Julia Müller*
Spätestens seit der öffentlichkeitswirksamen Übernahme der Mannesmann AG durch die britische Vodafone AirTouch plc. im Jahr 2000 sind feindliche Übernahmen auch in Deutschland Gegenstand intensiver juristischer Diskussionen.1 Im Gegensatz zu freundlichen Übernahmen erlangt der Bieter bei einer feindlichen Übernahme die Kontrollmehrheit in der Hauptversammlung gegen den Willen des Vorstands der Zielgesellschaft.2 Um sich vor einer solchen Übernahme zu schützen, kann der Vorstand der Zielgesellschaft bestimmte Abwehrmaßnahmen mit dem Ziel ergreifen, den Vollzug der Übernahme zu verhindern. So kann er beispielsweise eine Kapitalerhöhung durchführen oder wesentliche Teile des Unternehmens im Zuge des Angebots verkaufen.3 Im Fall der Mannesmann-Übernahme reagierte der Vorstand der Zielgesellschaft vorwiegend mit Roadshows und Medienkampagnen, um Aktionäre von der Angebotsannahme abzuraten.4
In Anbetracht der unterschiedlichen Interessenlagen von Vorstand und (verkaufswilligen) Anteilseignern stellt sich in solch einer Situation die Frage, ob der Vorstand bei der Durchführung von Abwehrmaßnahmen tatsächlich im Interesse der Gesellschaft handelt. Als Lösung des Interessenkonflikts des Vorstands kommen insbesondere Neutralitätspflichten in Frage. Diese sollen Vorstände daran hindern, Einfluss auf die Entscheidung der Aktionäre zu nehmen.
Im Folgenden wird zunächst näher auf die verschiedenen Interessenlagen und somit auf die Legitimationsbasis für Neutralitätspflichten eingegangen werden. Auch der Begriff der Neutralitätspflicht soll genauer erläutert werden. Bei der anschließenden Untersuchung der Rechtslage in Deutschland sollen insbesondere das übernahmerechtliche Verhinderungsverbot nach § 33 WpÜG sowie sein Verhältnis zur aktienrechtlich hergeleiteten Neutralitätspflicht beleuchtet werden. Nachdem eruiert wurde, ob sich der Gesetzgeber für die Etablierung von Neutralitätspflichten entschieden hat, soll diese gesetzgeberische Entscheidung anhand rechtsvergleichender sowie rechtsökonomischer Überlegungen bewertet werden.
A. Grundlagen
I. Legitimationsgrundlage für Neutralitätspflichten
Gemäß § 76 Abs. 1 AktG ist der Vorstand einer Aktiengesellschaft verpflichtet, die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten. Angesichts dieses Grundsatzes stellt sich die Frage, warum der Vorstand in Übernahmesituationen in seinem Leitungsermessen5 eingeschränkt werden soll.
Die Ursache für die Forderung nach Neutralitätspflichten liegt darin, dass das notorische Prinzipal-Agent-Problem in Übernahmesituationen in besonders zugespitzter Form auftritt,6 da sich der Vorstand bei seiner Entscheidungsfindung in einem erheblichen Interessenkonflikt befindet.7 So will der Bieter nach einer Übernahme in der Regel den Vorstand der Zielgesellschaft selbst stellen oder zumindest personell ergänzen. Vorstandsmitglieder müssen im Falle einer erfolgreichen Übernahme also fürchten, ihre Position zu verlieren und können daher ein starkes persönliches Interesse daran haben, die Übernahme zu verhindern.8
Für Aktionäre hingegen stellen Übernahmeangebote grundsätzlich eine Erweiterung ihrer Optionen dar, weil ihnen eine neue Desinvestitionsmöglichkeit geboten wird.9 So können Anteilseigner bei der Annahme eines Übernahmeangebots insbesondere auch in den Genuss einer Kontrollprämie kommen.10 Übernahmen können aber auch zu einer starken Änderung der Unternehmenspolitik oder sogar zur Zerschlagung der Gesellschaft führen.11 Dies kann sich nachteilig für die Aktionäre auswirken, die das Angebot nicht annehmen wollen. Das Interesse der Aktionäre kann also je nach Anlageverhalten sowohl in einer erfolgreichen Übernahme als auch in der Verhinderung der Übernahme bestehen.12 Der Regelungszweck von Neutralitätspflichten in Übernahmesituationen besteht darin, den Konflikt zwischen diesen entgegengesetzten Interessen zu lösen.13 Der Vorstand soll daran gehindert werden, Abwehrmaßnahmen
* Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School, Hamburg. Der Beitrag stellt eine stark verkürzte Fassung ihrer Examensseminararbeit dar.
1 Vgl. zum Verlauf des Übernahmekampfs Kuntz, in: Fleischer (Hrsg.), Gesellschaftsrechts-Geschichten, 2018, S. 588 ff.
2 Vgl. Oechsler, in: Münchener Kommentar zum AktG4, 2019, § 71 AktG Rn. 126; Michalski, AG 1997, 152.
3 Ausführliche Auflistung verhinderungsgeeigneter Maßnahmen bei Schlitt, in: Münchener Kommentar zum AktG4, 2017, § 33 WpÜG Rn. 83 ff.
4 Das LG Düsseldorf wies den Antrag einer Gruppe von Mannesmann Aktionären auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Medienkampagne der Gesellschaft mit der Begründung ab, dass es sich dabei um eine gewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahme handele, siehe LG Düsseldorf, AG 2000, 233 ff.
5 Zum Begriff Koch, in: Hüffer/Koch, Aktiengesetz, Kommentar13, 2018, § 76 AktG Rn. 28.
6 Siehe allgemein zum Prinzipal-Agent-Problem Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik (übersetzt von Monika Streissler), 2010, S. 225 ff.; zur Übertragbarkeit des Modells auf die Beziehung von Vorstand und Anteilseignern einer AG Koch, WM 2010, 1155 f.
7 Vgl. Holtkamp, Interessenkonflikte im Vorstand der Aktiengesellschaft, 2016, S. 270 f.
8 Hens, Vorstandspflichten bei feindlichen Übernahmeangeboten, 2003, S. 38; Koch, WM 2010, 1155 (1156).
9 Kießwetter, Die Entscheidung der Aktionäre über die Abwehr von Übernahmen, 2007, S. 22.
10 Zum Begriff der Kontrollprämie Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 35 WpÜG Rn. 8.
11 Hens (Fn. 8), S. 34 ff.
12 Eingehend zur Interessenbeurteilung nach Anlageverhalten Dimke, Neutralitätspflicht und Übernahmegesetz, 2007, S. 47 ff.
