Internationale Zuständigkeit und Anerkennung in Familiensachen nach dem Brexit

Stefanie Nitsche*

A. Scheidung in doppelter Hinsicht – von der EU und innerhalb der EU

29.03.2017: Das Vereinigte Königreich1 hat die Scheidung eingereicht. Von einer nicht einvernehmlichen Eheaufhebung und einem Rosenkrieg ist in den deutschen Medien die Rede. Parallel gilt es über eine Verpflich­tung des Vereinigten Königreichs hinsichtlich Unterhaltszahlungen für das ungewollte Kind „Europäische Union“ zu verhandeln.2 „Brexit“ ist gleichsam als Sinnbild für die Mutter aller Scheidungen deklariert.

Was sich abstrakt auf der internationalen Großlein­wand zeigt, spiegelt sich auch auf kleiner Ebene in emotionaler Ausgestaltung wider. Scheidungen, Unterhaltsverantwortlichkeiten und Kindeswohlbelange im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr sind Regelungsgegenstände, welchen die EU mit dem Erlass von entsprechenden Verordnungen zum Ziel der justiziellen Vorhersehbarkeit begegnen möchte. Die Sonderstellung des Vereinigten Königreichs besteht in der im Vertrag von Amsterdam3 statuierten Opt-in-Möglichkeit, nach welcher die auf der Kompetenzvorschrift des heutigen Art. 81 AEUV erlassenen Sekundärrechtsakte im Vereinigten Königreich nur Anwendung finden, wenn sich dieses an der Annahme beteiligt.4

Verliert das Internationale Familienverfahrensrecht somit gleichermaßen an Effektivität sowie vereinheitlichtem Charakter, sodass eine Fragmentierung eintritt, welche unter dem Satz Brexit will fuel rise in bitter custody battles like Madonna v Ritchie5 einer Londoner Tageszeitung provozierend gefasst wird? Oder kann möglicherweise auf eine aus völkerrechtlichen Vereinbarungen bestehende, subsidiär abschwächende „Hängematte“ zurückgegriffen werden?

B. Rechtliche Konsequenzen der Scheidung von der EU

Kraft Aktivierung des Art. 50 II EUV finden die Verträge EUV und AEUV spätestens mit Ablauf der zweijährigen Verhandlungsfrist nach der Absichtserklärung Mays oder dem Inkrafttreten eines gestalteten Austrittsabkommens im Vereinigten Königreich keine Anwendung mehr (Art. 50 III EUV).

Die Verordnungen werden als gemäß Art. 288 II AEUV unmittelbar geltendes Recht mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs ipso iure ihren Geltungsanspruch verlieren und diesen somit aus Sicht der verbleibenden Mitgliedstaaten in einen Drittstaat verwandeln.6 Auch von der EU abgeschlossene völkerrechtliche Verträge, welche das Vereinigte Königreich indirekt infolge der Mitgliedschaft verpflichten, teilen dasselbe Schicksal.7

Bezüglich der Überbrückungsregelungen bis zum Stichtag der Trennung von der EU wurde die Geltung unionsrechtlicher Bestimmungen fixiert,8 während sich die zukünftigen Beziehungen nach Ablauf der Übergangsphase Ende 2020 noch auf fruchtlosem Boden befinden.9

Mit dem Austrittsdurchführungsgesetz European Union (Withdrawal) Bill10 möchte die britische Regierung die Folgen abschwächen und nach Aufhebung des European Communities Act 1972 die direkt anwendbaren Instrumente des Unionsrechts in nationales britisches Recht inkorporieren (sec. 3 (1)).11 Dies würde jedoch nur dahingehend bedingt Erfolg zeigen, als in den jeweiligen Verordnungen zwischen dem Charakter eines Mitgliedstaates und Drittstaates unterschieden wird oder die im Anerkennungsrecht erforderliche Gegenseitigkeit ausbleibt, sodass britische Urteile in den Mitgliedstaaten einer Exequatur unterliegen würden, während europäische Entscheidungen im Vereinigten Königreich inzident anerkannt werden. Um dem entstehenden Vakuum zu begegnen, müsste ein gegenseitiges Anerkennungsabkommen zwischen dem Vereinigten


* Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Internationalen
Zivilverfahrensrecht an der Universität Passau. Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen des Seminars „Internationales Privatrecht und Zivilverfahrensrecht nach dem Brexit“ an der Universität Passau entstanden.

1 Die Betrachtung geht im Rahmen der gespaltenen Gesetzgebungskompetenz des Mehrrechtstaates Vereinigtes Königreich von der Rechtsordnung in England und Wales aus.

2 Kafsack, Der Brexit und der große Streit ums Geld.

3 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte vom 2. Oktober 1997 (ABl. EG 1997 Nr. C 340, S. 1; BGBl. 1998 II, S. 387).

4 Protokoll über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands vom 2.10.1997 zum Vertrag von Amsterdam (Bl. EG 1997 Nr. C 340, S. 99), bzw. in der geltenden Fassung das Protokoll (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ABl. EU 2016 Nr. C 202, S. 295).

5 Kirk, Brexit will fuel rise in bitter custody battles like Madonna v Ritchie.

6 R (Miller) v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5, Rn. 70; Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 50 EUV Rn. 41; Masters/McRae, Journal of International Arbitration 2016, 483, 485; Basedow, CELJ 2017, 101, 107; Thiele, EuR 2016, 281, 303; Mansfield, in: BREXIT, S. 1, 22; Piris, in: Britain Alone!, S. 111, 127; Paulus, in: Brexit und die juristischen Folgen, S. 101, 108.

7 z.B.: LugÜ 2007; HUntÜ 2007; EuGH, Gutachten 1/03 v. 07.02.2006, Slg. 2006, S. I-1145 (Lugano); Gordon/Pascoe, Preparing for Brexit, S. 15; Hess, IPRax 2016, 409, 410; Lieder/Bialluch, NotBZ 2017, 165, 167.

8 Europäische Kommission, position paper EU27.

9 Europäische Kommission, Draft Agreement on the withdrawal of the United Kingom of Great Britain and Northern Ireland, Art. 121, 63 Nr. 1 lit. c, d; Vorstellungen der britischen Regierung: Department for Exiting the European Union, Framework for the UK-EU partnership.

10 European Union (Withdrawal) Bill 2017-19 (HC Bill 5), Royal Assent vom 26.06.2018.

11 Department for Exiting the European Union, Legislating for the United Kingdom’s withdrawal, S. 13 ff.; House of Lords, Select Committee on the Constitution, The “Great Repeal Bill” and delegated powers, S. 9 ff.; House of Commons, Exiting the European Union Committee, The Government’s negotiating objectives: the White Paper, S. 14 ff.; Department for Exiting the European Union, The United Kingdom’s exit from and new partnership with the European Union, S. 10; Kohler/Pintens, FamRZ 2017, 1441.

Nitsche, Internationale Zuständigkeit und Anerkennung in Familiensachen nach dem Brexit, BLJ 2/2020, 80-8881

Königreich und den Mitgliedstaaten geschlossen werden.12

C. Ehesachen

I. Verfahrenszuständigkeit

Geht das Herzstück – die Brüssel-IIa-VO13 – verloren? Die Zuständigkeiten des Art. 3 Brüssel-IIa-VO, an welcher ausweislich des Erwägungsgrundes 30 das Vereinigte Königreich partizipiert, werden bei Anrufung eines deutschen Gerichts auch für Fälle der nunmehr drittstaatlichen Einordnung des Vereinigten Königreichs Anwendung finden. Ausgangsfall: Der Deutsche M ist mit der Britin14 F verheiratet, die beide ihren Lebensmittelpunkt im Vereinigten Königreich hatten. M lebt nun seit zwei Jahren in Deutschland und beantragt die Scheidung. Die frühere Rechtslage erlaubte dem Scheidungsantragenden eine Wahl der Gerichtsstände, sodass dieser eine sympathische Zuständigkeitsgestaltung in der Hand hatte, welches auch negative Stimmen nach einem forum shopping der Gerichtsstände des 2., 3. sowie 5. Spiegelstrich des Art. 3 I lit. a Brüssel-IIa-VO anzog. Die Formation ist in der Situation des Austritts nunmehr von Art. 3 I lit. a 5. Spiegelstrich Brüssel-IIa-VO erfasst. Ein Wahlrecht besteht hier nicht mehr, eine rechtsschutzlose Stellung eines Ehegatten braucht jedoch nicht befürchtet werden. Problemfall 1: Der Brite M ist mit der Deutschen F im Vereinigten Königreich verheiratet. M kommt nach Deutschland und begehrt nach zwei Monaten die Scheidung.

