Das Verfahren gegen Laurent Gbagbo und Charles Blé Goudé

Charlotte von Fallois

Über 4,500 schriftliche Beweisstücke, 82 vernommene Zeugen und 231 Anhörungstage1 – all das ist am 15.01.2019 mit dem Freispruch von Laurent Gbagbo und Charles Blé Goudé innerhalb von wenigen Minuten Geschichte.

Gbagbo, der ehemalige Präsident der Elfenbeinküste, und sein Minister für Jugend, Blé Goudé, waren vor dem IStGH wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt worden, die sie im auf die Präsidentschaftswahlen 2010 folgenden Bürgerkrieg verübt haben sollen.

Gbagbo ist der erste ehemalige Staatspräsident, der sich vor dem IStGH verantworten musste.2 Dass er und Blé Goudé von Verfahrenskammer I des IStGH freigesprochen wurden, kam nach Auffassung der Presse „überraschend“.3 Ob dieser Freispruch tatsächlich so „überraschend“ war oder ob er sich im Gegenteil bereits im Laufe des Verfahrens andeutete, soll in dieser Arbeit untersucht werden.

Dass der IStGH zu einem Freispruch kommen musste, lag insbesondere an zwei umstrittenen prozessualen Entscheidungen hinsichtlich dem gewählten Beweismodell und dem Umgang mit der „No Case to Answer Motion“ („NCA Motion“), die im Fokus der Analyse stehen sollen.

A. Von der Bestätigung der Anklagevorwürfe zum Freispruch

Vorverfahrenskammer I bestätigte am 12.06.2014 bzw. 11.12.2014 mit Mehrheitsbeschluss unter abweichendem Sondervotum von Richterin Van den Wyngaert die Anklage gegen Gbagbo und Blé Goudé wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in vier Anklagepunkten.4

Nachdem die Verfahrenskammer am 29.01.2016 mehrheitlich ein Beweiswürdigungssystem adaptierte,5 reichte am 23.07.2018 die Verteidigung von Blé Goudé eine „NCA Motion“ ein.6

Am 15.01.2019 gab die Kammer dem Antrag auf „No Case to Answer“ statt und sprach beide Angeklagte mit einer 2/3-Mehrheit von allen Anklagepunkten frei.7 Nach Ansicht der Kammer hatte die Anklage den ihr obliegenden Nachweis von der Schuld der Angeklagten gemäß Art. 66 Abs. 2 IStGH-Statut nicht erbracht.8

Auf die abweichenden Sondervoten von Richterin Herrera Carbuccia9 hin begründete die Mehrheit am 16.07.2019 schriftlich, warum sie einen Freispruch für angemessen hielt:10 Hauptgrund schien die Qualität der vorgebachten Beweise gewesen zu sein; diese seien „of doubtful authenticity“ und/oder „anonymous hearsay“.11 Daneben wurde auch der Beweisvortrag kritisiert, allen Schriftsätzen der Anklagebehörde fehle es an „structure, organisation and clarity.“12

B. Analyse

Dass das Verfahren trotz der dünnen Beweislage weitergeführt wurde und es schließlich zu einem Freispruch kam, liegt insbesondere an den Entscheidungen der Richterbank in Bezug auf zwei für den Verfahrensverlauf relevante Fragen: erstens dem gewählte Beweismodell und zweitens dem richtige Prüfungsmaßstab für die Beurteilung der „NCA Motion“.

Im folgenden Abschnitt soll unter Analyse der abweichenden Meinungen untersucht werden, ob sich die Mehrheit jeweils vertretbar für den von ihr gewählten Maßstab entschieden hat.

I. Beweisaufnahme

Die Entscheidung der Verfahrenskammer für ein Modell zur Beweisaufnahme war der erste wichtige Verfahrensschritt,


* Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 Case Information Sheet, S. 3, https://www.icc-cpi.int/cdi/gbagbo-goude; Batros, ICC Acquittal of Gbagbo: What Next for Crimes against Humanity? https://www.justsecurity.org/62295/icc-acquittal-gbagbo-crimes-humanity/ (19.08.2019).

2 Lyons, International Legal Materials 51 (2012), 225, 226; Labuda, The ICC´s “Evidence Problem”, https://voelkerrechtsblog.org/the-iccs-evidence-problem/ (16.08.2019).