13 Vgl. Steinmeyer in: Steinmeyer, WpÜG, Kommentar4, 2019 § 33 Rn. 2; Koch, WM 2010, 1155 (1156).
aufgrund eigener Interessen zu treffen.14
Aus rechtsökonomischer Sicht wird darüber hinaus der Erhalt der Funktionsfähigkeit des Marktes für Unternehmenskontrolle als Legitimationsbasis für Neutralitätspflichten genannt. Auf dieses rechtsökonomische Argument soll nach der Untersuchung der derzeitigen Rechtslage in Deutschland näher eingegangen werden.
II. Begriff der Neutralitätspflicht
Herkömmlich umschrieb der Begriff der Neutralitätspflicht ein Verbot des Vorstands, Abwehrmaßnahmen in Übernahmesituationen zu ergreifen.15 Ein solches Verbot führt aber nicht zwingend dazu, dass sich der Vorstand tatsächlich neutral verhalten muss. So lässt es dem Vorstand – je nach konkreter Ausgestaltung – durchaus Raum für Stellungnahmen und bestimmte Verteidigungshandlungen.16 Auch heute wird in der Literatur der Terminus der Neutralitätspflicht (zum Teil bewusst)17 verwendet, um Regelungen zu umschreiben, die dem Vorstand zwar Abwehrmaßnahmen verbieten, ihn jedoch nicht gänzlich zur Passivität verdammen.18
Der Begriff wird in weiten Teilen der Literatur kritisiert.19 So deute der Wortlaut „Neutralitätspflicht“ darauf hin, dass sich der Vorstand als Pflichtenträger gänzlich neutral gegenüber einem Angebot zu verhalten habe.20 Die Bezeichnung eines Verbots der Übernahmeabwehr als Neutralitätspflicht führe zu Missverständnissen.21 Um diese terminologische Unschärfe zu vermeiden, wird daher vermehrt der Begriff des Vereitelungs- oder Verhinderungsverbots verwendet.22 Teilweise wird die Abgrenzung dadurch verdeutlicht, dass eine Regelung, die den Vorstand gänzlich zur Neutralität verpflichtet, als „strikte“ Neutralitätspflicht bezeichnet wird.23
B. Rechtslage in Deutschland
Die Frage, ob der Vorstand einem speziellen Gebot unterliegt, welches ihm die Abwehr von Übernahmeangeboten verbietet, war vor Inkrafttreten des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG) im Jahre 2002 Gegenstand intensiv geführter Diskussionen.24
I. Entwicklung einer aktienrechtlichen Neutralitätspflicht in der Literatur
Die überwiegende Meinung im Schrifttum ging schon vor Inkrafttreten des WpÜG davon aus, dass der Vorstand de lege lata einer aktienrechtlichen Neutralitätspflicht bzw. einem Verhinderungsverbot unterliegt.25 Innerhalb dieser herrschenden Meinung war jedoch vieles unscharf oder umstritten.26 Neben dem Streit um die korrekte Bezeichnung bestand weder Einigkeit über die dogmatische Herleitung noch über den exakten Regelungsgehalt einer solchen Pflicht.27 Auch wurde stark diskutiert, inwieweit das grundsätzlich anerkannte strikte Verbot, Abwehrmaßnahmen gegen ein Übernahmeangebot vorzunehmen, Ausnahmen unterworfen ist.28
II. § 33 WpÜG
Mit Inkrafttreten des WpÜG hat sich die Diskussion um die aktienrechtliche Neutralitätspflicht überwiegend auf die Frage verschoben, in welchem Verhältnis das aktienrechtliche Neutralitätsgebot zum Verhinderungsgebot nach § 33 WpÜG steht.29 Bevor diese Frage untersucht wird, soll zunächst näher auf die übernahmerechtliche Norm eingegangen werden.
1. Anwendungsbereich
§ 33 WpÜG gilt in erster Linie für Übernahmeangebote sowie für Pflichtangebote (vgl. § 39 WpÜG).30 Da es sich um eine Regelung des WpÜG handelt, ist die Vorschrift nur auf Angebote für Wertpapiere, die zum Handel am organisierten Markt zugelassen sind, anwendbar (vgl. § 1 WpÜG).
Der zeitliche Anwendungsbereich des Verhinderungsverbots beginnt gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 WpÜG mit Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots. Die Norm knüpft damit an den Zeitpunkt an, zu dem der Bieter seine Entscheidung nach Maßgabe des § 10 Abs. 3 WpÜG veröffentlicht.31 Das Verbot endet mit der Veröffentlichung des Ergebnisses nach § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 WpÜG.
14 Hopt/Roth, in: Großkommentar zum Aktiengesetz5, 2014, § 93 Rn. 214; Hopt, ZHR 166 (2002), 383 (424).
15 Auch Neutralitätsgebot, vgl. Hopt, ZHR 166 (2002), 383 (424) Fn. 197; Merkt, ZHR 165 (2001), 224 (232); Weiß, Der angemessene Handlungsrahmen der Zielverwaltung in der Übernahmesituation, 2007, S. 85 Fn. 26.
16 So etwa § 33 WpÜG, siehe dazu unten unter C.II.
17 Etwa Winter/Harbarth, ZIP 2002, 1 Fn. 5.
18 Etwa Grigoleit/Tomasic, in: Grigoleit, Aktiengesetz, Kommentar, 2013, § 93 AktG Rn. 22; Schockenhoff/Nußbaum, AG 2019, 321 (323).
19 Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 42 Fn. 80; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG (Fn. 14), § 93 AktG Rn. 213 Fn. 846; Hirte, in: Kölner Kommentar zum WpÜG2, 2010, § 33 WpÜG Rn. 26; Ekkenga, in: Ehricke/Ekkenga/Oechsler, WpÜG, Kommentar, 2003, § 33 Rn. 3 Fn. 10; Bayer, ZGR 2002, 588 (603 f.).
20 Vgl. Hirte, in: Köln WpÜG (Fn. 19), § 33 WpÜG Rn. 26; Grunewald, AG 2001, 288 (289).
21 Hopt/Roth, in: Großkomm AktG (Fn. 14), § 93 AktG Rn. 213 Fn. 846; Drygala, ZIP 2001, 1861 (1863).
22 Etwa Hopt/Roth, in: Großkomm AktG (Fn. 14), § 93 AktG Rn. 213; anders noch Hopt, in: Großkomm AktG 4. Auflage 2008, § 93 AktG Rn. 122 („Neutralitätsgebot“).