Wegen des zuletzt gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltes der Beteiligten in einem nunmehr Drittstaat, der sich unterscheidenden Staatsangehörigkeit und der noch nicht erfüllten Wartezeit, ergibt sich aus Art. 3 Brüssel-IIa-VO in der vorliegenden Fallkonstellation kein Gerichtsstand in einem Mitgliedstaat. F hat jedoch eine mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit, sodass sich die internationale Zuständigkeit gemäß Art. 6 lit. b Brüssel-IIa-VO nach autonomen deutschen Recht richtet. Deutsche Gerichte sind nach § 98 I Nr. 1 FamFG international zuständig. Die Folge der erheblichen Beschränkung autonomen Rechts durch die Brüssel-IIa-VO liegt darin, dass die Beklagte F hier trotz eines drittstaatlichen Berührungsfalls vor exorbitanten Gerichtsständen geschützt werden soll.15

Problemfall 2: Die Deutsche F heiratet den Briten M und beide leben im Vereinigten Königreich. F kehrt nach Deutschland zurück und begehrt nach drei Monaten die Scheidung.

Nachdem F die Wartezeiten des Art. 3 I lit. a Spiegelstrich 5 und 6 Brüssel-IIa-VO nicht erfüllt, scheidet eine Zuständigkeit nach Art. 3 Brüssel-IIa-VO aus. In dieser Konstellation besteht aufgrund der Nichterfüllung des Art. 6 Brüssel-IIa-VO keine Sperrwirkung zugunsten eines Drittstaatsangehörigen mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem Drittstaat. Das umstrittene Verhältnis der Vorschriften des Art. 6 und 7 Brüssel-IIa-VO ist im Lichte der Rechtsprechung des EuGH zu betrachten.16 Einige sehen Art. 7 I Brüssel-IIa-VO nämlich als Regelung zu den komplementären Fällen des Art. 6 Brüssel-IIa-VO.17 Andere betrachten Art. 7 I Brüssel-IIa-VO als Ausnahme, in denen Art. 6 Brüssel-IIa-VO zwar nach dem Wortlaut eingreift, aber keine Zuständigkeit in einem Mitgliedstaat besteht.18 Art. 7 I Brüssel-IIa-VO ist nicht als Komplementär-, sondern Ergänzungsvorschrift zu Art. 6 Brüssel-IIa-VO einzuordnen. Ein Rückfall auf die autonomen Zuständigkeitsregelungen des Gerichtsstaates ergibt sich durch Art. 7 I Brüssel-IIa-VO folglich, wenn der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich hat bzw. im Fall der gemeinsamen Antragstellung beide Ehegatten im Vereinigten Königreich ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, die Ehegatten nicht die mitgliedstaatliche deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und der Kläger (Antragsteller) entweder überhaupt keinen oder keinen ausreichend langen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hat. § 98 I Nr. 1, 3, 4 FamFG stellen die relevanten autonomen deutschen Restzuständigkeiten dar, sodass hier § 98 I Nr. 1 FamFG einschlägig ist. Während sich also früher eine Zuständigkeit aus der Verordnung ergeben hat, gewährt für die problematischen Fälle das autonome Zuständigkeitsrecht einen Gerichtsstand. Zu einem Gefühl des fehlenden Verständnisses für die eigenen Bedürfnisse könnte jedoch die für Familien nun entfallende Möglichkeit, sich eine gerichtliche Zuständigkeit in einem vorzugswürdigen Mitgliedsstaat bei mehreren Gerichtsständen der Brüssel-IIa-VO durch Klageeinreichung zu sichern, führen. Auf den Schutzmechanismus des Art. 6 Brüssel-IIa-VO wird nicht verzichtet werden.

Fraglich ist, auf welche Rechtsquellen ein britisches Gericht seine Zuständigkeit nach dem Austritt stützen wird. Möglicherweise bestimmt sich diese nach dem Domicile and Matrimonial Proceedings Act (DMPA) 1973. Nach sec 5 (2) DMPA 1973 ergibt sich die internationale britische Zuständigkeit, wenn ein Ehegatte im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung im Vereinigten Königreich domiziliert oder seit einem Jahr seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort besitzt. Diesem Gesetz steht jedoch sec 5 (2)(a) DMPA 1973 entgegen, weil die anwendbaren Vorschriften infolge des Opt-ins zugunsten der Brüssel-II-VO im Jahr 2001 mit maßgeblicher Verweisung auf die Brüssel-II-VO bzw Brüssel-IIa-VO geändert wurden.19 Sowohl diese Vorschrift als auch die zulässige Restzuständigkeit in sec 5 (2)(b) DMPA 1973 werden zusammen mit der Brüssel-IIa-VO


12 Family Law Bar Association, Brexit and Family Law, S. 6 ff.; Dickinson, Reading the Tea Leaves?; Gordon/Pascoe, Preparing for Brexit, S. 6, 11; House of Lords, European Union Committee, Brexit: justice for families, individuals and businesses?, S. 31; Lamont, Child and Family Law Quarterly 2017, 267, 277.

13 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr 1347/2000 vom 27.11.2013 (ABl. EU 2003 Nr. L 338, S. 1).

14 Mit “Briten“ sind alle Einwohner des Vereinigten Königreichs gemeint, d.h. Großbritanniens und Nordirlands.

15 EuGH Rs. 68/07, Sundelind Lopez/Lopez Lizazo, EUGHE 2007, I-10.403; Dörner, in: Hk-ZPO, Art. 6 EuEheVO Rn. 1; Hüßtege, in: Thomas/Putzo, Art. 6 EuEheVO Rn. 1; Großerichter, in: Althammer, Art. 6 Rn. 3; Ancel/Muir Watt, Rev. crit. dip. 2001, 349, 420 f.; Frank, in: Gebauer/Wiedmann, EuEheVO Rn. 34; Hau, FamRZ 2000, 1333, 1340; Simotta, in: FS Kaissis, S. 897, 902.

16 EuGH Rs. C-68/07 Sundelind Lopez/Lopez IPRax 2008, 257.

17 Hau, FamRZ 2000, 1333, 1340.

18 Hüßtege, in: Thomas/Putzo, Art. 6 EuEheVO Rn. 2

19 Statutory Instrument 2001 No. 310 (The European Communities (Matrimonial Jurisdiction and Judgments) Regulations 2001; Sonnentag, § 6 S. 114 f.

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wegfallen. Da die Bestimmungen durch das Statutory Instrument eingeführt wurden, welches seinerseits auf dem European Communities Act 1972 beruht, werden diese mit dessen Aufhebung entfallen, sodass das gesetzlich nicht geregelte Common Law zur Anwendung gelangt.20 Danach wird eine Zuständigkeit bejaht, wenn die Parteien im Vereinigten Königreich ihr Domizil21 besitzen.22 Unzureichend ist nun, dass Personen, welche im Vereinigten Königreich für Jahre ohne Begründung eines Domizils gelebt haben, ebenso wie Frauen, welche ein domicile of dependence vom Ehemann abgeleitet haben, welcher nun auswandert, keine Zuständigkeit bekommen.23 Während eine Frau also unter dem Unionsrecht eine Zuständigkeit aus Art. 3 Brüssel-IIa-VO ableiten konnte, droht nun die Gefahr, dass sie in ihrem Heimatstaat keine Scheidung anstrengen kann.

II. Rechtshängigkeitsregelung

Problemfall: Die Deutsche F und der Brite M leben verheiratet im Vereinigten Königreich. Nach der Trennung kehrt F nach Deutschland zurück und reicht bei einem deutschen Gericht Antrag auf ein Scheidungsverfahren ein. M hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Scheidungsklage im Vereinigten Königreich eingereicht, welche der F nachweislich zugestellt wurde.

