Leonie Schwannecke*
A. Einleitung
Die materielle Rechtskraft (res judicata) von Urteilen und Schiedssprüchen1 ist ein allgemeiner und international anerkannter Rechtsgrundsatz.2 Sie legt die konkreten Rechtsfolgen eines Rechtsstreits final und zwischen den Parteien verbindlich fest.3 Was materiell rechtskräftig ist, kann in einem Folgeprozess zwischen den Parteien nicht neu verhandelt werden;4 eine erneute Klage über einen rechtskräftigen Inhalt ist als unzulässig abzuweisen.5
Aufgrund der internationalen Bedeutung der materiellen Rechtskraft als Instrument zur Herstellung und Wahrung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit6 ist es wenig überraschend, dass sie als die „bedeutendste anzuerkennende Urteilswirkung“ ausländischer Urteile gilt.7 Doch gerade im Hinblick auf die objektiven Grenzen der Rechtskraft bestehen im internationalen Vergleich erhebliche Unterschiede (B.I., C.I.). Deshalb ist zwingend zu klären, nach welcher Rechtsordnung die Reichweite der materiellen Rechtskraft bei der Anerkennung eines ausländischen Urteils oder Schiedsspruchs zu bestimmen ist. Traditionell werden hierfür verschiedene kollisionsrechtliche Lösungen vertreten (B.II.3., C.II.1.). Im Rahmen der Anerkennung mitgliedstaatlicher Urteile innerhalb der europäischen Union nach der EuGVVO und von Schiedssprüchen zwischen Vertragsstaaten des UNÜ könnte jedoch eine autonome Bestimmung der materiellen Rechtskraft für Klarheit sorgen (B.II.2., 4.; C.II.2.). Als Ausgangspunkt dienen im Folgenden die Rechtskraftbegriffe der Rechtsordnungen Deutschlands, Englands und Frankreichs als Staaten, die an die EuGVVO gebunden und zugleich Vertragsstaaten des UNÜ sind.8
B. Materielle Rechtskraft als Gegenstand der Anerkennung mitgliedstaatlicher Urteile
I. Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft im nationalen Recht
Die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft legen die unverrückbar feststehenden Elemente des Urteils fest.9 Je enger die Grenzen gezogen werden, desto geringer ist die Gefahr der Perpetuierung von Fehlurteilen;10 je weiter sie reichen, desto schneller tritt Rechtssicherheit ein11. Unterschiedlich beurteilt wird vor allem, ob Vorfragen und Tatsachenfeststellungen in Rechtskraft erwachsen.
1. Deutschland
Laut § 322 I ZPO sind Urteile der materiellen Rechtskraft nur insoweit fähig, als über den durch die Klage oder durch die Widerklage erhobenen Anspruch entschieden ist. Gemeint ist der prozessuale Anspruch i.S.d Streitgegenstandes (§ 253 II Nr 2 ZPO),12 welcher sich aus der beantragten Rechtsfolge (Klageziel) und dem vorgetragenen Lebenssachverhalt (Klagegrund) zusammensetzt (zweigliedriger Streitgegenstandsbegriff).13 Mit der Entscheidung über die Rechtsfolgen aus dem vorgetragenen Lebenssachverhalt wird zugleich rechtskräftig über alle anderen (objektiv bestehenden)14 Anspruchsgrundlagen, die aus gerade diesem Lebenssachverhalt entstehen, entschieden.15
Die in Rechtskraft erwachsende Entscheidung umfasst nach hM derweil nur den Subsumtionsschluss des Urteils,16 nicht aber seine einzelnen Glieder wie Urteilsgründe, Tatsachenfeststellungen oder die Beurteilung rechtlicher Vorfragen und präjudizieller Rechtsverhältnisse.17 So folgt aus der erfolgreichen Klage auf Herausgabe nach § 985 BGB etwa keine rechtskräftige Feststellung des Eigentums.18 Eine Ausnahme zu diesen engen Grundsätzen sieht § 322 II ZPO für die Aufrechnung durch den Beklagten vor sowie § 256 ZPO, der den Parteien ermöglicht, mittels Zwischenfeststellungsklage das Bestehen oder Nichtbestehen eines präjudiziellen Rechtsverhältnisses rechtskräftig feststellen zu lassen.19
* Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School, Hamburg.
1 De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 35, 37; Münch, in:Münchener Kommentar zur ZPO, Band 35, 2017, § 1055 Rn. 1; Prütting, in: Prütting/Gehrlein (Hrsg.), ZPO, Kommentar11, 2019, § 1055 Rn. 4. Näheres unter C.
2 De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 35, 55; Born, International Commercial Arbitration2, 2018, S. 3739 f., jew. m.w.N.
3 Andrews, Principles of Civil Procedure, 1994, Rn. 17-001; Althammer, in: Stein/Jonas (Begr.), Kommentar zur ZPO23, Band 4, 2018, § 322 Rn. 34.
4 Andrews (Fn. 3), Rn. 17-002; De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 35, 36; Althammer, in: Stein/Jonas (Fn. 3), § 322 Rn. 40.
5 So die hM, De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 35, 36; Musielak, in: Musielak/Voit (Hrsg.), ZPO, Kommentar17, 2020, § 322 Rn. 5; Althammer, in: Stein/Jonas (Fn. 3), § 322 Rn. 36; Andrews (Fn. 3), Rn. 17-002.
6 Voit, in:Musielak/Voit (Fn. 5), § 1055 Rn. 5; Saenger, in; Saenger (Hrsg.), Kommentar zur ZPO8, 2019, § 322 Rn. 49. Vgl. auch Andrews (Fn. 3), Rn. 17-015.
7 Kropholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht9, 2011, vor Art. 33 EuGVO Rn. 11; Leible, in: Rauscher (Hrsg.), Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Band 1: Brüssel Ia-VO4, 2015, Art. 36 Rn. 5.
8 Zum Zeitpunkt der Verfassung und Veröffentlichung des Beitrags galt die EuGVVO noch für das Vereinigte Königreich, vgl. Art. 67, 126, Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft,2019/C 384 I/01.
9 Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung in der Europäischen Union, 2012, Rn. 171.
10 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht18, 2018, § 155 Rn. 13.
11 Vgl. Peiffer (Fn. 8), Rn. 290.
12 Gottwald, in: Münchener Kommentar zur ZPO, Band 16, 2020, § 322 Rn. 111.
13 Peiffer (Fn. 8), Rn. 182, 184.
14 Peiffer (Fn. 8), Rn. 545.
15 Gottwald, in: MüKoZPO (Fn. 11), § 322 Rn. 112; Peiffer (Fn. 8), Rn. 185.
16 Gottwald, in: MüKoZPO (Fn. 11), § 322 Rn. 92; Rosenberg/Schwab, (Fn. 9), § 154 Rn. 9; Althammer, in: Stein/Jonas (Fn. 3), § 322 Rn. 71.
17 BGH, NJW 2003, 3058, 3059; Gottwald, in: MüKoZPO (Fn. 11), § 322 Rn. 97, 100; Peiffer (Fn. 8), Rn. 176.
18 Gottwald, in: MüKoZPO (Fn. 11), § 322 Rn. 103; Rosenberg/Schwab, (Fn. 9), § 154 Rn. 15; Althammer, in: Stein/Jonas (Fn. 3), § 322 Rn. 82.