23 Vgl. Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 53; Wolf, ZIP 2008, 300 (300 ff.).
24 Dafür etwa Hopt, ZGR 1993, 534 (557 f.); Krause, AG 1996, 209 (214); mit Einschränkungen Maier-Reimer, ZHR 165 (2001), 258 (260 ff.); a.A. etwa Wiese/Demisch, DB 2001, 849 (851).
25 Etwa Hopt, ZHR 161 (1997), 368 (411); Altmeppen, ZIP 2001, 1073 (1075 ff.); Merkt, ZHR 156 (2001) 224 (234); Hopt, FS Lutter, 2000, 1361 (1375) Fn. 59.
26 Vgl. Krause/Pötzsch/Stephan, in: Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 3), § 33 Rn. 46; Röh, in Frankfurter Kommentar zum WpÜG3, 2008, § 33 Rn. 3.
27 Krause/Pötzsch/Stephan, in: Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 3), § 33 Rn. 47.
28 Etwa Hopt/Roth, in: Großkomm AktG (Fn. 14), § 93 AktG Rn. 213 Fn. 846; Brandi, in: Angerer/Geibel/Süßmann, WpÜG, Kommentar3, 2017 § 33 WpÜG Rn. 13 f.
29 Schlitt, MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn 50 ff.; Brandi, Angerer/Geibel/Süßmann (Fn. 28), § 33 Rn. 12 ff.
30 Darüber hinaus ist umstritten, ob die Norm auch auf Erwerbsangebote Anwendung findet, vgl. Hirte, Köln WpÜG (Fn. 19), § 33 Rn. 29 ff; Steinmeyer, in: Steinmeyer (Fn. 13), § 33 Rn. 11.
31 Strittig, siehe Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 70 ff.
2. Inhalt des Verhinderungsverbots nach § 33 Abs. 1 S. 1 WpÜG
§ 33 Abs. 1 S. 1 WpÜG verbietet dem Vorstand die Vornahme von Handlungen, durch die der Erfolg des Angebots verhindert werden könnte. Dabei kommt es darauf an, ob die Handlung zum Zeitpunkt ihrer Vornahme objektiv dazu geeignet ist, die Übernahme zu verhindern.32 Es ist also weder von Belang, ob mit der Handlung eine Verhinderungsabsicht des Vorstands verbunden ist,33 noch ob die Maßnahme im Fall ihrer Realisierung tatsächlich zur Vereitelung des Angebots führt.34
Welche konkreten Maßnahmen als verhinderungsgeeignet einzustufen sind, erwähnt die Norm nicht. Die Regierungsbegründung nennt als Beispiele verhinderungsgeeigneter Handlungen etwa den Erwerb eigener Aktien durch die Zielgesellschaft oder den Verkauf wesentlicher Bestandteile des Gesellschaftsvermögens („crown jewels“).35 Über die Beispiele der Regierungsbegründung hinaus sind jedenfalls solche Maßnahmen verhinderungsgeeignet, die es dem Vorstand ermöglichen, den Erfolg des Übernahmeangebots durch eigenständige Entscheidungen, also insbesondere ohne die Mitwirkung der Aktionäre,36 zu verhindern.37
Ausdrücklich erlaubt ist gemäß § 27 WpÜG eine begründete sachliche Stellungnahme. Nutzt der Vorstand die Stellungnahme in erster Linie als Werbemaßnahme und überschreitet dabei die in § 27 WpÜG vorgeschriebenen Grenzen, ist fraglich, ob es sich dabei um eine verhinderungsgeeignete Maßnahme handelt.
3. Ausnahmen
§ 33 WpÜG wird aufgrund des prinzipiellen Verhinderungsverbots in Abs. 1 S. 1 oft schlagwortartig als Neutralitätspflicht des Vorstands bezeichnet. Das grundsätzliche Verbot in Abs. 1 S. 1 wird jedoch durch weitgehende Ausnahmeregelungen in Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 durchbrochen. Nach Schlitt gehen die Ausnahmeregelungen sogar so weit, dass § 33 WpÜG eine ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers gegen die Etablierung einer Neutralitätspflicht darstellen soll.38 Inwiefern diese Einschätzung zutrifft, soll anhand der Aufarbeitung der Ausnahmetrias des § 33 Abs. 1 S. 2 WpÜG untersucht werden.
§ 33 Abs. 1 S. 2 WpÜG nennt drei Ausnahmetatbestände vom grundsätzlichen Verhinderungsverbot des § 33 Abs. 1 S. 1 WpÜG. Diese entbinden den Vorstand allerdings nicht von den allgemeinen aktienrechtlichen Anforderungen an sein Handeln. Die Maßnahmen müssen daher stets im Unternehmensinteresse liegen.39 Des Weiteren müssen die aktienrechtlichen Kompetenznormen eingehalten werden.40
Gemäß § 33 Abs. 1 S. 2, 1. Fall WpÜG sind solche Maßnahmen des Vorstands zulässig, die auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer Gesellschaft, die nicht von einem Übernahmeangebot betroffen ist, vorgenommen hätte. Diese Ausnahme soll verhindern, dass die Gesellschaft aufgrund des Verhinderungsverbots unangemessen eingeschränkt ist.41 Der Vorstand soll in der Lage sein, die Tagesgeschäfte fortzuführen und bereits eingeschlagene Unternehmensstrategien weiterhin zu verfolgen.42 Für die Beurteilung des Ermessens des Vorstands sind nach überwiegender, jedoch umstrittener Ansicht, die Grundsätze der business judgement rule (vgl. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG) anwendbar.43 In der Praxis wird von außen schwer feststellbar sein, ob eine verhinderungsgeeignete Handlung tatsächlich nicht auf das Übernahmeangebot zurückzuführen ist.44 Der Vorstand trägt daher die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme unternehmerischen Ermessens vorliegen (vgl. § 93 Abs. 2 S. 2 AktG).45
§ 33 Abs. 1 S. 2, 2. Fall WpÜG gestattet dem Vorstand, nach einem konkurrierenden Bieter („White Knight“) zu suchen. Diese Maßnahme ist grundsätzlich mit dem Interesse der Aktionäre vereinbar und war daher schon vor Inkrafttreten des WpÜG als zulässige Handlung des Vorstands in Übernahmesituationen anerkannt.46
Nach § 33 Abs. 1 S. 2, 3. Fall WpÜG sind schließlich solche Handlungen vom Verhinderungsverbot ausgenommen, denen der Aufsichtsrat vorher zugestimmt hat. Diese Ausnahme gewährt dem Vorstand die Vornahme von Handlungen, die zwar von seiner allgemeinen aktienrechtlichen Geschäftsführungskompetenz gedeckt wären,47 die er aber gerade aus Anlass des Übernahmeangebots vornehmen möchte.48 Schon aus der Zustimmungskompetenz folgt, dass der Aufsichtsrat nicht an das Vereitelungsgebot des Abs. 1 S. 1 gebunden ist.49 Er ist bei seiner Entscheidung über die Zustimmung allerdings an die organisationsrechtlichen Vorgaben des Aktienrechts und an das Gesellschaftsinteresse gebunden.50 Dieser Ausnahmetatbestand ist rechtspolitisch