3 LTO, Überraschender Freispruch für Ex-Präsident Gbagbo, https://www.lto.de/recht/​nachrichten/n/istgh-freispruch-ex-praesident-elfenbeinkueste-verbrechen-gegen-menschlichkeit/; Zeit Online, Überraschender Freispruch für Ex-Präsident Gbagbo, https://www.zeit.de/news/2019-01/15/den-haag-ueberraschender-freispruch-fuer-ex-praesident-gbagbo-190115-99-572214 (Aufruf: 16.08.2019).

4 Prosecutor v. Gbagbo, Decision on the Confirmation of Charges against Laurent Gbagbo, 12.06.2014, ICC-02/11-01/11-656-Red, para. 26; Prosecutor v. Blé Goudé, Decision on the Confirmation of Charges against Charles Blé Goudé, 11.12.2014, ICC-02/11-02/11-186, para. 20.

5 Prosecutor v. Gbagbo/Blé Goudé, Decision on the Submission and Admission of Evidence, 29.01.2016, ICC-02/11-01/15-405 (“Decision on the Submission of Evidence”), Dissenting Opinion of Judge Henderson, ICC-02/11-01/15-405-Anx (“Dissenting Opinion Henderson”).

6 Prosecutor v. Gbagbo/Blé Goudé, Blé Goudé Defence No Case to Answer Motion, 23.07.2018, ICC-02/11-01/15-1198-Corr-Red.

7 Prosecutor v. Gbagbo/Blé Goudé, Delivery of Decision, 15.01.2019, ICC-02/11-01/15-T-232 (“Acquittal”), Annex Dissenting Opinion to the Chamber’s Oral Decision of 15 January 2019, ICC-02/11-01/15-1234 (“Dissenting Opinion Oral Decision”).

8 Acquittal (Fn. 7), S. 3.

9 Dissenting Opinion Oral Decision (Fn. 7), para. 48.

10 Prosecutor v. Gbagbo/Blé Goudé, Reasons for Oral Decision, 16.07.2019, ICC-02/11-01/15-1263; Reasons of Judge Geoffrey Henderson, ICC-02/11-01/15-1263-AnxB-Red (“Reasons Henderson”); Opinion of Judge Cuno Tarfusser, ICC-02/11-01/15-1263-AnxA („Opinion Tarfusser”); Dissenting Opinion Judge Herrera Carbuccia, ICC-02/11-01/15-1263-AnxC-Red (“Dissenting Opinion Herrera Carbuccia”).

11 Reasons Henderson (Fn. 10), para. 4.

12 Opinion Tarfusser (Fn. 10), para. 40.

von Fallois, Das Verfahren gegen Laurent Gbagbo und Charles Blé Goudé65

der den Ausgang des Prozesses bestimmte.13

Die Verfahrenskammer ist nach Art. 64 Abs. 9 lit. a IStGH-Statut befugt, über die Zulässigkeit bzw. Erheblichkeit von Beweismitteln zu entscheiden. Die Berufungskammer stellte dazu klar, dass das Statut die Wahl des Beweismodells in die Hand der Verfahrenskammer gebe:14 Sie könne entweder über die Erheblichkeit („relevance“) und Zulässigkeit („admissibility“) entscheiden, sobald die Beweise dem Gericht vorgelegt werden. Alternativ könne die Kammer diese Gesichtspunkte auch gemeinsam am Verfahrensende berücksichtigen.15 Für eine bessere Übersichtlichkeit wird hier die erste Variante Beweisausschlussmodell genannt werden, die zweite Beweiswürdigungsmodell.16

1. Streit um das Beweismodell

Die Mehrheit adaptierte das Beweiswürdigungsmodell.17 Richter Henderson hielt dies vor dem Hintergrund der Rechte des Angeklagten und dem Prinzip des fairen Verfahrens (Art. 69 Abs. 4 Hs. 2 IStGH-Statut) für ermessensfehlerhaft und sprach sich für das Beweisausschlussmodell aus.18

2. Hintergrund

Dass für die Beweisaufnahme überhaupt die Wahlmöglichkeit zwischen zwei verschiedenen Beweismodellen besteht, liegt daran, dass den Beweismodellen zwei Strafverfahrenssysteme zugrunde liegen: auf der einen Seite das als echter Parteienprozess organisierte adversatorische Strafverfahrenssystem und auf der anderen Seite das inquisitorische Strafverfahrensmodell.19

a) Ausprägungen der Strafverfahrenssysteme

Das inquisitorische System kennzeichnet, dass die Leitung der Hauptverhandlung, die Vernehmung des Angeklagten und die Beweisaufnahme grundsätzlich Aufgabe des Richters und nicht der Verteidigung oder der Staatsanwaltschaft ist.20