Nachdem die lis-pendens-Regelung des Art. 19 I Brüssel-IIa-VO nur auf „Gerichte verschiedener Mitgliedstaaten“ anwendbar ist, stellt sich im Fall der doppelten Rechtshängigkeit die Frage, auf welche Weise eine vorher begründete drittstaatliche Rechtshängigkeit mit einem nun anhängigen deutschen Verfahren interagiert. Aus dem Schweigen der Verordnung lässt sich gerade nicht ableiten, dass das früher eingeleitete drittstaatliche Verfahren bei der Zuständigkeitsprüfung nicht berücksichtigt werden kann und dadurch gleichermaßen Anreize zu einem race to the courthouse entstehen.24 So ist die ausländische Rechtshängigkeit vielmehr analog § 261 III Nr. 1 ZPO, welcher nach § 113 I 2 FamFG auch für Ehesachen iSd § 121 famFG gilt, zu beurteilen.25 Dies ist mit der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen bei doppelter gerichtlicher Inanspruchnahme, der Vorbeugung des forum shoppings und ferner damit zu begründen, dass die ausländische Gerichtstätigkeit der innerstaatlichen weitgehend gleichzusetzen ist, nachdem gemäß § 328 ZPO bzw. § 107 FamFG auch abgeschlossenen ausländischen Entscheidungen die Anerkennung verliehen werden kann.26

Somit besteht zwar eine ähnliche Regelung, welche jedoch im Vergleich zum Unionsrecht mit zusätzlichen Voraussetzungen versehen ist. Die ausländische Rechtshängigkeit steht dem Verfahren im Inland hier nämlich nur entgegen, wenn das ausländische Urteil voraussichtlich anerkannt wird. Die europäische familienrechtliche Vorschrift verlangt für eine Bejahung des Prioritätsprinzips das Vorliegen von Parteiidentität,27 während das autonome Recht zusätzlich die Identität des Streitgegenstandes verlangt. Im Gegensatz zur europarechtlichen Kernpunkttheorie und der dort nicht durchzuführenden Anerkennungsprognose wird dies dazu führen, dass das Ziel der Vermeidung von Parallelprozessen erschwert wird.

Auch der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit bestimmt sich in Abweichung des Art. 16 I Brüssel-IIa-VO nach der jeweiligen lex fori.28 Die damit einhergehende drohende Gefahr, dass die ausländische Rechtshängigkeit ein inländisches Scheidungsverfahren blockieren kann, obwohl der Scheidungsantrag des ausländischen Verfahrens später zugestellt wurde als derjenige des inländischen Verfahrens, kann sich jedoch aufgrund der im britischen Recht erforderlichen claim form29 – der Zustellung an den Beklagten – nicht ergeben.30

Statt einer Rechtshängigkeitsregelung wird die Thematik der Beachtung einer deutschen Rechtshängigkeit auf ein britisches Verfahren dadurch gelöst, dass Gerichtsstaat nach einer Ermessensentscheidung jener Staat mit einer objektiv engen Verknüpfung ist, wie es in der Mehrzahl der Staaten unter Common Law üblich ist.31 So wird auf die Methode des forum non conveniens zurückgegriffen, welche es erlaubt, flexible Zuständigkeiten anhand neutraler Anknüpfungspunkte zu schaffen, der in der EU durch den EuGH eine Absage erteilt wurde.32 Die gesetzliche Verankerung im Domicile and Matrimonial Proceedings Act 1973 (DMPA) Anh 1 § 9 („balance of fairness“) berechtigt nun, eine enge Verknüpfung des Gerichtsstandes mit der betroffenen Familie zu suchen, um eine sachgerechte Prozessführung zu ermöglichen.33 Folglich unterwirft sich in beiden Staaten die Auswirkung der ausländischen Rechtshängigkeit der jeweiligen lex fori.34 Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass dies Rechtsunsicherheiten birgt, Verfahrensverzögerun-


20 Sonnentag, § 8 S. 158; vgl. sec 16 (1)(a) Interpretation Act 1978, sodass die frühere Rechtslage vor dem Erlass des Statutory Instruments (DMPA 1973) nicht mehr auflebt.

21 Begriff des domicile im britischen Recht: Fawcett, Private International Law, S. 162 ff.

22 Dicey/Morris/Collins, Rule 82 18-002; Le Mesurier v Le Mesurier [1895] AC 517, 540, welche die Entscheidung des House of Lords in Shaw v Gould [1868] LR3HL 55 konkretisiert, die von einem “redlichen” gewöhnlichen Aufenthalt als maßgebliche Zuständigkeitsanknüpfung ausging.

23 Clarkson/Hill, The Conflict of Laws, S. 408.

24 Für diese Ansicht: Schütze, NJW 1963, 1486; Schütze, DIZPR, Rn. 395 ff.

25 BGHZ 176, 365 Rn. 17; BGH FamRZ 1982, 917; NJW 1986, 2195; Becker-Eberhard, in: MüKoZPO, § 261 Rn. 73; Roth, in: Stein/Jonas, § 261 Rn. 53 ff.; Dutta/Amos, FamRZ 2014, 444; aA Schütze, DIZPR, Rn. 395 ff., welcher das Problem der Ebene der Anerkennung zuweist.

26 Schack, IZVR, Rn. 840 ff.; Reuß, JURA 2009, 1, 4; Roth, in: Stein/Jonas, § 261 Rn. 53.

27 Geimer, in: Geimer/Schütze, S. 982; Junker, § 20 EheEuGVVO Rn. 22 f., § 23 Rn. 15 f.; Reuß, JURA 2009, 1, 4; Rauscher, in: Rauscher, Art. 19 Brüssel IIa-VO Rn. 17 ff.

28 BGH NJW-RR 1992, 642; OLG München FamRZ 2009, 2104, 2105; Roth, in: Stein/Jonas, § 261 Rn. 60; Kaiser/Prager, RIW 1983, 667, 669.

29 Nagel/Gottwald, § 6 Rn. 250.; Zillmer, Die Rechtsordnung der Isle of Man, S. 208 f.; Breuer, S. 340.

30 Dieses Problem behandeln: Schack, IZVR, Rn. 842 f.; Krusche, MDR 2000, 677, 679.

31 Grundsatzentscheidung, welche keine familienrechtliche Entscheidung ist: The Spiliada Maritime Corporation v Cansulex Ltd. [1987] AC 460 (HL); De Dampierre v De Dampierre [1988] AC 92 (H.L.); Beaumont, ICLQ 1987, 116; Fusco, New Law Journal 2018, 11; Geimer, Rn. 1073 ff.; Henrich, in: Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, S. 35; Nagel/Gottwald, § 3 Rn. 554; Bar Council Brexit Working Group, The Brexit Papers, Brexit Paper 6: Family Law, S. 4 Rn. 8.

32 EuGH, Rs. C-281/02, Owusu, Slg. 2005, I-1383, Rn. 37 ff. – Die Regelung des Art. 15 Brüssel-IIa-VO stellt hierzu eine Ausnahme dar.

33 S v S (Divorce: Staying Proceedings) (1997) 2 fLR 100; Dicey/Morris/Collins, Rule 103 (4); Rieck, Ausländisches Familienrecht, England und Wales, Rn. 76.

34 Mittal v Mittal [2013] EWCA Civ 1255; in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Frankreich und den Niederlanden: Cass. civ., Rev. crit. dip. 2011, 102; Hoge Raad, NIPR 2007, 132; Saenger, in: Hk-ZPO, § 261 Rn. 4.

Nitsche, Internationale Zuständigkeit und Anerkennung in Familiensachen nach dem Brexit, BLJ 2/2020, 80-8883

gen sowie eine Kostensteigerung mit sich bringt. Während in Deutschland also weiterhin mit einer ausgefeilten Regel agiert wird, welche die Voraussetzungen für eine Beachtung britischer Rechtshängigkeit verschärft, ist das System der Briten auf Wandelbarkeit angelegt.35

Der Erlass von dem im Common Law bewährten Instrument der Anti-Suit Injunctions, welche im Interpretationsraum des EuGH beschränkt worden sind,36 werden infolge der flexiblen Reaktion als Vorteil des Ausscheidens aus der EU genannt.37 Ein britisches Gericht könnte das Verfahren im eigenen Staat mittels eines Prozessführungsverbotes (Anti-Suit Injunction) absichern. Ein Geltungsanspruch des Verbots der Fortführung von Parallelverfahren wird unter einer möglichen Anwendung des LugÜ diskutiert und wohl zu bejahen sein.38 Gerichtsstände werden somit – in Abkehr der verfolgten Zuverlässigkeit und des Vertrauens – in Frage gestellt.

