Menschenrechtsbindung Privater: Der systemtheoretische Ansatz Teubners und Fischer-Lescanos

Paul Plümpe*

A. Einleitung

I. Problemstellung

Immer häufiger werden vor allem multinationale Unternehmen im öffentlichen Diskurs für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht. Seien es fatale Arbeitsbedingungen in Fabriken bei Wal‑Mart1 und H&M2, die Beteiligung des Öl-Unternehmens Shell bei der gewalttätigen Niederschlagung von Protesten in Nigeria3 oder der überteuerte Verkauf von lebensnotwendigen Medikamenten durch Pharmaunternehmen4. Die Liste von Fällen, in denen unternehmerische Interessen und Menschenrechte aufeinanderprallen, ließe sich noch deutlich weiterführen. Private Akteure verfügen heutzutage über so große Aktionsradien und so viel gesellschaftliche Macht wie nie zuvor. Nicht selten stehen sie deshalb in ihrem Potential, Menschenrechte zu verletzen, Nationalstaaten in nichts nach. Dennoch sind die Möglichkeiten, sie als Private vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen beschränkt. Bei internationalen Konfliktlösungsmechanismen stehen zumeist Staaten im Vordergrund, was die Verfolgung von Unternehmen erschwert5. Doch nicht nur die Durchsetzung im transnationalen Raum gestaltet sich kompliziert. Auch die Bindungswirkung für Private an Grund- und Menschenrechte bereitet Schwierigkeiten, weil die Frage der unmittelbaren Geltung für Private alles andere als geklärt scheint6. Es drängt sich die Frage auf, ob Unternehmen nicht ebenso an Menschenrechte gebunden sein sollten wie Staaten und wenn ja, wie diese Bindung konstruiert und durchgesetzt werden kann.

Lösungsansätze gibt es viele. Einer davon fußt auf der Systemtheorie nach Luhmann und wurde von Gunther Teubner und Andreas Fischer-Lescano entwickelt.

II. Gegenstand und Methodik dieser Arbeit

Schon der Name des systemtheoretischen Ansatzes zur Menschrechtsbindung Privater macht deutlich, dass dessen Grundlage in der Soziologie zu finden ist. Er basiert auf der Systemtheorie nach Luhmann, die ein soziologisches Modell für den Aufbau und die Organisation der Gesellschaft beschreibt7. Um den juristischen Kontext beizubehalten und einen zu hohen Abstraktionsgrad zu vermeiden, wird hier auf eine Darstellung der Systemtheorie nach Luhmann im Allgemeinen verzichtet8. Dort wo es für das Verständnis unumgänglich ist, werden jedoch Grundlagen konturiert.

Teubner und Fischer-Lescano rütteln mit ihrer Kritik an grundlegenden Pfeilern des mehrheitlichen Rechtsverständnisses in Europa. Anknüpfungspunkte dafür sind zumeist keine juristisch-technischen Konstellationen oder Dogmatiken, sondern die Kritik der vorherrschenden Perspektive auf Recht und Gesellschaft. Sie bewegen sich damit, auch nach eigenem Verständnis, außerhalb des juristischen Mainstreams. Dies hat zur Folge, dass ihre Vorschläge nicht ohne weiteres in die allgemein bekannte Rechtsdogmatik einzuordnen sind. Ziel dieser Arbeit ist dennoch, den systemtheoretischen Ansatz zu bewerten und ihn für den aktuellen Diskurs über Unternehmen und Menschenrechte fruchtbar zu machen. Hierfür ist es nötig, ihn der anerkannten Rechtsdogmatik zugänglich zu machen und ihn mit dieser zu vergleichen, schwebt er doch sonst im luftleeren Raum und hat keine Chance, Einfluss zu nehmen. Um diese Einordnung vorzunehmen, ist es gleichzeitig unerlässlich die grundlegenden soziologischen Kritiken Teubners und Fischer-Lescanos zu erläutern, in denen die Systemferne ihres Ansatzes begründet ist.

Somit ergibt sich für diese Arbeit folgender Aufbau: Zunächst soll die grundlegende Kritik Teubners und Fischer-Lescanos am vorherrschenden Rechtsverständnis dargestellt werden, um auf Grundlage dessen den systemtheoretischen Ansatz der Autoren vorzustellen. Anschließend soll erläutert werden, inwieweit dieser Ansatz zur effektiven Menschenrechtsbindung Privater beitragen kann und welchen Problemen er sich dabei ausgesetzt sieht.

B. Von divisionalen und ökologischen Rechtsverständnissen

I. Divisionales Verständnis

Teubner beschreibt das traditionelle Grundrechtsverständnis der europäischen Tradition als „divisional“9. Die Menschen sind hiernach als Bestandteil der Gesellschaft zu verstehen, die das ganze menschliche Zusammenleben darstellt10. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesellschaft als große Einheit in verschiedene Gesellschaftsteile, wie etwa Klassen, Ethnien und Interessengruppen unterteilt ist11. Das divisionale Konzept versucht einen Ausgleich zwischen diesen Teilen zu finden, um so trotz der inner-gesellschaftlichen Spaltung für Gerechtigkeit zu sorgen. Es begreift Gerechtigkeit dabei als ein Problem der Ungleichheit12. So wird jedem Teil der Gesellschaft seine


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 Heiner Köhnen, „Haben Menschenrechtsverletzungen ein System? Wal-Mart’s Verhaltenskodex und die Realität bei Zulieferern in ausgewählten Ländern“ (2002), S. 35 ff.; hrsg. von Hans-Böckler-Stiftung.

2 “The Myanmar Dilemma“ (2017), S. 55 ff.; hrsg. von Stichting Onderzoek Multinationale Ondernemingen / SOMO.

3 “A criminal enterprise? Shell’s involvement in human rights violations in Nigeria in the 1990s” (2017), S. 46 ff.; hrsg. von Amnesty International Ltd.

4 Bass, Wash. Int’l L. Rev. 2002, 191 (192 f.).

5 Vgl. Weilert, ZaöRV 2009, 883 (890 ff.).

6 Teubner, Der Staat 2006, 161 (164).

7 Nassehi, Gesellschaftstheorie, S. 62 (62).

8 Eine kompakte und zugängliche Darstellung der Systemtheorie (mit rechtlichen Bezügen) gelingt bei Callies, Systemtheorie, S. 54 ff.

9 Teubner, Der Staat 2006, 161 (165 ff.).

10 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 132.

11 Teubner, Der Staat 2006, 161 (165).

12 Hensel/Teubner, KJ 2014, 150 (159).

Plümpe, Menschenrechtsbindung Privater: Der systemtheoretische Ansatz Teubners und Fischer-Lescanos32

„gerechte“ Position in der Gesamtordnung zugewiesen. Dem Individuum als kleinste Teileinheit wird der ihm zustehende Anteil gewährt, dessen Umfang sich nach seinem Verhältnis zu anderen Individuen bestimmt13. So bemisst sich die Höhe von Sozialleistungen für Arbeitssuchende an Faktoren wie dem vorigen Gehalt oder dem familiären Umfeld im Vergleich zu anderen Arbeitssuchenden.