Im adversatorischen Strafverfahren dagegen liegt die Aufklärung des Sachverhalts in den Händen der Parteien.21

Während also im inquisitorischen Modell der Richter versucht, mit Hilfe möglichst umfangreicher Informationen die „materielle Wahrheit“22 zu erforschen, entsteht die „formelle Wahrheit“23 im adversatorischen Verfahrenssystem in strukturierten Verfahrensabläufen aus der Dialektik der entgegengesetzten Ansichten der Parteien.24

b) Bedeutung für die Beweismodelle

Aus diesen divergierenden Vorgehensweisen zur Wahrheitsfindung ergeben sich auch unterschiedliche Anforderungen an das im jeweiligen Verfahrenssystem vertretene Beweismodell:25

Das Beweisausschlussmodell ist eng mit dem adversatorischen System des Pre-Evaluierens von Beweisen durch die Parteien verbunden.26 Denn da die Parteien ansonsten unkontrolliert falsche Informationen einbringen könnten, müssen die Beweismittel von Anfang an einer strengen Qualitätskontrolle unterworfen werden.27

Das Beweiswürdigungsmodell hat sich dagegen im inquisitorischen Verfahren entwickelt.28 Da hierbei angenommen wird, dass die Qualität der Beweismittel bereits durch die Beweiserhebung nach dem Amtsermittlungsgrundsatz sichergestellt werde,29 kennt das inquisitorische System kein gesondertes Zulässigkeitsverfahren.30

3. Bewertung

Welches Modell besser für die Beweiswürdigung vor dem IStGH geeignet ist, hängt von zwei Dingen ab: Erstens muss analysiert werden, in welches Strafverfahrenssystem das IStGH-Statut einzuordnen sind. Zweitens müssen bei der Wahl des Beweismodells die Rechte der Angeklagten berücksichtigt werden.

a) Strafverfahrenssystem im IStGH-Statut

In Bezug auf das dem IStGH-Statut zugrundeliegende Beweissystem folgt die Mehrheit einer eher kontinental-europäischen, dem Inquisitionsmodell verbundenen Lesart,31


13 Guariglia, Journal of International Criminal Justice 16 (2018), 315, 318.

14 Übersicht bei Piragoff, in: Lee (Hrsg.), The International Criminal Court, Elements of Crime and Rules of Procedure and Evidence, 2001, S. 351.

15 Prosecutor v. Bemba, Judgment on the Appeals of Mr Jean-Pierre Bemba Gombo, 03.05.2011, ICC-01/05-01/08-1386, para. 37 (“Bemba Appeals Judgement”); vgl. Piragoff/Clarke, in: Triffterer/Ambos (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court³, 2016, Art. 69 Rn. 37.

16 In Anlehnung an Guariglia (Fn. 13), 316.

17 Decision on the Submission of Evidence (Fn. 5), paras. 12, 17; Prosecutor v. Gbagbo/Blé Goudé, Decision concerning the Prosecutor’s Submission of Documentary Evidence, 09.12.2016, ICC-02/11-01/15-773 (“Decision Prosecutor´s Submission”); Dissenting Opinion of Judge Henderson, ICC-02/11-01/15-773-AnxI (“Dissenting Opinion on Prosecutor´s Submission”).

18 Dissenting Opinion Henderson (Fn. 5), paras. 1, 27.

19 Eser, in: Schroeder/Kudtratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung zwischen inquisitorischem und adversatorischem Modell, 2014, S. 10, 11; Harding, in: Eser/Rabenstein (Hrsg.), Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness, 2004, S. 11.

20 Wilhelmi, Die Verfahrensordnung des Internationalen Strafgerichtshofs, 2004., S. 22; Lagacé, Les Spécificités du Processus Judiciaire à la Cour Pénale Internationale, 2015, S. 80.

21 Orie, in: Cassese/Gaeta (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Vol. II, 2002, S. 1443; Fletcher, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 110.

22 Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren., 1998, S. 16; Eisenberg, Beweisrecht der StPO10, 2017, I Rn. 2.

