der Behandelnde eine Monopolstellung ausnutzt.88 Würde der einzige Arzt in einer ländlichen Region, um selbst Kosten zu sparen, seine Patienten dazu drängen, eine Fernbehandlung zu ergreifen, so läge die Unwirksamkeit der Vereinbarung nahe.

Jedenfalls bei Behandlungsformaten, die sich im Rahmen eines standardisierten Ablaufs an eine große Zahl von Patienten richten (beispielsweise Plattformen89, die „digitale Arztbesuche“ anbieten), dürfte eine wirksame Vereinbarung bereits am AGB-Recht scheitern. Denn eine formularmäßige Vereinbarung wird regelmäßig als Allgemeine Geschäftsbedingung (§ 305 I BGB) zu qualifizieren sein, die entweder nach § 305c I BGB schon gar nicht Vertragsbestandteil wird90 oder nach § 309 Nr. 7 lit. a BGB unwirksam ist.91

Zusammenfassend entsteht der Eindruck, dass auch im Rahmen von telemedizinischen Verfahren der medizinische Standard innerhalb enger Grenzen disponibel ist. Insbesondere da die Wirksamkeit formularmäßiger Vereinbarungen an § 309 Nr. 7 lit. a BGB scheitert, ist ein solches Vorgehen nur in Einzelfällen – nämlich dann, wenn eine Fernbehandlung außerhalb des Standards vom Patienten ausdrücklich gewünscht wird – zulässig. Um das Ausufern von Fernbehandlungen unterhalb des Standards zu verhindern, sollten dahingehende Individualabreden einer strengen Prüfung unterzogen werden.

b) Unterlassen gebotener Befunderhebung

Ein besonderes Risiko im Rahmen der Fernbehandlung liegt darin, dass die Wahrnehmung des Arztes potenziell verkürzt ist.92 Ein besonderes Augenmerk muss daher auf den Befunderhebungsfehler gelegt werden.93 Ein solcher liegt vor, wenn der Arzt die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlässt.94 Dabei sind Umfang und Intensität der Verpflichtung zu diagnostischen Maßnahmen davon abhängig, wie schwer die Erkrankung ist.95 In Abgrenzung dazu handelt es sich um einen Diagnoseirrtum (auch „Diagnosefehler“), wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und daher nicht die gebotenen Maßnahmen ergreift.96 Erhebt der Arzt nicht alle Befunde und stellt daraufhin eine falsche Diagnose, ist auch dies – nach der Rechtsprechung des BGH – als Befunderhebungs- und nicht als Diagnosefehler einzustufen.97 Übernimmt der Arzt nun eine Fernbehandlung, bei der er aufgrund seiner verkürzten Wahrnehmung nicht alle erforderlichen Befunde erheben kann, so könnte ihm ein Befunderhebungsfehler vorgeworfen werden.98

Das führt dazu, dass die – in Fortführung der BGH-Rechtsprechung –99 in § 630h V 2 BGB normierte Beweisfigur greift: Es wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für eine Verletzung des Patienten ursächlich war, „wenn der Behandelnde es unterlassen hat, einen medizinischen Befund rechtzeitig zu erheben, soweit der Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis erbracht hätte, das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte, und wenn das Unterlassen solcher Maßnahmen grob fehlerhaft gewesen wäre“.


80 Vgl. BGH, NJW 1992, 754, 755.

81 Spindler, in: BeckOGK (Fn. 46), BGB § 823 Rn. 1004.

82 BT-Drs. 17/10488, S. 20.

83 Stellpflug, GesR 2019, 76, 79.

84 BGHZ 29, 33, 36.

85 Lafontaine, in: juris Praxiskommentar BGB (jurisPK-BGB)9, BGB § 630a Rn. 509.

86 Katzenmeier, NJW 2019, 1769, 1771.

87 OLG Saarbrücken, NJW 1999, 871, 872.

88 OLG Stuttgart, NJW 1979, 2355, 2356. Wobei die Regelung nach heutigem Recht bereits nach § 309 Nr. 7 lit. a BGB unwirksam sein dürfte.