Das Recht stellt nach diesem Verständnis einen Ausgleichsmechanismus dar, der die Interessen verschiedener Teile gegeneinander aufwiegt (justitia distributiva)14. Ausdruck dessen ist etwa die Praktische Konkordanz im deutschen Verfassungsrecht, die den Ausgleich zwischen zwei variablen Größen (hier: Grundrechtspositionen) herstellen soll, um so die Einheit der Verfassung zu wahren15. Den Grundrechten kommt innerhalb der divisionalen Logik jedoch nicht nur die Aufgabe des Ausgleichs zwischen den Teilen zu. Auch die Freiheit der Teile gegenüber dem Ganzen wird geschützt (justitia cummutativa)16. Ausdruck dessen sind grundrechtliche Abwehrrechte gegen die Legislative, Exekutive und Judikative als Koordinationsstellen des Ganzen. Das Ganze beschreibt dabei die Gesamtheit der Gesellschaft, also auch den Staatsapparat ab nicht nur diesen.

Wie tief das divisionale Verständnis verankert ist, kommt dadurch zum Ausdruck, dass sich auch vermeintlich systemfeindliche Theorien in den beiden genannten Schutzdimensionen bewegen. Teubner führt dazu beispielhaft die proletarische Revolution an, die eine klassenlose Gesellschaft erzwingen möchte, um so ein gerechtes Ganzes zu schaffen17. Gerechtigkeit wird hier als Gleichheit Aller, also einem bestimmten Verhältnis der Teile zueinander interpretiert (justitia distributiva). Der Liberalismus wiederum stellt die Freiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat in den Vordergrund. In der Semantik der Systemtheorie schützt der Liberalismus also den Gesellschaftsteil gegen das Ganze der Gesellschaft ((justitia cummutativa) und folgt nach Teubner ebenso der divisionalen Logik18.

Überträgt man die divisionale Logik auf den Konflikt zwischen Unternehmen und Menschenrechten, findet eine Abwägung individueller Rechtspositionen privater Akteure statt. Es wird also etwa zwischen dem Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmer_innen und der unternehmerischen Freiheit des Unternehmens abgewogen.

Über die Reichweite der einzelnen Rechtspositionen in der Abwägung und die Bedingungen, unter denen sie geltend gemacht werden können, schweigt das divisionale Konzept jedoch19. Dies Unklarheit ist Anknüpfungspunkt für den Vorschlag eines alternativen Verständnisses von Grund- und Menschenrechten: dem ökologischen Verständnis.

II. Ökologisches Verständnis

Ebenso wie das divisionale Konzept geht das ökologische nach Luhmann und Teubner von einer Teilung der Gesellschaft aus. Es verneint jedoch die Zusammengehörigkeit der Gesellschaftsteile zu einem Ganzen20. Dies resultiert aus der systemtheoretischen Perspektive. Nach dieser besteht die Gesellschaft aus sozialen Systemen, die jeweils ihrer eigenen individuellen Logik folgen und somit autonom von anderen sozialen Systemen agieren21. Soziale Systeme sind etwa Wissenschaft, Religion, Wirtschaft oder das hier fokussierte System des Rechts22.

Diese Systeme entstehen und entwickeln sich durch interne Kommunikationsvorgänge, die von Luhmann als Operationen bezeichnet werden23. Dadurch, dass sich Systeme nur durch interne Operationen entwickeln können („operative Geschlossenheit“), spricht man von Autopoiesis24. Das meint, dass sich Systeme durch interne Operationen reproduzieren, also jede Entwicklung des ganzen Systems aus dem System selbst hervorgeht. Durch diese internen Operationen werden auch die Grenzen des Systems nach außen (zu ihrer Umwelt) definiert25. Diese sind flexibel, sodass die Systemtheorie es schafft, gesellschaftliche Machtverschiebungen miteinzubeziehen und darzustellen.

Der Mensch agiert insofern als Medium, als dass Operationen über menschliches Verhalten transportiert werden. Das meint jedoch nicht die Handlung eines Einzelnen, sondern eine Summe an menschlichem Verhalten26. Aus dieser Summe ergibt sich ein anderen Systemen unverständlicher Code, der die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Systemen unmöglich macht. Diese Unfähigkeit zur Kommunikation beruht darauf, dass die Systeme unterschiedlichen Logiken folgen. So ist Grundlage des Rechts die Leitdifferenzierung zwischen Recht und Unrecht, während die Wirtschaft auf der Differenzierung von Zahlen und Nicht-Zahlen beruht27.

Die Systeme haben also keine Möglichkeit, sich zu verständigen und erleben aufgrund ihrer individuellen Logiken (auch: „Eigenrationalitäten28 “) eine Verselbstständigung. Diese macht sie sich nicht nur gegenseitig, sondern auch dem Menschen unzugänglich und führt zur gesellschaftlichen Exklusion des Menschen29 ; lässt ihn folglich außerhalb der Gesellschaft stehen. Nach Teuber ist der Mensch gar „für immer aus der Gesellschaft verbannt“30. Hier wird der große Unterschied zum divisionalen Konzept deutlich, das den Menschen als einen Teil innerhalb des großen Systems der Gesellschaft betrachtet.

Die doppelte Rolle des Menschen als Medium innerhalb der Gesellschaft und als Individuum außerhalb der Gesellschaft


13 Teubner, Der Staat 2006, 161 (166).

14 Teubner, Der Staat 2006, 161 (166).

15 Vgl. Hesse, Verfassungsrecht, S. 28; Schladebach, Der Staat 2014, 263 (268 f.); Christensen/Fischer-Lescano, Das Ganze, S. 293.

16 Teubner, Der Staat 2006, 161 (166).

17 Teubner, Der Staat 2006, 161 (167).

18 Teubner, Der Staat 2006, 161 (167).

19 Teubner, Der Staat 2006, 161 (168).

20 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 132.

21 Luhmann, Soziale Systeme, S. 346.

22 Luhmann, Recht, S. 35.

23 Luhmann, Soziale Systeme, S. 346.

24 Klymenko, Gesellschaftstheorie, S. 70.

25 Klymenko, Gesellschaftstheorie, S. 70.

26 Luhmann, Soziale Systeme, S. 346 ff.

27 Nassehi, Gesellschaftstheorie, S. 66.

28 Vgl. Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 33.

29 Teubner, Der Staat 2006, 161 (168).

30 Teubner, Der Staat 2006, 161 (169).

Plümpe, Menschenrechtsbindung Privater: Der systemtheoretische Ansatz Teubners und Fischer-Lescanos33

erscheint jedoch zunächst als Widerspruch. Dieser lässt sich jedoch anhand der systemtheoretischen Differenzierung zwischen „Person“ und „Körper/Bewusstsein“ innerhalb des menschlichen Wesens erklären.