32 Begründung RegE, BT-Drs. 14/7034, S. 57; Röh, in: FK (Fn. 26), § 33 Rn. 42.
33 Begründung RegE, BT-Drs. 14/7034, S. 57; Grunewald, in: Baums/Thoma/Verse, Kommentar zum WpÜG, 2017, § 33 Rn. 24.
34 Begründung RegE, BT-Drs. 14/7034, S. 57; Steinmeyer, in: Steinmeyer (Fn. 13), § 33 Rn. 16.
35 Begründung RegE, BT-Drs. 14/7034, S. 58.
36 Hens (Fn. 8), S. 205.
37 Ausführliche Auflistung bei Paschos, in: Paschos/Fleischer, Handbuch Übernahmerecht nach dem WpÜG, 2017, § 24 Rn. 172 ff.
38 Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 50; vgl. auch Ekkenga, FS Kümpel, 2003, 95 (100).
39 Grunewald, in: Baums/Thoma/Verse (Fn. 33), § 33 Rn. 58.
40 Grunewald, in: Baums/Thoma/Verse (Fn. 33), § 33 Rn. 56.
41 Begründung RegE BT-Drs. 14/7034, S.58; Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 134.
42 Brandi, in: Angerer/Geibel/Süßmann (Fn. 28), § 33 Rn. 45.
43 Strittig, dafür etwa Steinmeyer, in: Steinmeyer (Fn. 13), § 33 Rn. 22; Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 150; Hirte, ZGR 2002, 623 (635 f.); krit. etwa Fleischer, FS Wiedemann, 2002, 842.
44 Ekkenga, in: Ehricke/Ekkenga/Oechsler (Fn. 19), § 33 Rn. 46; Hens (Fn. 8), S. 208.
45 Hirte, in: Köln WpÜG (Fn. 19), § 33 Rn. 69; Hens (Fn. 8), S. 208.
46 Krause/Pötzsch/Stephan, in: Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 3), § 33 Rn. 163.
47 Brandi, in: Angerer/Geibel/Süßmann (Fn. 28), § 33 Rn. 52; Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 167.
48 OLG Stuttgart, AG 2019, 527 (532); Röh, in: FK (Fn. 26), § 33 Rn. 81.
49 Ekkenga, in: Ehricke/Ekkenga/Oechsler (Fn. 19), § 33 Rn. 52; allerdings anders, wenn der Aufsichtsrat selbst initiativ wird, siehe Ekkenga, in: Ehricke/Ekkenga/Oechsler (Fn. 19), § 33 Rn. 24.
50 Habersack, in: Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, Kommentar9, 2019 Vorb. zu § 311 AktG Rn. 19.
äußerst umstritten.51 So ermöglicht er dem Vorstand die Vornahme von Abwehrmaßnahmen, ohne die Hauptversammlung und damit den Großteil der Aktionäre, deren Entscheidungsfreiheit maßgeblich betroffen ist, jemals mit dem Vorgang zu befassen.52 Darüber hinaus wird sogar über die Vereinbarkeit des Ausnahmetatbestands mit Art. 14 GG diskutiert.53
4. Auswirkung der umfangreichen Ausnahmeregelungen auf das grundsätzliche Verhinderungsverbot in § 33 Abs. 1 S. 1 WpÜG
Die genauere Betrachtung des § 33 WpÜG zeigt, dass das grundsätzlich strikt angelegte Verhinderungsverbot des Abs. 1 S. 1 durch seine Ausnahmeregelungen weitgehend eingeschränkt wird. So wird dem Vorstand nach Abs. 1 S. 2, 1. Fall der Ermessensspielraum der business judgement rule zugesichert und nach Abs. 1 S. 2, 3. Fall sogar die Möglichkeit eröffnet, gezielte Abwehrmaßnahmen ohne Absprache mit der Hauptversammlung durchzuführen. In der Konsequenz ist dem Vorstand also nur dann die gezielte Abwehr eines Übernahmeangebots untersagt, wenn der Aufsichtsrat seine Zustimmung verweigert.54 Da Vorstand und Aufsichtsrat erfahrungsgemäß häufig „in einem Boot“ sitzen,55 wird ein solcher Fall in der Praxis eher selten vorkommen.56 Folglich ist der eingangs erwähnten Ansicht zuzustimmen, die in Abs. 1 S. 2 eine Umkehrung des in § 33 Abs. 1 S. 1 WpÜG ursprünglich angelegten Regel-Ausnahme-Verhältnisses in sein Gegenteil sieht.57
III. Verhältnis der aktienrechtlichen Neutralitätspflicht zu § 33 WpÜG
Es wurde bereits herausgearbeitet, dass sich der Gesetzgeber durch die Schaffung eines weiten Ausnahmekatalogs in § 33 WpÜG gegen die Etablierung einer strikten Neutralitätspflicht entschieden hat. Folglich stellt sich die Frage, inwiefern das in der Literatur entwickelte aktienrechtliche Vereitelungsverbot über das übernahmerechtliche Verhinderungsgebot hinaus besteht.