III. Urteilsanerkennung

Eckpfeiler der Brüssel-IIa-VO ist mit Art. 21 I Brüssel-IIa-VO die Zirkulation der gerichtlichen Entscheidungen (ipso iure-Anerkennung). Nachdem eine britische Entscheidung nunmehr nicht in einem „anderen Mitgliedstaat“ ergangen ist, stellt sich aus Sicht von Deutschland die Frage nach der Rechtsquelle. Das Haager Übereinkommen über die Anerkennung von Ehescheidungen und Ehetrennungen vom 01.06.1970 wurde von Deutschland nicht gezeichnet und Art. IV (1) (c) des deutsch-britischen Übereinkommens von 14.07.1960 über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen39 wurde durch die Brüssel-IIa-VO ersetzt (Art. 59 I Brüssel-IIa-VO),40 welches in seinem Geltungsbereich jedoch auch nur Entscheidungen der „oberen“ Gerichte (Art. II (1) und V (1)) umfasst, sodass nach Art. I (2) (a) und (b) aus deutscher Perspektive die Familiengerichte als Teil der Amtsgerichte und auf britischer Seite die magistrates und county Gerichte als erstinstanzliche Gerichte nicht umfasst sind.41 Nachdem keine völkerrechtlichen Vereinbarungen existieren (§ 97 I 1 FamFG), wird ein deutsches Gericht seine autonomen Regelungen der §§ 107, 109 FamFG anwenden. In Ehesachen ergibt sich somit eine Erschwerung, als britische Entscheidungen gemäß § 107 I 1 FamFG ein Verwaltungsverfahren durchlaufen müssen, in welchem die Hindernisse des § 109 FamFG geprüft werden.42

Ein deutsches Scheidungsurteil würde im Vereinigten Königreich nach dem Family Law Act 1986 anerkannt werden.43 Eine Anerkennung im Fall der Domizils der Ehegatten im Gerichtsstaat ist allgemein unbestritten,44 während die großzügig konzipierte Anerkennung nach sec 46 (1) FLA 1986 weiter voraussetzt, dass bei Beginn des Verfahrens einer Scheidung einer der Ehegatten im Gerichtsstaat domiziliert war, seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort hatte oder dessen Staatsangehörigkeit besaß. Ferner ist die Wirksamkeit der Entscheidung unter dem Recht des betreffenden Staates nach sec 46 (1) (a) FLA 1986 eine geschriebene Voraussetzung („effective“). Nachdem dies also gemäß des herangezogenen Sachrechts beurteilt wird, unterscheidet sich die deutsche Rechtspraxis dadurch, als das aus seiner Sicht anwendbare Recht zu beachten ist.45 Die Versagung der Anerkennung hingegen ist ausschließlich in sec 51 (3) FLA 1986 geregelt, nämlich wenn ein Ehegatte von dem Verfahren nicht in Kenntnis gesetzt oder ihm keine Gelegenheit zur Mitwirkung im Verfahren gegeben worden ist oder die Anerkennung gegen den britischen ordre public verstoßen würde.

Während somit im Vereinigten Königreich bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, fällt in Deutschland jedes drittstaatliche Urteil in den Anwendungsbereich. Bei den Anerkennungshindernissen zeichnet sich aber eine gemeinsame Linie ab, indem die Wahrung des ordre public und des rechtlichen Gehörs in beiden Anwendungsinstrumenten auftauchen. Auch im Inselstaat, welcher die Anerkennung ebenfalls von der spiegelbildlichen Prüfung der gerichtlichen Zuständigkeit abhängig macht (§ 109 I Nr. 1 FamFG und sec 46 fMA 1986), ist eine Abkehr von der bisherigen Inzidentanerkennung zu verzeichnen. Ferner erfasst das Vereinigte Königreich in einem weiträumigeren Feld Privatscheidungen als „Mehr“ der Anerkennungsgegenstände, welche weder unter die Brüssel-IIa-VO46 noch unter das autonome deutsche Recht47 fallen.

IV. Rechtsvergleichende Schlussfolgerung

Die Parteien sind im Komplex der Scheidungsentscheidungen vor dem zumeist subjektiv charakterisierten, autonomen Recht nicht geschützt, als eine Lösungsmöglichkeit, welche die Rollen zusammenzubringen versucht, fehlt.

Die Zuständigkeitsregelungen sind aus kontinentaleuropäischer Sicht zwar klägerfreundlich konzipiert, sodass auch der Beginn eines Verfahrens gegen einen Drittstaatsangehörigen im Verbund der Mitgliedstaaten erlaubt bleibt. Das bisherige Wahlrecht bezüglich eines Gerichtsstandes im Hinblick auf vermögensrechtliche Folgen wird einhergehend mit einer individuellen Gestaltung des Scheidungsverbundes wegfallen. Dies ist im Zusammenhang mit dem anwendbaren Recht


35 Für die wertvollen Hinweise aus der grenzüberschreitenden Rechtspraxis des Internationalen Familienverfahrensrecht danke ich herzlich RA Maria Demirci, München.

36 EuGH, Rs. C-116/02, Gasser, Slg. 2003, I-14693; EuGH, Rs. C-159/02, Turner, Slg. 2004, I-3565, Rn. 24 ff.

37 Davies/Kirsey, Journal International Arbitration 2016, 501, 509 ff.

38 Hess, in: Europa als Rechts- und Lebensraum, S. 179, 188.

39 BGBl. 1961 II, S. 301.

40 Sonnentag, § 6 S. 118 f.

41 Nagel/Gottwald, § 15 Rn. 141; Dutta, FamRZ 2017, 1030, 1031; Dutta, Child and Family Law Quarterly 2017, 199, 203; Schütze, RIW 1980, 170.

42 OLG München FGPrax 2012, 66; eingehend hierzu: Nagel/Gottwald, § 13 Rn. 21 ff.; Rauscher, in: MüKoFamFG, § 107 Rn. 1 ff.; Borth/Grandel, in: Musielak/Borth, § 107 Rn. 1 ff.; Gottwald, in: FS Rüßmann, S. 771, 778.

43 Sonnentag, § 8 S. 159; Henrich, in: Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, S. 35; Odersky, in: Eherecht in Europa, Großbritannien: England und Wales, Rn. 49; Hamilton/Perry, Family Law in Europe, England und Wales, S. 117 f.

44 Harvey v Farnie, 1880, 5 PD 153; Henrich, in: Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, S. 34 f.

45 Lippke, S. 103.

46 Gottwald, in: MüKoFamFG, EWG VO 2201/2003 Art. 1 Rn. 4.

47 Sieghörtner, in: BeckOKFamFG, § 107 Rn. 3; Kemper, in: Hk-ZPO, § 107 Rn. 7.

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interessant, als britische Gerichte bei gegebener Zuständigkeit ihrer nationalen Spruchkörper auch britisches Recht anwenden (lex fori).48 Das britische Scheidungsrecht mit einem am Gleichbehandlungsgrundsatz orientierten Vermögensausgleich unter Billigkeitsgesichtspunkten gilt gerade für Frauen im Vergleich zum deutschen Zugewinnausgleich als besonders attraktiv, was zur Scheidungshauptstadt London führt. Diese günstige Formation wird den Beteiligten genommen.

Bei einem Scheidungsurteil vor dem maßgeblichen zukünftigen Stichtag stellt sich außerdem die Frage nach der Rechtsquelle für die Anerkennung. Vertrauensschutz und Rechtssicherheit gebieten es, eine Anknüpfung an den Zeitpunkt der Statuserlangung vorzunehmen, sodass nicht nur für am Stichtag anhängige Verfahren auf den Zeitpunkt des Art. 16 I Brüssel-IIa-VO abgestellt wird und weiterhin das anerkennungsfreundliche Unionsrecht Anwendung findet.49

Des Weiteren lässt sich infolge der dargelegten einseitigen Maßnahmen bezüglich der Rechtshängigkeitsregelung schließen, dass eine Abkehr vom gegenseitigen Vertrauen in das ausländische Rechtssystem erfolgt. Von einer Wertegemeinschaft, welche sich in den Grundstrukturen eines technisch europäisierten Verfahrensrechts niederlegt, kann keine Rede mehr sein. Der Wegfall einer ohne erschwerte Mühen zu verfolgenden Anerkennung stößt gerade in diesem verletzlichen Bereich auf ein Zurückweichen des Vereinigten Königreichs, sodass Errungenschaften eingebüßt werden. Die Auswirkungen im Vereinigten Königreich werden im Vergleich zu dem Bemühen eines zusätzlichen Verwaltungsverfahrens in Deutschland zwar weniger einschneidend für den Einzelnen ausfallen. Schnelligkeit sowie Effektivität gehen im grenzüberschreitenden Scheidungsrechtsverkehr verloren. Restriktiv ist jedoch auch zu beachten, dass ohne ein zusätzliches Verfahren das Risiko einer unterschiedlichen Bewertung des Bestehens einer Ehe als Anerkennungsvorfrage von Situation zu Situation besteht. Insbesondere im Hinblick auf die substantielle Bedeutung der Ehe kann dies Probleme mit sich bringen.50

D. Unterhaltssachen

I. Verfahrenszuständigkeit

Problemfall: Die 19-jährige deutsche Staatsangehörige K studiert im Vereinigten Königreich, wo sie auch ihren Lebensmittelpunkt hat. Ihr Vater B hat die britische Staatsangehörigkeit, lebt im Vereinigten Königreich und verweigert die geforderten Unterhaltszahlungen.