Die Systemtheorie versteht unter „Person“ den Teil des Menschen, der sich innerhalb der gesellschaftlichen Systeme bewegt. Die Person dient als soziale Adresse und ermöglicht somit Kommunikation innerhalb der sozialen Systeme31.

Das Bewusstsein hingegen steht außerhalb der sozialen Systeme und kann nicht mit diesen kommunizieren. Es folgt einer eigenen Logik und bewegt sich innerhalb psychischer Systeme32. Das Bewusstsein stellt die Seele oder pulsierende Einheit im Menschen dar33. Man könnte auch vom Innersten des Menschen sprechen. Wenn Teubner also davon spricht, dass der Mensch für immer aus der Gesellschaft verbannt sei, dann meint er damit das Bewusstsein und eben nicht die Person, die gerade Teil der sozialen Systeme ist.

Die Unterscheidung und die Beziehung sozialer und psychischer Systeme zueinander ist für die Systemtheorie von fundamentaler Bedeutung. Die Gesamtheit aller sozialen Systeme bildet die Gesellschaft34. Alle Kommunikation findet somit in der Gesellschaft statt. Gleichzeitig alles, was innerhalb der sozialen Systeme stattfindet Kommunikation, es gibt also keine anderweitigen Operationen35.

Wenn nur Kommunikation innerhalb der sozialen Systeme stattfindet, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass alle andersartigen Ereignisse sich außerhalb – in der Umwelt der sozialen Systeme – abspielen. So auch das Bewusstsein, welches sich in autonomen psychischen Systemen wiederfindet. Die Umwelt der psychischen Systeme (Bewusstsein) sind wiederum die sozialen Systeme (Person). Beide Systeme sind zwar getrennt und können nicht miteinander kommunizieren. Allerdings sind sie in ihrer Funktion als Umwelt für das andere essenziell. Nach Luhmann „ist die jeweils eine Systemart notwendige Umwelt der jeweils anderen“36. Daraus ergibt sich auch, dass ein Bewusstsein nicht ohne die dazugehörige Person bestehen kann und andersherum37.

Festzustellen ist also die Unfähigkeit zu kommunizieren auf zwei Ebenen. Erstens können sich psychische (Bewusstsein) und physische Systeme (Person) nicht verständigen. Zweitens können sich soziale Systeme untereinander aufgrund ihrer Eigenrationalitäten nicht verständigen. Eine Kommunikation, etwa zwischen Wirtschaft und Recht, ist demnach unmöglich (s.o. S. 5). Die Unfähigkeit zur Kommunikation auf diesen beiden Ebenen ist Grundlage für die Kritik an der Abwägungslösung der herrschenden Rechtslehre.

C. Von der Drittwirkung zum


Kollisionsrecht

I. Kritik der Drittwirkung

Legt man das ökologische Konzept zu Grunde, ergibt sich folgende Frage: Wie ist es innerhalb des Rechts – als sozialen System – den Bedürfnissen des Menschen (gemeint ist das Bewusstsein) gerecht zu werden, ist die Kommunikation zwischen Mensch und Recht doch unmöglich38. Eine effektive Implementierung der Menschrechte erscheint somit „prinzipiell unmöglich“39. Zu diesem sehr allgemeinen und abstrakten Problem wird zunächst auf „IV.“ verwiesen.

Für die Konstruktion der Drittwirkung ergibt sich zunächst ein anderes Problem. Adressaten von Grund- und Menschenrechten sind primär Staaten. Werden dennoch Private in die Pflicht genommen, so geschieht dies in den USA meist nach der state-action-Doktrin40 oder in Europa vor allem nach dem Prinzip der mittelbaren Drittwirkung41. In beiden Konstellationen wird ein Konzept, welches originär auf die Beschränkung von Staaten ausgelegt ist, auf das Verhältnis zwischen Privaten transferiert. Der bloße Transfer von Konstruktionen, die originär der Einschränkung staatlicher Machtphänomene dienen, auf Private wird der Gesellschaft, wie Teubners sie sieht, jedoch nicht gerecht. Nach seiner Sichtweise entwickeln die sozialen Systeme (wie etwa die Wirtschaft oder die Informationsmedien) durch ihre Eigenrationalität expansive Tendenzen42. Sie greifen den Menschen also ebenso an, wie der Staat. Der Staat tut dies durch die Ausweitung seiner sozialen Macht, während beispielsweise die Medien durch Informationsströme den Menschen beeinträchtigen43. Dieses Verständnis greift unmittelbare und mittelbare Drittwirkung in gleichem Maße an. Denn in beiden Varianten werden ursprünglich an Staaten adressierte Pflichten auf Private übertragen.

Des Weiteren führen Drittwirkungskonstellationen regelmäßig zu der Abwägung von privaten Interessen44. Auch hier stellt sich die Unfähigkeit der Kommunikation (auf zweiter Ebene) zwischen den sozialen Systemen als Problem dar. Denn ein Ausgleich zwischen sozialen Systemen (etwa Wirtschaft und Medizin) zu finden, die einander unverständlichen Logiken folgen und nicht miteinander kommunizieren können erscheint unmöglich. Die Situation wird zudem durch die Tatsache verkompliziert, dass das zur Vermittlung berufene System (Recht) wiederum einer eigenen „Sprache“ folgt. Legt man also das ökologische Konzept zu Grunde, bedarf es einer Alternative zur Drittwirkung.

II. Das Kollisionsrecht als Lösung?

Die systemtheoretische Alternative zur Drittwirkung ist das Kollisionsrecht geschützter Autonomieräume45. Dieser Ansatz soll auf die Verschiebung von Bedrohungspotential


31 Hutter/Teubner, Beute, S. 117; Fuchs, Eigen-Sinn, S. 15 ff.; Teubner, Der Staat 2006, 161 (170).

32 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 92.

33 Fuchs, Eigen-Sinn, S. 48 ff.; Teubner, Der Staat 2006, 161 (170).

34 Callies, Systemtheorie, S. 59.

35 Callies, Systemtheorie, S. 59.

36 Luhmann, Soziale Systeme, S. 92.

37 Luhmann, Soziale Systeme, S. 92.

38 Teubner, Der Staat 2006, 161 (169).

39 Teubner, Der Staat 2006, 161 (186).

40 Vgl. dazu Nowrot, Zs. F. Rechtssoz. 2007, 21 (22).

41 Vgl. dazu Jarass, ZEuP 2017, 310 (331 f.).

42 Hensel/Teubner, KJ 2014, 150 (159 f.).

43 Hensel/Teubner, KJ 2014, 150 (160f.).

44 Isensee/Kirchof, Staatsrecht, S. 481.

45 Vgl. Christensen/Fischer-Lescano, Das Ganze, S. 300.

Plümpe, Menschenrechtsbindung Privater: Der systemtheoretische Ansatz Teubners und Fischer-Lescanos34

für grundrechtlich geschützte Räume und Werte reagieren. Während die Drittwirkung vom Grundfall der staatlichen Gefährdung ausgeht, macht das hier zu erläuternde Kollisionsrecht vor allem die expansiven sozialen Systeme als Bedrohung aus. Die Extensivität und damit auch der Angriff auf die grundrechtlich geschützten Güter ergibt sich aus der „Eigenrationalitätsmaximierung“, also der Weiterentwicklung der sozialen Systeme nach ihrer eigenen Logik46. Dadurch, dass nicht nur der Staat, sondern jedes expansive System als Gefährder behandelt wird, entstehen deutlich mehr Konfliktorte. Nämlich überall dort, wo ein expansives System mit seiner menschlichen Umwelt kollidiert47. Diese Kollisionen sind nach der Systemtheorie unumgänglich, denn soziale Systeme expandieren so weit, bis ihre Umwelten es nicht mehr tolerieren48.

