Konflikt und Urteilskraft

Bundesminister der Justiz Dr. Marco Buschmann MdB*

Sehr geehrte Studentinnen und Studenten!

Sie beginnen heute einen Abschnitt in Ihrem Leben, der mit einer gar nicht so geringen Wahrscheinlichkeit zu einem der schönsten in Ihrem Leben werden kann! Für mich ist er das geworden – das Jurastudium.

Obwohl ich in Bonn studiert habe, hörte ich damals schon viel über die Bucerius Law School; denn Handels- und Gesellschaftsrecht hörte ich bei Ihrem Ehrenpräsidenten Karsten Schmidt, der das Projekt im Hörsaal mit den leuchtendsten Worten umschrieben hat.

Für Ihr Studium gilt: Sie lernen neue Menschen kennen, Sie lernen neue Ideen kennen. Und: Sie werden auch sich selbst neu kennenlernen – und im besten Falle weit über sich hinauswachsen.

Sie dürfen das Studium des Rechts an einer der interessantesten Hochschulen des Landes und in einer der charaktervollsten und bedeutendsten Städte des Landes aufnehmen. Das ist beneidenswert. Das ist ein Privileg.

Ich will Ihnen dafür heute einige Gedanken mit auf den Weg geben, die ich unter die Überschrift „Konflikt und Urteilskraft“ stelle.

*

Die Begriffe sollen andeuten, dass das Fach, das Sie studieren werden, eines ist, das sich nicht durch besonders harmonische Verhältnisse auszeichnet. Im Gegenteil: Sie studieren die streng rationale Bewältigung von Konflikten. Ohne Konflikte bräuchte man keine Juristen. Ihre Berufung wird sein, Konflikte mit dem Verstand statt mit der Faust zu lösen.

Ihre Berufung wird es sein, den Konflikt nicht wie einen Teufel zu verdammen, sondern ihn als conditio humana zu akzeptieren. Ihre Berufung wird sein, dem Konflikt sein destruktives und spalterisches Potential zu nehmen und ihn einer akzeptablen Lösung zuzuführen. Und mehr noch: Ihr Beruf wird sein, den Konflikt als Antriebsenergie für den Fortschritt dieser Gesellschaft zu nutzen.

Ihre Berufung ist eine unverzichtbare Säule dessen, was wir Zivilisation nennen.

Denn auch für das Recht gilt, was der große, aus Hamburg stammende Soziologe Ralf Dahrendorf für liberale Ordnungen immer zurückgewiesen hat. Ihr Ziel könne nicht und dürfe nicht die „utopische Synthese“ aller Verschiedenheit sein. Vielmehr komme es für eine menschliche, liberale, entwicklungsfähige Gesellschaft immer darauf an, die Widersprüche der Normen und Interessen in Spielregeln zugleich zu bewältigen und zu erhalten.

Eine wunderbare Formulierung: die Widersprüche der Normen und Interessen in Spielregeln zugleich zu bewältigen und zu erhalten. Nur dann gibt es Fortschritt. Wir streben keine konfuzianische Harmonie nach chinesischem Vorbild an. Denn die ist das Ende der Individualität – und damit auch von Freiheit nach unserem westlichen Verständnis.

Liberale Ordnungen machen Konflikt fruchtbar! Aber sie haben eben auch immer Konflikte, weil Menschen verschieden sind und weil sie frei sind.

Für das Recht ist das augenscheinlich: Recht in Westeuropa wird gerade durch Konflikt geboren, in kontradiktorischen Verfahren, in Verhandlungen, die als Disput mit Rede und Gegenrede angelegt sind. Recht ist immer auch Streit, daher heißt das, was wir vor Gericht tun, einen Rechtsstreit zu führen.

Selbst zwischen Gerichten sind Dinge streitig; und auch auf europäischer Ebene – gerade haben wir den 70. Geburtstag des Europäischen Gerichtshofs gefeiert – sehen wir das Streitgespräch der Gerichte, zwischen eben dem Europäischen Gerichtshof und den Verfassungsgerichten der Mitgliedsstaaten. Über die Frage, ob die Europäischen Gemeinschaften, als die Vorgängerorganisationen der Europäischen Union, Grundrechte kennen, ist lange gestritten worden.