Der räumlich-persönliche Anwendungsbereich der EuUnthVO51, an welcher sich nach Art. 1 II EuUnthVO auch das Vereinigte Königreich beteiligt,52 ist weder vom gewöhnlichen Aufenthalt noch von der Staatsangehörigkeit der beteiligten Parteien abhängig, sodass die Verordnung in jedem anhängigen mitgliedstaatlichen Verfahren anwendbar ist und vorrangig kein Rückgriff auf innerstaatliche Zuständigkeitsvorschriften stattfindet (Totalvereinheitlichung des Erwägungsgrundes 15).53

Aus Art. 3 lit. a oder b EuUnthVO würden sich in der vorliegenden Konstellation unter der Situation der beiderseitigen mitgliedstaatlichen Zugehörigkeit einschlägige Gerichtsstände ergeben. Infolge der Drittstaateneigenschaft, in welcher Deutschland jedoch auch nach dem unionsrechtlichen Austritt weiterhin die EuUnthVO anwenden wird,54 ergibt sich nunmehr weder eine Zuständigkeit aus dem Katalog des Art. 3 EuUnthVO noch aus Art. 6 EuUnthVO, sodass lediglich eine Notzuständigkeit nach Art. 7 S. 1 EuUnthVO in Betracht kommt, um dem geschlossenen Justizgewährungsanspruch (Art. 6 I EMRK) Rechnung zu tragen. Exorbitante Verfahrensdauern, staatliche Unruhen oder negative Kompetenzkonflikte werden als Gründe für Unzumutbarkeit bzw. Unmöglichkeit der Durchführung des Verfahrens in einem Drittstaat genannt.55 Demnach ist trotz eines ausreichenden mitgliedstaatlichen Bezugs zum Forum nach Art. 7 S. 2 EuUnthVO aufgrund der Staatsangehörigkeit der K (Erwägungsgrund 16) nicht zu erwarten, dass das Vereinigte Königreich die hohe Hürde der Voraussetzungen der Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit zur Begründung eines Gerichtsstandes in Deutschland erfüllt. Während K vor dem Unionsaustritt im Mitgliedstaat des Vereinigten Königreichs Klage erheben konnte, wird sie nun keinen mitgliedstaatlichen Gerichtsstand mehr erhalten. In der Mehrzahl der Zusammensetzungen, nämlich bei einem Kläger- oder Beklagtenaufenthalt in einem Mitgliedstaat oder gemeinsamer Staatsangehörigkeit, wird sich jedoch aus deutscher Perspektive weiterhin ein mitgliedstaatlicher Gerichtsstand aus der EuUnthVO ableiten. Indem die Brüssel-IIa-VO über die Restzuständigkeiten Raum für autonomes Recht lässt, ist die Notzuständigkeit auch nach dem einzelstaatlichen Recht zu lösen. Nachdem die EuUnthVO abschließenden Charakter beansprucht, hat der Verordnungsgeber hier den negativen Kompetenzkonflikt geregelt.56

Im Folgenden wird ausgeführt, inwieweit staatsvertragliche Regelungen die Folgen des Wegfalls der Sekundärrechtsakte für die Betroffenen im Vereinigten Königreich abfedern können. Bei Anrufung eines Gerichtes im Vereinigten Königreich könnte Art. 5 II Luganer Übereinkommen in


48 OLG Stuttgart IPRax 1987, 121 f.; Horstmann, S. 199; Henrich, in: Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, S. 31.

49 Entsprechende Entscheidung bzgl. des Haager Ehescheidungs-Übereinkommen (1902): KG, Beschluss v. 4.9.1936 – 1a Wx 1120/36, JW 1936, 3074; Hess, IPRax 2016, 409, 416.

50 Junker, § 27 Rn. 10.

51 Verordnung (EG) Nr. 4/2009 vom 18.12.2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachenpflichten (ABl. EU 2009 Nr. L 7, S.1), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndVO (EU) 1142/2011 vom 10.11.2011 (ABl. Nr. L 293, S. 24).

52 Anders noch der offene Wortlaut des Erwägungsgrundes 47 der EuUnthVO; siehe aber Entscheidung der Kommission 2009/451/EG v. 08.06.2009 (ABl. EU 2009 Nr. L 149, S. 73).

53 Junker, § 20 Rn. 4 f.; Lipp, in: MüKoFamFG, EWG_VO_4_2009 Art. 1 Rn. 69, 71; Hau, in: Prütting/Helms, § 110 Anh. 3 Rn. 9 f.

54 Abweichende Meinung hierzu: Rieck, NZFam 2016, 878, 879, welcher von der Geltung der Vorschriften des Haager Übereinkommens vom 23.11.2007 ausgeht.

55 Andrae, in: Rauscher, Art. 7 EG-UntVO Rn. 8 f.; Doerner, in: Hk-ZPO, Rn. 3; Gruber, IPRax 2010, 128, 134; Ereciński/Weitz, in: FS Kaissis, S. 187, 194.

56 Andrae, in: Rauscher, Art. 7 EG-UntVO Rn. 3 f.

Nitsche, Internationale Zuständigkeit und Anerkennung in Familiensachen nach dem Brexit, BLJ 2/2020, 80-8885

seiner Fassung von 200757 lückenfüllenden Charakter entfalten, welcher jedoch nur Anwendung finden würde, wenn sich der Beklagte in einem gebundenen Staat gewöhnlich aufhält. Der Anwendung steht grundsätzlich entgegen, dass das LugÜ von der damaligen EG in ausschließlicher Außenkompetenz58 – Art. 3 II AEUV –, nicht aber von den einzelnen Mitgliedstaaten ratifiziert wurde, sodass das Vereinigte Königreich in seiner Eigenschaft als nunmehr Nicht-Mitgliedstaat „kein durch dieses Übereinkommen gebundener Staat ist“ und eine völkerrechtliche Verbindlichkeit durch den nach Art. 50 III EUV vorgesehenen Wegfall der Verträge, damit auch der Wirkung des Art. 216 II AEUV, entfällt.59

Die beiden Möglichkeiten der potentiellen Anwendung dieses Übereinkommens im Vereinigten Königreich weisen Probleme auf. Nachdem der Beitritt des Vereinigten Königreichs zur EG den gleichzeitigen Austritt aus der EFTA60 zur Folge hatte, müsste es erst wieder Mitglied dieser sein, um ein Beitrittsverfahren nach Art. 70 I lit. a, 71 LugÜ durchlaufen zu können. Ein Mitspracherecht der EU in ihrer Außenkompetenz gemäß Art. 216 I, 3 II AEUV besteht insbesondere dann, wenn eine Zustimmung aller Vertragsstaaten gemäß Art. 70 I lit. c, 72 LugÜ – ohne EFTA-Beitritt – erforderlich ist. Offen bleibt zum jetzigen Zeitpunkt wohl, inwiefern sich die EU aus Taktik hierzu öffnen wird – bei radikaler Abkehr eines Staates vom vereinheitlichten System des gegenseitigen Vertrauens.61 Ein Schritt zurück wird sich aber auch hier aufgrund des „Hinkens“ der Regelungen des LugÜ im Vergleich zu den Verordnungen ergeben. Der EuGH würde kein Auslegungsmonopol mehr besitzen, die jeweiligen Gerichte folgen aber im Sinne einer einheitlichen Auslegung den Grundsätzen des EuGH.62 Stellten diese Bindungen aber nicht gerade den Grund für eine gewünschte Trennung von der EU dar?