23 Trüg, ZStW 120 (2008), 331, 346; zum Begriff Weßlau, ZIS 9 (2014), 558, 559 f.

24 Orie (Fn. 21), S. 1443; Harding (Fn. 19), S. 11.

25 Vgl. Damaška, University of Pennsylvania Law Review 123 (1975), 1083, 1088.

26 Vgl. Orie (Fn. 21), S. 1451; Swoboda, Verfahrens- und Beweisstrategien vor den UN-ad hoc Tribunalen, 2011, S. 160.

27 Guariglia (Fn. 13), 333; Cassese, Cassese´s International Criminal Law 3, 2013, S. 334; Buisman, in: Khan/Buisman/Gosnell (Hrsg.), Principles of Evidence in International Criminal Justice, 2010, S. 29.

28 Guariglia (Fn. 13), 333.

29 Buisman (Fn. 27), S. 29; Swoboda (Fn. 26), S. 116.

30 Vgl. Ambos, Internationales Strafrecht5, 2018, § 8 Fn. 296 zu Admissibility in Rn. 42; Guariglia (Fn. 13), 333.

31 Vgl. Decision on the Submission of Evidence (Fn. 5), para. 16.

von Fallois, Das Verfahren gegen Laurent Gbagbo und Charles Blé Goudé66

während Henderson auf das anglo-amerikanisch geprägte, adversatorische Verständnis des Beweisrechts abstellt.32

Das IStGH-Statut muss jedoch als Rechtssystem sui generis verstanden werden, das sowohl Züge des adversatorischen als auch des inquisitorischen Verfahrens aufweist.33

Denn einerseits orientiert sich das IStGH-Statut an der adversatorischen Struktur der ad hoc Tribunale und sieht statt einer Amtsaufklärungspflicht ein duales Monopol von Anklage und Verteidigung bei der Beweissammlung und -präsentation vor.34

Anderseits ist das Verfahren inquisitorisch geprägt: Denn nach Art. 54 lit a IStGH-Statut ist die Anklagebehörde zur unparteilichen Ermittlung verpflichtet.35 Die Richter sind gemäß Art. 64 Abs. 6 lit. b, d und Art. 69 Abs. 3 S. 2 IStGH-Statut dazu befugt, die Beibringung sämtlicher Beweismittel zu verlangen, die sie in Bezug auf die Wahrheitsfindung für erforderlich halten.36

Diese Vermischung beider Systeme findet sich auch in den Regeln zur Zulässigkeit von Beweisen in Art. 69 Abs. 4 IStGH-Statut wieder: Obwohl darin die technischen Regeln des Beweisausschlussmodells zugunsten der größeren Flexibilität des Beweiswürdigungsmodells vermieden werden, kann das Gericht vorab über die Zulässigkeit bzw. den Beweisausschluss entscheiden.37 Damit lässt die Norm alternativ die Adaption des Beweiswürdigungs- wie auch des Beweisausschlussmodells zu.38

Vor dem Hintergrund des gemischt adversatorisch-inquisatorischen Verfahrens im IStGH-Statut ist eine Entscheidung für ein Beweismodell deswegen immer ein Kompromiss, der in Bezug auf die Rechte der Angeklagten von Fall zu Fall auf seine Vertretbarkeit hin überprüft werden muss.39

b) Analyse der Argumentation

aa) Argumente gegen das Beweiswürdigungsmodell

Wie von Henderson betont, könnte die Entscheidung der Mehrheit vor dem Hintergrund der Verfahrensgrundsätze aus Art. 64 Abs. 2 IStGH-Statut ermessensfehlerhaft gewesen sein.40

Zum einen spreche das Recht auf ein zügiges Verfahren gegen das Beweiswürdigungsmodell, denn ohne gesonderte Zulässigkeitsprüfung würden die Akten mit Beweisen von zweifelhafter Erheblichkeit überflutet.41 Dadurch würde das Verfahren unnötig verlangsamt werden.42 In einem Prozess derartigen Ausmaßes wie im Fall Gbagbo/Blé Goudé liege es in Hendersons Auffassung in der Pflicht der Verfahrenskammer, dies zu verhindern; ihr Auswahlermessen bezüglich des Beweismodells sei deswegen eingeschränkt.43