Als Bedrohte werden nicht Einzelne betrachtet, sondern „grundrechtlich geschützte Binnenräume49 “ wie etwa die Familie oder das Arbeitgeber_innen-/ Arbeitnehmer_innenverhältnis. Es erfolgt somit keine Abwägung zwischen individuellen Grundrechtspositionen, sondern eine Grenzziehung zum Schutz dieser Binnenräume50. Bezogen auf Menschenrechte und Unternehmen ist der Konflikt also etwa nicht zwischen Wal-Mart und einzelnen Arbeitnehmer_innen zu suchen, sondern zwischen dem extensiven System der Wirtschaft und dem zu schützenden Autonomieraum des Angestelltenverhältnisses.

Abstrahiert bedeutet das, dass grundrechtlich geschützte Güter wie Familie, Kunst oder Religion in ihrer Integrität gegen extensive Systeme wie das der Wirtschaft und das der Technologie geschützt werden51. Grund- und Menschenrechte agieren also nicht mehr als vermittelnde Normen, sondern schützen einseitig bestimmte Autonomieräume. Es gibt demnach eine Grenze, die ein – von der Eigenrationalität getriebenes – System nicht überschreiten darf.

Darauf muss notwendigerweise die Frage folgen, wo sich diese Grenze befindet, bzw. wie diese zu ermitteln ist. Denn nicht jede Tangierung eines Autonomiebereiches kann eine zu ahndende Grund- oder Menschenrechtsverletzung darstellen. An dieser Stelle gewinnt die Differenzierung zwischen Person und Körper/Bewusstsein an Bedeutung. Denn die Person ist die „Kontaktstelle“52 des Individuums (Bewusstseins) zu den sozialen Systemen. Diese Kontaktstellen des von der Gesellschaft ausgeschlossenen Menschen in den sozialen Systemen sind dem jeweiligen System angepasst. Im Teilsystem der Wirtschaft ist dies etwa der homo oeconomicus und im Recht der homo juridicus53. Zwischen Bewusstsein und sozialen Systemen ist zwar keine Kommunikation möglich, doch die Person ist der interne Ort, an dem sich ein soziales System von seiner Umwelt stören lässt54. Die psychischen Systeme und somit das Bewusstsein sind Umwelt der sozialen Systeme (s.o. S. 6). Das Bewusstsein kann demnach zwar nicht mit den sozialen Systemen kommunizieren, diese aber stören oder irritieren55. Das Konstrukt der Person wird vom jeweiligen System erzeugt um Kommunikation zu ermöglichen, aber es spiegelt nicht exakt die Realität des Bewusstseins wieder56. Dies würde auch die Trennung zwischen Person und Bewusstsein unterlaufen. Personen sind vielmehr künstliche Produkte der Teilsysteme um die Unzugänglichkeit zum psychischen Geschehen zu kompensieren57. Folge dessen ist jedoch, dass die wahren Motive und Handlungen des Menschen niemals durch die Person in die sozialen Systeme getragen werden können. Wirkung entfaltet die Person für das Bewusstsein also nur durch Irritationen gegenüber dem Teilsystem. Durch genau durch diese Irritationen kann der Mensch (das Bewusstsein) den expansiven Sozialsystemen aber deutlich machen, bis wohin er Eingriffe, also die „Grenze“ markieren.

Zwischen sozialen Systemen werden Eingriffe zumindest dann nicht mehr toleriert, wenn die Logik eines Systems durch die eines anderen korrumpiert wird. Die Wissenschaft toleriert die Auswüchse der Wirtschaft also nur, solange ihre eigene Logik von wahr/unwahr nicht beeinträchtigt wird. Dies ist selbstverständlich nur ein theoretisches Konstrukt. Es bedarf der Konkretisierung in den jeweiligen Grenzbereichen. Im Fall der Wissenschaft und der Wirtschaft ist eine Grenzüberschreitung jedenfalls dann anzunehmen, wenn die Forschungsergebnisse (wahr/unwahr) von wirtschaftlichen Interessen dermaßen gesteuert werden, dass sie ihrem Wahrheitsanspruch nicht mehr gerecht werden können.

Um der Menschenrechtsproblematik näher zu kommen, interessieren aber vor allem die Grenzposten (s.o.) zwischen Wirtschaft und menschenrechtlich geschützten Autonomiebereichen. Wo diese verlaufen, hängt maßgeblich vom Verständnis der Menschenrechte ab. Die Natur und der Umfang der Menschenrechte sind also zuvor zu definieren. Anschließend ist auch die „Grenzziehung“ möglich.

D. Menschenrechte in der


Systemtheorie

Geht man von der strikten Trennung von Individuum (

E. Bewusstsein

) und Person (soziale Adresse) aus und beachtet man ihre Unfähigkeit zur Kommunikation, so verwundert es nicht, dass Teubner die Frage stellt, ob die Schaffung menschengerechter Institutionen erst möglich ist, wenn die innergesellschaftliche Spaltung überwunden ist58. Denn wie soll das Recht dem Menschen (Bewusstsein) gegenüber gerecht werden, wenn es nicht mit ihm kommunizieren kann? „Der Begriff der Menschenrechte deutet an, dass man für dieses Paradox eine Lösung gefunden hat“59. Somit erhält Luhmann die Hoffnung auf Gerechtigkeit am Leben, auch wenn er ein besonderes Verständnis der Menschenrechte zu Grunde legt. Dies soll zunächst erläutert werden.


46 Luhmann, Gesellschaft, S. 1088 ff.; Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 29.

47 Teubner, Der Staat 2006, 161 (177).

48 Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 27.