19 BGH, NJW 2003, 3058, 3059; Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 230 Gottwald, in: MüKoZPO (Fn. 11), § 322 Rn. 58.
2. England
Die englische res judicata Doktrin ist deutlich weitergehend und findet ihre Ausprägungen vor allem im cause of action estoppel und issue estoppel.20
Der cause of action estoppel bewirkt, dass die Mindesttatsachen, die der Kläger geltend machen und beweisen muss, um den begehrten Rechtsschutz zu erlangen,21 nicht erneut geltend gemacht werden können.22 Eine cause of action setzt sich aus mehreren issues zusammen, die wiederum für mehrere causes of action Voraussetzung sein können.23 Der issue estoppel verhindert, dass issues, die für das Urteil im Erstprozess von tragender Bedeutung (essential and necessary) waren, in Folgeprozessen abweichend beurteilt werden,24 es sei denn dies erweist sich als unbillig.25 Neben präjudiziellen Rechtsverhältnissen und Vorfragen26 können so auch Tatsachenfeststellungen27 der res judicata unterfallen.28 Nach der Regel aus Henderson v. Henderson29 werden zudem solche Aspekte erfasst, die im Erstprozess lediglich aufgrund von Nachlässigkeit der Parteien nicht abgeurteilt wurden.30
3. Frankreich
Die Reichweite der materiellen Rechtskraft im französischen Recht ist zwischen dem deutschen und dem englischen Recht einzuordnen. Nach dem Wortlaut des Art. 480 Nouveau Code de Procédure Civile (CPC) erwächst nur der Subsumtionsschluss (dispositif) in Rechtskraft (autorité de la chose jugée).31 Praktisch vertritt die französische Rechtsprechung jedoch ein deutlich weitergehendes Verständnis, nachdem auch die in den Urteilsgründen enthaltenen motifs décisoires, motifs décisifs und décisions implicites rechtskräftig werden können.32 Das Fehlen der motifs décisoires im dispositif stellt einen formellen Fehler dar, der sich nicht auf den Umfang der Rechtskraft auswirken soll.33 Über die motifs décisifs als notwendige Stütze des Urteils34 sowie die décisions implicites – stillschweigende Festlegungen, die das logische Fundament des Rechtsfolgenausspruchs bilden –35 nehmen derweil auch Vorfragen an der Rechtskraft teil.36 Tatsachen werden nie rechtskräftig.37
4. Zwischenergebnis
Das deutsche Verständnis der materiellen Rechtskraft ist durch die grundsätzliche Begrenzung auf den Urteilstenor und den Parteivortrag am engsten. Tatbestand und Urteilsgründe können zwar zur Auslegung des Tenors herangezogen werden,38 doch Vorfragen können lediglich mittels Zwischenfeststellungsklage rechtskräftig werden. Sowohl im englischen als auch im französischen Recht werden diese hingegen häufig von der res judicata erfasst; das englische Recht dehnt sie zudem auf Tatsachen aus.
II. Materielle Rechtskraft im Rahmen der Anerkennung mitgliedstaatlicher Urteile nach der EuGVVO
Innerhalb der EU erfolgt die Anerkennung mitgliedstaatlicher Urteile regelmäßig ipso iure nach den Art. 36 ff. EuGVVO, welche bilaterale Verträge (Art. 69 EuGVVO) sowie nationale Regelungen verdrängen.39 Jedoch definiert die EuGVVO den Begriff der Anerkennung nicht.40 Selbst Art. 36 EuGVVO als zentraler Norm lässt sich nicht entnehmen, in welchem Umfang der Anerkennungsstaat die materielle Rechtskraft des ausländischen Urteils anzuerkennen hat und wie Konflikte zwischen den objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft im nationalen Recht des Urteils- und des Anerkennungsstaat zu lösen sind. Traditionell werden drei kollisionsrechtliche Ansätze vertreten: die Wirkungserstreckungs-, die Gleichstellungs- und die Kumulationstheorie (2). Seit dem Urteil des EuGH (3) in der Rechtssache Gothaer Allgemeine Versicherung41 (1) wird zudem eine autonome Auslegung der materiellen Rechtskraft diskutiert (4).
1. Sachverhalt: Gothaer Allgemeine Versicherung u.a./Samskip GmbH42
Die Kläger hatten ursprünglich in Belgien Klage auf Schadensersatz gegen die Samskip GmbH erhoben. Die belgischen Gerichte erklärten sich für unzuständig und beriefen sich in den Urteilsgründen auf eine wirksame Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten isländischer Gerichte. Im Anschluss versuchten die Kläger vor dem Landgericht Bremen erneut auf Schadensersatz zu klagen. Das Bremer Landgericht legte dem EuGH im Wege der Vorabentscheidung (Art. 267 AEUV) u.a. als Frage vor, in welchem Umfang das belgische Urteil die deutschen Gerichte im Rahmen der Anerkennung nach Art. 36 EuGVVO bindet, insbesondere, ob die Feststellung der Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung in den Urteilsgründen als rechtskräftig anzuerkennen sei.
20 Vgl. Thoday v Thoday, [1964] P. 181, 197; Andrews (Fn. 3), Rn. 17-002.
21 Letang v Cooper [1965] 1 Q.B. 232, 243; Republic of India v. India Steamship Co. Ltd. [1993] A.C. 410, 419.
22 Republic of India v. India Steamship Co. Ltd. [1993] A.C. 410, 417; Thoday v. Thoday [1964] P. 181, 197; R. Stürner, in: FS Schütze, 1999, S. 913, 921.
23 Thoday v. Thoday [1964] P. 181, 198.
24 Arnold v. National Westminster Bank Plc. (No. 1) [1991] 2 A.C. 93, 97; Peiffer (Fn. 8), Rn. 194.
25 Andrews (Fn. 3), Rn. 17-003, 17-005 m.w.N.; R. Stürner (Fn. 21), S. 913, 922.
26 2 A.C. 93: bindende Feststellung der Auslegung einer Vertragsklausel.
27 Z.B. Ord v. Ord [1923] 2 K.B. 432: Rechtskräftige Feststellung der Tatsache eines Ehebruchs in einem bestimmten Fall.
28 Vgl. Peiffer (Fn. 8), Rn. 194, dortige Fn. 92, 93 m.w.N.
29 [1843] 3 Hare 100; 67. E.R.
30 Kessedjian, ERA Forum 2010, 263, 264.
31 Art. 455 CPC: Il énonce la decision sous forme de dispositif.
32 Peiffer (Fn. 8), Rn. 208; R. Stürner (Fn. 21), S. 913, 926 ff.
33 Peiffer (Fn. 9), Rn. 212 m.w.N in dortiger Fn. 147, 148.
34 Peiffer (Fn. 8), Rn. 211 m.w.N. in dortiger Fn. 140.
35 Peiffer (Fn. 8), Rn. 210 f., 214; R. Stürner (Fn. 21), S. 913, 927.
36 Peiffer (Fn. 8), Rn. 214 m.w.N. in dortiger Fn. 151.
37 Spellenberg, in: FS Henckel, 1995, S. 841, 861.
38 BGH, NJW 1961, 917; NJW-RR 1999, 1006; Gruber, in: Beck’scher Online Kommentar ZPO37, § 322 Rn. 22.1; Gottwald, in: MüKoZPO (Fn. 11), § 322 Rn. 87; Althammer, in: Stein/Jonas (Fn. 3), § 322 Rn. 171, 174 ff.