Zum anderen habe die Verfahrenskammer bei der Wahl ihres Beweiswürdigungsmodells nicht ausreichend berücksichtigt, nur dass dies zu Lasten des Recht der Angeklagten auf ein faires Verfahren aus Art. 67 IStGH-Statut gehe: Denn da die Angeklagten nicht sicher wissen könnten, welche Beweismittel schließlich von der Kammer für ihre finale Beweiswürdigung und das Urteil genutzt werden, sei es schwierig, eine effektive Verteidigungsstrategie vorzubereiten.44

bb) Argumente für das Beweiswürdigungsmodell

Auf die Kritik Hendersons entgegnete die Mehrheit, dass die Verfahrenskammer die Fairness des Verfahrens und die Rechte des Angeklagten auch unter dem gewählten Modell aufrecht erhalten würde: Denn die Kammer könne schon vor der endgültigen Beweiswürdigung auf Antrag der Parteien oder nach freiem Ermessen über die Zulässigkeit eines bestimmten Beweisstücks entscheiden. Für die Kammer überwog jedoch das Bedürfnis, die Beweise umfassend bewerten zu können, was erst am Ende des Verfahrens im Rahmen einer Gesamtwürdigung vollständig möglich sei.45

Für die Adaption des Beweiswürdigungsmodells spreche schließlich auch, dass dadurch effektiver mit der enormen Menge an Beweismitteln umgegangen werden könne, weil nicht separat über die Zulässigkeit jedes einzelnen Beweisstücks entschieden werden müsse.46 Diese Argumentation überzeugt; so bestätigte auch die Berufungskammer, dass die Verfahrenskammer ihr Recht auf freie Wahl des Beweismodells nicht unverhältnismäßig zulasten ihrer Pflicht aus Art. 64 Abs. 2 IStGH-Statut zur Sicherstellung eines fairen und zügigen Verfahrens ausgeübt habe.47


32 Vgl. Dissenting Opinion Henderson (Fn. 5), para. 7; Dissenting Opinion on Prosecutor´s Submission (Fn. 17), paras. 2, 7 f.

33 Calvo-Goller, The Trial Proceedings of the International Criminal Court ICTY and ICTR Precedents, 2005, S. 147 ff.; Ambos, in: Eser/Rabenstein (Fn. 19), S. 141.

34 Vgl. Kirsch, International Criminal Law Review 6 (2006), 275, 278; Calvo-Goller (Fn. 33), S. 145.

35 Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht2, 2018, § 21 Rn. 43; Wei, Die Rolle des Anklägers eines internationalen Strafgerichtshofs, 2007, S. 35 f.

36 Terrier, in: Cassese/Gaeta (Fn. 21), S. 1277, 1295 f.; explizit Ermessen betonend Kirsch (Fn. 34), 279; Lagodny, ZStW 113 (2001), 800, 810 f.

37 Piragoff/Clarke (Fn. 15), Art. 69 Rn. 37; Schabas, The International Criminal Court: A Commentary on the Rome Statute, 2010, Art. 69 IV, S. 843; Klamberg, in ders. (Hrsg.), Commentary on the Law of the International Court of Justice, 2017, Art. 69 Rn. 575.

38 Vgl. Bemba Appeals Judgement (Fn. 15), para. 37.

39 Vgl. Guariglia (Fn. 13), 338 f.

40 Dissenting Opinion Henderson (Fn. 5), paras. 1, 6, 9-11, Dissenting Opinion on Prosecutor´s Submission (Fn. 17), para. 16; in diese Richtung auch Piragoff (Fn. 14), S. 351.

41 Dissenting Opinion on Prosecutor´s Submission (Fn. 17), para. 15.

42 Vgl. Dissenting Opinion Henderson (Fn. 5), paras. 21 f.

43 Vgl. Dissenting Opinion Henderson on Prosecutor´s Submission (Fn. 22), para. 15.

44 Dissenting Opinion Henderson (Fn. 5), paras. 9-11; Dissenting Opinion Henderson on Prosecutor´s Submission (Fn. 22), para. 9; Guariglia (Fn. 13), 318.

45 Decision on the Submission of Evidence (Fn. 5), para 13; Decision Prosecutor´s Submission (Fn. 17), para. 35.

46 Decision on the Submission of Evidence (Fn. 5), para. 14; Caianiello, Journal of International Criminal Justice 9 (2011), 385, 403; Bemba Admissibility Decision (Fn. 25), para. 11; Gaynor et al, Journal of International Criminal Justice 14 (2016), 689, 697.