Aber auch das trägt Früchte; in diesem Fall die Entdeckung der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, die der Europäische Gerichtshof schützt. Sie werden sich vielleicht damit beschäftigen. Ich war davon so fasziniert, dass ich darüber meine Dissertation geschrieben habe. Das zeigt: Der Streit kann die edelsten Früchte tragen.

So wird gutes Recht fortentwickelt. So wie es kein Ende der Geschichte gibt, gibt es auch kein Ende der Rechtsgeschichte!

Wenn Sie nun in den kommenden Jahren den Umgang mit dem Recht studieren, dann erlernen Sie keine bloße Technik und dann studieren Sie keine politisch-moralisch indifferente Wissenschaft, die immer zu eindeutigen Ergebnissen führt wie bei einer Rechenaufgabe.

In Deutschland wissen wir durch schlimmste Lektionen der Geschichte, dass das nicht sein darf. Denn nur das zu sein, Rechtstechniker, so haben sich Juristen nach 1945 gerechtfertigt, die zu Mittätern im Unrechtsstaat der Nazis geworden waren. Sie sind einen anderen Weg gegangen als der Namensgeber Ihrer Hochschule. Sie seien bloß „Techniker des Rechts“ gewesen, nüchtern, sachlich und streng


*Bei dem Beitrag handelt es sich um den Festvortrag von Herrn Bundesminister Dr. Buschmann anlässlich der Immatrikulationsfeier für die neuen Studentinnen und Studenten der Bucerius Law School am 23. September 2022 in Hamburg. Gekürzt wurden hier lediglich die Anreden zu Beginn.

Buschmann, Konflikt und Urteilskraft7

logisch die Regeln anwendend, der Ordnung verpflichtet.

Eine wichtige Konsequenz daraus hat unser Staat erst mit Beginn dieses Jahres gezogen. An der einschlägigen Stelle des Deutschen Richtergesetzes heißt es seit dem 1. Januar: „Die Vermittlung der [juristischen] Pflichtfächer erfolgt auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur.“

Dabei geht es nicht um die Einübung moralischer Selbstgewissheit und Überlegenheit, die ja sehr leicht zu haben sind. Nötig ist vielmehr, was der mutige Jurist Fritz Bauer, ohne den es die Frankfurter Auschwitzprozesse in den 60er Jahren nicht gegeben hätte, einmal als die wesentliche Aufgabe des juristischen Studiums bezeichnet hat: Ich zitiere ihn: „Der Jurist, den wir heute brauchen, muss unsicher gemacht werden. […] Die innere Unsicherheit, die Problematik seines Kampfes um das Recht muss ihm an der Universität beigebracht werden. Das heißt, er muss weg gebracht werden von den Mathematikaufgaben, die wir ihm stellen – A tut dieses, B tut jenes und was geschieht nun mit C. Er muss hineingestellt werden in die ganzen Schwierigkeiten unserer Zeit.“

Auf dieser Grundlage, also, wenn man so will, auf unsicherem Boden, muss das juristische Berufsethos gebildet werden.

Worum es für Sie in den kommenden Jahren geht, ist eben juristische Bildung – denn Bildung fängt mit Unsicherheit und Zweifel an, mit der Wahrnehmung von Problemen, nicht mit Wissen und Gewissheiten.

Sie werden sich hoffentlich oft an Ihren Deutschunterricht erinnern, an den Faust und sein berühmtes Wort: Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor. Denn die produktive Bearbeitung äußerer Konflikte ist nicht möglich ohne inneren Konflikt. Wer nicht einen Augenblick bereit ist anzunehmen, dass man selbst im Unrecht und der andere im Recht sein könnte, wird kein neues oder gar rechtlich überlegenes Argument finden, das zur streng rationalen Lösung des Konflikts beiträgt.

Bildung, auch Charakterbildung, den Sinn für Pluralität und Uneindeutigkeit zu schärfen – und auf diesem Feld der Uneindeutigkeit die Urteilskraft zu üben im immer neuen Bemühen um zeitweise Befriedung durch Recht: Das ist Inhalt und Ziel dieses Studiums.

Die Urteilskraft, zumal die juristische, bewährt sich auf dem weiten Feld der legitimen Vielfalt, der Positionen, die aus bestimmten Blickwinkeln sehr oft alle ihr gutes Recht haben. Es geht deshalb auch darum, dass Sie Spaß an dieser gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit und ihrer Vielfalt haben.