39 Dörner, in: Saenger (Fn. 6), § 328 Rn. 2; Geimer, in: Zöller (Begr.), ZPO, Kommentar33, 2020, § 328 Rn. 11; Roth, in: Stein/Jonas (Begr.), Kommentar zur ZPO, Band 523, 2015, § 328 Rn. 5.
40 Kropholler/vHein (Fn. 7), vor Art. 33 EuGVO Rn. 1, 9; Leible, in: Rauscher (Fn. 7), Art. 36 Rn. 3.
41 EuGH, Rs. C-456/11 – Gothaer Allgemeine Versicherung AG u.a./Samskip GmbH, ECLI:EU:C:2012:719.
42 EuGH, Gothaer Allgemeine Versicherung (Fn. 39), Rn. 15-17.
2. Lösung über die kollisionsrechtlichen Theorien
a) Wirkungserstreckungstheorie
Nach der Wirkungserstreckungstheorie kommen dem Urteil im Anerkennungsstaat die gleichen Wirkungen zu wie im Urteilsstaat,43 selbst wenn sie weiter reichen als die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft im Recht des Anerkennungsstaats.44
Nach belgischem Recht erfasst die materielle Rechtskraft die Vorfrage der Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung.45 Würde das Urteil nach der Wirkungserstreckungstheorie anerkannt, so müsste folglich selbst ein deutsches Gericht die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten isländischer Gericht berücksichtigen, trotz des gegenüber § 322 ZPO weiterreichenden Umfangs.
b) Wirkungsgleichstellungstheorie
Bei der Anerkennung nach der Wirkungsgleichstellungstheorie entfaltet das ausländische Urteil die gleichen Wirkungen, wie eine Entscheidung im Anerkennungsstaat.46 Würde das belgische Urteil in Deutschland anerkannt, nähme die in den Gründen beurteilte Vorfrage nach der Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung nicht an der materiellen Rechtskraft teil und könnte vom deutschen Gericht neu beurteilt werden. Englische und französische Gerichte kämen derweil auch bei einer Gleichstellung zu dem Ergebnis, dass die Gerichtsstandsvereinbarung der res judicata als issue bzw. der autorité de chose jugée als motif décisif unterfällt.
c) Kumulationstheorie
Für die Kumulationstheorie ist zunächst nach der Wirkungserstreckungstheorie das Recht des Urteilsstaats entscheidend. Die Urteilswirkungen können jedoch nicht weiter gehen als nach Recht des Anerkennungsstaats möglich.47 Die Gleichstellungstheorie stellt quasi eine „Obergrenze“ für die anzuerkennende Reichweite der materiellen Rechtskraft dar. Deutsche Gerichte würden erneut zu dem Ergebnis kommen, dass nicht rechtskräftig über die Gerichtsstandsvereinbarung entschieden wurde, während im englischen und französischen Recht jene Entscheidung als materiell rechtskräftig anerkannt würde.
3. Lösung des EuGH: Ein autonomer Rechtskraftbegriff
Der EuGH wandte in seiner Entscheidung keine der traditionellen kollisionsrechtlichen Theorien an. Stattdessen sei Art. 36 EuGVVO so auszulegen, dass das anerkennende Gericht, unabhängig vom Recht des Urteils- und des Anerkennungsstaats, nicht nur hinsichtlich der im Tenor enthaltenen Unzuständigkeit des Urteilsgerichts gebunden ist, sondern auch hinsichtlich der Feststellung in Bezug auf die Wirksamkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung, die in den tragenden Gründen der Entscheidung enthalten ist.48
4. Bewertung des autonomen Ansatzes in Gothaer Allgemeine Versicherung
Lediglich die Wirkungserstreckungstheorie führte in allen Rechtsordnungen zu dem Ergebnis des EuGH.49 Tatsächlich hat sich der EuGH in der Sache Hoffmann/Krieg50 selbst für jene Theorie ausgesprochen, da Ziel der Verordnung eine möglichst weitgehende Urteilsfreizügigkeit sei.51 Wieso der EuGH nun von der Wirkungserstreckungslehre zugunsten einer autonomen Bestimmung der Rechtskraft abgewichen ist, erläutert er nicht näher.52 Man könnte das Urteil als eine Fortsetzung der Rechtsprechung des EuGH zur Rechtshängigkeit und der Gefahr unvereinbarer Urteile begreifen, in der er bereits zuvor einen autonomen, Vorfragen umfassenden Rechtskraftbegriff vertrat.53 Mithin ist unklar, ob der EuGH in Gothaer Allgemeine Versicherung ein Rechtskraftkonzept entwickeln wollte, das nicht nur Zuständigkeitsfragen wie in dem konkreten Fall erfasst, sondern auch auf Sachentscheidungen Anwendung findet.54 Losgelöst von der tatsächlichen Reichweite des Urteils stellt sich aber die Frage, ob ein autonomer Rechtskraftbegriff, nach dem die materielle Rechtskraft „nicht nur den Tenor der fraglichen gerichtlichen Entscheidung, sondern auch deren Gründe, die den Tenor tragen und von ihm daher nicht zu trennen sind“55 umfasst, gegenüber einem kollisionsrechtlichen Ansatz vorzugswürdig ist.
Ein autonomer Ansatz scheint prima facie viele Probleme zu lösen: der Theorienstreit würde obsolet, es müssten, anders als bei der Wirkungserstreckungstheorie, nicht mehr die objektiven Rechtskraftgrenzen des Urteilsstaats ermittelt werden56 und die Anwendung der Verordnung würde erleichtert.57 Zudem kann eine Bindung an Vorfragen wie in Gothaer Allgemeine Versicherung helfen zu vermeiden, dass sich kein Gericht für zuständig erklärt (negativer Kompetenzkonflikt).58 Allerdings würde der EuGH dann über einen Vorfragen umfassenden autonomen Rechtskraftbegriff eine bindende, grenzüberschreitende Verweisung einführen, die die EuGVVO gerade nicht kennt.59
Dennoch erfordert nach der Begründung des EuGH der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens eine autonome
43 Kropholler/vHein (Fn. 7), vor Art. 33 EuGVO Rn. 9; Leible, in: Rauscher (Fn. 7), Art. 36 Rn. 3; Stadler, in:Musielak/Voit (Fn. 5), EuGVVO nF Art. 36 Rn. 2.
44 Leible, in: Rauscher (Fn. 7), Art. 36 Rn. 5.
45 Roth, IPRax 2014, 136, 137.
46 Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht7, 2017, § 17 Rn. 883; Leible, in: Rauscher (Fn. 7), Art. 36 Rn. 3.
