Möglichkeit der gerichtlichen Gesetzesbindung

Oscar Laitzsch*

A. Einleitung

Die Rolle der Rechtsprechung kann mit zwei Extrempositionen beschrieben werden. Nach Montesquieu soll die Richterin bloß der Mund des Gesetzes sein: „la bouche, qui prononce les paroles de la loi“1. Im Kontrast dazu steht die typisch pragmatische Sichtweise der Angelsachsen: “Whoever hath an absolute authority to interpret any written or spoken laws, it is he who is truly the lawgiver, to all intents and purposes, and not the person who first wrote or spoke them.”2 Es ist also so: Die Richterin soll bloß wiedergeben, was bereits im Gesetz geschrieben steht und gleichzeitig steht im Gesetz geschrieben, was die Richterin sagt, dass dort geschrieben steht. Damit drängt sich die Frage auf, wie die Rechtsprechung an das Gesetz gebunden sein kann, wenn sie dessen Bedeutung doch erst bestimmt.

Vor diesem Hintergrund entbrennt in regelmäßigen Abständen eine Debatte in den Zeitschriften, die Gefahr läuft, weniger Licht als Hitze zu produzieren.3 Der scharfe Ton dieser Debatte kann wohl damit erklärt werden, dass Methodenfragen immer auch Verfassungsfragen4 sind, dass also die Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) einen gewaltenteilenden und demokratischen Gehalt hat und dass die Verwirklichung dieser Prinzipien mit den Methoden richterlicher Rechtsarbeit steht und fällt.5

Anstatt sich dem Thema jedoch von der verfassungsrechtlichen Seite zu nähern, soll hier zunächst eine andere Prämisse in den Blick genommen werden – die Offenheit und Unbestimmtheit von Sprache und Text. Auf diese Weise sollen einfache Antworten ausgeschlossen werden, um sich dem Problem der Gesetzesbindung sodann mit dem nötigen Respekt nähern zu können.

B. Unbestimmtheit und Offenheit von Gesetzestexten

I. Sprache

Vorliegend möchte ich trotz erhobener Einwände die Idee zugrundlegen, dass die Bedeutung eines Wortes in seiner Verwendung zu sehen ist. Dies vermeidet einen naiven semantischen Realismus, ohne in sprachphilosophische Untiefen abzugleiten. Zum anderen wird gerade diese Bedeutungsdefinition in der Rechtstheorie immer wieder bemüht.6 Es ergeben sich bei Zugrundelegung dieser Bedeutungsdefinition in Bezug auf die Gesetzesbindung mindestens zwei Probleme:

1. Vagheit

Wenn Unsicherheit darüber besteht, ob ein Begriff einen bestimmten Sachverhalt erfasst, oder nicht, liegt die Antwort nicht in einer genaueren Betrachtung der Sprache selbst. Unsicherheiten über die Bedeutung eines Begriffs lassen sich also nicht sprachintern auflösen.7 Um es an einem Beispiel zu demonstrieren: Die Frage, ob der nach Einäscherung zurückbleibende Goldzahn unter den Begriff der „Asche eines verstorbenen Menschen“ i.S.d. § 168 Abs. 1, 1. Alt. StGB zu subsumieren und so seine Wegnahme eine Störung der Totenruhe ist, ist keine ausschließlich linguistische Frage.8 Denn die semantischen Verwendungsregeln für den Begriff „Asche“ sind hier Ausgangspunkt der Unklarheit und können deshalb nicht zugleich der Schlüssel zur Beseitigung dieser Unklarheit sein. Letztlich bleibt nur die schöpferische Entscheidung darüber, wie der Begriff der „Asche“ in diesem Kontext zu verwenden ist. Obwohl weite Teile der Sprache eindeutigen Verwendungsregeln unterliegen,9 gibt es für jeden Begriff Situationen, in denen seine Verwendung und damit seine Bedeutung unklar ist. Das ist die Vagheit von Begriffen, die nicht völlig auszuräumen ist – auch dann nicht, wenn man Begriffe kombiniert, um sie gegenseitig zu schärfen. Der Grund hierfür liegt in der „deskriptive[n] Unerschöpflichkeit der Einzeldinge“10. Man kann die Realität mit Sprache nicht bis ins letzte Detail beschreiben, weil die Realität zu viele Eigenschaften aufweist.

2. Porosität

Zur Vagheit hinzu tritt ein als „Porosität“ beschriebenes Sprachphänomen: Wenn wir Neues entdecken oder unvorhergesehene Erfahrungen machen, hinsichtlich derer sich ein sprachlicher Gebrauch noch nicht etablieren konnte, so führt dies zur Unklarheit über die Bedeutung bestimmter Begriffe.11 Beispielsweise hatte der Bundesgerichtshof zu der Zeit als Software noch eine relativ neuartige Erscheinung war, die Frage zu entscheiden, ob diese dem Begriff der „Sache“ in § 90 BGB unterfällt.12 Die Beantwortung dieser Frage war nicht bloß eine Explikation vorgefundener semantischer Verwendungsregeln für die Begriffe „Sache“


*Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.
1 Montesquieu, l’esprit, Buch XI, Kapitel 6, 22;

Sauer, Methodenlehre, 202.

2 Thayer, Harv. L. Rev. 1893, 152; Ähnlich äußert sich Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, 32: „Ein über dem Richter schwebender ‚Wille‘ ist immer erst das Ergebnis der Interpretation, die sich daher nun nicht ihrerseits aus ihrem Resultat legitimieren kann“.

3 Eine besonders heftige Eruption dieses Streits war 2006 zu verzeichnen: Rüthers, JZ 2006, 53 ff.; Rüthers, NJW 2005, 2759 ff.; Hirsch, ZRP 2006, 161; Möllers, FAZ 2006, 8; Papsthart, FAZ 2006, 8.

4 Methodenfragen wurden von Beginn an als Verfassungsfragen gesehen: Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, 213 f.;

Rüthers, Rechtstheorie 40.

5 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 8. Aufl., Rn. 704 ff.;

Sauer, Methodenlehre, 208 m.w.N.

6 Wittgenstein, Untersuchungen, 43; Koch, Methode, 40; Roellecke, FS Müller, 323 ff.; Kuntz, AcP 2015, 387 ff.; Für eine sprachphilosophisch ausdifferenzierte Sicht: Klatt, Making the law explicit.

7 Koch, ARSP 1975, 34.

8 BGH 5 StR 71/15.

9 Hart, Concept of Law, 135.

10 Poscher, Cambridge Companion to Hermeneutics, 341;

Keil, Unerschöpflichkeit der Einzeldinge.

11 Koch, ARSP 1975, 34.

12 BGH, VIII ZR 314/86 in Abwandelung des Beispiels von Koch, ARSP 1975, 34.

Laitzsch, Möglichkeit der gerichtlichen Gesetzesbindung7

und „Software“. Vielmehr enthält das Urteil des Bundesgerichtshofes eine neue semantische Verwendungsregel für diese Begriffe. Dies zeigt, dass ein zunächst hinlänglich bestimmter Begriff mit der Herausbildung neuer Phänomene „porös“ werden und dass die Beseitigung dieser Porosität erfordert, dass neue sprachliche Verwendungsregeln im sozialen Miteinander organisch herausgebildet oder (freilich bloß rechtsintern) mit dem Urteil eines Gerichts autoritativ festgesetzt werden.