49 Vgl. Christensen/Fischer-Lescano, Das Ganze, S. 303.

50 Hensel/Teubner, KJ 2014, 150 (158).

51 Hensel/Teubner, KJ 2014, 150 (158).

52 Teubner, Der Staat 2006, 161 (177).

53 Hutter/Teubner, Beute, S. 110 f.; Teubner, Der Staat 2006, 161 (177).

54 Hutter/Teubner, Beute, S. 117.

55 Teubner/Zumbansen, Zs. F. Rechtssoz. 2000, 189 (210); Hutter/Teubner, Beute, S. 117.

56 Hutter/Teubner, Beute, S. 117.

57 Hutter/Teubner, Beute, S. 118.

58 Teubner, Der Staat 2006, 161 (177).

59 Luhmann, Paradoxon, S. 231.

Plümpe, Menschenrechtsbindung Privater: Der systemtheoretische Ansatz Teubners und Fischer-Lescanos35

I. Natur der Menschenrechte

——- HEADING COUNT ERROR ——-Das restriktive Verständnis der Systemtheorie

Das Menschenrechtsverständnis des systemtheoretischen Ansatzes ergibt sich aus dem zuvor besprochenen ökologischen Konzept. Gerechtigkeit wird dabei nicht als Ausgleichsmechanismus zur Minimalisierung von Ungleichheit verstanden wie beim divisionalen Verständnis. Vielmehr sollen Grund- und Menschenrechte für Gerechtigkeit sorgen, indem sie schützenswerte Autonomiebereiche (etwa Familie, Religion, Leib und Leben) vor expansiven sozialen Systemen schützen. Diese Autonomiebereiche schützen das Individuum (das Bewusstsein) und sind somit Teil der psychischen Systeme und eben nicht der sozialen Systeme, folglich auch nicht des Rechts oder der Politik. Menschenrechte sind demnach „vorrechtlich, vorpolitisch, ja sogar vorgesellschaftlich“60. Sie ergeben sich aus der Natur des Menschen und schützen die körperliche und psychische Integrität des Individuums (nicht der Person)61. Trotz der semantischen Nähe ist dies kein Verweis auf das Naturrecht, wie es von Rousseau und dem jungen Radbruch vertreten wurden. Der Bezugspunkt der Natur des Menschen macht nur deutlich, dass der Mensch selbst, als Einheit von Leib und Seele, geschützt wird. Der verwendete Begriff der „latenten Rechte“ ist folglich nicht technisch zu verstehen. Es handelt sich bei den Menschenrechten um keine Rechte im politischen oder juristischen Sinne, sondern um Reflexe, die der Selbsterhaltung (also der Erhaltung von Leib und Seele) dienen62.

Dieses Verständnis der Menschenrechte stellt sich im Vergleich zu anderen als ein sehr enges heraus. Während die Systemtheorie nur die psychische und physische Integrität des Menschen schützt, wurden schon 1948 unter anderem das Recht auf gleichen Lohn und das gleiche Wahlrecht in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aufgenommen63. Doch solche Verschriftlichungen und damit einhergehenden Positivierungen werden von Seiten der Befürworter_innen der Systemtheorie kritisiert.

b) Kritik der Positivierung von Menschenrechten

In der Rechtswissenschaft werden Menschenrechte überwiegend als Rechtsansprüche von Personen gegen den Staat betrachtet64. Diese wurden zunächst in deklaratorischen Texten, wie beispielsweise den Bills of Rights oder der Allgemeinen Menschrechtserklärung von 1948 verschriftlich und später teilweise auch in Verfassungen implementiert65. Die Verschriftlichung und damit einhergehende Positivierung der Menschenrechte wird jedoch von Luhmann kritisiert. Denn diese mache die Einhaltung und Ausgestaltung der Menschenrechte abhängig von den jeweiligen Institutionen der Staaten66. Der universelle Geltungsanspruch der Menschenrechte scheitert demnach an den divergierenden Ausgestaltungen der Nationalstaaten. Folgt man diesem Gedanken, sind alle Versuche, Menschrechte auf zwischenstaatlicher Ebene zu stärken, zum Scheitern verurteilt. Konsequenterweise betrachtet Luhmann alle Konventionen, Pakte und völkerrechtlichen Verträge zum Schutz der Menschenrechte als nicht zweckmäßig67. Doch der Positivierung der Menschenrechte stehen nicht nur praktische Erwägungen entgegen.

Vielmehr wird abermals der Einfluss der Systemtheorie deutlich: Die Verschriftlichung und damit einhergehende Positivierung von Menschrechten ist demnach ein Produkt der sozialen Systeme (insbesondere des Rechts und der Politik). Menschenrechte hingegen sind nach Teubner und Luhmann im Menschen selbst (Bewusstsein) begründet und können mangels Kommunikationsmöglichkeit nicht im Recht oder der Politik abgebildet werden68. Die Unfähigkeit der Menschen (Bewusstsein) sich im System des Rechts auszudrücken, mache deshalb „Versuche einer Juridifizierung von Menschenrechten zu einem unmöglichen Projekt“69.

c) Die Grenze sozialer Systeme als Menschenrecht

Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage, wo die „Grenzen“ zwischen der Wirtschaft (Unternehmen) und den Menschenrechten liegen, zumindest abstrakt beantworten. Vermag das Bewusstsein zwar nicht mit den sozialen Systemen zu kommunizieren, so kann es sie doch irritieren (s.o. S. 9 f.). Es kann somit deutlich machen, wann der Mensch (Bewusstsein) den Eingriff eines expansiven Systems nicht mehr toleriert, also den Grenzposten festlegen. Menschenrechte sind gerade die Festlegung und Ausgestaltung dieser Grenzposten. Die Grenzen zwischen den sozialen Systemen und den von Menschenrechten geschützten Autonomiebereichen (die Menschenrechte) können allerdings erst definiert werden, wenn sie überschritten wurden. Denn bevor das Bewusstsein nicht betroffen ist, vermag es auch nicht die sozialen Systeme zu irritieren (Refelxwirkung). Menschenrechte werden also erst „daran erkannt, dass sie verletzt werden“70. Hieraus ergibt sich auch die Bezeichnung der Menschenrechte als „latente Rechte“71 innerhalb der Systemtheorie. Menschenrechte sind so lange verborgen (latere, lat. für: verborgen sein, sich versteckt halten), bis sie verletzt werden. Und verletzt werden sie nur, wenn der Mensch in seiner Einheit als Leib und Seele beeinträchtigt ist72.

Wenn Menschenrechte erst erkennbar werden, sobald sie verletzt werden, lassen sie sich auch erst nach der Verletzung genauer definieren. Praktisch bedeutet dies jedoch nicht, dass für die Benennung der Menschenrechte erst der Verstoß gegen die selbigen abgewartet werden muss. Auch nach der systemtheoretischen Definition wurde und wird flächendenkend gegen Menschenrechte verstoßen, sodass durch diese Erfahrungen schon Grenzposten definiert werden konnten73. Aus genau diesen Verstößen ergeben sich die Menschenrechte.