89 So beispielsweise www.teleclinic.com, abgerufen am 15.9.2020.

90 Lafontaine, in: jurisPK-BGB (Fn. 85), BGB § 630a Rn. 526.

91 Stellpflug, GesR 2019, 76, 80; Katzenmeier, NJW 2019, 1769, 1772.

92 So etwa OLG München, GRUR-RR 2020, 461, Rn. 48.

93 Katzenmeier, NJW 2019, 1769, 1772.

94 BGH, NJW 2016, 1447, 1448.

95 Wagner, in: MüKoBGB (Fn. 46), BGB § 630h Rn. 99.

96 BGH, NJW 2016, 1447, 1448.

97 Ebd.

98 Katzenmeier, NJW 2019, 1769, 1772; wohl a.A. Link (Fn. 79), S. 194 f.: Der Behandlungsfehler liege nicht in der fehlerhaften Befunderhebung, sondern ausschließlich in der Übernahme der Fernbehandlung.

99 BT-Drs. 17/10488; BGH, NJW 1996, 1589, 1590. Siehe dazu auch Spickhoff, in: Spickhoff (Fn. 21), BGB § 630h Rn. 1.

Hahn, Telemedizin – Zulässigkeit und zivilrechtliche Haftungsrisiken 53

Der Nachweis, dass der Befunderhebungsfehler kausal für die Verletzung wurde, muss nun nicht mehr vom Patienten erbracht werden. Vielmehr genügt es, dass dieser einen Befunderhebungsfehler verbunden mit einem dadurch verursachten hypothetischen groben Behandlungsfehler (§ 630h V 2 a. E. BGB), darlegt.100 Dieser Nachweis wird dem Arzt häufig nicht gelingen, sodass diese Beweislastumkehr eine erhebliche Haftungsverschärfung bedeutet.101

Wann immer also der Verdacht besteht, dass über eine telemedizinische Verfahrensweise nicht alle Befunde erhoben werden können, ist – auch aus zivilrechtlicher Sicht – dringend zu raten, die Behandlung zu unterbrechen und persönlich fortzusetzen.

c) Technisches Versagen

Bei technischen Mängeln erlangt die Beweisfigur des § 630 I BGB Relevanz:

„Ein Fehler des Behandelnden wird vermutet, wenn sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht hat, das für den Behandelnden voll beherrschbar war und zur Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit des Patienten geführt hat.“

Der Hintergrund der Norm liegt darin, dass dem Patienten Organisations- und Gefahrenbereiche des Behandlers regelmäßig verborgen bleiben.102 Bei der Verwirklichung von Risiken, die nicht vorrangig aus den Eigenheiten des menschlichen Organismus stammen, sondern durch sachgerechte Organisation und Koordinierung des Behandlungsgeschehens objektiv voll beherrscht werden können, soll die Beweislast hinsichtlich eines Behandlungsfehlers zugunsten des Patienten umgekehrt werden.103 Die Rechtsprechung bejahte dies beispielsweise für Fehler bei der Gerätesicherheit104 und im Hygienebereich105. Wären bei der Fernbehandlung also technische Mängel bei Anwendung der ärztlichen Sorgfalt erkennbar gewesen, greift die Fehlervermutung.106 Dabei kann es sich beispielsweise um Übertragungsmängel handeln, etwa wenn dem Telepathologen ein unzureichendes Bild übermittelt wird.107 Falls Personal bei der Bedienung der Geräte involviert ist, muss auch für eine ausreichende Schulung und gegebenenfalls Kontrolle und Überwachung gesorgt werden. Man denke an ein Telenotarztsystem108, bei dem ein Rettungsassistent vor Ort die Datenübertragung an den Telenotarzt ermöglicht.109

Sicherlich steht es dem Behandler offen, den Gegenbeweis zu führen, dass sämtliche Geräte ordnungsgemäß gewartet wurden und eine Schulung des Personals erfolgt ist.110 Hierfür ist eine umfassende Dokumentation zu empfehlen.