II. Regelungsintention

Hinzu kommt, dass nicht jeder erdenkliche Sachverhalt im Voraus tatsächlich bedacht werden kann. So kommt es regelmäßig vor, dass der Gesetzgeber sich eine später von Gerichten zu entscheidende Frage nie stellen konnte.13 Der Gesetzgeber wird sich beispielsweise bei Erlass des § 823 Abs. 1 BGB keine Gedanken darüber gemacht haben, ob der aus dem Einsturz einer Ufermauer resultierenden Einschluss eines Schiffes als Eigentumsverletzung gegenüber dem Instandhaltungspflichtigen der Ufermauer liquidierbar sein soll.14 Genauso war die Aufnahme von Werken mit Magnettonbändern im privaten Bereich im Zeitpunkt der Verabschiedung des LitUrhG im Jahre 1901 „außerhalb des Vorstellungskreises des Gesetzgebers“.15 Er konnte hinsichtlich solcher Handlungen keine konkrete Regelungsintention gehabt haben. Und selbst wenn der Gesetzgeber die Zukunft vorherzusehen im Stande wäre, ließen es seine quantitativ begrenzten Problemlösungskapazitäten nicht zu, für alle Fälle präzise Vorgaben zu normieren.16 Eine Möglichkeit, diesem Problem zu begegnen, besteht im Rückgriff auf Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, deren Konturierung Wissenschaft und Rechtsprechung überantwortet werden kann.17

III. Zwischenergebnis

Die sprachliche Offenheit von Gesetzestexten bedingt ein Erkenntnisdefizit (siehe „B.I“). In der Unbestimmtheit der Regelungsintention hingegen kommt ein Mangel an Determinierungskraft des Gesetzes in seiner ideellen (nicht bloß textlichen) Form zum Ausdruck. Dies soll hier als Regelungsdefizit (siehe „B.II“) beschrieben sein.18 Vor dem Hintergrund, dass Regelungs- und Erkenntnisdefizit jeweils nicht vermeidbar sind,19 sondern untrennbar mit der Verwendung von Sprache einhergehen, stellt sich die Frage nach der Einlösbarkeit des Gesetzesbindungspostulats (wie es in Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG normiert ist).

In der Rechtstheorie und den Rechtswissenschaften sind unterschiedliche Positionen auszumachen, die jeweils ein praktisches Verständnis richterlicher Rechtsarbeit ausweisen. Es soll eine Kritik der Leistungsfähigkeit zweier solcher Positionen in Bezug auf das Gesetzesbindungspostulat erfolgen.

C. Juristischer Determinismus

I. Grundposition: Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung20

Klassischerweise wird in den Rechtswissenschaften die Rechtsetzung von der –Anwendung unterschieden.21 Erstere ist dem Gesetzgeber vorbehalten, letztere gebührt der Rechtsprechung. Die Rechtsanwendung selbst wird unterteilt in Auslegung und Rechtsfortbildung. Bei der Auslegung ist der Richter unmittelbar durch das Gesetz legitimiert.22 Die Rechtsfortbildung hingegen tritt auf den Plan, wenn eine Entscheidung nicht eindeutig aus dem Gesetzestext zu entnehmen ist. Eine abnehmende Bindung an den Gesetzestext aufgrund seiner Unbestimmtheit wird stets von den Prinzipien der Rechtsordnung kompensiert, sodass die Richterin nie zur Dezision im eigentlichen Sinne – also zur Entscheidung anhand außerrechtlicher Kriterien – ermächtigt ist. Vielmehr verlagert sich die Rechtsanwendung in Ermangelung textlicher Klarheit auf eine andere Stufe: Rechtsanwendung hat dann „als Gegenstand ihrer Erkenntnis nicht nur das geschriebene, sondern auch das ungeschriebene Recht.“23 Die Rechtsordnung regelt hiernach jeden erdenklichen Einzelfall und weist keine Lücken im Sinne eines Regelungsdefizits auf, sondern nur im Sinne einer gesetzestextlichen Unklarheit. Die Position kann als Vollständigkeitsthese beschrieben werden24 und erklärt, warum die Rechtsfortbildung nicht als Rechtsetzung, sondern als „Fortsetzung der Auslegung“ verstanden wird:25 Eine Entscheidung ergibt sich stets aus der Rechtsordnung, außerrechtliche Maßstäbe haben keinen Platz.

Insoweit wird die klassische Sichtweise den Anforderungen der Gewaltengliederung gerecht: Der Gesetzgeber setzt das Recht, die Rechtsprechung wendet es passiv an.

II. Verständnis der richterlichen Rechtsarbeit: Methodenlehre

Die klassische Sichtweise muss also eine Antwort darauf geben, wie das Erkenntnisdefizit zu lösen ist – wie also die Richterin eine objektiv gegebene Rechtslage zuverlässig erkennen kann. Hier soll die Methodenlehre die Richterin an das Gesetz binden,26 was erfordert, dass die diese gleichsam


13 Larenz, FS Huber, 295; Hart, Concept of Law, 129.

14 BGHZ 55, 153; Beispiel von Laudenklos, Kritische Justiz 1997, 149; Mit dem Beispiel soll nicht einem Vorzug der subjektiven Auslegung das Wort geredet werden. Mutatis mutandis ist eine Unbestimmtheit der Regelungsintention auch bei objektiver Betrachtungsweise möglich, wenn der Zweck einer Vorschrift auch im Gesamtzusammenhang Fragen aufwirft.

15 BHGZ, 17, 266, 275.

16 Roellecke/Starck, VVDStRL 1975, 17.

17 Larenz, FS Huber, 292; Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 29.

18 Das Begriffspaar „Regelungs-“ und „Erkenntnisdefizit“ ist übernommen von: Neumann, Wahrheit, 19; Inhaltlich dieselbe Differenzierung treffend: Hart, Concept of Law, 129.

19 Ein Appel für bessere Gesetzestexte beispielsweise bei Rüthers, JZ 2003, 996.

20 Darstellung der klassischen Sichtweise basiert auf:

Bumke, Rechtserzeugung.

21 Bumke, Rechtserzeugung, 35 ff.

22 Jestaedt, Rechtsetzung, 65; Bumke, Rechtserzeugung, 36.

23 Christensen/Kudlich, Paradoxie, 4.

24 Bumke, Rechtsdogmatik, 111, Fn. 356: Das ist von der These Kelsens zu unterscheiden, nach der die Rechtsordnung keine Lücken aufweist, weil Ansprüche, die sich nicht aus dem Gesetz herleiten lassen, auch nicht bestehen; Kelsen, Reine Rechtslehre, 251 ff.

25 Larenz/Canaris, Methodenlehre, 187, zitiert von:

Bumke, Rechtserzeugung, 35 ff.

26 Hassemer, Bindung des Richters an das Gesetz, 262; Zu der klassischen Sicht, dass die Methodenlehre der Rechtserkenntnis dient und damit die richterliche Entscheidung demokratisch legitimiert Krebs, juristische Methode im Verwaltungsrecht, 218.

Laitzsch, Möglichkeit der gerichtlichen Gesetzesbindung8

eines stets gleichlaufenden Transmissionsriemens die Entnahme einer präzisen Einzelfallentscheidung aus dem Gesetz ermöglicht. Die Frage ist, ob die Auslegungsmethoden (also die grammatische, systematische, teleologische und historische Auslegung) in ihrem Zusammenspiel solch präzise und verlässliche Vorgaben machen, dass der Anspruch einer Volldeterminierung der Rechtsprechung einzulösen ist.

Um zu überprüfen, ob die Methodenlehre diesem Anspruch genügt, ist man nicht etwa gehalten, die Leistungsfähigkeit jeder einzelnen Auslegungsmethode nachzuprüfen. Vielmehr ist zu fragen, ob beim methodischen Vorgehen Einigkeit über Ziel, Zahl und Rangfolge der Auslegungsmethoden besteht. Denn ist dies nicht der Fall, kann die einzelne Auslegungsmethode noch so leistungsfähig sein – mit dem Verweis auf eine andere Auslegungsmethode ließe sich das Ergebnis relativieren, da die Auslegungsmethoden in schwierigen Fällen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen (andernfalls würde es sich nicht um schwierige Fälle handeln).27 Es bestünde die Gefahr, dass die Wahl der Auslegungsmethode strategisch erfolgt, um das jeweils gewünschte Ergebnis zu „begründen“.28

Jedenfalls dem ersten Eindruck nach, ist dem Anspruch der Volldeterminierung der Richterin durch die Auslegungsmethoden mit Skepsis zu begegnen. So dürfte es nicht kontrovers sein, dass der Wortlaut bei „der Entscheidung der Frage, ob eine ‚Bande‘ im Sinne des Tatbestands des Bandendiebstahls (§ 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB) aus zwei Personen bestehen kann, gewichtiger [ist,] als bei der Frage, ob jedenfalls die Beteiligung dreier Personen ausreicht.“29 Genauso hängt das Gewicht eines systematischen Arguments davon ab, welche Wertungswidersprüche in concreto drohen.30 Das Gewicht von Wortlautargument und systematischem Argument scheint damit dem ersten Eindruck nach vom konkreten Einzelfall abzuhängen. Wenn es keine „Meta-Methodik“ gibt, die verbindlich regelt, was der Maßstab für das Gewicht der Auslegungsmethoden relativ zueinander ist, herrscht Beliebigkeit, womit auch die Gesetzesbindung in weite Ferne rückt.