60 Teubner, Der Staat 2006, 161 (171).

61 Luhmann, Gesellschaft, S. 116; Teubner, Der Staat 2006, 161 (171).

62 Teubner, Der Staat 2006, 161 (171).

63 Vgl. Art. 21,23 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution 217 (III), UN GA.

64 Vgl. Kälin, Das Bild, S. 17.

65 Vgl. Art 1 II GG.

66 Luhmann, Paradoxon, S. 233.

67 Luhmann, Paradoxon, S. 233; Luhmann, Gesellschaft, S. 116.

68 Teubner, Der Staat 2006, 161 (180); Luhmann, Paradoxon, S. 230 f.

69 Teubner, Der Staat 2006, 161 (185).

70 Luhmann, Paradoxon, S. 234.

71 Teubner, Der Staat 2006, 161 (172).

72 Teubner, Der Staat 2006, 161 (173).

73 Luhmann, Paradoxon, S. 234.

Plümpe, Menschenrechtsbindung Privater: Der systemtheoretische Ansatz Teubners und Fischer-Lescanos36

Ein anschauliches Beispiel stellt der oben schon erwähnte überteuerte Verkauf von Medikamenten dar74. Dadurch, dass Medikamente den Menschen durch überhöhte Preise nicht mehr zugänglich sind, wird die physische Integrität des Individuums angegriffen. Die expansive Tendenz der Wirtschaft (im Speziellen die Profitmaximierung) belastet das Individuum bis hin zur Gefährdung von Leib und Leben. Dem System der Wirtschaft muss also eine Grenze zum Schutz des Individuums gesetzt werden. Diese Grenze stellt ein Menschenrecht dar, welches sich in dem hiesigen Fall als Recht auf „access to mediaction“75 konkretisiert.

I. Durchsetzbarkeit von Menschenrechten

——- HEADING COUNT ERROR ——-Die Paradoxie – nach Luhmann

Dennoch verbleibt für die Durchsetzung der Menschenrechte nach dem Ansatz der Systemtheorie folgende Frage: Wie sollen Menschenrechte durchsetzbar sein, wenn sie erst durch ihre Verletzung zum Vorschein kommen? Kommt Menschenrechten nur eine repressive Funktion zu oder sind sie auch in der Lage, Menschen vor der eigentlichen Verletzung zu bewahren?

Dass sich die Geltung der Menschenrechte an ihrer Verletzung erweist, beschreibt Luhmann als Paradoxie76. Man könnte jedoch auch von einem Dilemma sprechen. Denn wenn das Recht immer nur auf seine eigene Verletzung reagiert und sich so erst bildet, dient es einzig der Bestrafung des Täters und nicht dem Schutz des Opfers. Grundsätzlich sehen sich viele Normen diesem Problem ausgesetzt. Denn auch eine geschriebene Strafrechtsnorm vermag es nicht, den Mord nur durch ihren Bestand zu vereiteln. Im Strafrecht kommt der Schutzcharakter, also die Verhinderung von Straftaten, vor allem durch den Effekt der Abschreckung zustande (Generalprävention)77. Doch bedingt das eine Problem das andere: Durch die mangelnde Effizienz bei der Verfolgung von Menschenrechtsverstößen Privater (dazu „IV. 2. c)“) kann auch keine Abschreckung erzielt werden.

Dass sich die Geltung von Normen erst durch ihre Verletzung zeigt, widerspricht dem Anspruch Rechtsverstöße mittels abstrakter Regeln zu definieren. Dieser Anspruch entspringt nicht zuletzt den Bemühungen, das Recht frei von Willkür und voraussehbar zu gestalten. Nach Luhmann ist die abstrakte Regelung im Bereich der Menschenrechte aber nicht möglich (s.o.). Er stellt folglich fest, dass Unrecht nur im konkreten Fall definiert werden kann und „die Weltrechtsordnung somit eher den Ordnungsformen tribaler Gesellschaften gleicht“78. Ohne eine Lösung für die von ihm beschriebene Paradoxie zu präsentieren, hält er es doch für notwendig sich dieser zu stellen79.

b) Was den Bock zum Gärtner macht – nach Teubner

Teubner überträgt die Paradoxie auf eine institutionelle Ebene. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass Grund für die Paradoxie der Menschenrechte die Unfähigkeit zur Kommunikation zwischen Mensch (Bewusstsein) und sozialen Systemen ist. Wie soll das Recht also Grenzen zwischen diesen beiden Systemen ziehen, ohne die Sprache des Einen (Bewusstsein) zu sprechen?

Menschenrechtsverletzungen sind Ausdruck der Expansion von Teilrationalitäten, wie der Wirtschaft oder der Technologie. Diese sind ebenso Teil der sozialen Systeme wie das Recht. Die Aufgabe der Begrenzung von sozialen Systemen wird also von einem sozialen System selbst (dem Recht) gefordert. Nach Teubner macht dies „den Bock zum Gärtner“80. Denn an die sozialen Systeme wird die Forderung der Selbstbegrenzung gestellt. Dennoch bietet er eine Lösung an. Demnach gibt es im gerichtlichen Prozess keine Alternative zur Austragung des Konflikts zwischen Personen-Konstrukten (Teil der sozialen Systeme). Es muss jedoch jederzeit berücksichtigt werden, dass sich der eigentliche Konflikt zwischen dem Bewusstsein (psychisches System) und dem sozialen System abspielt81.

Dies wird durch den Begriff der Institutionen sichergestellt, die sich im Gegensatz zu bloßen individuellen Akteuren dadurch auszeichnen, dass sie eine gewisse Struktur an den Tag legen, in der die expansive Natur des sozialen Systems zum Ausdruck kommt. Es wird also ein bestimmtes Maß an Einflussnahme innerhalb des sozialen Systems gefordert. Institutionen sind demnach private Verbände, Universitäten oder eben Wirtschaftsunternehmen82. Autonome Regime als Rechtsordnungen, die nicht staatlich legitimiert sind, sondern von privaten Akteuren entwickelt wurden, haben ebenso institutionellen Charakter83. Bei Wirtschaftsunternehmen können so etwa auch die AGB oder intern verpflichtende Guidelines Angriffspunkte im Prozess sein84.

Die Institution kann das expansive soziale System, welches für die Verletzung von Menschenrechten verantwortlich ist, nicht in Gänze wiederspiegeln. Sie kann aber personifiziert werden und ist somit dem Recht zugänglich85. So könnte im Gerichtsprozess der abstrakte Wandel vom divisionalen Konzept zum ökologischen Konzept zumindest angedeutet werden. Gegenstand des Prozesses ist dann nicht mehr die Abwägung zwischen Individualinteressen, sondern die Durchsetzung der Grenzen, die die Menschenrechte den Institutionen setzten86. Dies hat zur Folge, dass Unternehmen gerichtlich für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden, ohne dass dabei Konstrukte wie die Drittwirkung oder eine staatliche Schutzpflicht zur Hilfe gezogen werden. Konsequenz dessen wäre eine direkte universelle Menschenrechtsgeltung für Private.


74 Siehe zu diesem Beispiel auch Teubner, Der Staat 2006, 161 (184 ff.).

75 Der Zugang zu Medikamenten ist wohl schon jetzt von den Menschenrechten geschützt. Vgl dazu Hestermeyer, Access, S. 106 ff.