47 Prosecutor v. Gbagbo/Blé Goudé, Judgement on the Appeals of Mr Laurent Gbagbo and Mr Charles Blé Goudé, 24.07.2017, ICC-02/11-01/15-995, para 65.

von Fallois, Das Verfahren gegen Laurent Gbagbo und Charles Blé Goudé67

4. Zwischenfazit

Die Entscheidung der Mehrheit für das Beweiswürdigungsmodell war damit ex ante nicht ermessensfehlerhaft. Zwar ist Henderson zuzustimmen, dass eine unmittelbare Entscheidung über die Unzulässigkeit von einigen Beweismitteln Zeit und insbesondere die im Folgenden darzustellende Diskussion über die „No Case to Answer Motion“ erspart hätte.48 Dass sich dies ex post herausstellte, zeigt zwar die Schwäche des Beweiswürdigungsmodells, vermag aber nichts daran ändern, dass sich die Mehrheit vertretbar für dieses Modell entschieden hat.49

II. „NCA Motion

Die „ NCA Motion“ ist ein prozessuales Filterinstrument, das aus dem Common Law stammt und im inquisitorisch ausgerichteten Civil Law unbekannt ist.50 Denn der „ NCA Motion“ liegt eine in „prosecution case“ und „defence case“ geteilte adversatorische Verfahrensstruktur zugrunde, wobei die „NCA Motion“ entscheidend für den Übergang von der einen in die andere Phase ist: Wenn der Beweisvortrag der Anklagebehörde bereits so schwach ist, dass eine Verurteilung aussichtslos erscheint, soll der Angeklagte direkt freigesprochen werden, statt ihn dazu zu zwingen, selbst durch Gegenbeweise die ohnehin ungenügend substantiierten Vorwürfe der Anklagebehörde zu entkräftigen.51 Damit fließt diese Motion in erster Linie aus der Unschuldsvermutung und dem Recht des Angeklagten auf ein schnelles und faires Verfahren aus Art. 66 Abs. 1 und 67 Abs. 1 lit. c. IStGH-Statut.52 Da eine erfolgreiche „NCA Motion“ üblicherweise in einem direkten Freispruch resultiert, dient sie außerdem auch der Prozessökonomie.53

Anders als in den Verfahrensregeln des ICTY und ICTR54 findet sich die „NCA Motion“ nicht explizit in den Regelwerken des IStGH.55 Zwar ist seit der Klarstellung durch die Berufungskammer in Ntaganda deutlich, dass es im Ermessen der Verfahrenskammer liege, über eine „NCA Motion“ auf Grundlage ihrer Befähigung aus Art. 64 Abs. 6 lit. f IStGH-Statut und Regel 134 Abs. 3 VBO zu entscheiden.56 Vor dem Hintergrund, dass die für das adversatorische Verfahren konzipierten Maßstäbe für die „NCA Motion“ nicht unbesehen auf das Hybridsystem des IStGH übertragen werden können,57 war aber zwischen den Richtern umstritten, welcher Prüfungsmaßstab für die Beurteilung der „NCA Motion“ anzuwenden sei.

1. Streit um den Prüfungsmaßstab für die „NCA Motion

Die Mehrheit der Richter favorisierte einen hohen Prüfungsmaßstab: (…) the Prosecutor has failed to satisfy the burden of proof to the requisite standard as foreseen in Article 66 of the Rome Statute.”58 Das Gericht müsse damit von der Schuld des Angeklagten so überzeugt sein, dass kein vernünftiger Zweifel bestehe („beyond reasonable doubt“).59

Dieser Maßstab wurde von Richterin Herrera Carbuccia in ihrem abweichenden Sondervotum abgelehnt:

„(…) I consider that the applicable standard is that of “whether there is evidence on which a reasonable Trial Chamber could convict”. (…)The Chamber must analyse the evidence bearing in mind the nature and purpose of this “halfway stage”, which will not conclude with a determination of the truth or a decision based on a ‘beyond reasonable doubt” standard.”60

Herrera Carbuccia folgert also, dass man an dieser Stelle das Verfahren nicht aufgrund mangelnder Beweise hätte abbrechen müssen.61 Auch hier hat der Meinungsstreit eine direkte Auswirkung auf den Verfahrensausgang.