Wenn wir uns zunächst auf das Problem einer verbindlichen Rangfolge der Auslegungsmethoden konzentrieren, könnte eine Möglichkeit darin bestehen, die Rangfolge der Auslegungsmethoden an einem Leitprinzip auszurichten. Nachfolgend sollen zwei Ansätze einer verbindlichen Rangfolgebildung untersucht werden. Neben dem Herleitungsversuch aus der Verfassung (siehe „C.II.2“) beziehungsweise auf staatstheoretischer Grundlage in Form der Gewaltenteilung (siehe „C.II.1“), gibt es auch begründungstheoretische Herleitungsversuche, die meines Erachtens aber an den gleichen Problemen scheitern. Die hier dargestellten Argumente sollen deswegen stellvertretend auch für – beziehungsweise gegen – die anderen Begründungsansätze gelten.31

1. Gewaltenteilung: Strikt Subjektive Auslegung

Nach Rüthers ist „[d]er Richter der (denkende) gehorsame Diener des demokratisch erlassenen Gesetzes, nicht sein Herr.“32 Deshalb sei stets dem Willen des Gesetzgebers Vorrang einzuräumen und so Auslegungskonflikte allgemeinverbindlich zu bewältigen.33

Es drängt sich jedoch die Frage auf, woher man den Willen des Gesetzgebers nehmen soll, wenn nicht aus dem Text?34 Wird auf die Gesetzgebungsmaterialien verwiesen, stellt sich die Frage, woher man wiederrum deren Zweck nehmen soll, um den sie verkörpernden Text zu interpretieren.35 Wie man es dreht und wendet, man kommt an einen Punkt, an dem man nur eines hat: Text.36 Spätestens hier stellt sich die Frage nach einer Meta-Methodik erneut, aber diesmal ohne die Möglichkeit, mit einer Privilegierung der Materialien gleichsam hinter den Text zu treten. Hinzu kommt das Problem, dass der Wille des Gesetzgebers eine Fiktion ist. Ein Verband wie ein Parlament kann keinen einheitlichen Willen fassen, wie im Condorcet-Paradoxon zum Ausdruck kommt: Die Präferenzen einer Gruppe sind nicht transitiv, lassen sich mithin nicht zu einem einzigen Willen zusammenfassen.37 Wank resümiert meines Erachtens daher zutreffend, dass „angesichts des tatsächlichen Entstehungsvorgangs […] eine psychologisierende Diskussion über den Willen des Gesetzgebers unergiebig“38 ist.39 Damit soll in keiner Weise in der Debatte, ob Ziel der Auslegung der subjektive Willen des Gesetzgebers oder objektive Wille des Gesetzes sein soll, Stellung bezogen werden,40 sondern nur gezeigt sein, dass eine verlässliche Methodenlehre nicht mit dem Verweis auf den Willen des Gesetzgebers zu haben ist.

Auch Rüthers ist sich des Umstandes bewusst, dass eine subjektive Auslegung das Problem der Rechtsanwendung nicht in allen Fällen zu lösen vermag und optiert dann ausweichend für eine objektive Auslegung. Dies soll jedoch getreu dem Prinzip der Methodenehrlichkeit als Rechtsfortbildung deklariert werden und das Bestehen einer Lücke im Gesetz voraussetzen. Hier allerdings besteht ein logischer Zirkel. Denn, ob eine Lücke im Gesetz vorhanden ist, die zur Rechtsfortbildung ermächtigt, ist in schwierigen Fällen eine diffizile Auslegungs- und Wertungsfrage.41 Der Modus der Auslegung soll also vom Auslegungsergebnis abhängen.


27 MacCormick, Ratio Juris 1993, 26 f.

28 Hassemer, ZRP 2007, 216.

29 Neumann, Wahrheit, 34.

30 Neumann, Wahrheit, 34 (kursiv im Original).

31 Hier könnte man beispielsweise den begründungstheoretischen Ansatz von Koch/Rüßmann (Juristische Begründungslehre), anführen. Kritik bei: Brink, richterliche Entscheidungsbegründung, 240.

32 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl., Rn. 708, in Anlehnung an Heck, AcP 1914, 13 ff.

33 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl., Rn. 725 ff.

34 Kübbeler, Argumentation, 30 ff.

35 Und soweit einem Gesetz überhaupt eine Begründung angefügt ist, sollte man bedenken, dass diese in der Regel in den Ministerien formuliert wurde und nicht „kurzerhand jenen Personen untergeschoben werden [kann], die den Gesetzesbeschluss fassen“, so: Zippelius, Methodenlehre, 19, zitiert von: Kübbeler, Argumentation, 28; Dagegen: Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 212.

36 Kübbeler, Argumentation, 24-26.

37 Kübbeler, Argumentation, 43 f.

38 Wank, Rechtsfortbildung, 63; Kübbeler, Argumentation, 30 f.

39 … was nichts daran ändert, dass jegliches Verstehen den Willen eines Akteurs gedanklich voraussetzt, Poscher, Cambridge Companion to Hermeneutics, 327 f. Auch die objektive Auslegung kommt insofern nicht an einem (wenn auch metaphorischen) Willen des Gesetzes vorbei.

40 Buchwald, Begründung, 28; Es darf bestritten werden, ob dieser Streit ein sinnvoller ist. Differenzierend: Wischmeyer, Zwecke im Recht.

41 Kriele dementiert aus diesem und anderen Gründen, dass es einen kategorialen Unterschied zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung gibt: Kriele, Rechtsgewinnung, 221.

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2. Verfassung: Strukturierende Rechtslehre

Die strukturierende Rechtslehre leitet aus der „Verfassungs- und Rechtsgebundenheit staatlicher Funktionsausübung“42 im Falle frontalen Widerspruchs zwischen verschiedenen Deutungsvarianten einen Vorrang von grammatischen und systematischen Auslegungselementen ab.43 Dies wird mit der Gewaltenteilung und der Volkssouveränität begründet.44 Jedoch ist es in schwierigen Fällen gerade die Unklarheit des Normtextes, die überhaupt eine Auslegung erforderlich macht.45 So wird deutlich, dass der Verweis auf den Wortsinn die Richterin nicht zu disziplinieren vermag. Wie eingangs demonstriert worden ist (siehe „B.I.1“), ist einem unklaren Wortsinn nur in Rückgriff auf andere Auslegungselemente beizukommen, nicht aber indem man sich den Wortsinn etwa noch intensiver zu Gemüte führt.

Ein schwerwiegenderes Problem stellt sich aber auf konzeptioneller Ebene: Denn die Rückbindung methodischer Vorgaben an die Verfassung führt auch hier in einen logischen Zirkel: Um verbindliche Methodenvorgaben aus der Verfassung abzuleiten, müsste zunächst mit den erst zu ermittelnden Methoden das Verfassungsgesetz ausgelegt werden.46 Christensen und Kudlich führen an, dass die verfassungsrechtliche Rückbindung der Methodik nicht in einen logischen Zirkel führe, weil man zunächst von einem methodisch nicht gesicherten Vorverständnis der Verfassungsnormen ausgehen [könne]. Erst nach der Formulierung einer von diesen Voraussetzungen ausgehenden Methodik ist es möglich, die Auffassung der methodenbezogenen Norm selbst zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. In diesem Vorgehen liegt kein logischer, sondern höchstens ein hermeneutischer Zirkel.47

Mich überzeugt das nicht. Dass der Vorgang subjektiven Verstehens im Wege eines hermeneutischen Zirkels und dem mitgebrachten Vorverständnis zu erklären ist, mag sein. Hierauf aber die Maßstäbe richterlicher Rechtsarbeit stützen zu wollen, erscheint mir prekär, da das hermeneutische Vorgehen selbst Maßstäbe vermissen lässt. Konkret: Wenn vom Vorverständnis ausgehend eine „Auffassung der methodenbezogenen Normen“ der Verfassung gewonnen ist, nach welchem Maßstab soll anschließend entschieden werden, ob diese Auffassung „zu korrigieren“ ist? Den logischen Zirkelschluss mit einem hermeneutischen Zirkel zu ersetzen ist hierauf keine adäquate Antwort. Bezeichnend ist insofern, dass Jestaedt auf Grundlage seiner verfassungstheoretischen Rechtserkenntnistheorie zu einem Primat der subjektiv-historischen Auslegung kommt – also mit einer anderen Auslegungshypothese „in den hermeneutischen Zirkel eingestiegen“ zu sein scheint und auch im Wege nachfolgender Korrekturen nicht zum gleichen Ergebnis kommt wie die strukturierende Rechtslehre.48