Eine Rückgriffsmöglichkeit bildet auch nicht das von dem Vereinigten Königreich gezeichnete Übereinkommen aus dem Jahr 198863. Gemäß Art. 59 I lit. a WVRK iVm Art. 69 VI 1 LugÜ wurde dieses vollständig durch das Übereinkommen aus dem Jahr 2007 ersetzt. Dem Einwand der fehlenden Identität der Vertragsparteien, wurde das LugÜ 1988 von den einzelnen Mitgliedstaaten und das LugÜ 2007 von der EU für die Mitgliedstaaten gezeichnet, wird dadurch begegnet, dass der Stab der Staaten im Jahr 2007 auch alle Mitgliedstaaten des Jahres 1988 umfasst.64 Die ausscheidende Renaissance des LugÜ 1988 kann weiter damit untermauert werden, dass – im Gegensatz zum Brüsseler Übereinkommen von 196865 – kein Anwendungsbereich verblieb.66

Mit Art. 68 I EuGVÜ, welcher gerade die Fortgeltung des EuGVÜ in bestimmten Gebieten statuiert, könnte Art. 5 Nr. 2 EuGVÜ im Verhältnis zu den 14 älteren Mitgliedstaaten sowie Vertragsstaaten des EuGVÜ, einschließlich Deutschland, wieder aufleben.67 Obwohl das Übereinkommen nicht gekündigt worden ist, lässt doch gerade der Wortlaut des Art. 68 I EuGVVO („tritt an die Stelle“) darauf schließen, dass diese Vorschriften das Ziel haben, die Regelungen des EuGVÜ umfassend ersetzen zu wollen.68 Erwägungen, welche den Geist des Übereinkommens hervorheben, der sich als rechtsvereinheitlichender Akt verstand und ein Wiederaufleben für den Austritt eines Mitgliedsstaates nie vor Augen hatte,69 unterstützen die Nichtanwendbarkeit des Klägergerichtsstandes des EuGVÜ. Auch die Geltung der Vorschriften kraft nationalen Rechts kann mit sec 1 (4) des Civil Jurisdiction and Judgements Act 1982, welcher zwar den Verordnungen Gesetzeskraft gewährt, aber speziell auf Art. 68 I EuGVVO verweist, abgelehnt werden.70

Im autonomen britischen Recht erfolgt die Unterscheidung bezüglich der internationalen Zuständigkeit schon bei der Frage, ob es sich um eine ausländische oder in einem britischen Verfahren erlassene Ehescheidung handelt. Aus der Vorschrift des sec 23 Matrimonial Causes Act (MCA) 1973 folgt die Zuständigkeit der britischen Gerichte für den Unterhaltszuspruch, wenn im Vereinigten Königreich die internationale Zuständigkeit bezüglich des Verfahrens der Ehescheidung besteht.71 Außerdem sind die britischen Gerichte nach sec 27 (2) MCA 1973 zuständig, wenn entweder einer der Ehegatten im Vereinigten Königreich domiziliert hat oder der Kläger seit einem Jahr dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder der Beklagte dort seinen Aufenthalt hat. Das autonome britische Recht ist hinsichtlich des nachehelichen Unterhalts anwendbar, nachdem diesem in einem Statutory Instrument72 lediglich mit einem bloßen Anwendungsvorrang der EuUnthVO begegnet wurde, welchem infolge des Wegbrechens des European Communities Act 1972 wieder die Ermächtigungsgrundlage entzogen wird.73 Nach einer ausländischen Ehescheidung bestimmt sich die internationale Zuständigkeit zum Erlass von Un-


57 Luganer Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Zivil- und Handelssachen vom 30.10.2007 (ABl. EU 2009 Nr. L 147, S. 5).

58 EuGH, Gutachten 1/03 v. 07.02.2006, Slg. 2006, S. I-1145 (Lugano).

59 So auch: Lehmann/Zetzsche, JZ 2017, 62, 70; Ungerer, in: Brexit und die juristischen Folgen, S. 297, 302; Rühl, JZ 2017, 72, 78; Dickinson, Journal of Private International Law 2016, 195, 207.

60 European Free Trade Association, Thirteen Annual Report 1972-1973, S. 10.

61 Hess, IPRax 2016, 409, 415; Rühl, JZ 2017, 72, 78; Ungerer, in: Brexit und die juristischen Folgen, S. 297, 303.

62 Protokoll Nr. 2 über die einheitliche Auslegung des Übereinkommens vom 16.09.1988 (BGBl 1994 II, S. 2697).

63 Lugano-Übereinkommen vom 16.09.1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die gerichtliche Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1988 L 319, S. 9).

64 Rühl, JZ 2017, 72, 78.

65 Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.09.1968 (ABl. EG 1972 Nr. L 299, S. 32); die neue konsolidierte Fassung des EuGVÜ ist abgedruckt in ABl. EG 1998 Nr. C 27, S. 1.

66 Dickinson, Journal of Private International Law 2016, 195, 206 f.; Masters/McRae, Journal International Arbitration 2016, 483, 493; Staudinger, jurisPR-IWR 5/2016 Anm. 1; Rühl, JZ 2017, 72, 78; Hess, IPRax 2016, 409, 415.

67 Dickinson, Journal of Private International Law 2016, 195, 204 f.; Rothschild, Jurisdiction and Brexit; Boiché, Brexit et European Family Law; Lehmann/Zetzsche, European Business Law Review 2016, S. 999, 1023; Ungerer, in: Brexit und die juristischen Folgen, S. 297, 300 f.

68 Sonnentag, § 6 S. 81 f.; Hess, IPRax 2016, 409, 413; Basedow, ZEuP 2016, 567, 572; Hill, Brexit and private international law; Rühl, JZ 2017, 72, 77; Staudinger, jurisPR-IWR 5/2016 Anm. 1.

69 Rühl, JZ 2017, 72, 77.

70 Rühl, JZ 2017, 72, 77.

71 Dicey/Morris/Collins Rule 99 18R-176; Henrich, in: Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, S. 54.

72 Schedule 6 (3) und (4) Statutory Instrument 2011 No. 1484 (The Jurisdiction and Judgments (Maintenance) Regulations 2011).

73 Sonnentag, § 6 S. 123, § 8 S. 160.

Nitsche, Internationale Zuständigkeit und Anerkennung in Familiensachen nach dem Brexit, BLJ 2/2020, 80-8886

terhaltsentscheidungen aus sec 15 Matrimonial and Family Proceedings Act 1984. Weiter ergibt sich eine Zuständigkeit, wenn der Beklagte seinen Aufenthalt in einem der Vertragsstaaten des Haager Übereinkommens 1973 besitzt oder die Voraussetzungen des sec 3 Maintenance Orders Act 1972, d.h. gewöhnlicher Aufenthalt des Beklagten in einer reciprocating country, gegeben sind.74 Nachdem bei gegebener Zuständigkeit in der Scheidungssache auch über den Unterhalt im Vereinigten Königreich entschieden werden kann, welches die hauptsächliche Zuständigkeitsanknüpfung darstellt, ergeben sich keine Unterschiede zur möglichen Annexanknüpfung der EuUnthVO. Deutschland fügt sich hingegen aufgrund der universellen Anwendbarkeit der Verordnung weiterhin in ein abgestimmtes System ein, welches sich durch die bevorzugten Klägergerichtsstände auszeichnet.

Es sind gerade die strikten Regelungen zur Lösung der Konfliktherde sowie vorhersehbare Mechanismen, welche die Vorzüge eines auf den Unionsbürger abgestimmten Rechtssystems darstellen.75

Abwandlung: K und B vereinbaren im Voraus, dass im Vereinigten Königreich die ausschließliche Zuständigkeit für entstehende Unterhaltspflichten liegen soll.