47 Leible, in: Rauscher (Fn. 7), Art. 36 Rn. 3; Schack (Fn. 44), § 17 Rn. 886; Roth, IPRax 2014, 136, 138.
48 EuGH, Gothaer Allgemeine Versicherung (Fn. 39), Rn. 41 f., 2. Leitsatz.
49 Roth, IPRax 2014, 136, 137 f.
50 EuGH, Rs. 145/86, Hoffmann/Krieg, Slg. 1988, 645.
51 EuGH, Hoffmann/Krieg (Fn. 48); EG 6 EuGVVO; Jenard, Bericht zu dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssache, 1968, S. 42.
52 „Rechtskraftbegriff des Unionsrechts“, EuGH, Gothaer Allgemeine Versicherung (Fn. 39), Rn. 40; Schack, in: FS Geimer, 2017, S. 611, 614.
53 Koops, IPRax 2018, 11, 13-15, m.w.N.
54 Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 245.
55 EuGH, Gothaer Allgemeine Versicherung (Fn. 39), Rn. 40.
56 Bach, EuZW 2013, 56.
57 Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2013, 1, 19.
58 Hau, LMK 2013, 341512; Koops, IPRax 2018, 11, 16 f.
59 Althammer/Tolani, ZZP Int 19 (2014), 227, 245; Roth, IPRax 2014, 136, 139; Schack (Fn. 44), Rn. 455; ders. (Fn. 50), S. 611, 613. Anders zB Art. 15 EuEheVO.
Bestimmung der Reichweite der materiellen Rechtskraft.60 Ohne eine Bindung an die den Tenor tragenden Vorfragen könnte das anerkennende Gericht diese neu beurteilen, was im Ergebnis einer Nachprüfung der Entscheidung über die Zuständigkeit oder in der Sache entspräche. Dies liefe dem zuständigkeitsrechtlichen Nachprüfungsverbot des Art. 45 III EuGVVO bzw. dem Verbot der révision au fond aus Art. 52 EuGVVO zuwider.61 Dieser Rückschluss des EuGH ist jedoch zirkulär, denn widersprüchlich kann nur sein, was rechtskräftig ist.62 Wenn die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft aber bestimmen, ob es zu einer Widersprüchlichkeit kommt, kann aus dem Verbot der Widersprüchlichkeit kein Rückschluss auf diese Grenzen gezogen werden.
Ein zentrales Problem, das sich durch einen autonomen und somit von der Rechtsordnung des Urteilsstaats losgelösten Rechtskraftbegriff stellt, betrifft derweil den Rechtsschutz der Parteien.63 Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn das Rechtskraftverständnis des Urteilsstaats eng ist und keine Vorfragen umfasst. Hätte ein deutsches Gericht das erste Urteil in Gothaer Allgemeine Versicherung erlassen, im Entscheidungstenor die eigene Zuständigkeit verneint, und in den Gründen die Gerichtsstandsvereinbarung für wirksam erklärt, so würde nach § 322 I ZPO nur die Unzuständigkeit deutscher Gerichte rechtskräftig. Die Gründe, und somit auch die Beurteilung der Vorfrage, ob die Gerichtsstandsvereinbarung wirksam ist, wären nicht umfasst.64
Ein autonomer Rechtskraftbegriff im Anwendungsbereich der EuGVVO würde die Grenzen der materiellen Rechtskraft in der grenzüberschreitenden Anerkennung ausdehnen. Dies führte zu dem paradoxen Ergebnis, dass dem deutschen Urteil bei der Anerkennung im Ausland weitergehende Wirkungen zukämen als im Inland: Nur bei der Anerkennung würde die materielle Rechtskraft neben dem Tenor auch die tragenden Urteilsgründe, einschließlich Vorfragen, erfassen. Die Rechtskraftwirkungen würden davon abhängen, ob das Urteil innerhalb oder außerhalb des Urteilsstaats geltend gemacht wird.65 Wie die Art. 38 lit. a, 45 III und Art 52 EuGVVO zeigen, können die Parteien derweil nur im Urteilsstaat Rechtsschutz erlangen. Werden die Grenzen der Rechtskraft im Rahmen der Anerkennung über einen autonomen Rechtskraftbegriff verändert, fallen folglich Rechtskraft und Rechtsschutz auseinander.
Das Verfahren im Urteilsstaat sowie die Rechtsschutzmöglichkeiten sind auf die Reichweite der materiellen Rechtskraft abgestimmt.66 In Deutschland erfordert die Berufung (§ 511 ZPO) und die Revision (§ 542 ZPO), dass die ein Urteil anfechtende Partei beschwert ist.67 Eine Beschwer kann nur eintreten, soweit die materielle Rechtskraft reicht: Eine nicht mittels Feststellungsklage (§ 256 II ZPO) rechtskräftig gewordene Vorfrage beschwert keine der Parteien, denn sie kann in einem Folgeprozess in Deutschland neu behandelt werden. Auch im englischen Recht wirkt der issue estoppel nur, wenn die betroffen Partei die Möglichkeit hatte, gegen die Beurteilung des issues im Wege des appeals vorzugehen.68 Bestand diese Möglichkeit nicht, etwa weil die später durch die Vorfrage belastete Partei den Erstprozess im Ergebnis gewonnen hat und somit kein Rechtsmittel einlegen konnte, die issues also nicht essential and necessary waren, können sie in einem Folgeprozess in England neu verhandelt werden.69
Kommt es jedoch zu einem Folgeprozess in einem anderen Mitgliedstaat, führte der autonome Rechtskraftbegriff dazu, dass das anerkennende Gericht des Zweitprozesses die Vorfrage, die im Urteilsstaat neu beurteilt werden dürfte, nicht neu entscheiden darf. Die Parteien sind plötzlich an Beurteilungen aus dem Erstprozess gebunden, ohne die Möglichkeit, gegen diese Rechtsschutz zu erlangen.70
Eine solche Spaltung von Rechtskraft und Rechtsschutz widerspricht der EuGVVO. Art. 45 I lit. b EuGVVO statuiert als Anerkennungsversagungsgrund die Verletzung rechtlichen Gehörs durch die Gerichte des Urteilsstaats, es sei denn, gegen diese Verletzung hätte im Urteilsstaat durch Einlegung eines Rechtsmittels Rechtsschutz erlangt werden können (2. Hs.).71 Art. 54 I EuGVVO sieht für die Vollstreckung72 die Möglichkeit der Anpassung von Maßnahmen vor, die dem Vollstreckungsstaat unbekannt sind; eine Grenze stellen auch hier ausweislich UAbs. 2 die Wirkungen im Urteilsstaats dar – also solche, gegen die die Parteien Rechtsschutz erlangen konnten.73 Abs. 2 garantiert den betroffenen Parteien gerichtlichen Rechtsschutz gegen jene Anpassung.74 Die EuGVVO soll nicht dazu führen, dass von der Anerkennung und Vollstreckung betroffene Parteien Wirkungen ausgesetzt werden, gegen die sie sich nicht verteidigen konnten.