III. Einordnung und Kritik

So lässt sich beobachten, dass Begründungsversuche für eine leitprinzipienbasierte Rangfolge einem logischen Zirkel zum Opfer fallen: (1) Rüthers möchte Vorrangregeln etablieren, derer Befolgung im Einzelfall selbst eine zumindest vorläufige Auslegung erfordert, nämlich in Beantwortung der Frage, ob eine Lücke im Gesetz besteht. Hiervon soll nämlich abhängen, wie auszulegen ist (subjektiv oder objektiv als Rechtsfortbildung). (2) Genauso ergeht es der strukturierenden Rechtslehre, die Auslegungskonflikte in Rekurs auf die Verfassung lösen möchte – was bereits eine Auslegung der Verfassung voraussetzt.

Hier begegnet uns die nicht auf die Rechtstheorie begrenzte Letztbegründungsproblematik, die auch als „Münchhausen-Trilemma“ bezeichnet wird. Dieses Trilemma besagt, dass jeder Versuch letzter Begründung unmöglich ist und stattdessen in eine von drei Möglichkeiten mündet: (1) einen Zirkelschluss, (2) einen infiniten Regress, oder (3) zum Begründungsabbruch und damit einem Dogma führt.49

In anderen Begriffen, aber letztlich dieselbe Problematik erfassend, hat Esser Kritik an der klassischen Methodenlehre geübt. Das den Begründungsabbruch markierende Dogma im Rahmen des Münchhausen-Trilemmas begegnet uns bei Esser als hermeneutisches Vorverständnis. Die Einsicht der Hermeneutik, dass das Verstehen eines Textes nur möglich ist, wenn man mit einem Vorverständnis an den Text herantritt,50 wurde von Esser in die Rechtswissenschaften getragen und als Kritik an der klassischen Methodenlehre in Stellung gebracht.51 Die Methodenlehre diene lediglich der argumentatorischen Einkleidung von Ergebnissen, die tatsächlich dem individuellen Vorverständnis des Interpreten geschuldet sind.52 So resümiert Esser nach einer Analyse von Entscheidungen des BGH, dass in der Tat höchst willkürlich oder scheinbar willkürlich, nämlich vom Ergebnis bestimmt, historische oder grammatische, systematische oder zweckreflektierende Interpretationsmerkmale selektiv benutzt werden.53

Dies deckt sich mit obigem Befund, dass etwas Unbegründetes vorausgesetzt wird, auf dessen Basis dann eine Ableitung erfolgt.

Damit bröckelt das legitimatorische Fundament der klassischen Sichtweise, welches auf einer klaren Scheidung von Rechtsetzung und -anwendung fußt. Denn diese Unterscheidung existiert zwar in einer idealen Begriffswelt, kann aber in der Praxis nicht eingelöst werden.54 Vielmehr eignet der Rechtsanwendung ein produktives Element, sodass eine strikte Unterteilung in Rechtsetzung und Rechtsanwendung als Anspruch an oder gar realistische Beschreibung der richterlichen Rechtsarbeit nicht haltbar ist. Aber die Enttäu-


42 Müller, Juristische Methodik, 251.

43 Müller, Juristische Methodik, 251.

44 Laudenklos, Kritische Justiz 1997, 149.

45 Laudenklos, Kritische Justiz 1997, 149.

46 Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 7.

47 Christensen/Kudlich, Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis, 20.

48 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, 340; Wischmeyer, Zwecke im Recht, 349 Fn. 125.

49 Das Konzept geht wohl zurück auf Albert, Traktat über kritische Vernunft.

50 Schroth, Hermeneutik, 272 mit Verweis auf: Gadamer, Wahrheit und Methode, 250 ff.

51 Esser, Vorverständnis.

52 Esser, Vorverständnis.

53 Esser, Vorverständnis, 123.

54 Bumke, Rechtserzeugung, 37.

Laitzsch, Möglichkeit der gerichtlichen Gesetzesbindung10

schung hat auch etwas Gutes, denn, wie es Esser formuliert: die vermeintliche Wertfreiheit des juristischen Denkens ist notwendig ideologieanfälliger als die Freiheit des Richters zur Wertung, die Wertungsfreiheit, die das Ergebnis rechtfertigen oder doch plausibel machen muss.55

D. Rechtserzeugung im Wege juristischer Argumentation

I. Grundposition: Rechtserzeugung

Statt auf einer begrifflich sauberen, aber praktisch nicht einlösbaren Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung zu beharren, könnte man die Idee zugrunde legen, dass jeder Rechtsarbeit immer auch ein Moment der Rechtserzeugung innewohnt.56 Wir haben eingangs festgestellt, dass der Unbestimmtheit eines Textes nur beizukommen ist, indem wir eine neue sprachliche Verwendungsregel schaffen (man könnte auch sagen: „erzeugen“) (siehe B.I). Diese Einsicht verträgt sich gut mit der These Kelsens, dass das Ergebnis einer Rechtsinterpretation nur die Feststellung des Rahmens sein [kann], den das zu interpretierende Recht darstellt, und damit die Erkenntnis mehrerer Möglichkeiten, die innerhalb dieses Rahmens gegeben sind.57

Das Auswählen einer dieser Möglichkeiten ist dann ein Akt der Rechtserzeugung, der darüber hinaus nicht kategorial vom Akt der Rechtsetzung durch den Gesetzgeber zu unterscheiden ist. Denn auch der Gesetzgeber ist gehalten, innerhalb des von der Verfassung abgesteckten Rahmens Recht zu erzeugen, obgleich dieser verfassungsrechtliche Rahmen natürlich sehr viel weiter ist als der Rahmen, in dem sich ein das Gesetz konkretisierender Richter bewegt.

Es gibt also ein Kontinuum der Rechtserzeugung durch Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung mit abnehmender, aber stets vorhandener Entscheidungsfreiheit.

II. Verständnis der richterlichen Rechtsarbeit: Diskurstheorie

Vor dem Hintergrund der unumgänglich rechtserzeugenden Tätigkeit der Rechtsprechung stellt sich die Frage, was das Postulat der Gesetzesbindung von der richterlichen Rechtsarbeit fordert. Welche Ansprüche gehen von der Gesetzesbindung aus? Wie ist die richterliche Rechtserzeugung zu rationalisieren oder dem Gesetz zuzurechnen?

Nachfolgend soll eine von vielen möglichen Antworten rekonstruiert und kritisiert werden: Die der Theorie der juristischen Argumentation. Alexys Konzeption richterlicher Rechtsarbeit bietet sich deshalb an, weil sie sowohl die Existenz von Regelungs- und Erkenntnisdefizit nicht in Abrede stellt als auch das oben benannte Münchhausen-Trilemma erkennt und zu lösen sich anschickt. In anderen Worten: Die Theorie der juristischen Argumentation setzt den bisherigen Gedankengang der Darstellung voraus und erhebt trotz der festgestellten theoretischen Schwierigkeiten den Anspruch, das Gesetzesbindungspostulat einzulösen.

1. Grundlage

Dem angesprochenen Regelungs- und Erkenntnisdefizit will die Argumentationstheorie beikommen, indem nicht vorauszusetzendes Recht bloß erkannt werden soll, sondern eine „institutionalisierte Prozedur der Rechtserzeugung“58 in Anschlag gebracht wird. Die Rechtserzeugung ist hier Produkt eines Diskurses, wobei der juristische Diskurs „ein Sonderfall des allgemein praktischen Diskurses“59 sei (Sonderfallthese). Das bedeutet, dass es bei beiden Diskursen um die Richtigkeit normativer Aussagen geht,60 weswegen dezidiert juristische Argumente mit allgemein praktischen Argumenten zu verbinden sind (Integrationsthese).61

In der Gesellschaft findet auf erster und unterster Stufe der Rechtserzeugung ein allgemeiner praktischer Diskurs statt. Wenn aus dem allgemeinen praktischen Diskurs keine abschließende und allgemein befolgte Handlungsnorm hervorgeht, eine solche aber prinzipiell von den Diskursteilnehmern als sinnvoll erachtet wird, „entscheidet der Gesetzgeber auf der zweiten Stufe im Gesetzgebungsverfahren“62. Wegen dem Regelungs- und Erkenntnisdefizit besteht bei der Einzelfallanwendung der geschaffenen Gesetze das nunmehr bekannte Problem, dass keine Interpretation mithilfe der Methodenlehre als einzig richtige ausgewiesen werden kann.