Während die ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung eines Mitgliedstaates durch zwei Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem Drittstaat von der EuUnthVO erfasst ist, liegt die Problematik im oben stehenden Fall darin, dass Art. 4 I EuUnthVO unmittelbar nur Mitgliedstaaten erfasst.76 Aufgrund der universellen Anwendbarkeit und der abschließenden Regelungstechnik der Vorschriften ist jedoch davon auszugehen, dass analog auch drittstaatliche Vereinbarungen erfasst werden sollen.77 Folglich kann auch weiterhin die Derogation mitgliedstaatlicher Gerichte durch den Drittstaat Vereinigtes Königreich nach den Bestimmungen der EuUnthVO erfolgen. Ein außerdem zu berücksichtigender Punkt sind die in Art. 49 ff. EuUnthVO dargelegten Grundlagen für eine effektive Zusammenarbeit der zentralen Behörden im Rahmen von Unterhaltsentscheidungen. Der Antragstellerin K ist nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs in der Situation der Nichtermittelbarkeit des momentanen Aufenthaltsortes oder des Einkommens des Verpflichteten eine Stütze aus Art. 51 II lit. b, c EuUnthVO zu versagen, sodass sich in diesem Bereich mangels gleichwertiger Bestimmungen eine Regelungslücke bilden wird. Damit weiterhin ein durchgängiges Maß effektiver Standards der behördlichen Zusammenarbeit gewährleistet wird, müsste das Vereinigte Königreich das Haager Übereinkommen von 200778 (Kap. II und III) ratifizieren, welches lediglich von der EU gezeichnet wurde.

II. Urteilsanerkennung

Erfährt auch im Unterhaltsrecht die ipso iure-Anerkennung eine Einbuße? Das Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen 197379 (HUAVÜ), welches durch keine Rechtsakte der EU ersetzt wurde (Art. 69 I, II EuUnthVO) und keine Zuständigkeits- oder Rechtshängigkeitsregelungen enthält, stellt im Fall der Drittstaateneigenschaft des Vereinigten Königreichs die Rechtsquelle für die Anerkennung von Unterhaltsentscheidungen dar (§ 97 I FamFG), sodass auch solche Unterhaltsurteile erfasst sind, welche nach autonomen britischen Recht aufgrund einer Abänderungsmöglichkeit, die nicht den Voraussetzungen des „final and conclusive“80 entspricht, nicht anerkannt werden würden. Das Übereinkommen ist insoweit hinsichtlich der Voraussetzungen der Prüfung der internationalen Zuständigkeit des Erstgerichts (direkte Regelung der Anerkennungszuständigkeit) sowie den Anerkennungsversagungsvoraussetzungen rückschrittlich – im Gegensatz zur Gesetzmäßigkeit der Entscheidung, Art. 12 HUAVÜ –, als dies im Rechtsakt des europäischen Prozessrechtes nicht mehr überprüft wird. Diese Prüfung des Art. 4 I Nr. 1 HUAVÜ nach den Vorschriften des Art. 7, 8 HUAVÜ wäre jedoch auch bei Rückfall der Anerkennung auf das autonome deutsche Recht nach §§ 108, 109 FamFG erforderlich. Eine Entschärfung wird durch die dargelegten Erleichterungen des Art. 7, 8 HUAVÜ, wie der rügelosen Einlassung der entscheidenden Stelle oder einer Auffangzuständigkeit, erreicht.81 Die Versagungsgründe, welche in Art. 5 HUAVÜ im Großteil den Gründen der europäischen Regelungen entsprechen, bilden die Voraussetzungen, welche in der EuUnthVO nur auf Antrag geprüft werden, nachdem nach Art. 23 ff. iVm Art. 16 III EuUnthVO eine Automatik der Anerkennung besteht. Das HUAVÜ ermöglicht selbst noch eine Alternative, als die Regelung des Verfahrens der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung den Teilnehmerstaaten überlassen wird. In Deutschland werden Urteile gemäß des nationalen Verfahrensrechts (§§ 57 ff., 36 ff. AUG82) im gleichen Beschlussverfahren anerkannt wie Titel aus solchen Staaten, denen gegenüber ein Erfordernis der Exequatur besteht. Nachdem auch das potentiell zu unterzeichnende Haager Übereinkommen 2007 ein vereinfachtes Verfahren mit Prüfung der Rechtskraft der Entscheidung, der Zuständigkeit sowie der Anerkennungsversagungsgründe enthält, bildet sich in diesem Bereich der Anerkennung mit Sicherheit ein Rückschritt für die Rechtspraxis. Die Ratifizierung des Haager Übereinkommens 2007 würde den Mechanismus auf ein mit der Verordnung zumindest ähnliches Niveau bringen.


74 Henrich, in: Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, S. 36.

75 House of Lords, European Union Committee, Brexit: justice for families, individuals and businesses, S. 27, wo es heißt “they [regulations] bring much-needed clarity and certainty to the intricacies of cross-border family relations”.

76 So auch: Bittmann, in: Gebauer/Wiedmann, Rn. 41; Hau, in: Prütting/Helms, § 110 FamFG Anh. 3 Rn. 47; Lipp, in: MüKoFamFG, EWG_VO_4_2009 Art. 4 Rn. 6.

77 Andrae, in: Rauscher, Art. 4 EG-UntVO Rn. 69 f., 69; Andrae, § 8 Rn. 65; Hau, in: Prütting/Helms, § 110 FamFG Anh. 3 Rn. 51 f.; Hau, in: Europäisches Unterhaltsrecht, S. 57, 68; die Derogation der Gerichte eines Mitgliedstaates ausschließen: Rauscher, FamFR 2013, 25, 27; Bittmann, in: Gebauer/Wiedmann, Rn. 41.

78 Haager Übereinkommen über die internationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen vom 23.11.2007 (ABl. EU 2011 L 192, S. 51 ff.).

79 Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen vom 02.10.1973 (BGBl. II, 1986, S. 828).

80 Henrich, in: Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, S. 36; Möglichkeit der gerichtlichen Abänderung: Harrop v Harrop, 1920, 3 KB 386.

81 Dörner, in: Eschenbruch/Schürmann/Menne, S. 1603; Andrae, § 8 Rn. 277 ff.

82 Auslandsunterhaltgesetz vom 23. Mai 2011 (BGBl. I, S. 898), geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 20.02.2013 (BGBl. I, S. 273).

Nitsche, Internationale Zuständigkeit und Anerkennung in Familiensachen nach dem Brexit, BLJ 2/2020, 80-8887

III. Rechtsvergleichende Schlussfolgerung

Aus kontinentaleuropäischer Sicht bestehen bei Betrachtung der Zuständigkeit in diesem Bereich keine gravierenden Veränderungen, während die Urteilsanerkennung hingegen wieder einen Einriss erfährt. Aufgrund der erschwerten Hürde der Anerkennung muss von einer Zirkulation Abschied genommen werden, welche ihren Vorteil gerade auch darin sieht, dass sich Elternteile nicht durch Wegzug der schnellen Geltendmachung der begründeten Verpflichtungen entziehen können. Eine für die einzelnen schutzbedürftigen Berechtigten, insbesondere für minderjährige Kinder hinsichtlich ihrer finanziellen Unterstützung, schwer zu akzeptierende Folge, welche ein Mehr an Aufwand für die einzelnen Individuen bedeutet.

E. Kindschaftssachen

I. Sonderregeln in der Situation der Rückgabe nach Kindesentführung

Als Mitglied der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht wird das Vereinigte Königreich für Kindesentführungen auf das Haager Übereinkommen 198083 zurückfallen.

Problemfall: Der Brite M und die Deutsche F leben mit ihrem gemeinsamen Kind im Vereinigten Königreich. F nimmt das Kind nun ohne Einverständnis des M mit nach Deutschland. Das deutsche Gericht weist eine Rückführung des Kindes ab.

Nachdem die Ablehnung der Rückführungsanordnung auf die Rechtsgrundlage des Art. 13 HKÜ gestützt wird, besteht die Möglichkeit, eine negative Anordnung der Gerichte des Zufluchtsstaates mit den als Fremdkörper84 deklarierten Vorschriften der Art. 11 VI-VIII iVm Art. 42 I Brüssel-IIa-VO zu überschreiben. Den Eltern wird in der vorliegenden Situation nach dem Wegfall des europäischen Sekundärrechtsaktes infolge der irreversiblen Ablehnung die Chance auf eine erneute Entscheidung genommen. Die Rechtfertigung der Vorschrift der Brüssel-IIa-VO liegt darin, dass die internationale Zuständigkeit zur Entscheidung über die elterliche Verantwortung beim Herkunftsstaat liegt, sodass diese Rechtsprechungsinstanz materiell eine mehr Prüfungspunkte erfassende Entscheidung darstellt.85 Dem kann jedoch entgegnet werden, dass das Verfahren und die daraus resultierende Schwebephase für die Beteiligten deutlich verlängert wird, manifestiert die Brüssel-IIa-VO kein Zeitlimit für die nachfolgende Entscheidung.86 Weiter verhärten sich die zwischenmenschlichen Konflikte der Elternteile, sodass das Herunterstufen zu dem Haager Übereinkommen keine bahnbrechenden Auswirkungen mit sich ziehen wird. Der Sonderweg im europäischen Sekundärrechtsakt stellt sich ambivalent dar, welche der Rückgabeversagung den Status der Vorläufigkeit verleiht.87 Den Eltern wird hier also Klarheit gegeben, als das britische Gericht des Herkunftsstaates nicht mehr an den Überschreibungsmechanismus der EU-Verordnung gebunden ist. Eine weitere Normierung stellt Art. 11 IV Brüssel-IIa-VO dar, als die Rückgabeanordnung mit bindender Wirkung gefördert wird, wenn bestimmte Schutzvorkehrungen bezüglich des Kindes bestehen.