Zwingende Voraussetzung für einen autonomen Rechtskraftbegriff, der nicht den Rechtsschutz der Parteien torpediert und der EuGVVO widerspricht, wäre de lege ferenda ein vollumfängliches europäisches Zivilprozessrecht, das neben den objektiven Grenzen der Rechtskraft auch entsprechende Rechtsschutzmöglichkeiten festlegt.75 Traditionell ist das Prozessrecht aber ein Bereich, in dem die EU die Souveränität der Mitgliedstaaten nicht einschränken wollte76 und möglicherweise mangels entsprechender Kompetenz auch
60 EuGH, Gothaer Allgemeine Versicherung (Fn. 39), Rn. 35, 38 f.
61 EuGH, Gothaer Allgemeine Versicherung (Fn. 39), Rn. 38.
62 Koops, IPRax 2018, 11, 17.
63 Koops, IPRax 2018, 11, 19 f.
64 Vgl. Roth, IPRax 2014, 136, 138, der zur Veranschaulichung unterstellt, im belgischen Recht findet sich eine Regelung wie § 322 ZPO.
65 Schack (Fn. 50), S. 611, 615; Althammer/Tolani ZZP Int. 2014, 227, 243; Roth, IPRax 2014, 136, 138.
66 Müller, ZZP 1966, 199, 204.
67 Kessal-Wulf, in: BeckOK-ZPO (Fn. 36), § 511 Rn, 12, § 542 Rn. 9.
68 McIlkenny v Chief Constable of West Midlands Police Force and another [1980] 2 All ER 227; Tebutt v. Haynes and another [1981] 2 All ER 238, 242; Peiffer (Fn. 8), Rn. 204.
69 Penn-Texas Corporation v. Murat Anstalt and others (No. 2) [1964] 2 Q.B. 647, 660, per Lord Denning, M.R.: “One of the tests in seeing whether a matter was necessary to the decision or only incidental to it, is to ask: Could the party have appealed from it?”; Handley, Spencer, Bower and Handley: Res Judicata5, 2019, Rn. 8.25; Spellenberg (Fn. 35), S. 841, 848.
70 Koops, IPRax 2018, 11, 20.
71 Leible, in: Rauscher (Fn. 7), Art. 45 Rn. 33, 57.
72 Leible, in: Rauscher (Fn. 7), Art. 54 Rn. 3.
73 Koops, IPRax 2018, 11, 20.
74 Leible, in: Rauscher (Fn. 7), Art. 54, Rn. 10.
75 Koops, IPRax 2018, 11, 21.
76 EuGH, Rs. C-126/97 – Eco Swiss, Slg. 1999, I-03055, Rn. 46 f.; Rs. C-234/04 – Kapferer, Slg. 2006, I-02585, Rn. 21; Koops, IPRax 2018, 11, 17.
gar nicht könnte.77 Ein autonomer Rechtskraftbegriff würde den Rechtsschutz der Parteien mithin in unangemessener Weise einschränken78 und ist somit abzulehnen.
5. Bewertung der kollisionsrechtlichen Ansätze
Eine kollisionsrechtliche Lösung muss folglich einen Gleichlauf von Rechtskraft und Rechtsschutz gewährleisten. Die Gleichstellungstheorie scheidet von vornherein aus, da sie das Recht des Urteilsstaats und die dort gegebenen Rechtsschutzmöglichkeiten vollständig ignoriert. Auch die Kumulationstheorie kann zu einer Spaltung von Rechtskraft und Rechtsschutz führen. Würde nach ihr ein englisches Urteil in Deutschland anerkannt, so entfiele der issue estoppel – die eigentlich gebundene, unterlegene Partei könnte die im Erstprozess siegreiche Partei in Deutschland zu denselben issues verklagen. Der siegreichen Partei würde dadurch mehr genommen als zum Rechtsschutz der unterlegenen Partei erforderlich.79
Lediglich die Wirkungserstreckungstheorie berücksichtigt das Recht des Urteilsstaats vollumfänglich. Zwar wird gegen sie angeführt, sie verlange durch die Anerkennung unbekannter Rechtskraftwirkungen mehr, als dem Anerkennungsstaat zumutbar;80 ferner muss das Anerkennungsgericht aufwändig ermitteln, wie weit die Rechtskraft im Erlassstaat reicht.81 Allerdings ermöglicht nur die Wirkungserstreckungstheorie einen Gleichlauf zwischen Rechtskraft und Rechtsschutz und schützt die Parteien somit vor überraschenden82 und nicht durch Rechtsmittel abwendbaren Urteilswirkungen.
III. Lösungsvorschlag und Ergebnis
Je weiter eine Rechtsordnung die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft zieht, desto größer sind auch die gegebenen Rechtsschutzmöglichkeiten. Ein autonomer und von der Rechtsordnung des Urteilsstaats losgelöster Rechtskraftbegriff würde mangels einheitlichen europäischen Prozessrechts zu einer unbilligen Spaltung von Rechtskraft und Rechtsschutz führen. Um dies zu vermeiden, ist im Rahmen der Anerkennung von Urteilen nach Art. 36 EuGVVO der Wirkungserstreckungstheorie zu folgen,83 die eine Grenze in dem eng auszulegenden ordre public-Einwand der lex fori findet.84 Für Vorfragen dürfte dieser in der Regel jedoch nicht eingreifen: Selbst das deutsche Recht kennt deren Rechtskraft, wie es die Möglichkeit der Zwischenfeststellungsklage zeigt.
C. Materielle Rechtskraft als Anerkennungsgegenstand von Schiedssprüchen
Ein Schiedsspruch ist kein Hoheitsakt,85 sondern eine Entscheidung, die aufgrund einer Parteivereinbarung zustande gekommen und als solche prima facie für keinen Staat verbindlich ist.86 Dennoch ist mittlerweile anerkannt, dass einem Schiedsspruch sowohl im nationalen als auch im internationalen87 Kontext res judicata-Wirkung zukommen kann.88 Voraussetzung ist stets, dass der Schiedsspruch final ist.89 Bei der Anerkennung ausländischer Schiedssprüche ist die res judicata-Wirkung von überragender Bedeutung, denn nur so kann abgesichert werden, dass die internationale Schiedsgerichtsbarkeit nicht bedeutungslos wird.90 Doch es stellen sich ähnliche Fragen wie bei Urteilen, denn die Ausgestaltung der objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft von Schiedssprüchen im nationalen Recht ist erneut unterschiedlich (I.). Im Gegensatz zur EuGVVO könnte aber im Anwendungsbereich des UNÜ statt eines kollisionsrechtlichen (II.1.) ein autonomer (II.2.) Rechtskraftbegriff sinnvoll sein.
I. Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft von Schiedssprüchen im nationalen Recht
1. Deutschland
Ein Schiedsspruch mit Schiedsort Deutschland wird ipso iure über § 1055 ZPO anerkannt,91 welcher ihm zum Zweck der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit partiell urteilsgleiche Wirkungen zuschreibt.92 Insbesondere findet § 322 ZPO Anwendung. Die objektiven Grenzen der Rechtskraft von Schiedssprüchen werden parallel zu denen von Urteilen gezogen, sodass der zweigliedrige Streitgegenstandsbegriff gilt93 und die Rechtskraft grundsätzlich nur den Tenor des Schiedsspruchs, nicht aber in den Gründen behandelte Vorfragen umfasst.94 Doch ein Schiedsspruch muss nicht zwingend einen Tenor enthalten, sodass die Reichweite der materiellen Rechtskraft von Schiedssprüchen zum Teil nur mittels Auslegung bestimmt werden kann.95
Unterschiede zur materiellen Rechtskraft von Urteilen ergeben sich insbesondere aus der Natur des Schiedsspruchs
77 Schack (Fn. 50), S. 611, 617.
78 Müller, ZZP 1966, 199, 204.
79 Peiffer (Fn. 8), Rn. 148.
80 Spiecker gen. Döhmann, Die Anerkennung von Rechtskraftwirkungen ausländischer Urteile, 2002, S. 74; Darstellung bei Peiffer (Fn. 8), Rn. 92.
81 Althammer/Tolani, ZZP Int. 2014, 227, 246; Bach, EuZW 2013, 56, 58; Peiffer (Fn. 8), Rn. 91.
82 Peiffer (Fn. 8), Rn. 79.
83 Koops, IPRax 2018, 11, 21.
84 M. Stürner, in: FS Schütze, 2014, S. 579, 582. Vgl. auch Art. 45 I lit. a EuGVVO, welcher einen Verstoß gegen den ordre public des Anerkennungsstaats als Anerkennungsversagungsgrund einordnet.
85 Prütting, in: Prütting/Gehrlein (Fn. 1), § 1055 Rn. 1.
86 Solomon, Die Verbindlichkeit von Schiedssprüchen in der internationalen privaten Schiedsgerichtsbarkeit, 2007, S. 326.
87 De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 35, 37.
88 Prütting, in: Prütting/Gehrlein (Fn. 1), § 1055 Rn. 4; Münch, in: MüKoZPO (Fn. 1), § 1055 Rn. 1.
89 De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 67, 71; Börner, in:Kronke et al (Hrsg.), Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards, 2010, Art. III S. 116. Vgl. auch Münch, in: MüKoZPO (Fn. 1), § 1055 Rn. 5.
90 Scherer, in: Wolff (Hrsg.), New York Convention, Commentary2, 2019, Art. III Rn. 9.
91 Kröll, in: Böckstiegel et al (Hrsg.) Arbitration in Germany2, 2015, § 1060 Rn. 5.
92 Münch, in: MüKoZPO (Fn. 1), § 1055 Rn. 1; Prütting, in: Prütting/Gehrlein (Fn. 1), § 1055 Rn. 1.
93 BGH, NJW-RR 2019, 762 Rn. 18; NJW-RR 2009, 790 Rn. 17; Münch, in: MüKoZPO (Fn. 1), § 1055 Rn. 20.
94 Buchwitz, Schiedsverfahrensrecht, 2019, S. 212 f.; Prütting, in: Prütting/Gehrlein (Fn. 1), § 1055 Rn. 6; in diesem Sinne wohl auch Schlosser, in: Stein/Jonas (Begr.), Kommentar zur ZPO, Band 1023, 2014, § 1055 Rn. 16.
95 Von Schlabrendorff/Sessler, in: Böckstiegel (Fn. 89), § 1055 Rn. 17.
als auf einer Parteivereinbarung beruhend. Die materielle Rechtskraft eines Urteils liegt neben dem Parteiinteresse auch im öffentlichen Interesse an der Vermeidung widersprüchlicher Hoheitsakte und übermäßiger Inanspruchnahme der Gerichte. Dieses wird bei einem Schiedsspruch gerade nicht tangiert.96 Somit kann die materielle Rechtskraft nachträglich durch Parteivereinbarung modifiziert oder aufgehoben werden, mit der Folge, dass ein Schiedsgericht oder staatliches Gericht erneut mit demselben Streitgegenstand befasst werden kann.97
2. England
Im englischen Recht kann ein finaler Schiedsspruch wie ein Gerichtsurteil zu einem cause of action oder issue estoppel führen.98 Die obigen Ausführungen99 gelten entsprechend.100 Umstritten ist jedoch, ob auch die Regel aus Henderson v. Henderson Anwendung findet.101
3. Frankreich
Im französischen Recht ordnet Art. 1484 CPC an, dass finalen Schiedssprüchen mit Schiedsort Frankreich ab Erlass autorité de la chose jugée zukommen soll. Erneut kann auf die obigen Ausführungen102 verwiesen werden.103
4. Zwischenergebnis
Die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft von Schiedssprüchen in den betrachteten Rechtsordnungen entsprechen denen von Urteilen. Die Abweichungen, die sich aus der unterschiedlichen Natur von Schiedsspruch und Urteil ergeben, sind eher gering und betreffen insbesondere die Möglichkeit, die materielle Rechtskraft des Schiedsspruchs zu modifizieren oder aufzuheben.
II. Materielle Rechtskraft im Rahmen der Anerkennung ausländischer Schiedssprüche nach dem UNÜ
Mit 164 Vertragsstaaten104 richtet sich die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche regelmäßig nach dem UNÜ, dessen Art. III eine umfassende Anerkennungspflicht für ausländische Schiedssprüche statuiert.105 Bei Vorliegen der Voraussetzungen erfolgt die Anerkennung inzident106 im Rahmen der Vollstreckbarerklärung107 oder in nachfolgenden (schieds-)gerichtlichen Verfahren.108 Ähnlich wie die EuGVVO schweigt das Abkommen jedoch über die Reichweite der Anerkennung.109 Zwar verweist Art. III UNÜ auf die lex fori110 des Anerkennungsstaats. Hieraus lassen sich aber keine zwingenden Rückschlüsse zu der Frage ziehen, nach welchem Recht sich der Umfang der nach ghM anzuerkennenden111 res judicata-Wirkung richten soll.
1. Kollisionsrechtliche Bestimmung nach nationalem Recht
Auch für die Anerkennung ausländischer Schiedssprüche werden die Wirkungserstreckungs-, Wirkungsgleichstellungs- und Kumulationstheorie vertreten.112 Aus der Natur von Schiedssprüchen als privatautonome Gestaltungen113 wird teilweise geschlussfolgert, dass eine Anerkennung nur im Wege der Gleichstellung erfolgen kann: Mangels staatlichen Hoheitsakt kommen dem Schiedsspruch initial keine anerkennungsfähigen Wirkungen wie res judicata zu.114 Diese treten erst durch die Anerkennung ein, welche den Schiedsspruch in einen Hoheitsakt überführt und somit eine „Wirkungsverschaffung sei.115 Folglich bestimmen sich die Grenzen der materiellen Rechtskraft nach der lex fori des Anerkennungsstaats.
Überwiegend wird dennoch die Wirkungserstreckungstheorie vertreten, begrenzt nur durch eine ordre public Kontrolle116 der lex fori des Anerkennungsstaats. Maßgeblich ist danach das Recht des Schiedsorts, was zu einem größeren internationaler Entscheidungseinklang beitragen117 und die Anerkennungsfreundlichkeit des UNÜ unterstützen soll.118 Diesen Zielen würde neben der Gleichstellungs- auch die Kumulationstheorie zuwiderlaufen.