Dieses Problem zu lösen, kommt der dritten und vierten Stufe zu. Die vom Gesetz unbeantworteten Fragen sollen auf der dritten Stufe im praktischen juristischen Diskurs beantwortet werden, also innerhalb der Rechtswissenschaften und dort vornehmlich von der Rechtsdogmatik. Dieser juristische Diskurs unterscheidet sich von der ersten Stufe, dem allgemeinen praktischen Diskurs, nur durch die spezifisch rechtlichen Einschränkungen. Alexy schreibt: „Diese Prozedur ist wie die erste nicht in einem strengen Sinne


55 Esser, Vorverständnis, 116; Kriele ist inhaltlich derselben Auffassung: „Keine Interpretation ohne Wertung“, Rechtsgewinnung, 96.

56 Die folgende Darstellung basiert auf: Bumke, Rechtserzeugung, 35 ff.; Jestaedt baut auch auf eine Rechtserzeugungskonzeption in: Rechtsetzung, 62 f.; Theoretische Grundlage bei Kelsen, Reine Rechtslehre, 236 ff.; Harts Rechtsbegriff läuft ebenfalls auf eine rechtserzeugende Rechtsprechung hinaus, Concept of Law. 124 ff.; Auch Esser hat die Perspektive der Rechtserzeugung gesehen: „…ein weniger hierarchisches Verständnis des Rechtsfindungsprozesses, nach welchem die Norm durch legislative und entscheidende Gewalt gemeinsam entsteht“, Esser, Vorverständnis, 113. Im Angloamerikanischen Rechtsraum bereitet die Abgrenzung von Rechtsetzung und -Anwendung ebenfalls konzeptionelle Probleme: Klatt, Making the law explicit, 10 ff.

57 Kelsen, Reine Rechtslehre, 349; Allerdings bleibt auch Kelsen eine Antwort schuldig, wie der Rahmen, in dem sich die rechtsanwendende Rechtserzeugung zu halten hat, verlässlich erkannt werden kann. Laut Dreier ist „die Vorstellung eines Interpretationsrahmens, der noch zulässige von nicht mehr zulässigen Interpretationsvorschlägen trennt, im Grunde ebensowenig haltbar wie das Theorem von der einzig richtigen Auslegung“, Dreier, Rechtslehre Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 149, Fn. 344. Kelsens Schweigen hierzu hat ihn dem Vorwurf des „methodologischen Nihilismus“ ausgesetzt, siehe: Adomeit, Rechtstheorie, 77; Dagegen: Vesting, Aporien.

58 Alexy, Grundrechte, 500.

59 Alexy, Argumentation, 32.

60 Alexy, Argumentation, 33.

61 Alexy, Argumentation, 38.

62 Bäcker, Begründen, 204.

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institutionalisiert, sie steht aber anders als diese unter der Bindung an Gesetz, Präjudiz und Dogmatik“63. Es soll auf dieser Stufe also nicht gefragt werden „was die schlechthin vernünftigste Lösung ist, sondern was die im Rechtssystem vernünftigste Lösung ist“64. Alexy erkennt an, dass reale Diskurse nicht entscheidungsdefinit sind, also mehrere (relativ) richtige, aber sich widersprechende Antworten Ergebnis des realen juristischen Diskurses sein können.65 Damit das Recht aber seine Aufgabe der sozialen Konfliktbewältigen lösen kann, muss im Streitfall die „Festlegung auf genau ein Ergebnis“66 zu verwirklichen sein.

Die notwendige Entscheidung zwischen den auf dritter Stufe erarbeiteten möglichen (relativ richtigen) Lösungen kommt auf der vierten Stufe den Gerichten zu.67 „Diese Entscheidung ist notwendig eine außerdiskursive und insofern irrationale Festlegung.“68 Allerdings erfolgt die Festlegung innerhalb der Ergebnispalette des auf dritter Stufe geführten juristischen Diskurses, sodass die Entscheidung zwar eine Dezision ist, aber eine relativ auf den juristischen Diskurs vernünftige, was für Alexy letztendlich relevant ist. Eine so ausgewiesene Entscheidung ist nach der juristischen Argumentationstheorie trotz ihres unbestreitbar irrationalen Anteils eine (relativ) richtige und damit rationale Entscheidung.

2. Gesetzesbindung

Die Gesetzesbindung soll verwirklicht werden, indem sie innerhalb des Diskurses der dritten und vierten Stufe als Maßstab vorausgesetzt wird, sodass eine Rechtsauffassung, um zu überzeugen, mit Sicht auf die Gesetzesbindung vernünftig begründbar sein muss.69 Mehr noch, im Diskurs soll Argumenten, die die Gesetzesbindung zum Ausdruck bringen, prima facie ein größeres Gewicht zukommen.70 Wann ein Gesetzesbindungsargument im Einzelfall mal hinter einem anderen Argument zurücktreten soll, könne allerdings nicht abstrakt bestimmt werden, sondern ist ein mit den „Mitteln der allgemeinen praktischen Argumentation zu lösendes Problem“71. Die Gesetzesbindungsproblematik wird damit vom abstrakt-theoretischen Bereich in einen diskursiven Prozess verschoben.72 Hier soll die Dynamik des Diskurses zur Realisierung bestmöglicher Begründetheit führen.73

III. Einordnung und Kritik

1. Wahrheitsbegriff

Hiermit wird im Vergleich zu klassischen Sichtweise von einer Korrespondenztheorie der Wahrheit auf eine Konsenstheorie umgeschwenkt.74 Während die klassische Sichtweise mit ihrer Unterteilung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung auf bereits vorausgehendes Recht abstellt und eine Rechtsauffassung wahr ist, wenn sie mit dem ontologisch vorausgesetzten Recht korrespondiert – sich mit diesem deckt – wirft die Argumentationstheorie das Recht und seine Erkenntnis in eins und begreift die richtige Rechtsauffassung als das Produkt eines (idealen) Diskurses. Damit werden auch das Regelungs- und Erkenntnisdefizit als im diskursiven Prozess zu lösende Probleme verschmolzen.

2. Fehlen eines materiellen Maßstabs für die Gesetzesbindung

Neumann kritisiert meines Erachtens zu Recht, dass die Argumentationstheorie Alexys nichts zur Erhellung des materiellen Richtigkeitsmaßstabes von Argumenten beiträgt. Im Diskurs ist die entscheidende Aufgabe, „gute Argumente von schlechten, gewichtige von weniger gewichtigen zu unterscheiden“75. Während Konsensverfahren vorstellbar sind – wie beispielsweise demokratische Abstimmungen –, bei denen die (Abstimmungs-)Ergebnisse qua des sie produzierenden Verfahrens richtig sind, trifft dies bei der Begründetheit von Rechtsauffassungen gerade nicht zu.76 Bei der Frage nach der richtigen Rechtsauffassung geht es um theoretische und praktische Erkenntnisse, die nicht zur Disposition einer Mehrheitsmeinung gestellt sind, sondern an die „Berücksichtigung der relevanten Sachgesichtspunkte“ gebunden sind.77 Weinberger geht gar soweit einen konsenstheoretischen Ansatz als „Nonsens des Abstimmens über ‚Wahrheiten‘“78 zu bezeichnen.