76 Luhmann, Paradoxon, S. 233.

77 Roxin, AT I, § 3 Rn. 21 ff.

78 Luhmann, Paradoxon, S. 234; so auch Teubner, Privatregimes, S. 443.

79 Vgl. Luhmann, Recht, S. 581 f.

80 Teubner, Der Staat 2006, 161 (182).

81 Teubner, Der Staat 2006, 161 (182).

82 Fischer-Lescano/Teubner, Michigan Law Journal of Int’l Law 2004, 999 (1024); Teubner, Der Staat 2006, 161 (183).

83 Vgl. Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 41 ff.

84 Teubner, Zs. F. Rechtssoz. 2015, 1 (8).

85 Teubner, Der Staat 2006, 161 (183).

86 Vgl. Christensen/Fischer-Lescano, Das Ganze, S. 303.

Plümpe, Menschenrechtsbindung Privater: Der systemtheoretische Ansatz Teubners und Fischer-Lescanos37

Hier sei das bereits besprochene Beispiel des überteuerten Medikamentenverkaufs erneut aufzugreifen. Im gerichtlichen Prozess wird nun keine Abwägung mehr zwischen den Rechten des Pharma-Unternehmens und den Rechten der Patient_innen angestrebt. Diese würde zu einer Abwägung zwischen dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und dem Recht auf Eigentum hinauslaufen. Hier wird auch deutlich, dass trotz des engen Verständnisses der Systemtheorie Menschenrechte in ihrem Sinne betroffen sind (Gefährdung der physischen Integrität). Aufgabe des Prozesses ist es jetzt viel mehr die wirtschaftliche Eigenrationalität soweit zu begrenzen, wie es zum Schutz der menschlichen Einheit Leib/Seele nötig ist. Dies spiegelt die besprochene Einseitigkeit des Schutzes wieder, wenn zwei sich unverständliche Eigenrationalitäten kollidieren87. Doch das System der einseitigen Begrenzung findet nicht nur im Gerichtsprozess Anwendung, sondern kann auch vorsorglich Wirkung entfalten. Möglich wird dies, indem gesundheitliche Aspekte schon in die „wirtschaftliche Rationalität eingebaut“88 werden um eine gefährliche Expansion zu verhindern. Dies kann etwa im internationalen Patentrecht geschehen, indem bestimmte Medikamente nicht patentierbar sind oder Patent-Ausnahmen in Staaten mit geringer Wirtschaftskraft eingeführt werden.

c) Die Suche nach dem Gericht – nach Fischer-Lescano

Doch bedarf es für die Durchsetzung des access to medication als Menschenrecht nicht nur der abstrakten Regelung der Konfliktauflösung, sondern auch einer Instanz, die das Recht durchsetzt – einem Gericht. Bei Menschenrechtsverletzungen mit internationalen Bezug fällt die Suche nach dem richtigen Spruchkörper jedoch schwer. War die Suche dennoch erfolgreich, herrscht meist Unklarheit über die Bindungswirkung der beteiligten Parteien. Doch was nützt die Menschenrechtsbindung Privater, wenn sie nicht justiziabel ist? Neben internationalen Instanzen zur Konfliktlösung bleibt selbstverständlich der Gang zu nationalen Gerichten. Trotz der in Barcelona Traction erwähnten erga-omnes – Wirkung von Menschenrechten89 bleibt die Durchsetzung auf nationaler Ebene bei internationalen Sachverhalten ineffektiv90. Hier rückt das schon von Luhmann angesprochene praktische Problem in den Vordergrund: sich auf die nationale Ebene zu verlassen, macht die Einhaltung und Ausgestaltung der Menschenrechte abhängig von den jeweiligen staatlichen Institutionen91.

Ein in Deutschland bekanntes Beispiel stellt das Völkerstrafgesetzbuch dar, welches bestimmte Verbrechen bestraft, auch wenn diese keinen Bezug zum Inland aufweisen92. Das Gesetz wurde erlassen um materielle Strafrechtsnormen dem Römischen Statut anzupassen93. Das Römische Statut verfolgt unter anderem den Zweck einer weltweiten Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen94. Der Erlass des Völkerstrafgesetzbuches zeigt also, wie Nationalstaaten zur globalen Geltung von Menschenrechten beitragen können. Dass bei nahezu 50 Anzeigen seit 2002 in Deutschland noch kein Ermittlungsverfahren eröffnet wurde, zeigt allerdings wie schwierig sich die Durchsetzung realisieren lässt95. In aussichtsreichen Fällen wurde in Deutschland von der Bundesanwaltschaft nach § 153f StPO die Möglichkeit in Anspruch genommen, Verfahren einzustellen. Ob diesen Entscheidungen immer nur juristische Erwägungen zu Grunde liegen oder sie auch durch politische Interessen gelenkt werden, ist zumindest zweifelhaft96. Es bringt jedenfalls zum Ausdruck, dass es weiterhin Probleme bereitet, universell geltendes Recht über nationale Gerichte durchzusetzen, und bestätigt insoweit Luhmann. Nationalen Gerichten kann daher nach Fischer-Lescano nur eine Auffangfunktion bei der Durchsetzung von Menschenrechten zukommen97.

Die Frage nach der durchsetzenden Instanz bleibt also zunächst offen. Nationale Gerichte können die Aufgabe nicht flächendeckend bewältigen und international ist das „Völkerrecht unterausgestattet mit Gerichten“98. Für Fischer-Lescano verbleibt in der Position des Gerichtes demnach nur die globale Zivilgesellschaft99. Eine globale Skandalisierung von Menschenrechtsverletzungen ist heutzutage möglich100. Das liegt nicht zuletzt an den Massenmedien und schnellen Kommunikationswegen über das Internet, mithilfe derer Missstände der breiten Öffentlichkeit zugetragen werden können. Durch die Macht der globalen Skandalisierung kommt der Zivilgesellschaft nach Fischer-Lescano gar eine normative Kraft zu101. Die Gesellschaft ist nach der Systemtheorie also sowohl für die Entwicklung als auch für die Durchsetzung der Menschenrechte zuständig. Sie definiert die Menschenrechte durch individuelle Grenzerfahrungen mit sozialen Systemen und trägt neben den gerichtlichen Instanzen – durch Skandalisierungen – zur Durchsetzung bei.

Die Zivilgesellschaft ist selbstverständlich nicht in der Lage, rechtsverbindliche Urteile zu fällen, doch sie schöpft ihre Macht aus der Masse und ihrer guten Vernetzung. Wenn Unternehmen also Menschenrechte verletzen, so muss dies zunächst recherchiert und öffentlich gemacht werden. Im nächsten Schritt kann sich die Zivilgesellschaft wehren, indem sie protestiert. Ob dieser Protest sich in Form von entsprechendem Konsumverhalten, Unterstützung der betroffenen Menschen oder einfach auf der Straße ausdrücken soll, lässt Fischer-Lescano dabei offen. Er hält ihn aber für die globale Durchsetzung von Menschenrechten für unerlässlich.