1. Grundproblem: Spannungsfeld zwischen Gesellschafts- und Übernahmerecht
Ein Grundproblem dieser Untersuchung rührt daher, dass es sich bei den Verhaltenspflichten des Vorstands in Übernahmesituationen um eine Regelungsproblematik im Spannungsfeld zwischen Gesellschafts- und Übernahmerecht handelt.58 So regelt § 33 WpÜG die Verhaltenspflicht des Vorstands zwar grundsätzlich auf übernahmerechtlicher Ebene, das WpÜG schließt die Anwendung aktienrechtlicher Grundsätze aber auch nicht aus. Das Spannungsfeld wird auch anhand der zwiespältigen Beurteilung der Kommentarliteratur deutlich.59 So weisen dieselben Kommentatoren auf der einen Seite auf den abschließenden Charakter des übernahmerechtlichen Verhinderungsverbots hin,60 betonen aber auf der anderen Seite die gesellschaftsrechtliche Ermessensbindung des Vorstands bei Entscheidungen über Abwehrmaßnahmen.61
2. Außerhalb des Anwendungsbereichs des § 33 WpÜG
Weitgehend Einigkeit herrscht darüber, dass die aktienrechtliche Neutralitätspflicht zumindest außerhalb des Anwendungsbereichs des § 33 WpÜG fort gilt.62 In sachlicher Hinsicht ist die aktienrechtliche Neutralitätspflicht also relevant für Übernahmeangebote, die nicht öffentlich i.S.d. § 2 Abs. 1 WpÜG sind sowie für den Erwerb von Aktien, die nicht zum Handel am organisierten Markt i.S.d. § 2 Abs. 7 WpÜG zugelassen sind.63 In zeitlicher Hinsicht soll die aktienrechtliche Neutralitätspflicht außerhalb des in § 33 WpÜG genannten Zeitraums und somit insbesondere im Vorfeld von Übernahmesituationen (Pre-Bid-Phase) weitergelten.64
3. Innerhalb des Anwendungsbereichs des § 33 WpÜG
Die Frage, inwiefern die aktienrechtliche Neutralitätspflicht innerhalb des Anwendungsbereichs des § 33 WpÜG weiterhin besteht, scheint auf den ersten Blick nicht besonders umstritten zu sein.
a) § 33 WpÜG als lex specialis
So findet sich in der Literatur die nahezu einhellige Meinung, dass § 33 WpÜG als lex specialis gegenüber der aktienrechtlichen Pflichtenstellung Vorrang zukommt.65 Dem ist zuzustimmen. Es entspricht dem klaren Willen des Gesetzgebers, die Vorstandspflichten in Übernahmesituationen mit § 33 WpÜG festzulegen.66 Die Annahme einer weitergehenden aktienrechtlichen Neutralitätspflicht neben § 33 WpÜG würde diesem gesetzgeberischen Willen widersprechen.
51 Vgl. Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 164; Paschos (Fn. 39), § 24 Rn. 127.
52 Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 40; Winter/Habarth, ZIP 2002, 1 (8).
53 Eingehend Hens (Fn. 8), S. 212 ff.
54 Ekkenga (Fn. 38), 95 (100).
55 Ekkenga/Hofschroer, DStR 2002, 724 (731); vgl. Hopt (Fn. 25), 1361 (1382).
56 Ekkenga (Fn. 38), 95 (100).
57 Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 40; vgl. Hirte, Köln WpÜG (Fn. 19), § 33 Rn. 79; Grunewald, in: Baums/Thoma/Verse (Fn. 33), § 33 Rn. 16.
58 Kirchner, AG 1999, 481 (482).
59 Vgl. dazu Möslein, Grenzen unternehmerischer Leitungsmacht im marktoffenen Verband, 2006, S. 559.
60 Krause/Pötzsch/Stephan, in: Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 3), § 33 Rn. 50; Habersack, in: Emmerich/Habersack (Fn. 50), Vorb. zu § 311 AktG Rn. 15.
61 Krause/Pötzsch/Stephan, in: Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 3), § 33 Rn. 309; Habersack, in: Emmerich/Habersack (Fn. 50), Vorb. zu § 311 AktG Rn. 17.
62 Spindler, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz5, 2019, § 76 AktG Rn. 40; Brandi, in: Angerer/Geibel/Süßmann (Fn. 28), § 33 Rn. 14.
63 Mertens/Cahn, Kölner Kommentar zum Aktiengesetz2, 1996 § 76 AktG Rn. 26; a.A. Wolf/Wink, in: Paschos/Fleischer(Fn. 39), § 20 Rn. 25.
64 Spindler, in: MüKoAktG (Fn. 62), § 76 AktG Rn. 40; ob die aktienrechtliche Neutralitätspflicht außerhalb der Übernahmesituation überhaupt besteht, ist aber wiederum umstritten, vgl. Krause/Pötzsch/Stephan, in: Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 245.
65 Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 52; Krause/Pötzsch/Stephan, in: Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 3), § 33 Rn. 50; Habersack, in: Emmerich/Habersack (Fn. 50),, Vorb. zu § 311 AktG Rn. 15; Brandi, in: Angerer/Geibel/Süßmann (Fn. 28), § 33 Rn. 14; Steinmeyer in: Steinmeyer (Fn. 13), § 33 Rn. 6.
66 Steinmeyer in: Steinmeyer (Fn. 13), § 33 Rn. 6; vgl. Wolf, ZIP 2008, 300 (301).
b) Einfluss auf die Auslegung der Ausnahmetatbestände in § 33 WpÜG?
Eine detaillierte Auswertung der Literatur ergibt jedoch, dass die dort entwickelte aktienrechtliche Neutralitätspflicht dennoch teilweise Auswirkungen auf das übernahmerechtliche Verhinderungsverbot nach § 33 WpÜG haben kann. So wird von Teilen des Schrifttums eine restriktive Auslegung der in § 33 WpÜG normierten Ausnahmetatbestände vorgenommen, die sich auf die Annahme übernahmespezifischer Verhaltensanforderungen des Aktienrechts stützt.67
Als Beispiel für einen solchen Einfluss der aktienrechtlichen Neutralitätspflicht ist insbesondere die Auslegung des § 33 Abs. 1 S. 2, 3. Fall zu nennen. So vertritt ein beträchtlicher Teil der Literatur die Ansicht, dass dem Vorstand kein weiter Ermessensspielraum nach der business judgement rule zusteht, wenn er sich auf den Ausnahmetatbestand des Abs. 1 S. 2, 3. Fall berufen will.68 Vielmehr müsse der Vorstand darlegen, dass ein qualifiziertes Unternehmensinteresse das Veräußerungsinteresse deutlich überwiegt.69 Begründet wird die Versagung des weiten Ermessensspielraums damit, dass sich der Vorstand in einer Übernahmesituation in einem besonderen Interessenkonflikt befindet.70 Das Fehlen eines solchen Interessenkonflikts stelle nach der ARAG-Entscheidung aber eine Grundvoraussetzung für die Annahme des weiten unternehmerischen Ermessens dar.71