Die Verbesserung der Kommunikationsbedingungen kann in der Praxis zwar dazu führen, dass eine Argumentation auf einem höheren Niveau stattfindet und so bessere Begründungen hervorgehen. Die Verfahrensbedingungen sind aber selbst nicht Maßstab der Güte der im Verfahren vorgetragenen Argumente. Nach wie vor sind wir also auf der Suche nach einem materiellen Kriterium der Begründetheit und damit einer Antwort auf die Frage, welche Anforderungen das Gesetzesbindungspostulat stellt, nicht nähergekommen.79

An dieser Stelle gibt es zwei Möglichkeiten, die sich je nach dem Verständnis der „Begründetheit“ unterscheiden. Wird „Begründetheit“ in einem „empirisch-soziologischen Sinne“ verstanden, findet eine Relativierung des materiellen Richtigkeitsmaßstabes auf den faktischen Diskurs statt.80 Dann ist richtig, was immer „Rechtswissenschaft und Rechtspraxis“ für richtig befinden.81 Das dürfte einen weiten Raum auch für sich widersprechende Aussagen als zumindest „vertretbar“ lassen.82 Lädt man den Begriff der „Begründetheit“ dagegen inhaltlich auf, erfüllt eine Aussage dieses Kriterium nur, wenn sie „sich durch vollständige Berücksichtigung aller relevanten Argumente und deren


63 Alexy, Grundrechte, 500.

64 Bäcker, Begründen, 204.

65 Bäcker, Begründen, 201.

66 Alexy, Grundrechte, S. 500.

67 Bäcker, Begründen, 204.

68 Bäcker, Begründen, 202.

69 Alexy, Argumentation, 38.

70 Alexy, Argumentation, 305.

71 Alexy, Argumentation, 305.

72 Alexy, Argumentation, 304-305.

73 Kübbeler, Argumentation, 60.

74 Neumann, Wahrheit, 24.

75 Neumann, Wahrheit, 28; Gril, Erkenntnis, 85 ff.

76 Neumann, Wahrheit, 28.

77 Neumann, Wahrheit, 28; Gril, Erkenntnis, 85 ff.

78 Weinberger, Grundlagenprobleme 266 zitiert bei: Brink, richterliche Entscheidungsbegründung, 250.

79 Neumann, Wahrheit, 28; Gril, Erkenntnis, 85 ff.

80 Neumann, Wahrheit, 37.

81 Neumann, Wahrheit, 37.

82 Neumann, Wahrheit, 37.

Laitzsch, Möglichkeit der gerichtlichen Gesetzesbindung12

zutreffende Gewichtung auszeichnet“.83 Im ersteren Fall findet also eine Relativierung statt, während in letzterem Fall zur der Auffassung zurückgekehrt wird, dass es die einzig richtige Rechtsauffassung gibt und diese bloß erkannt werden muss.84 Denn eine vollständige Begründung kann als eine solche nur angesehen werden, wenn sie erklärt, warum sie als einzige dastehen kann.85 Man steht somit vor der Alternative einer Relativierung auf die Praxis oder eines nicht einlösbaren Wahrheitsanspruchs.

3. Letztbegründungsproblematik

Der inhaltlich aufgeladene Begriff der Begründetheit hilft praktisch nicht weiter. Es müsste immer weiter begründet werden: Wenn zum Beispiel behauptet wird „A hat schlecht gehandelt“, kann dies mit „A hat gelogen“ begründet werden.86 Dies setzt jedoch die Regel „Lügen ist schlecht“ voraus. Dies wiederrum könnte mit „Lügen verursacht vermeidbares Leiden“ zu begründen sein, was wiederrum selbst die Regel „was vermeidbares Leiden verursacht, ist schlecht“ voraussetzt, und so weiter. Wir sind hier also wieder mit dem bereits vertrauten „Münchhausen-Trilemma“ konfrontiert.87 Alexy schlägt folgenden Ausweg vor: Statt Gewissheit soll es um die Rationalität der Begründung gehen.88 Das Problem der fehlenden Letztbegründung könne vermieden werden, wenn

die Forderung nach immer weiterer Begründung einer jeden Aussage durch eine andere Aussage durch eine Reihe von Anforderungen an die Begründungstätigkeit ersetzt wird. Diese Anforderungen lassen sich als Regeln rationalen Diskutierens formulieren.89

Alexy liefert hier ein „universalpragmatisches“ Argument90 für das Abrücken von einer Letztbegründung und will damit einen Kompromiss zwischen Relativität und überspanntem Wahrheitsanspruch eingehen.91 Das Argument hat vergröbert gesprochen die Form: Wenn wir uns Sprache bedienen wollen, müssen wir X akzeptieren. X sind hier die von Alexy vorgeschlagenen Diskursregeln,92 die auch die Letztbegründungsproblematik lösen sollen. Die Darstellung der einzelnen Regeln ginge hier zu weit. Die Regel, die im juristischen Diskurs die Gesetzesbindung sicherstellen soll, haben wir aber schon betrachtet (siehe „D.II.2“).

Problematisch ist, dass das Münchhausen-Trilemma jedenfalls bei der Begründung der Diskursregeln wieder auftritt. Denn auch die „Anforderungen an die Prozedur der Begründungstätigkeit, also die Regeln des rationalen Diskutierens“, sind ihrerseits begründungsbedürftig.93 Damit kann auch Alexy dem infiniten Regress nicht entkommen.94 Es schwindet hiermit die Aussicht, dass sich die Anforderungen des Gesetzesbindungspostulats, die der besprochenen Problematik „Huckepack sitzen“, theoretisch auf einen festen Untergrund stellen lassen.

E. Juristischer Dezisionismus

Sind wir damit auf ein dezisionistisches Verständnis richterlicher Rechtsarbeit zurückgeworfen? Ein solches wurde in verschiedenen Formen von Denkschulen diesseits und jenseits des Atlantiks vertreten.95 So der bekannte Satz von O.W. Holmes, einem Anhänger des american legal realism: „The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law.“96 Hiernach wäre die Gesetzesbindung richterlicher Rechtsarbeit eine bloße Chimäre und sollte als Projekt aufgegeben werden. Stattdessen wird die „Kluft“ zwischen Urteil und materieller Rechtslage aufgelöst: „Kann man nicht sicherstellen, dass die in Rechtskraft erwachsende Entscheidung dem materiellen Recht folgt, so muss eben das materielle Recht dieser Entscheidung folgen.“97 Regelungs- und Erkenntnisdefizit werden hier also in eins geworfen und im Akt der richterlichen Entscheidung aufgelöst: Das Recht als solches gibt es dann nicht, sondern es liegt immer nur in der richterlichen Dezision. Davon abgesehen, dass diese Auffassung ihre ganz eigenen konzeptionellen Schwierigkeiten aufwirft – was etwa ist Entscheidungsmaßstab der einzelnen Richterin? Muss sie ihre eigene Entscheidung antizipieren?98 –, ist sie in Bezug auf das Gesetzesbindungspostulat gänzlich unbefriedigend.

F. Gesellschaftliche Praxis und Gesetzesbindung

Nun da wir von der Theorie enttäuscht sind, können wir uns versuchen, in die Praxis zu flüchten. Ein naheliegender Fluchtpunkt wäre die Unterscheidung von einfachen und schwierigen Fällen: die oben beschriebenen theoretischen Probleme könnten als vereinzelte, nur in schwierigen Fällen virulent werdende, Spitzfindigkeiten hingestellt werden.

Und tatsächlich – der juristische Diskurs unterliegt einer stetigen Verengung, die der richterlichen Rechtsarbeit durchaus ein enges Korsett ist. Trotz des Umstandes, dass die klassische Methodenlehre nicht die Entnahme einer einzigen Entscheidung aus dem Gesetz vorschreiben kann (siehe „C.III“), verengen die klassischen Auslegungsmethoden doch den Rahmen möglicher Entscheidungen und binden diese an den Gesetzestext an. Bestimmte Auslegungsergebnisse scheiden so unzweifelhaft aus. Beispielsweise ist die Exekution eines Straftäters mit keiner juristischen Argumentation mit Art. 102 GG (Verbot der Todesstrafe) in Einklang zu bringen.99


83 Neumann, Wahrheit, 37.

84 Neumann, Wahrheit, 37.

85 Bei einer solchen Begründung gäbe es auch keinen Unterschied mehr zwischen Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung (oder Herstellung und Darstellung), denn eine vollständige Begründung muss erklären, warum jede andere Entscheidung nicht zutreffend wäre.