87 Vgl. Teubner, KritV 2000, 388 (390).

88 Teubner, Der Staat 2006, 161 (184).

89 IGH, Barcelona Traction Light and Power Company Limited (Belgium vs. Spain), (1962-1970), ICJ Rep. and Judg. 1970, S. 32.

90 Vgl. Voßkuhle, RdA 2015, 336 (337 ff.); Gammelin, MRM 2014, 32 (40).

91 Luhmann, Paradoxon, S. 233.

92 Vgl. § 1 VStGB.

93 BT Wiss. Dienst, Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichts und das Völkerstrafgesetzbuch, S. 5.

94 BT Wiss. Dienst, Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichts und das Völkerstrafgesetzbuch, S. 4.

95 Fischer-Lescano/Steffen, Menschenrechte, S. 101, 104.

96 Vgl. Fischer-Lescano/Steffen, Menschenrechte, S. 104.

97 Fischer-Lescano/Steffen, Menschenrechte, S. 101, 105.

98 Fischer-Lescano/Steffen, Menschenrechte, S. 105.

99 Fischer-Lescano, Globalverfassung, S. 271; Fischer-Lescano/Steffen, Menschenrechte, S. 105.

100 Fischer-Lescano, Globalverfassung, S. 36.

101 Fischer-Lescano, Globalverfassung, S. 271.

Plümpe, Menschenrechtsbindung Privater: Der systemtheoretische Ansatz Teubners und Fischer-Lescanos38

A. Fazit und Kritik

„Menschenrechtsbindung Privater: Der systemtheoretische Ansatz“ – Bei diesem Titel hofft der/die Jurist_In auf einen konkreten Vorschlag, wie das Recht zu verändern sei. Sei es eine neue Konstruktion der Bindungswirkung oder eine Reform der globalen Gerichtslandschaft. Diese Erwartungen kann die Systemtheorie nur bedingt erfüllen. Sie ist ein abstraktes Modell über den Aufbau der Gesellschaft und kann somit zumindest eine Verortung des Rechts in dieser bieten. Auch zeigt sie anhand der unterschiedlichen Handlungslogiken der sozialen Systeme auf, warum es dem Recht Probleme bereitet der Bedrohung von Menschenrechten durch die Wirtschaft gerecht zu werden. Als Gesellschaftsmodell hat die Systemtheorie ihre Stärken insbesondere in der Beschreibung von Problemen. Sie muss sich aber den schon von Marx gegenüber der Philosophie erhobenen Vorwurf gefallen lassen, dass sie die Welt vor allem beschreibt und interpretiert und nur sehr indirekt in der Lage ist sie zu verändern.

Die Erkenntnisse der Systemtheorie für die Rechtswissenschaft fruchtbar zu machen, haben sich Fischer-Lescano und Teubner zur Aufgabe gemacht. Der Erfolg, und damit ist der Einfluss auf aktuelle Entwicklungen im Recht gemeint, ist jedoch überschaubar. Es wäre naiv zu denken, das viel kritisierte alt-europäische Rechtsverständnis sein in einigen Jahren umzuwälzen, dennoch ist der Versuch der Einflussnahme in seiner Methodik zu kritisieren. So schaffen es die Autoren nicht ihre Kritik dem juristischen Mainstream zugänglich zu machen. Das beginnt bei der besonderen Semantik und endet in einem hohen Abstraktionsgrad, der es nur selten ermöglicht konkrete Lösungsansätze anzubieten. Grund dafür ist auch die mangelnde Flexibilität in der Systemtheorie. Die kommt etwa zum Ausdruck durch die Verbannung des Menschen aus der Gesellschaft auf alle Zeit und die Inkompatibilität der sozialen Systeme ohne Aussicht auf Veränderung. Das führt nicht nur bei den Leser_Innen zu Frustration. Auch Fischer-Lescano und Teubner machen deutlich, dass wirkliche Lösungen bei konsequenter Verfolgung der systemtheoretischen Perspektive rar sind, wenn sie „die Gerechtigkeit der Menschenrechte (als) ein Problem ohne jede Aussicht auf Lösung“102 beschreiben. Des Weiteren könnte man Teubner und Fischer-Lescano den Vorwurf machen, die wissenschaftliche Arbeit zu stark von ihrer Weltanschauung beeinflussen zu lassen und somit nicht ergebnisoffen zu sein. Unabhängig von der Frage ob sich Rechtwissenschaften überhaupt unpolitisch betreiben lassen, liefern die Autoren jedoch gewissermaßen selbst ein Gegenargument. Sie sehen eine extrem enge Verbindung zwischen dem Recht und der Politik. Dies findet abstrakt in der Klassifizierung von Recht und Politik als soziale Systeme Ausdruck, und wird konkreter, wenn globaler Protest als wirksames Mittel zur Durchsetzung von Menschenrechten auserkoren wird. Offen bleibt hingegen der Grund für das restriktive Verständnis von Menschenrechten bezüglich ihres Schutzumfangs. Der bloße Schutz der körperlichen und psychischen Integrität erscheint ein unnötiger Schritt rückwärts. Denn warum sollten über Jahrzehnte erkämpfte Rechte wie die Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und gleiche Wahlen wieder in ihrer Geltung herabgestuft werden? Zudem weicht dieses Verständnis die eigene Kritik an der Abwägung von Grund- und Menschenrechte auf. Denn auch bei dieser wird das Leben mit Verweis auf Art. 1 GG keiner Abwägung unterzogen.

Der Versuch Konflikte zwischen Unternehmen und Menschenrechten durch die zivilgesellschaftliche Skandalisierung zu lösen ist für Fischer-Lescano Folge der rechtlichen Hilflosigkeit. Er verkennt dabei jedoch, dass das Recht gerade Ausdruck der Zivilgesellschaft ist. In einer demokratischen Ordnung formt und entwickelt sie das Recht. Das Recht wiederrum spiegelt die gesellschaftlichen Werte wieder, aus deren Verletzung sich der Protest ergibt. Und es moderiert den Protest um eine Skandaljustiz zu verhindern. Doch eine solche droht, wenn man das Urteilen der Zivilgesellschaft überlässt, gerade in Zeiten von „fake news“ und „alternative facts“. Fischer-Lescano ignoriert also die expansive Tendenz der Medien und Technologie (hier vor allem Kommunikationstechnologie), die er selbst so ausführlich beschreibt. Auch bleibt bei dem Rückgriff auf die Zivilgesellschaft außer Betracht, dass der gesellschaftliche Einfluss global ungleich verteilt ist. Wie groß wird die Lobby der Angestellten in „sweat shops“ im Gegensatz zu der Lobby des Konsumenten sein, die die dort hergestellten Produkte kauft?

Der Wert der Systemtheorie für die Identifizierung und Darstellung von rechtlichen Problemen, wie etwa dem Spannungsfeld zwischen Unternehmen und Menschenrechten, ist anzuerkennen. Sie bietet allerdings kaum konkrete Lösungsansätze, die dem aktuellen Diskurs zugänglich sind.


102 Teubner, Der Staat 2006, 161 (185).