Außerdem wird die Vorschrift der während des Verfahrens über die lex fori zu vollziehende Anhörung des Kindes nach Art. 11 II Brüssel-IIa-VO wegfallen, welche Unklarheiten zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten beseitigen sollte. Die Verordnung selbst übt jedoch Zurückhaltung, indem Art. 11 II Brüssel-IIa-VO eine Maßregel darstellt, welche in der Gestaltungsweise den Mitgliedstaaten überlassen wird.88 So wird diese zu beachtende Verfahrensvorschrift für Deutschland schon aus Art. 12 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes89 abgeleitet,90 welches auch für das autonome Anhörungsgebot der betroffenen Kinder im Vereinigten Königreich gilt, sodass ohne die Verordnung in diesem Bereich kein Rückschritt zu befürchten ist. Nicht abwenden lässt sich jedoch die Gefahr, dass Unstimmigkeiten sowie Einbußen während des Vollzugs im Verhältnis zwischen den EU-Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich erneut auftreten werden, sodass es wieder der Aspekt der ökonomischen Sachdienlichkeit ist, der leiden wird. Daran knüpft die Regelung des Art. 11 III Brüssel-IIa-VO an, welche mit ihrem Entfallen dazu führen wird, dass angestrebte Effizienz ohne ausdrücklich positive Niederlegung eine leere Hülle darstellt. Folglich werden die Auswirkungen in dem Bereich der Kindesrückgabe im Verhältnis zu den bereits oben erörterten Komplexen weniger rechtlich einschneidend ausfallen. Es wird insbesondere erneut an Effektivität eingebüßt, welche den Grundlagenmechanismus für eine angemessene Befriedigung des zurückbleibenden Elternteils darstellt.

II. Rechtsvergleichende Schlussfolgerung

Während das HKÜ weiterhin die maßgebliche Rechtsgrundlage bleibt, entfallen die europäischen Ergänzungsregelungen. Das Vereinigte Königreich wird sich gerade aus diesem Verbund des Vertrauens in die Qualität der Rechtspflege herauslösen, wenn es das Werkzeug der überschreibenden Entscheidung nicht mehr mitträgt. Unsicherheiten der Eltern lassen das Vertrauen dieser in die gewünschte Dringlichkeit des rechtlichen Systems erschüttern. Wesentliche Vorzüge in zeitlicher Hinsicht der ergänzenden Verordnung gehen für Familien verloren. Von einem „caught in legal turmoil“91 kann jedoch für das entführte Kind nicht die Rede sein.

Insgesamt wird ein Rückschritt gerade dadurch verzeichnet, dass die Rolle des EuGH als auslegungsvereinheitlichende Instanz auf der Strecke bleibt.92 Indem zwar ein Übereinkommen besteht, welches vor dem Rückfall auf von einseitigen Interessen geleitetes autonomes Recht bewahrt, kann die


83 Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (BGBl. 1990 II, S. 207).

84 Pirrung, Internationales Familienrecht, S. 89, 94.

85 Schulz, FamRZ 2003, 1351, 1353.

86 Beaumont, Child and Family Law Quarterly 2017, 213, 215 ff.; Beaumont, Journal of Private International Law 2016, 211, 258.

87 Erwägungsgrund 17 der Brüssel-IIa-VO.

88 Rauscher, in: Rauscher, Art. 11 Brüssel-IIa-VO Rn. 11 f.; Rieck, NJW 2008, 182, 184.

89 BGBl. 1992 II, S. 121, 122.

90 Kingston, Family Law 2017, 1012, 1013; Schulz, FamRZ 2003, 1351, 1352.

91 Bennett, Children Of Divorcing EU Parents Will Be Caught In Legal Turmoil.

92 So z.B. Entscheidung des EuGH über die Auslegung des “gewöhnlichen Aufenthalts” nach Art. 3 Brüssel-IIa-VO: Mercredi v Chaffe [2011] EWCA Civ. 272.

Nitsche, Internationale Zuständigkeit und Anerkennung in Familiensachen nach dem Brexit, BLJ 2/2020, 80-8888

Interpretation der Begriffe des Staatsvertrages nicht mehr durch eine Bindungsinstanz erfolgen. Dies führt zu einer Regression bezüglich Rechtssicherheit sowie Einheitlichkeit der Entscheidungen, sodass nicht von einer vollwertigen Lückenfüllung ausgegangen werden kann.

F. Große Scheidung, die keine richtige Scheidung ist?

Ist somit von einer Scheidung in doppelter Hinsicht die Rede oder besteht doch viel politisch angehauchter Wirbel um nichts?

Die klägerfreundliche Sicht der europäischen Rechtsakte wie z.B. auf dem Gebiet der EuUnthVO hat zur Folge, dass sich für die Frage der anwendbaren Rechtsquelle aus deutscher Perspektive gegen nunmehr als drittstaatlich qualifizierte britische Personen nichts ändern wird. Die Rückkehr des Vereinigten Königreichs zu autonomen Anwendungsmechanismen wird keine allzu große Traurigkeit verursachen, waren die Briten gegenüber Maßnahmen der Union schon immer eher skeptisch.

Zweck und erklärtes Ziel der europäischen Verfahrensvereinheitli­chung, rechtssuchenden, gemischt-nationalen Ehepaaren im Binnenraum einen zugänglichen sowie vorhersehbaren Überblick über mögliche Gerichtsstände zu verschaffen, wird jedoch ebenso wie die Vorzüge des Prioritätsprinzips oder der ipso iure-Anerkennung verschwinden. Wo in einigen Bereichen wie dem Kindschaftsrecht multilaterale Vereinbarungen existieren, wirken sie als ein den entstehenden Lücken begegnender Stoßdämpfer. Problematisch ist, dass die jeweiligen Übereinkommen durch den Entwicklungsstand ihrer Entstehungszeit charakterisiert sind und somit durchaus von einer Einbuße an Rechtssicherheit in diesem hochsensiblen Geflecht gesprochen werden kann. Das harmonisierte System des Internationalen Familienverfahrensrechts wird nunmehr von dem Nebeneinander eines autonomen sowie multilateralen Gefüges, gleichsam einer „Flickenhängematte“, geprägt sein, welche die Rechtspraxis vor neue Hürden stellt. Bildlich gesprochen besteht eine Dehnung dieser Hängematte, welche sich im Vergleich zu den EU-Verordnungen als nicht so strapazierfähig und individuelle Rechtssicherheit versprühend darstellt. Kommt es zu Rissen, schweben Individuen in einem Raum, welcher zwar nicht von Rechtsverlusten, aber von bedeutenden Effektivitätsverlusten charakterisiert ist. Einschränkend ist anzumerken, dass in der Rechtspraxis auch jetzt Verwaltungshindernisse bestehen, sodass das Idealbild einer reibungslosen Rechtskommunikation eine Fiktion ist. Es kann zwar nicht von revolutionären Veränderungen gesprochen werden, eine justizielle Einbuße wird sich jedoch abzeichnen, wie auch im House of Lords erkannt wird, „to walk away from these regulations without putting alternatives in place would be seriously undermine the family law rights of UK citizens.“93

Die Realität vor Augen haben, bedeutet gleichzeitig, sich bewusst zu machen, dass das Internationale Familienrecht nicht die größte Priorität haben wird. Auswirkungen auf das einzelne Individuum in einer großen Maschinerie und ein geringer Stellenwert passen jedoch gehörig nicht zusammen.


93 House of Lords, European Union Committee, Brexit: justice for families, individuals and businesses?, S. 30.