86 Folgendes Beispiel ist von Alexy, Argumentation, 222 f.

87 So auch Alexy selbst:Alexy, Argumentation, 223.

88 Alexy, Argumentation, 223 f.

89 Alexy, Argumentation, 223.

90 Alexy, Argumentation, 231 ff.

91 So auch Klatt, Der Staat 2015, 473.

92 Die Regeln des praktischen Diskurses finden sich bei Alexy, Argumentation, 233-254.

93 Bäcker, Begründen, 176, mit Verweis auf: Gril, Erkenntnis, 136.

94 So auch Kaufmann, rechtswissenschaftliche Erkenntnis, 9, zitiert bei: Brink, richterliche Entscheidungsbegründung, 251.

95 Kelly, Western Legal Thought 365 ff.

96 Holmes, Harv. L. Rev. 1897, 457.

97 Neumann, Wahrheit, S. 44.

98 Hart, Concept of Law, 137; Zurückweisung von legal realism auf S. 142 ff.

99 Mahlmann, Rechtsphilosophie, 392.

Laitzsch, Möglichkeit der gerichtlichen Gesetzesbindung13

Hinzu kommt das den juristischen Diskurs abermals verengende Richterrecht,100 das zwar nicht über eine formelle Präjudizienwirkung die Richterin bindet (dies widerspräche dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG101 ), aber über prozessuale Ausgestaltungen seine Befolgung nahelegt.102 Es besteht jedenfalls eine Berücksichtigungspflicht von Präjudizien, sodass die Richterin, die hiervon abweichen will, eine besondere Begründungslast trifft.103 Außerdem kann die Berufung auf Präjudizien arbeitsentlastend wirken, worin ein natürlicher Anreiz für ihre Befolgung zu sehen ist.104

Weiter hinzu kommt die Dogmatik, die mit der Fixierung von bestimmten Entscheidungsweisen und der damit einhergehenden Verengung des diskursiven Raumes zur Einhegung richterlicher Entscheidungsfreiheit beiträgt.105 Einige Stimmen gehen gar so weit die Dogmatik im Sinne einer Diskursgemeinschaft mit Dworkins fiktivem Richter Herkules zu vergleichen:106 Was der einzelne Teilnehmer der Rechtsordnung nicht zu leisten im Stande ist, sei als Produkt einer Schwarmintelligenz nicht so unrealistisch.

Prozessual abgesichert werden der Verweis auf Methodenlehre, Präjudiz und Dogmatik durch das Kollegialprinzip und den Instanzenzug.107 Das Kollegialprinzip mildert den Einfluss „außerrechtlicher Faktoren auf die Entscheidungsfindung“, indem sich die Mitglieder eines Spruchkörpers gegenseitig auf Einhaltung juristischer Argumentationsstandards kontrollieren.108 Es äußert sich anonym eine Richterin oder ein Richter des Bundesverfassungsgerichts etwa so:

Der Eindruck, der manchmal erweckt wird: Wir machen das, wie wir gerade Lust haben – ist insofern nicht berechtigt. Das könnte man nicht vertreten. Es gibt auch keine augenzwinkernde ‘Kollegialität’, dafür sind die Richter nicht verschworen genug, um zu sagen: Das machen wir jetzt mal so! Das hat eine starke rechtsmethodische Kontrolle. (Interview Nr. 28)109

Diese Kontrolle auf „ausschließliche Rechtsbezüglichkeit“ und Präjudizienbeachtung von Entscheidungen setzt sich im Instanzenzug fort, indem die Rechtsmittelgerichte angefochtene Entscheidungen auf ihre „Richtigkeit“ überprüfen und dabei ihre eigene Rechtsprechung zugrundlegen.110

Vor diesem Hintergrund, so könnte man argumentieren, ist das oben beschriebene Problem – die Gesetzesbindung der richterlichen Rechtsarbeit theoretisch zu fundieren –, ein Problem, dass sich auf schwierige Fälle beschränkt. Und selbst dort herrscht allenfalls ein schwacher Dezisionismus, weil sich die Entscheidung immer noch innerhalb eines diskursiv abgesteckten Rahmens halten muss.111 Dabei wäre ferner zu beachten, dass die Obersten Gerichte und die Rechtswissenschaft selten den klaren, sondern tatsächlich den „pathologischen“ Fällen besondere Aufmerksamkeit schenken – das Problem also in der Praxis von geringerer Relevanz ist, als die vorangegangenen Ausführungen dies vermuten ließen:112 Schwierige Fälle sind “the daily diet of the law school”113, wie Hart reflektierte. Die Rechtspraxis hingegen besteht zur überwältigenden Mehrheit aus einfachen Fällen. Betrachtet man die Rolle des Rechts in unserer Gesellschaft, so kann man gar nicht zu einem anderen Schluss kommen, als dass die Verhaltenssteuerung durch Gesetzestexte in der ganz überwiegenden Mehrheit der Fälle reibungslos funktioniert. Abermals Hart: If it were not possible to communicate general standards of conduct, which multitudes of individuals could understand, without further direction, as requiring from them certain conduct when occasion arose, nothing that we now recognize as law could exist.114

All das übersieht jedoch, dass kein Fall qua des einschlägigen Gesetzestextes ein einfacher Fall ist. Man stelle sich als Gedankenexperiment vor, ein neuer Planet würde besiedelt und die dort lebenden übernehmen das Grundgesetz und unsere anderen Gesetze, wie beispielsweise das BGB, erhielten aber keinen Zugang zu Präjudizien oder juristischen Kommentaren. Auf jenem Planeten würde es anfangs wohl keinen einzigen „einfachen“ Fall geben. Fälle werden erst in einer das Recht ausdifferenzierenden Praxis zu einfachen Fällen:115 Die Rechtswissenschaft fixiert, spezifiziert und ordnet das Verhältnis von Gesetzen zueinander und legt so implizit Regeln über die Anwendung dieser Gesetze fest. Wenn Gerichte diese dogmatische Arbeit rezipieren und in eigenen Entscheidungen reproduzieren, wird Recht erzeugt. Dieser Prozess ist es, der aus vormals schwierigen Fällen einfache macht.116

I. Richterrecht

Die Existenz einfacher Fälle stellt sich somit gerade als Produkt richterlicher Rechtsarbeit dar, basiert also auf Rechtserzeugung abseits des Gesetzgebers. Da der Vorgang der Rechtserzeugung seinerseits „nicht vollumfänglich von geschriebenen Rechtsnormen“ determiniert ist, kann er nicht über die Gesetzesbindung vollständig legitimiert werden.117 Das enge Korsett, das der richterlichen Rechtsarbeit angelegt ist, hat sich diese zu guten Teilen also selbst geschneidert. Es besteht zwar auch aus dem Stoff der Gesetzestexte,


100 „Präjudizien“ und „Richterrecht“ werden nachfolgend synonym verwandt.

101 Schönberger, VVDStRL 2012, 317; BVerfGE 87, 273, 278.

102 Hinzu kommen Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes (zum Beispiel: BGHZ 85, 64, 68), Vorlagepflichten (bspw. § 132 Abs. 2 GVG) und haftungsrechtliche Folgen für Rechtsanwälte und Verwaltung bei Außerachtlassung höchstrichterlicher Rechtsprechung: Schönberger, VVDStRL 2012, 318; Bumke, Rechtserzeugung, 39; Alexy, Argumentation, 335 m.w.N.

103 Alexy, Argumentation, 336; Payandeh, Rechtserzeugung, 259 ff.; Kriele, Rechtsgewinnung, 243.

104 Schönberger, VVDStRL 2012, 319.

105 Alexy, Argumentation, 326; Hassemer, Bindung des Richters an das Gesetz; Roellecke/Starck, VVDStRL 1975, 64; Sauer, Methodenlehre, 204 m.w.N.

106 Dworkin, Law’s Empire, 240-254; Herbst, JZ, 898; Schulz, Wahrheit im Recht, 358.

107 Voßkuhle/Sydow, JZ 2002.

108 Payandeh, Rechtserzeugung, 240 mit Verweis auf Kranenpohl, Hinter dem Schleier, 162 ff.

109 Kranenpohl, Hinter dem Schleier, 332.

110 Payandeh, Rechtserzeugung, 239.

111 Langenbucher, ARSP, 405.

112 Brink, richterliche Entscheidungsbegründung, 90.

113 Hart, Harv. L. Rev. 1958, 615.

114 Hart, Concept of Law, 124.

115 Bumke, Forschungsgespräch, 2 Fn. 7.

116 Rüthers, Rechtsdogmatik, 27 ff.

117 Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 243.