3. Aufklärungspflichtverletzung

Vor Durchführung einer medizinischen Maßnahme ist der Behandelnde verpflichtet, die Einwilligung des Patienten einzuholen (§ 630d I 1 BGB). Diese kann der Patient jedoch nur erteilen, wenn er zuvor über sämtliche für die Einwilligung wesentliche Umstände aufgeklärt worden ist.111 Daher wurde mit § 630e BGB auch eine zivilrechtliche Vorschrift112 geschaffen, die die Aufklärungspflichten des Arztes normiert und bei einem Verstoß eine Haftung begründet. Sie dient dem Schutz des Selbstbestimmungsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) des Patienten.113 Der Arzt muss die ordnungsgemäße Aufklärung nachweisen (§ 630h II 1 BGB), weshalb eine Dokumentation in der Patientenakte ratsam ist.114

a) Materielle Anforderungen

Für die Fernbehandlung speziell folgt aus § 630e BGB, dass der Arzt beispielsweise darüber aufklären muss, dass technische Systemstörungen oder Softwaremängel zu diagnostischen oder therapeutischen Fehlentscheidungen führen können („Risiken der Maßnahme“, § 630e I 2 BGB).115 Insbesondere dann, wenn die telemedizinische Behandlung nicht dem Standard entspricht, bedarf es des Hinweises, dass unbekannte Risiken nicht auszuschließen sind.116 Auch muss der Patient über die Behandlung im persönlichen Kontakt als Alternative unterrichtet werden (§ 630e I 3 BGB).117 Die nach § 630e BGB erforderliche Aufklärung reicht dabei über das von § 7 IV 3 MBO-Ä118 geforderte Maß hinaus.119

b) Formelle Anforderungen

Nach § 630e II 1 Nr. 1 Hs. 1 BGB hat die Aufklärung mündlich zu erfolgen. Da „Mündlichkeit“ im Gesetz nicht legaldefiniert wird, stellt sich die Frage, ob auch eine „fernmündliche“ Aufklärung ausreichend ist.

Systematisch ließe sich hierfür anführen, dass § 147 I 2 BGB die mittels Fernsprechers übertragene Willenserklärung mit einer Willenserklärung unter Anwesenden gleichsetzt120 und auch im Rahmen von § 130 I BGB zwischen telefonischer und persönlicher Willenserklärung kein Unterschied gemacht wird.121 Auch die Wertung des § 7 IV 3 MBO-Ä n. F.


100 Spickhoff, in: Spickhoff (Fn. 21), BGB § 630h Rn. 16.

101 Katzenmeier, NJW 2019, 1769, 1773; Katzenmeier (Fn. 53), Kap. XI Rn. 116.

102 BT-Drs. 17/10488, S. 28; Glanzmann, in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer (Hrsg.), Gesamtes Medizinrecht3, 2018, BGB § 630h Rn. 4; Spickhoff, in: Spickhoff (Fn. 21), BGB § 630h Rn. 5.

103 BGHZ 171, 358, 361.

104 So beispielsweise BGH, VersR 2007, 1416, Rn. 5.

105 So beispielsweise, BGHZ 171, 358, 360 f. Siehe im Überblick zur Kasuistik der Rechtsprechung Glanzmann, in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer (Fn. 102), BGB § 630h Rn. 9-11.

106 Stellpflug, GesR 2019, 76, 79; Katzenmeier, NJW 1769, 1774; Ulsenheimer/Erlinger (Fn. 58), S. 67, 76.

107 Zu diesem Beispiel Bergmann, MedR 2016, 497, 502.

108 Zur Funktionsweise Ulsperger (Fn. 7), Rn. 15-19.

109 Bergmann, MedR 2016, 497, 502. Zum Einsatz der Telemedizin im Rettungsdienst Katzenmeier/Schrag-Slavu, Rechtsfragen des Einsatzes der Telemedizin im Rettungsdienst, 2010.

110 Katzenmeier, NJW 1769, 1774; Katzenmeier (Fn. 53), Kap. XI Rn. 125.

111 Spickhoff, in: Spickhoff (Fn. 21), BGB § 630e Rn. 1.

112 Zu den berufsrechtlichen Regelungen §§ 7 I 3, 8 MBO-Ä bereits unter C. II. 4.

113 Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz-Kommentar90, 2020, GG Art. 2 I Rn. 204.