2. Hintergrund

Um zu verstehen, was der richtige Prüfungsmaßstab für die Beurteilung „NCA Motion“ ist, müssen zunächst die Maßstäbe aufgezeigt werden, die im Internationalen Strafrecht diesbezüglich bereits entwickelt wurden.

a) ICTY: „Beyond reasonable doubt“

Zu Anfang legte das ICTY einen „prima facie case“-Maßstab an und lehnte die Motion somit ab, sofern nur glaubhaft gemacht werden konnte, dass eine Verurteilung in Zukunft möglich erschien, selbst wenn das Gericht zum Zeitpunkt der Motion noch nicht „beyond reasonable doubt“ verurteilen könnte.62

Im Jelisić-Fall wich die Verfahrenskammer davon ab und bestätigte, dass der Prüfungsmaßstab die Existenz von „evidence (if accepted) upon which a reasonable tribunal of fact couldbe satisfied beyond reasonable doubt of the guilt of the


48 Dissenting Opinion Henderson on Prosecutor´s Submission (Fn. 22), para. 9.

49 Vgl. Dissenting Opinion Herrera Carbuccia (Fn. 10), para 40.

50 Niv, Journal of International Criminal Justice 14 (2016), 1121 f; Zomer, L´Acquittement pour Insuffisance des Moyens à Charge dans le Contexte de la Justice Pénale Internationale, https://www.unilim.fr/iirco/2018/02/19/lacquittement-insuffisance-moyens-a-charge-contexte-de-justice-penale-internationale/ (19.08.2019)., Rn. I A ff.; Nemitz, in: Kirsch (Hrsg.), Internationale Strafgerichtshöfe, 2005, S. 53, 71.

51 Reasons Henderson (Fn. 10), para. 14; Prosecutor v. Milošević, Decision on Motion for Judgement of Acquittal, 16.06.2004, IT-02-54-T, para. 11; Prosecutor v. Strugar, Decision on Defence Motion Requesting Judgement of Acquittal Pursuant to Rule 986/5, 21.06.2004, IT-01-42-T, para. 13 (“Strugar Decision”); Ambos (Fn. 30), § 8 Rn 51.

52 Vgl. Prosecutor v. Ruto/Sang, Decision No. 5 on the Conduct of Trial Proceedings, 03.06.2014, ICC-01/09-01/11-1334 (“Ruto Principles), 1122; zum Common Law Martin, Journal of Criminal Law, Criminology and Police Science 51 (1960), 161, 167 f.

53 Vgl. Reasons Henderson (Fn. 10), paras. 13, 16; Ruto Principles (Fn. 52), para. 22; Niv (Fn. 50), 1135.

54 Regel 98 bis ICTY/ICTR VBO.

55 Tochilovsky, Jurisprudence of the ICC and the European Court of Human Rights, 2007, S. 536.

56 Prosecutor v. Ntaganda, Judgement on the Appeal of Mr Bosco Ntaganda, 05.09.2017, ICC-01/04-02/06-2026.

57 Ausführlich dazu Zomer (Fn. 50).

58 Acquittal (Fn. 7), S. 4 Rn. 14-16.

59 Vgl. Reasons Henderson (Fn. 10), para 14 f.

60 Dissenting Opinion Oral Decision (Fn. 7), paras. 40-41.

61 Dissenting Opinion Oral Decision (Fn. 7), paras. 48, 50.

62 Prosecutor v. Blaškić, Decision on the Defence Motion to Dismiss, 03.09.1998, IT-95-14; Prosecutor v. Kordić/Čerkez, Decision on Motions for Acquittal, 06.04.2000, IT-95-14/2, para. 26 (“Kordić/Čerkez Trial Decision”).

von Fallois, Das Verfahren gegen Laurent Gbagbo und Charles Blé Goudé68

accused on the particular charge in question63 voraussetze. Der zu erbringende Nachweis sei allerdings nicht, ob ein Tribunal aufgrund der Beweise „beyond reasonable doubt“ verurteilen würde, sondern ob es das grundsätzlich könnte.64

b) IStGH: „Prima facie”

In der Ruto-und-Sang-Entscheidung stellte der IStGH eine zweiteilige Prüfung auf („Ruto-Test“):