Eine solche restriktive Auslegung des Ausnahmetatbestands ist jedoch abzulehnen. Zwar werden die aktienrechtlichen Grundsätze an und für sich nicht von den Vorschriften des WpÜG berührt.72 Die oben dargestellte Begründung verkennt aber, dass das WpÜG gerade das übernahmespezifische Verhalten des Vorstands regeln soll und somit die übernahmespezifischen Handlungsmaximen aus dem Aktienrecht nicht vollständig Geltung im Anwendungsbereich des WpÜG behalten können.73 Denn das würde bedeuten, dass es dem Vorstand auch im Rahmen des § 33 Abs. 1 S. 2, 3. Fall WpÜG grundsätzlich verboten wäre, Abwehrmaßnahmen gegen Übernahmeangebote vorzunehmen. Die Zustimmung des Aufsichtsrats würde dem Vorstand keine über das Aktienrecht hinausgehende Rechtfertigung für die Übernahmeabwehr bieten.74 Vielmehr würden die bereits aktienrechtlich anerkannten Ausnahmen des Neutralitätsgebots unter die zusätzliche Voraussetzung der Zustimmung des Aufsichtsrats gestellt. Die Übertragung der übernahmespezifischen Verhaltenspflichten des Vorstands aus dem Aktienrecht würde also zu einer Verschärfung der bestehenden aktienrechtlichen Neutralitätspflicht führen.75
Diese einschränkende Auslegung widerspricht aber dem klaren Willen des Gesetzgebers. Denn der Zweck des § 33 WpÜG lag insbesondere nach Beschlussempfehlung des Finanzausschusses vielmehr darin, den deutschen Unternehmen zu ermöglichen, sich wie andere ausländische Unternehmen zur Wehr setzen zu können.76
Wie auch aus § 3 Abs. 3 WpÜG hervorgeht, muss der Vorstand bei der Berufung auf Abs. 1 S. 2, 3. Fall zwar im Interesse der Zielgesellschaft handeln, er darf also insbesondere nicht Vermögensgegenstände verschleudern oder Aktien unter Wert anbieten.77 Darüber hinaus muss sein Ermessensspielraum jedoch nicht aufgrund der besonderen Konfliktlage modifiziert werden.78 So hat sich der Gesetzgeber dazu entschieden, dem Interessenkonflikt des Vorstands allein dadurch Rechnung zu tragen, dass der Vorstand für die Vornahme von angebotsbedingten Verteidigungsmaßahmen der Zustimmung des Aufsichtsrats bedarf.79 Die Reduktion des Handlungsermessens des Vorstands würde folglich die gesetzgeberische Entscheidung missachten und stellt letztlich den Versuch dar, übernahmespezifische Verhaltensanforderungen aus dem Aktienrecht herzuleiten.80
Die aktienrechtliche Neutralitätspflicht wird innerhalb des Anwendungsbereichs von § 33 WpÜG also vollständig vom übernahmerechtlichen Verhinderungsverbot überlagert und entfaltet auch keine Wirkung auf die Auslegung des § 33 WpÜG.
C. Rechtsvergleichende Überlegungen
Die Untersuchung der Rechtslage in Deutschland hat ergeben, dass sich der Gesetzgeber mit Verabschiedung des WpÜG gegen die Etablierung einer Neutralitätspflicht und für die Schaffung einer grundsätzlichen Abwehrbereitschaft des Vorstands entschieden hat.81 In einem weiteren Schritt soll dargelegt werden, warum ein darüber hinaus gehendes strengeres Vereitelungsverbot oder gar eine Neutralitätspflicht im engeren wörtlichen Sinne keine angemessene Lösung für die Regulierung von feindlichen Übernahmen in Deutschland darstellen würde.
I. Rechtslage in Großbritannien und Delaware
Dazu werden beispielhaft die Rechtslagen in Großbritannien und dem US-Bundesstaat Delaware betrachtet. Dort gab es insbesondere seit den 80er Jahren eine weitaus höhere Anzahl an Übernahmekämpfen,82 weswegen auch deutlich früher über die Vorstandspflichten in Übernahmesituationen
67 Vgl. Weiß, Der angemessene Handlungsrahmen der Zielverwaltung in der Übernahmesituation, 2007, S. 85.
68 Hirte, in: Köln WpÜG (Fn. 19), § 33 Rn. 83; Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 172; Steinmeyer, in: Steinmeyer (Fn. 13), § 33 Rn. 29; Winter/Harbarth, ZIP 2002, 1 (9 f.).
69 Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 173; Winter/Harbarth, ZIP 2002, 1 (10).
70 Hirte, in: Köln WpÜG (Fn. 19), § 33 Rn. 83; Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 172.
71 Krause, BB 2002, 1053 (1058); vgl. dazu auch BGHZ 135, 244 (253).
72 Vgl. Fleischer, NZG 2002, 545 (547); Holtkamp (Fn. 7), S. 291.
73 Nussbaum, Die Aktiengesellschaft als Zielgesellschaft eines Übernahmeangebots, 2003, S. 189.
74 Nussbaum (Fn. 73), S. 189.
75 Nussbaum (Fn. 73), S. 189.
76 Beschlussempfehlung FA, BT-Drs. 14/7477, S. 50; Paschos (Fn. 39), § 24 Rn. 127.
77 Habersack, in: Emmerich/Habersack (Fn. 50), Vorb. zu § 311 AktG Rn. 19.
78 So auch Grunewald, in: Baums/Thoma/Verse (Fn. 33), § 33 Rn. 70; Tröger, DZWIR 2002, 397 (403).
79 Weiß (Fn. 67), S. 102.
80 Vgl. Weiß (Fn. 67), S. 104.
81 Ekkenga (Fn. 38), 95 (110); vgl. Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 40.
82 Vgl. Kuntz (Fn. 1), S. 569.
diskutiert wurde.83 Dies führte dazu, dass die deutsche Diskussion über Neutralitätspflichten bis heute von einem rechtsvergleichenden Blick in beide Rechtsordnungen geprägt wird.84
1. Rechtslage in Großbritannien
In Großbritannien reagierte man mit einem sehr strikten Verhinderungsverbot des Managements, welches im City Code on Takeovers and Mergers festgehalten ist.85 Nach Rule 21.1 lit. a) darf das Leitorgan der Zielgesellschaft ohne Zustimmung der Hauptversammlung keine Handlungen vornehmen, die das Angebot gefährden oder den Anteilseignern die Entscheidung nehmen könnte. Dieser Grundsatz wird durch eine Auflistung konkret verbotener Maßnahmen erweitert.