Diese Urteilskraft, die Sie üben werden, braucht Erfahrung, Unterscheidungsvermögen – und dann ein Moment von Kreativität. Denn das Besondere immer anderer menschlicher Gemengelagen der konkreten Sachverhalte und das stets auslegungsbedürftige Allgemeine der Rechtssätze müssen immer neu zusammengebracht werden in einer sich ständig verändernden Welt.

Bleiben Sie offen im Geiste. Bleiben Sie neugierig. Denn was in der Gesellschaft für eine akzeptable Lösung von Konflikten gehalten wird, ist ständig im Wandel. Dass es einen absoluten Punkt eines Optimums für das Wahre, Schöne und Gute und ich möchte sagen das Rechte gibt, ist eine Illusion. Der Nobelpreisträger Amartya Sen hat diese – ökonomisch gesprochen – Präferenzstabilität für ein Symptom „rationaler Dummköpfe“ gehalten. Seien Sie exzellente Juristen und keine rationalen Dummköpfe!

*

Ich glaube, aus all diesen Gründen – der Konfliktstruktur des Rechts und des kreativen Umgangs mit Vielfalt – sind angehende Juristinnen und Juristen besonders in der Lage, und deshalb auch aufgerufen, einem bestimmten hoch problematischen Trend unserer Zeit gegenzusteuern. Und das ist das zweite, worauf ich heute hinauswill.

Mir scheint, wir haben es gerade mit zwei miteinander zusammenhängenden und unsere politische Kultur gefährdenden gesellschaftlichen Kommunikationsproblemen zu tun:

Erstens mit einer sich immer weiter steigernden Unduldsamkeit anderen Positionen und Haltungen gegenüber. Jeder glaubt, uneingeschränkt Recht zu haben, und immer wütender wird das Unverständnis darüber, dass es nicht immer so läuft, wie man selbst es für richtig hält – ob in Bezug auf Migration, Klima oder Corona. Und die jeweilige Gegenseite wird mit immer größeren moralischen Keulen traktiert. Der Mangel an innerem Konflikt, von dem ich sprach, eskaliert den äußeren Konflikt.

Oder man hakt die Anderen gleich ganz ab. Der Anteil derer in diesem Land, die sich gerne mit Andersdenkenden austauschen, geht nach Umfragen seit Jahren zurück. Zuletzt ermittelte das Allensbach-Institut noch 37 Prozent, die das gern tun. Täuscht der Eindruck, oder schwindet nicht die Einsicht, dass es überhaupt mehr legitime Meinungen geben kann als nur die eigene?

Die Zumutungen, die eine Ordnung der Freiheit für uns alle immer auch bereithält, sind wir offenbar immer weniger bereit hinzunehmen.

Was um sich greift, ist eine – verzeihen Sie das Wortungetüm – Ambiguitäts-Intoleranz. Es mangelt zunehmend an der Fähigkeit, Unsicherheiten und mehrdeutige Situationen zu ertragen. Stattdessen zieht man sich in „safe spaces“ und die eigene „bubble“ zurück.

Was wir zweitens beobachten, ist eine zunehmende Zersplitterung unserer Gesellschaft in immer mehr Gruppen von Benachteiligung oder Herkunft – und eine damit einhergehende wachsende Empfindlichkeit gegenüber Worten und Taten, in denen man Spuren von unzulässigen kulturellen Übernahmen, von Nicht-Anerkennung oder Schlimmerem wahrnimmt. Ob es um die Übersetzung von Gedichten, die Aneignung bestimmter Frisuren oder die Verwendung

Buschmann, Konflikt und Urteilskraft8

bestimmter Worte geht – auch ohne, wohlgemerkt, dass sie mit der Absicht zu verletzen ausgesprochen wurden.

Hinzu kommt die nämliche Empfindlichkeit und Unduldsamkeit auch gegenüber kulturellen Produkten früherer Zeiten – deren Verständlichkeit aus ihrer Zeit heraus immer weniger beachtet, immer weniger ins Gesamtbild hineingenommen wird. Weigerungen, sich mit bestimmten Werken etwa des literarischen Kanons zu befassen, weil man sich dabei unwohl fühle, sind längst nichts Ungewöhnliches mehr.

Beide gesellschaftlichen Kommunikationsprobleme nun blühen – diese Beobachtung ist nicht neu – gerade an Universitäten, wenn auch bis vor kurzem noch überwiegend an amerikanischen und britischen, aber nach dem Zeugnis nicht weniger Hochschullehrer auch zunehmend hierzulande.