2. Autonome Bestimmung im Anwendungsbereich des UNÜ
Doch auch gegen die Wirkungserstreckungstheorie spricht der internationale Charakter des UNÜ und das Ziel der Vereinheitlichung von Schiedsverfahren.119 Die Bindung zwischen Schiedsort und Recht des Schiedsorts ist nicht so eng wie die zwischen Urteilsstaat und Recht des Urteilsstaats;120 stattdessen finden Schiedsverfahren im internationalen Rechtsverkehr häufig nach institutionellen
96 BGH, NJW 1958, 950; Wilske/Markert, in: BeckOK-ZPO (Fn. 36), § 1055 Rn. 4. A.A. Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit7, 2005, Kap. 21 Rn. 7.
97 BGH, NJW-RR 2019, 762 Rn. 5; Münch, in: MüKoZPO (Fn. 1), § 1055 Rn. 28; Schlosser, in: Stein/Jonas (Fn. 92), § 1055 Rn. 8.
98 Fidelitas Shipping Co. Ltd. V. V/O Exportchleb [1966] 1 Q.B. 630, 643, per Diplock LJ: „Issue estoppel applies to arbitration as it does to litigation”; Andrews, Andrews on Civil Processes2, 2019, Chpt. 16 Overview (1).
99 B.I.2.
100 Vgl. Andrews (Fn. 96), Rn. 42.01 mit Verweis auf die Ausführungen zur res judicata von Urteilen englischer Gerichte; M. Stürner (Fn. 82), S. 579, 585 ff.
101 Dafür: Nomihold Securities Inc v Mobile Telesystems Finance S.A., [2012] Bus. L.R. 1289, 1303 f.; Andrews (Fn. 96), Rn. 42.06. A.A. De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 35, 46.
102 B.I.3.
103 Vgl. Born (Fn. 2), S. 3764 f.; Hascher, DIP 2004, 17.
104 https://uncitral.un.org/en/texts/arbitration/conventions/foreign_arbitral_awards/status2, Stand: 19.06.2020.
105 Geimer, in: Zöller (Fn. 37) Anh. § 1061 Art. III Rn. 2.
106 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht8, 2020, Rn. 3879.
107 Münch, in: MüKoZPO (Fn. 1), § 1055 Rn. 16a, § 1061 Rn. 3.
108 Für eine Auflistung verschiedener Konstellationen siehe De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 35, 37-39.
109 Born (Fn. 2), S. 3740 f.; Scherer, in: Wolff (Fn. 88), Art. III Rn. 9.
110 Vgl. Börner (Fn. 87), Art. III S. 119 f. mit Hinweis auf die Vertragsverhandlungen in dortiger Fn. 12, 13.
111 Born (Fn. 2), S. 3739; Gaillard, in: Gaillard/Berman (Hrsg.), The UNCITRAL Secretariat Guide on the New York Convention, Art. III No. 12.
112 Hovaguimian, J. Int. Arbitr., 79, 86.
113 Schack (Fn. 44), Rn. 1442; M. Stürner (Fn. 82), S. 579, 590.
114 Vgl. Solomon (Fn. 84), S. 327 f.
115 M. Stürner (Fn. 82), S. 579, 590. Vgl. auch Peiffer (Fn. 8), Rn. 74.
116 M. Stürner (Fn. 82), S. 579, 582.
117 Schlosser, in: Stein/Jonas (Fn. 92), § 1055 Rn. 35; Anh. § 1061 Rn. 123.
118 M. Stürner (Fn. 82), S. 579, 591.
119 Born (Fn. 2), S. 3770.
120 Born (Fn. 2), S. 3768 f.
Regeln und vermehrt vereinheitlichtem Recht statt.121 Basis ist stets eine Schiedsvereinbarung, regelmäßig mit dem Ziel, den Streit auf internationaler Ebene in einem einzigen Verfahren zu erledigen.122 Das UNÜ zielt mithin darauf ab, möglichst unabhängig von nationalen Regimen zu agieren.123 Ein autonomer Rechtskraftbegriff würde dieses Ziel unterstützen und zur weiteren Harmonisierung des internationalen Schiedsverfahrensrechts beitragen sowie durch die Loslösung von einer nationalen Rechtsordnung die Wirkungen des Schiedsspruchs vorhersehbarer machen.124
a) Ausgestaltung eines autonomen Rechtskraftbegriffs im UNÜ
Versteht man die res judicata-Wirkung von Schiedssprüchen als internationales Konzept,125 ist darauf aufbauend die Reichweite ihrer objektiven Grenzen zu bestimmen. Als Orientierung können die von der ILA entwickelten recommendations126 für Schiedsrichter, die in Folgeverfahren mit Fragen der Rechtskraft vorheriger Schiedssprüche konfrontiert werden,127 dienen.
Schiedsgerichte der ICC haben zum Teil bereits ein autonomes Rechtskraftkonzept übernommen, nachdem neben dem Tenor des Schiedsspruchs auch dessen notwendige Gründe (ratio decidendi) der res judicata unterfallen sollen.128 Dies sollte für einen autonomen Rechtskraftbegriff unter dem UNÜ übernommen werden.129 Aufgrund des regelmäßigen Interesses der Parteien, durch das Schiedsverfahren den Streit international einmalig und endgültig zu erledigen, ist es zudem angebracht, solche Aspekte der Rechtskraft zu unterstellen, die im Schiedsverfahren aufgrund der Nähe zum Streitgegenstand hätten behandelt werden können130 und deren Behandlung in einem weiteren Verfahren rechtsmissbräuchlich wäre.131 Als äußere Grenze sollte erneut der ordre public des Anerkennungsstaats gelten.132
b) Eine Spaltung von Rechtskraft und Rechtsschutz?
Fraglich ist derweil, ob parallel zur Anerkennung von Urteilen nach der EuGVVO eine unbillige Spaltung von Rechtskraft und Rechtsschutz auch gegen einen autonomen Rechtskraftbegriff unter dem UNÜ spricht. Dafür müsste zunächst ein unterschiedlich weitreichender und, auf Basis der Wirkungserstreckungslehre, auf die materielle Rechtskraft des Schiedsorts abgestimmter Rechtsschutz gegen Schiedssprüche bestehen.
Grundsätzlich sieht das Schiedsverfahren keinen Instanzenzug vor.133 Der englische Arbitration Act 1966 ermöglicht den Parteien eines Schiedsverfahrens mit Schiedsort England dennoch unter engen Voraussetzungen den Appeal;134 auch der französische CPC sieht Rechtsschutzmöglichkeiten vor.135 Dies legt nahe, die Argumentation gegen einen autonomen Rechtskraftbegriff im Anwendungsbereich der EuGVVO zu übertragen. Allerdings wird jener Rechtsschutz vor den staatlichen englischen und französischen Gerichten nur unter engen Voraussetzungen gewährt, die nicht annähernd einen Gleichlauf zu den weiten Rechtskraftbegriffen der jeweiligen Rechtsordnungen darstellen. Im deutschen Recht besteht die einzige staatliche Rechtsschutzmöglichkeit mithin in der Aufhebung des Schiedsspruchs (§ 1059 ZPO). Auch hier fehlt ein Gleichlauf zu der Begrenzung der materiellen Rechtskraft auf den Urteilstenor; insbesondere stellen Fehler bei der Rechts- oder Tatsachenfindung136 in der Regel keinen Aufhebungsgrund dar.