114 Kuhn/Heinz, GesR 2018, 691, 693.

115 Katzenmeier, NJW 2019, 1769, 1773 f.; Pflüger, VersR 1999, 1070, 1073.

116 BGH, GUP 2020, 75, 77; BGHZ 168, 103, 109; Fischer (Fn. 11), S. 621, 631.

117 Katzenmeier, NJW 2019, 1769, 1773; Kern (Fn. 53), S. 55, 63.

118 C. II. 4.

119 K. Schmidt, in: jurisPK-BGB (Fn. 85), BGB § 630e Rn. 29.

120 Hahn, MedR 2020, 16, 17.

121 DVG-RefE v. 10.7.2019, S. 80; Einsele, in: MüKoBGB (Fn. 46), BGB § 130 Rn. 28.

Hahn, Telemedizin – Zulässigkeit und zivilrechtliche Haftungsrisiken 54

wäre nur schwer mit einer Pflicht zur persönlichen Aufklärung vereinbar. Es entspräche nicht dem Prinzip einer einheitlichen Rechtsordnung, wenn der nach Berufsrecht entbehrliche persönliche Erstkontakt zivilrechtlich – zumindest faktisch – vorausgesetzt würde.

Die Gesetzesbegründung nimmt auf ein BGH-Urteil vom 15.6.2010 Bezug.122 Danach dürfe der Patient „in einfach gelagerten Fällen“ grundsätzlich auch in einem telefonischen Gespräch aufgeklärt werden.123 Im Umkehrschluss folgt daraus, dass nach dem Willen des Gesetzgebers grundsätzlich ein persönlicher Kontakt vorausgesetzt wird.

Im Hinblick auf die Fernbehandlung muss nun zwischen der berufsrechtlichen Zulässigkeit und der Erforderlichkeit einer mündlichen Aufklärung differenziert werden. Nicht immer, wenn eine Fernbehandlung „ärztlich vertretbar“ (§ 7 IV 3 MBO-Ä) ist, wird es sich auch um einen „einfach gelagerten Fall“ im Hinblick auf die Aufklärung handeln. Denkbar ist beispielsweise, dass es sich um einen medizinisch risikoreichen Eingriff handelt (persönliche Aufklärung erforderlich), dessen Gefahren jedoch nicht durch das telemedizinische Verfahren erhöht werden (Fernbehandlung ärztlich vertretbar).124 Das Prognoserisiko hierbei trägt der Arzt.125

In einem Referentenentwurf zum Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) vom 15.5.2019 findet sich eine Ergänzung des § 630e I BGB, ähnlich wie sie auch schon in der Literatur gefordert wurde:126 „Im Rahmen einer telemedizinischen Behandlung kann die Aufklärung nach Satz 1 auch unter Einsatz der für die Behandlung verwendeten Fernkommunikationsmittel erfolgen.“127 Dies wird teleologisch damit begründet, dass im Rahmen der Videosprechstunde – andere Formen der Fernbehandlung werden nicht erwähnt – eine „dem unmittelbaren Arzt-Patienten-Kontakt vergleichbare Gesprächssituation“ gegeben sei.128

Es überrascht, dass diese Änderung im Referentenentwurf vom 10.7.2019 mit der Begründung, es könne „bereits nach geltendem Recht“ eine Aufklärung über sprach- und gegebenenfalls bildbasierte Fernkommunikationsmittel erfolgen,129 wieder gestrichen wurde; entsprach die Beschränkung auf „einfach gelagerte Fälle“ doch der herrschenden Ansicht.130 Diese Friktion in der gesetzgeberischen Linie ist nur schwer aufzulösen131 und sorgt für Rechtsunsicherheit.