Laitzsch, Möglichkeit der gerichtlichen Gesetzesbindung14

erhält seine Form aber maßgeblich durch Richterrecht und Rechtsdogmatik. Die soeben dargestellte Einhegung der einzeln betrachteten richterlichen Entscheidung ist also erkauft um den Preis der Frage nach der Legitimität des Richterrechts. Das stellt uns vor einen doppelten Befund: (1) Die Frage der Gesetzesbindung lässt sich nicht mit Verweis auf die überwiegende Zahl einfacher Fälle relativieren. (2) Auf der Flucht in die Praxis wird man spätestens bei der Frage der Legitimität des Richterrechts von der Theorie wieder eingeholt.

Die Frage nach der Legitimität und den Grenzen des Richterrechts ist, soweit sie sich von der Frage nach der Gesetzesbindung unterscheidet, jedenfalls nicht einfacher zu beantworten und zudem ebenfalls von Vorverständnissen regiert (siehe „C.III“).118 Die Letztbegründungsproblematik würde uns also auch hier bald einholen.

II. Institutionelle Betrachtung

Ein letzter Fluchtversuch in die Praxis soll mit einer institutionellen Betrachtung gewagt werden. Trotz des Umstandes, dass das Richterrecht nicht vollständig vom Gesetz determiniert ist, entzieht es sich nicht demokratischer Kontrolle. Denn der Gesetzgeber hat mit dem Erlass eines Gesetzes nicht nur das erste Wort, sondern kann auch ein letztes, berichtigendes Wort einlegen, wenn er mit einer Rechtsprechungslinie nicht zufrieden sein sollte.119 Dies gilt übrigens nicht nur gegenüber der Rechtsprechung, sondern trifft auch auf dogmatische „Fehlentwicklungen“ zu. Wie Kirchmann es formuliert: „…drei berichtigende Worte des Gesetzgebers, und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.“120 Der Gesetzgeber ist nämlich anders als die Rechtsprechung nach Art. 20 Abs. 3 GG nur an die Verfassung, nicht aber an einfaches Recht gebunden.121 Dieses steht gerade zu seiner Disposition. Die mangelnde demokratische Legitimation des Richterrechts wird so zu guten Teilen durch die „stillschweigende Akzeptanz des Gesetzgebers“ kompensiert.122 Aufgrund umfassenden Richterrechts das Bild eines „oligarchischen Richterstaat[s]“123 zu zeichnen übersieht daher meiner Meinung, dass es sich eher um einen „Dialog zwischen Legislative und Judikative“ handelt, bei dem die Legislative immer das letzte Wort hat.124 Darüber hinaus kann die Rechtsprechung nie von sich aus aktiv werden, sondern trifft „Entscheidungen nur anlässlich und im Rahmen konkreter Streitigkeiten“.125 Die Rechtsprechung darf also überhaupt nur sprechen wenn sie gefragt worden ist und hat dann zu verstummen, wenn der Gesetzgeber das Wort erhebt.126 Damit ist die von richterlicher Rechtserzeugung ausgehende Gestaltungsmacht im weiteren Institutionengefüge stark eingehegt.

Darüber hinaus ließe sich sogar argumentieren, dass Richterrecht die Steuerungsmacht und -Präzision des Gesetzgebers sogar erhöht. Denn das Richterrecht erfüllt für den Gesetzgeber eine Informationswirkung.127 Aufgrund des oben erwähnten Regelungsdefizits (siehe „B.II“) wird es vielfach Situationen geben, in denen der Gesetzgeber gar keine genaue Vorstellung davon hatte, wie sein Gesetz wirken soll. Indem ihm durch Präjudizien für diese Situationen systematisch vor Augen geführt wird, wie es in der Praxis tatsächlich wirkt, kann er besser beurteilen, ob weiterer Regelungsbedarf besteht.128 Das Parlament wird damit in die Lage versetzt, bis zum letzten Akt des Gesetzesvollzugs Kontrolle über seine Normativitätsproduktion auszuüben.129 Damit stärkt das Richterrecht die Steuerungsmöglichkeiten des Gesetzgebers eher, als dass es sie schwächt.

Mit dieser institutionellen Betrachtung können die oben dargelegt Schwierigkeiten, einen theoretisch fundierten Maßstab für die Gesetzesbindung zu entwickeln, nicht vom Tisch gewischt werden. Aber es kann so meiner Meinung doch plausibel gemacht werden, dass die Rechtsprechung trotz ihrer Fähigkeit, die Bedeutung von Gesetzen zu bestimmen, nicht die zuvörderste und schon gar nicht die alleinige Macht im Staat ist, wie das etwa die Formulierung vom „oligarchischen Richterstaat“ suggeriert.

G. Fazit

Die Bindung an das Gesetz besteht aus einer eigenartigen Mischung methodischer, diskursiver, prozessualer und psychologischer Faktoren.

Würde sich die Justiz verschwören, wäre sie sicherlich eine kaum zu kontrollierende Macht im Staat und könnte eigene Vorstellungen von Gut und Richtig durchsetzen. Insofern besteht Gesetzesbindung zweifelsohne auch im Respekt vor dem Gesetzgeber als demokratischem Leitorgan. Dieser Respekt drückt sich in der Gesetzesbindung als allgegenwärtiger normativer Anspruch an die richterliche Rechtsarbeit aus. Hinzu kommt die Pflicht, die eigene Entscheidung juristisch, das heißt in Rückgriff auf die Methodenlehre zu begründen. Die Befolgung dieser Pflicht wird abgesichert durch Kolleginnen, und höhere Instanzen, die es zu überzeugen gilt. Hinzu treten Präjudizien, die den Raum zunächst akzeptabler juristischer Begründungen für neue schwierige Fällen zunehmend verengen. Dies wiederrum wird begleitet von einer institutionellen Wissenschaft, die mit Richtigkeitsanspruch die Arbeit der Rechtsprechung an –pagebrak– eigenen Ordnungsvorstellungen misst und kritisiert.130 Das soweit beschriebene Gefüge ist seinerseits eingebettet in eine kritische Öffentlichkeit und den Dialog mit dem Gesetzgeber, der mit Gesetzen unliebsamen Rechtsprechungslinien (wie auch unerwünschten dogmatischen Lehrgebäuden) den Boden entziehen kann.


118 Das Richterrecht lässt sich ebenfalls als Methodenfrage begreifen. So kann im Einzelfall gefragt werden, ob „den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung“ gefolgt wurde, BVerfGE 87, 273, 280; Schönberger, VVDStRL 2012, 326; Ein anderer Maßstab wäre die „kompetenzrechtliche Abgrenzung zwischen der ersten und der dritten Gewalt, mithin […] eine originär verfassungsrechtliche Frage“, BVerfGE 122, 248, 285 – Rügeverkümmerung (abweichende Meinung). In der Literatur wird dem Richterrecht teilweise eine sehr enge Grenze gezogen, indem der Gesetzesvorbehalt für anwendbar erachtet wird, Hillgruber, JZ 1996, 123 ff., so auch Hermes, VVDStRL 2002, 136 ff.; Rechtsfortbildung wäre dann nur sehr begrenzt möglich. Auf der anderen Seite gibt es in der Literatur viele Stimmen, die das Richterrecht in seiner praktizierten Form für rechtmäßig halten.

119 Payandeh, Rechtserzeugung, 246 ff.

120 Kirchmann, Werthlosigkeit, S. 23.

121 Payandeh, Rechtserzeugung, 246.

122 Payandeh, Rechtserzeugung, 246 m.w.N.

123 Rüthers, JZ 2006, 56.

124 Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 247; Barak, The judge, 136 ff.; BVerfGE 132, 99, 130 f.

125 Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 213.

126 Das bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber Vorgaben zur richtigen Interpretation seiner Gesetze machen dürfte. Aber er kann neue Gesetze erlassen.

127 Payandeh, Rechtserzeugung, 245 m.w.N.

128 Payandeh, Rechtserzeugung, 245.

129 Payandeh, Rechtserzeugung, 246 angelehnt an: Herzog, Möglichkeiten und Grenzen des Demokratieprinzips, 489.

130 Stelkens, Idee der einzig richtigen Entscheidung.