Deshalb ist es so wichtig, dass Sie, die neuen Studentinnen und Studenten, in sich und miteinander Gegenkräfte entwickeln gegen diese Gefährdung liberaler Demokratie, Gegenkräfte der Liberalität: andere Standpunkte verstehen, aushalten, respektieren wollen, bis zur Grenze wiederum des Illiberalen natürlich nur; der Vergangenheit zugestehen, anders gewesen zu sein als wir heute; weniger mit Empfindlichkeit kommunizieren und mehr mit Analyse und Argument.

Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat das vor einiger Zeit „robuste Liberalität“, „robuste Zivilität“ genannt und zu solcher aufgerufen.

Erkennen Sie, das wäre mein Appell, dass Empfindlichkeit auch ihre kommunikative Schattenseite hat. Natürlich ist sie ein Motor von Zivilität und Humanität; aber sie kann auch schaden, sie kann Austausch, Entwicklung, lehrreichen Perspektivenwechsel hemmen, sie kann abschotten von allem, was uns irritieren und damit auch weiterbringen könnte. Empfindlichkeit darf nicht in Scheuklappendenken münden.

Heute ist überall viel von „Resilienz“ die Rede. Es wäre wichtig, dass wir emotional resilienter werden, dass wir nicht bei jeder Verstimmung, jedem Unwohlsein glauben, dass da jetzt jemand kommen müsse – zum Beispiel der Staat –, um Abhilfe zu schaffen.

Das bedeutet andersherum auch: Wenn man eine Meinung äußert, die dann stark kritisiert wird, muss man auch das abkönnen. Die Meinungsfreiheit ist nicht in Gefahr, wenn viele anderer Meinung sind. Die Meinungsfreiheit ist nicht in Gefahr, wenn die Mehrheit anderer Meinung ist. Und die Meinungsfreiheit ist auch nicht in Gefahr, wenn man der einzige mit einer bestimmten Meinung ist.

Der Preis der Freiheit ist immer auch die Disharmonie. Konflikte sind die Kehrseite der Vielfalt.

Für den souveränen Umgang mit Pluralität als Folge von Freiheit ist etwas nötig, das man auch Demut und Selbstrelativierung nennen könnte: sich selbst vom Hochsitz des Besserwissers nehmen; unterstellen, dass der andere nicht rundheraus böswillig und destruktiv ist, sondern auch einen Punkt hat, der Beachtung verdient. Üben Sie das, was man in den Geisteswissenschaften das „hermeneutische Wohlwollen“ genannt hat, die Maxime: Lese und höre den anderen stets so, dass du das bestmögliche Gemeinte herausholst!

Wer könnte solche Offenheit und Liberalität, für die ich hier plädiere, eher und besser in sich und miteinander ausbilden als Sie, als privilegierte Studentinnen und Studenten der Rechte an dieser außergewöhnlichen Hochschule!

Das ist etwas, das Sie der Gesellschaft zurückgeben können: Dass Sie in Ihrem Tun und in Ihrem Reden mit dazu beitragen, dass wir bei aller Diversität, bei aller Verschiedenheit als Gesellschaft nicht auseinanderfallen. Dass wir nicht den gemeinsamen Boden verlieren, auf dem wir politisch zusammenleben. Dass wir nicht in voneinander sich abschottende Gruppen zerfallen; sondern einander zugewandt bleiben im streitenden Gespräch.

Hören Sie anderen Positionen zu! Haben Sie keine Angst, von Meinungen, die Sie nicht teilen, sozusagen kontaminiert zu werden. Machen Sie die Mode nicht mit, alles Mögliche „toxisch“ zu finden und zu nennen!

Natürlich: Bleiben Sie sensibel für die tatsächliche Gleichheit der Rechte und der Freiheit, die unser Grundgesetz allen verspricht; aber seien Sie auch sensibel für die Gefährdungen unseres kommunikativen Miteinanders in der liberalen Demokratie, die ich versucht habe zu schildern.

Werfen Sie sich in die Vielfalt der Wirklichkeit, in die Gemengelagen des Menschlichen! Sie haben die Chance, hier im Getümmel der Meinungen und Haltungen den respektvollen Kampf um die Sache zu lernen, den begrenzten Streit auf gemeinsamem Boden. Nur der bringt uns weiter.

Herzlichen Dank und ein wunderbares Studium Ihnen hier an der Bucerius Law School in Hamburg!