2. Rechtslage in Delaware
Im US-amerikanischen Bundesstaat Delaware wurden hingegen keine gesonderten übernahmerechtlichen Pflichten des Leitorgans aufgestellt. Stattdessen reagierte der Delaware Supreme Court mit einer Modifizierung der business judgement rule.86 Maßgebend waren dabei insbesondere die Unlocal- sowie die Revlon-Entscheidung. Solange die Übernahme noch abwendbar ist, darf das board of directors nach der Unlocal-Doktrin grundsätzlich Abwehrmaßnahmen vornehmen, sofern es die Verhältnismäßigkeit seiner Verteidigungshandlungen beweisen kann.87 Strenger sind die Maßstäbe, wenn die Übernahme nach Auffassung des board unabwendbar geworden ist. Nach der Revlon-Entscheidung ist der Ermessensspielraum des Managements dann so eingeschränkt, dass das aus Sicht der Aktionäre bestmögliche Angebot ausgehandelt werden muss.88
II. Großbritannien und Delaware als gegensätzliche Regelungskonzepte
Es scheint als stünden sich mit dem britischen Konzept und dem Modell von Delaware zwei gegensätzliche Regelungskonzeptionen gegenüber. Bei der Untersuchung der Frage, warum der britische City Code so viel strengere Anforderungen an die Pflichten des Vorstands stellt, wurde unter anderem mit den Akteuren, die hinter dem City Code stehen, argumentiert. Der City Code würde von institutionellen Investoren und Banken kontrolliert, welche am stärksten von der Vereinfachung feindlicher Übernahmen und der Liberalisierung des Marktes für Unternehmenskontrolle profitieren.89 Diese Einordnung stimmt auch mit der Einschätzung überein, die in der britischen Regelung eine Bevorzugung des kurzfristigen Veräußerungsinteresses der Aktionäre gegenüber dem Unternehmensinteresse sieht.90
III. Einordnung des WpÜG in die Regelungskonzepte
Das deutsche Verhinderungsverbot orientierte sich in seinen ersten Entwürfen stark am strengeren britischen Modell, wurde im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens jedoch stetig abgeschwächt.91 In seiner derzeitigen Version scheint das deutsche Modell daher eher der Grundentscheidung Delawares gefolgt zu sein. So besteht in beiden Staaten eine prinzipielle Fortgeltung der verbandsrechtlichen Leitungsverantwortung, die in der Übernahmesituation modifiziert wird.92
Diese Entscheidung gegen die strikte Regulierung in Anlehnung an das britische Modell ist begrüßenswert. Der Finanzsektor spielt in Großbritannien eine wesentlich größere wirtschaftliche Rolle als in Deutschland.93 In der Bundesrepublik hingegen kommt der Industrie nach wie vor ein äußerst bedeutender Faktor für die nationale Wertschöpfung zu. So ist der Anteil der Industrie an der nationalen Bruttowertschöpfung in Deutschland seit Jahren nahezu konstant und lag im Jahr 2017 bei 23,4 %.94; in Großbritannien ist der Anteil der Industrie hingegen rückläufig und betrug 2017 nur noch 10,1 %. Es ist daher fraglich, ob ein Code, der in einem Land entwickelt wurde, in dem die Finanzindustrie und die Interessen der Finanzakteure von zentraler Bedeutung sind, wirklich das angemessene Modell für einen Staat darstellt, der sich nach wie vor als Industriestandort versteht.95
D. Rechtsökonomische Überlegungen
Aus rechtsökonomischer Sicht wird insbesondere der Erhalt der Funktionsfähigkeit des Marktes für Unternehmenskontrolle als Legitimationsbasis für Neutralitätspflichten genannt. Im Folgenden soll dieser Ansatz kurz dargestellt und erörtert werden, warum er angesichts des deutschen Übernahmemarkts keinen hinreichenden Grund für die Etablierung einer Neutralitätspflicht in Deutschland darstellt.
I. Theorie des Markts für Unternehmenskontrolle
Die Theorie des Marktes für Unternehmenskontrolle96 basiert auf der Grundannahme eines informationseffizienten Kapitalmarkts, dessen Kurse den Wert der Unternehmensressourcen treffend abbilden. Ein ineffizientes Management
83 Ausführlich zur historischen Entwicklung und Diskussion feindlicher Übernahmen in den USA und Großbritannien Armour/Skeel, Georgetown Law Journal, 95 (2007), 1727 (1751 ff.).
84 Vgl. etwa Weiß (Fn. 67); Dimke (Fn. 12); Hens (Fn. 8), Kirchner, BB 2000, 105 (105 ff.).
85 Der Code funktioniert auf Basis freiwilliger Selbstregulierung. Er hat aber flächendeckend Akzeptanz gefunden, vgl. Forstinger, Takeover Law in the EU and the USA, 2002, S. 118.
86 Krause/Pötzsch/Stephan, in: Assmann/Pötzsch/Schneider (Fn. 3), § 33 Rn. 328.
87 Unocal Corp. v. Mesa Petroleum Co., – 493 A.2d. 946 (Del. Supr. 1985).
88 Revlon Inc. v. Mac Andrews & Forbes Holdings Inc. – 506 A.2d. 173 (Del. Supr. 1985).
89 Armour/Skeel, Georgetown Law Journal, 95 (2007), 1727 ff.
90 Vgl. Weiß (Fn. 67), S. 209.
91 Eingehend zum Gesetzgebungsverfahren Schlitt, in: MüKoAktG (Fn. 3), § 33 WpÜG Rn. 23 ff.
92 Trotz der Ähnlichkeit kann die deutsche Regelung aber nicht mit dem Modell in Delaware gleichgesetzt werden. Zu den Unterschieden Weiß (Fn. 67), S. 183.
93 Vgl. Darstellung und Grafiken beim Wissenschaftlichen Dienst des deutschen Bundestages, Nr. WD 5 – 3000 – 054/16 (07.06.2016).
94 BMWi, Infografik 2017, www.bmwi.de/Redaktion/DE/Infografiken/Industrie/anteil-verarbeitendes-gewerbe-an-bruttowertschoepfung-in-eu-mitgliedstaaten.htm
95 Windolf, ZfP Sonderband 5, 2013, 301 (322), der allerdings davon ausgeht, dass sich Deutschland bereits an dem britischen Modell orientiert habe (306).
96 Grundlegend Manne, J. Pol. Econ., 73 (1965), 110 ff.
führe demnach zu einer niedrigen Bewertung am Kapitalmarkt. Durch den niedrigen Kurs sollen potenzielle Bieter zur Abgabe eines Übernahmeangebots bewegt werden, weil sie glauben, durch Auswechslung des Managements einen Mehrwert generieren zu können. Bereits die abstrakte Gefahr für das Leitorgan, das Amt durch eine erfolgreiche Übernahme zu verlieren, soll daher zu einer Disziplinierung des Managements im Aktionärsinteresse führen.