Ferner findet sich im UNÜ keine Vorschrift, die mit Art. 52 EuGVVO vergleichbar wäre. Auch Art. V Abs. 1 lit.b UNÜ, der die Verletzung rechtlichen Gehörs als Anerkennungsversagungsgrund statuiert, weicht von Art. 45 I lit. b EuGVVO ab, da er keinen Hinweis auf die Möglichkeit von Rechtsbehelfen am Schiedsort enthält. Stattdessen stellt das UNÜ in den Gründen zur Versagung der Anerkennung und Vollstreckung in Art. V I lit. a-d auf die Schiedsabrede der Parteien ab, sodass deren Ziel, den Streit international abschließend zu erledigen, auch ausschlaggebend sein sollte für die Reichweite der res judicata. Die dort aufgelisteten Gründe entsprechen fast genau den Aufhebungsgründen des § 1059 ZPO.137 Zum englischen und französischen Recht ergeben sich etwas größere Abweichungen, da der staatliche Rechtsschutz nicht auf die Aufhebung des Schiedsspruchs beschränkt und zum Teil sogar bei Verstößen gegen die res judicata-Wirkung von Schiedssprüchen vorgesehen ist.138 Mangels Gleichlauf zwischen Rechtskraft des Schiedsspruchs und Rechtsschutz im nationalen Recht des Schiedsorts, sind diese Abweichungen aber zugunsten eines autonomen Rechtskraftbegriffs hinzunehmen. Mithin führte dieser im Anwendungsbereich der UNÜ nicht zu einer unbilligen Spaltung von Rechtskraft und Rechtsschutz.
III. Ergebnis
Obgleich Schiedssprüche primär das Ergebnis einer parteiautonomen Vereinbarung sind, kommt ihnen eine anerkennungsfähige res judicata-Wirkung zu. Um den internationalen Charakter der Anerkennung von Schiedssprüchen unter dem UNÜ zu wahren, ist statt einer kollisionsrechtlichen eine autonome Bestimmung der Grenzen der materiellen Rechtskraft bei der Anerkennung nach dem UNÜ vorzugswürdig. Neben dem Urteilstenor sind dabei auch Urteilsgründe einschließlich Vorfragen sowie zur
121 De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 35, 39.
122 Vgl. Born (Fn. 2), S. 3769.
123 Brekoulakis, Third Parties in International Commercial Arbitration, 2010, Rn. 11.31.
124 Brekoulakis (Fn. 121), Rn. 11.40 f.
125 Born (Fn.2), S. 3776; Brekoulakis (Fn. 121), Rn. 11.41.
126 ILA Recommendations on Lis Pendens and Res Judicata and Arbitration.
127 De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 35, 39.
128 Final Award in ICC Case No. 3267, XII Y.B. Comm. Arb. 87, 89 (1987).
129 De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 83, 85, Rec. No. 4;
130 De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 83, 85, Rec. No. 5.
131 De Ly/Sheppard, Arb. Int. 2009, 67, 79 f.
132 Siehe auch Art. V Abs. 2 lit. b UNÜ: Verstoß gegen den ordre public als Anerkennungsversagungsgrund.
133 Zum deutschen Recht Münch, in: MüKoZPO (Fn. 1), § 1055 Rn. 3;
Schlosser, in: Stein/Jonas (Fn. 92), § 1055 Rn. 1.
134 Vgl. Section 67-69 Arbitration Act 1966.
135 Vgl. CPC, Livre IV, Titre Ier, Chapitre VI;
Hascher, DIP 2004, 17, 28 ff. m.w.N.
136 Vgl. zur Berufung und Revision § 513 ZPO und § 551 ZPO.
137 Kröll/Kraft, in: Böckstiegel (Fn. 89), § 1059 Rn. 4.
138 Hascher, DIP 2004, 17, 28 ff. m.w.N. zum französischen Recht.
Vermeidung von Rechtsmissbrauch nicht vorgetragene Aspekte zu erfassen. Eine Grenze stellt der ordre public des Anerkennungsstaats dar. Dies entspricht auch dem System des UNÜ, das großen Wert auf die Schiedsvereinbarung der Parteien legt und auf das Ziel, den Rechtsstreit international einheitlich und durch das Schiedsverfahren abschließend zu regeln.
D. Abschließender Vergleich und Ausblicke
Ein autonomer Rechtskraftbegriff bei der Anerkennung ausländischer Schiedssprüche und Urteile könnte viele Probleme, die durch die unterschiedliche Reichweite der materiellen Rechtskraft im nationalen Recht entstehen, vermeiden. Im Anwendungsbereich der EuGVVO scheitert er jedoch an einem fehlenden und auf ihn zugeschnittenen Rechtsschutz auf europäischer Ebene. Nur ein umfassendes, europäisches Zivilverfahrensrecht könnte einen entsprechenden Ausgleich erreichen. Dies würde jedoch einen erheblichen und unerwünschten Eingriff in die Souveränität der Mitgliedstaaten darstellen. Statt einen unpräzisen und rechtsschutzverkürzenden autonomen Rechtskraftbegriff voranzutreiben, wäre es deshalb wünschenswert, wenn der EuGH zu seiner vorherigen Anwendung der Wirkungserstreckungstheorie zurückkehrte und diese weiter ausbaute und präzisierte. So kann zwar keine absolute Rechtsvereinheitlichung geschaffen werden, aber immerhin eine Garantie, dass einem Urteil stets dieselben Wirkungen zukommen und die Parteien eines Rechtsstreits nicht rechtsschutzlos gestellt werden.
Im Anwendungsbereich des UNÜ ist ein autonomer Rechtskraftbegriff hingegen sinnvoll, denn es besteht de lege lata kein auf nationale Rechtskraftbegriffe abgestimmter Rechtsschutz gegen Schiedssprüche. Mangels Letztentscheidungsinstanz zu Auslegungsfragen des UNÜ ist die praktische Umsetzung eines solchen jedoch schwierig und maßgeblich abhängig von der Bereitschaft von Schiedsgerichten und Gerichten, international einheitliche Standards zu formulieren und einzuhalten.139 Förderlich wäre hierfür jedenfalls die Einarbeitung eines autonomen Rechtskraftbegriffs in Schiedsordnungen wie der ICC oder DIS, wodurch zugleich auch der grundlegenden Bedeutung der Parteiautonomie im Schiedsverfahren Rechnung getragen würde und die Möglichkeit der Parteien, Rechtskraftwirkungen auszuschließen oder zu modifizieren, unberührt bliebe.140
139 Born et al., in: Kaplan/Moser (Hrsg.), Jurisdiction, Admissibility and Choice of Law in International Arbitration, S. 1, 17.
140 Vgl. Born (Fn. 2), S. 3770.