Vor diesem Hintergrund scheint eine Gesetzesänderung erforderlich zu sein. Die fernmündliche Aufklärung, wie im Referentenentwurf vom 15.5.2019 vorgesehen, für alle zulässigen telemedizinischen Verfahren zu öffnen, erscheint allerdings zu weit. Denn nicht jedes Kommunikationsmittel schafft eine dem unmittelbaren Arzt-Patienten-Kontakt vergleichbare Gesprächssituation. Auch sollten bei schwereren Eingriffen erhöhte Anforderungen an das Kommunikationsmittel gestellt werden. Dies hat gegebenenfalls ein Auseinanderfallen von zulässiger Fernbehandlung und zulässiger Fernaufklärung zur Folge, was vor dem Hintergrund des Patientenschutzes allerdings hingenommen werden muss.

E. Fazit

Durch die Novellierung des § 7 IV MBO-Ä und der damit im Zusammenhang stehenden § 9 HWG und § 48 I AMG wurde das Fernbehandlungsrecht weitgehend liberalisiert.

Unklarheit besteht vor allem im Hinblick auf den ärztlichen Standard. Hier sind die Fachgesellschaften dazu angehalten, den medizinischen Standard durch Leitlinien auszufüllen. Im Übrigen bleibt abzuwarten, wie die Rechtsprechung weitere Fernbehandlungsfälle entscheiden wird, sodass sich ein Standard entwickeln kann. Ein Arzt sollte aus berufs- wie zivilrechtlichen Gründen genau prüfen, ob eine Fernbehandlung im konkreten Fall vertretbar ist. Ebenso ist bei der Wartung ärztlicher Geräte, der Patientenaufklärung und Dokumentation Sorgfalt geboten.

Der Rückstand, der dem Gesetzgeber gegenüber den technischen Möglichkeiten vor einiger Zeit noch vorgeworfen wurde,132 ist weitgehend aufgeholt. Nachholbedarf besteht insbesondere noch im Rahmen der fernmündlichen Aufklärung, deren Zulässigkeit nach wie vor ungeklärt ist. Eine klarstellende Regelung, die bei der Ausstellung von AU-Bescheinigungen den neuen technischen Möglichkeiten Rechnung trägt, wäre ebenso zu begrüßen.

Auch in Zukunft sollten sich Gesetzgeber, Rechtsprechung und Fachgesellschaften nicht gegenüber den Chancen neuartiger Fernbehandlungskonzepte verschließen. Wachsende technische Möglichkeiten werden neue Behandlungsmethoden Realität werden lassen. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass die Telemedizin zum festen Bestandteil medizinischer Versorgung und in einigen Bereichen sogar zum neuen Standard wird.

Unser Haftungssystem sorgt bereits jetzt für eine weitgehend angemessene Risikoverteilung. Jedenfalls bei juristischer Betrachtung erscheint daher die Telemedizin alles andere als „entzaubert“.


122 BT-Drs. 17/10488, S. 24.

123 BGH, RDG 2010, 243, 244.

124 Hahn, MedR 2020, 16, 18.

125 Katzenmeier, NJW 1769, 1773.

126 Stellpflug, GesR 2019, 76, 80 f.

127 DVG-RefE v. 15.5.2019, S. 31.

128 Ebd.

129 DVG-RefE v. 10.7.2019, S. 80.

130 BGH, RDG 2010, 243, 244; Katzenmeier, in: BeckOK BGB (Fn. 46), BGB § 630e Rn. 32; Rehborn/Gescher, in: Erman (Begr.)/Grunewald/Maier-Reimer/Westermann (Hrsg.), Kommentar BGB16, 2020, BGB § 630e Rn. 26; K. Schmidt, in: jurisPK-BGB (Fn. 85), BGB § 630e Rn. 29; Wagner, in: MüKoBGB (Fn. 46), BGB § 630e Rn. 52; Wever, in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer (Fn. 102), BGB § 630e Rn. 38; wohl a.A. Walter, in BeckOGK (Fn. 46), BGB § 630e Rn. 27: Eine telefonische Aufklärung sei „ohne Weiteres“ zulässig.

131 Dazu eingehend Hahn, MedR 2020, 16, 22.

132 So Bergmann, MedR 2016, 497, 502.