II. Erhalt der Funktionsfähigkeit durch Neutralitätspflichten
Diese verbandsexterne Kontrolle des Vorstands durch den Kapitalmarkt würde aufgehoben werden, wenn es dem Vorstand erlaubt wäre, seine Position durch Vornahme von Verhinderungsmaßnahmen gegen Übernahmen zu sichern.97 Nach der sehr umstrittenen Managerial Entrenchment Hypothesis dienen Abwehrmaßnahmen gegen ein Übernahmeangebot sogar allein dem Schutz einer unfähigen und damit zu Lasten der Anteilseigner agierenden Verwaltung.98 Eine Neutralitätspflicht des Vorstands in Übernahmesituationen soll folglich sicherstellen, dass die Funktionsfähigkeit des Marktes für Unternehmenskontrolle nicht durch eigennützliches Verhalten des Vorstands gestört wird.
III. Bestandsaufnahme: Markt für Unternehmenskontrolle in Deutschland
Bei der Bewertung dieser Erwägung muss der historische Hintergrund der Literatur, die sich auf diese Argumentation stützt, berücksichtigt werden. So wurde die rechtspolitische Diskussion um die Etablierung einer Neutralitätspflicht insbesondere angesichts des Gesetzgebungsverfahrens des WpÜG und somit in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum spektakulären Mannesmann-Übernahmekampf geführt.99
Der öffentlichkeitswirksame Fall wurde vielfach als Aufbruch zu einer neuen Zeit des Turbokapitalismus empfunden.100 In Anlehnung an die Vorbilder der Vereinigten Staaten und Großbritannien wurde eine deutlich höhere Zahl an feindlichen Übernahmen und eine Etablierung des Marktes für Unternehmenskontrolle in Deutschland erwartet.101 Ex-ante scheint das Bedürfnis nach einem Schutz des aufkommenden Markts für Unternehmenskontrolle durch eine Neutralitätspflicht also durchaus gerechtfertigt.
Die Entwicklung der Praxis zeigt aber, dass diese Prognosen bisher weitgehend leerliefen. So stellen feindliche Übernahmen bis heute eine Rarität am deutschen Markt dar.102 Grund dafür ist aber nicht in erster Linie die durch § 33 WpÜG eingeräumte Abwehrmöglichkeit, denn die in der Literatur befürchteten Kapitalmaßnahmen des Vorstands zur Abwehr von Übernahmen fanden in der Praxis kaum Anwendung.103 So gab es bisher nur bei der Übernahme der Hochtief AG eine Sachverhaltsprüfung der BaFin im Hinblick auf die Vereinbarung des Vorstandsverhaltens mit § 33 WpÜG.104
Als Begründung für die im internationalen Vergleich wenigen Versuche feindlicher Übernahmen werden von Praktikern vielmehr institutionelle Hürden, die das Auswechseln des Vorstands in Deutschland erschweren, genannt.105 Schon die Unternehmensmitbestimmung großer Gesellschaften, die dazu führt, dass der Bieter nach erfolgreicher Übernahme nur den Aufsichtsrat auf Aktionärsseite zügig auswechseln kann, weil er hinsichtlich der Arbeitnehmer kein Wahlrecht hat, soll die effiziente Durchführung einer feindlichen Übernahme erschweren.106
Solange die institutionellen Hürden des deutschen Aktienrechts die Etablierung eines Markts für Unternehmenskontrolle in Deutschland verhindern, stellt dieser rechtsökonomische Ansatz also keinen ausreichenden Grund dar, den Vorstand weiter in seinem unternehmerischen Ermessensspielraum einzuschränken.
E. Fazit
Die Untersuchung der Rechtslage ergibt, dass den Vorstand nur außerhalb des Anwendungsbereichs des § 33 WpÜG ein grundsätzliches Verbot zur Verhinderung von Übernahmen trifft, das allerdings nicht gänzlich ausnahmslos besteht. Innerhalb des Anwendungsbereichs wird die Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands in der Übernahmesituation nicht grundsätzlich eingeschränkt, sondern lediglich modifiziert.
Die gesetzgeberische Entscheidung gegen die Etablierung einer Neutralitätspflicht ist grundsätzlich zu begrüßen. So würde die starke Einschränkung des Handlungsspielraums des Vorstands in erster Linie dem kurzfristigen Veräußerungsinteresse von Aktionären und Bieter, hingegen nicht dem Gesellschaftsinteresse dienen. Auch die praktische Erfahrung hat gezeigt, dass der Handlungsspielraum des Vorstands nicht durch eine engere Neutralitätspflicht eingeschränkt werden muss. Denn die Maßnahmen, die Vorstände gegen die wenigen feindlichen Übernahmen in Deutschland ergriffen, hatten oft positive Auswirkungen für die Aktionäre. So gab es Fälle, in denen die negative Stellungnahme oder die Suche nach einem White Knight zu verbesserten Angebotskonditionen für die Anteilseigner führten.107 Die Praxis zeigt also, dass Abwehrmaßnahmen des Vorstands sogar im Interesse verkaufswilliger Aktionäre sein können.
Als alternative Regelungsmöglichkeiten für den nach wie vor bestehenden Interessenkonflikt des Vorstands kommen andere bereits bekannte Lösungsansätze des Prinzipal-Agenten-Konflikts in Betracht. Zu denken wäre etwa an Management-Beteiligungsprogramme, durch die der Vorstand bei dem Verkauf von Aktien profitiert und seine Interessen somit an die der Aktionäre angeglichen werden.
97 Vgl. Dimke/Heiser, NZG 2001, 241 (254 f.), krit. Schneider, AG 2002, 125 f.
98 Darstellung und Kritik bei Kopp, Erwerb eigener Aktien, 1995, S. 86 ff.
99 Vgl. Riehmer/Schröder, NZG 2000, 820 (820); Schneider, AG 2002, 125.
100 Vgl. rückblickende Darstellung m.w.N. bei Kuntz (Fn. 1), S. 560.
101 Vgl. Becker, ZHR 165 (2001), 280.
102 Genaue Zahlen bei Mager/Meyer-Fackler, Global Finance J., Volume 34 (2017), 32 (38 f.).
103 Seibt, in: Mülbert/Kiem/Wittig, 10 Jahre WpÜG, 2011, S. 155.
104 BaFin Jahresbericht, 2010, S. 223; vgl. auch Seibt, in: Mülbert/Kiem/Wittig, S. 155.
105 Vgl. Wildberger/Grobecker, Mergers and Acquisitions multi-jurisdictional guide 2013/14, S.1.
106 Kuntz (Fn. 1), S. 603.
107 Ausführliche Auflistung bei Seibt (Fn. 103), S. 156 ff.