The test to be applied for a ’no case to answer‘ determination is whether or not, on the basis of a prima facie assessment of the evidence, there is a case, in the sense of whether there is sufficient evidence introduced on which, if accepted, a reasonable Trial Chamber could convict the accused.”65

Damit gilt (1) ein Anscheinsbeweis für die Beurteilung derjenigen Beweismittel, auf deren Grundlage (2) geprüft wird, ob hypothetisch eine Verfahrenskammer verurteilen könnte: „This approach has been usefully formulated as a requirement, at this intermediary stage, to take the prosecution evidence ‚at its highest‘ and to ‚assume that the prosecution’s evidence was entitled to credence unless incapable of belief‘ on any reasonable view.66

Damit folgt der Ruto-Test grundsätzlich der Rechtsprechung der ad hoc Tribunale67 bis auf eine entscheidende Ausnahme: Während in Jelisić betont wird, dass es bereits im „No Case to Answer“-Stadium auf die Möglichkeit einer Verurteilung „beyond reasonable doubt“ gehe,68 wird im Ruto-Test darauf hingewiesen, dass dies nicht der Fall sei: „The exercise contemplated is thus not one which assesses the evidence to the standard for conviction at the final stage [beyond reasonable doubt] of the trial.”69 Stattdessen gehe es lediglich darum, ob ein „prima facie case“ dargelegt wurde, ob also der Beweisvortrag der Anklage irgendwelche ernsthaften Fragen bezüglich der Schuld des Angeklagten aufgeworfen hat, die die Verteidigung beantworten sollte.70 Um dies zu beurteilen, müsse der „civil standard of proof”, also „preponderance of proof of guilt on the balance of probabilities” gelten.71

Diese Unterscheidung muss berücksichtigt werden, wenn im Folgenden die in Gbagbo/Blé Goudé vertretene Meinung der Mehrheit bezüglich des „NCA“-Prüfungsmaßstabs und die Kritik von Herrera Carbuccia analysiert wird.

3. Bewertung

Herrera Carbuccia forderte, dem Test aus Ruto folgend, dass die „NCA Motion“ abzulehnen sei, wenn die Anklage einen „prima facie case“ glaubhaft gemacht hat und auf dieser Basis irgendeine vernünftige Verfahrenskammer jemals zu einem Schuldspruch kommen könnte.72 Sie selbst war der Auffassung, dass die Beweise – ihre Richtigkeit unterstellt – ausreichen würden, um zu verurteilen.73 Deswegen befürwortete Herrera Carbuccia eine Abweisung der „NCA Motion“.

Die Mehrheit hingegen folgte dem „beyond reasonable doubt“-Maßstab wie in Jelisić und gab der „NCA-Motion“ deswegen statt:74 Denn die beigebrachten Beweise seien so schwach, dass schon unter Anwendung des „civil standards of proof“ nichts für die Schuld der Angeklagten sprechen würde, aber jedenfalls keine vernünftige Verfahrenskammer jemals „beyond reasonable doubt“ von der Schuld der Angeklagten überzeugt sein könnte.75

Der Ansatz der Mehrheit wurde von Herrera Carbuccia aus mehreren Gründen kritisiert:

Sie mahnte erstens an, dass die Kammer außer Acht ließe, dass die „NCA Motion“ bloß eine Zwischenstufe im Verfahren einnehme, und somit lediglich relevant sei, ob die Anklage einen „prima facie case“ glaubhaft machen könne.76

Zweitens kritisierte sie, dass die Mehrheit den für die „NCA Motion“ anzuwendenden Standard mit dem höheren Urteilsmaßstab „beyond reasonable doubt“ verwechselt habe und dies den Rechten der Angeklagten und dem Zweck der Motion widersprechen würde.77

a) Keine „prima facie“-Beurteilung der Beweise

Während Herrera Carbuccia forderte, dass die Beurteilung der „NCA Motion“ genau wie in Rutoexpeditious and superficial (prima facie)“ sein sollte,78 lehnte dies die Mehrheit ab, weil sich diese Vermutung für die Beweiskraft der Beweismittel nicht auf den Gbagbo-Fall übertragen lasse.79

Denn in Gbagbo habe sich die Kammer für das Beweiswürdigungsmodell entschieden und damit keinerlei Beweise aufgrund mangelnder Erheblichkeit oder Beweiskraft ausgeschlossen: „This sits uncomfortably with the traditional Adversarial/Common Law no case to answer test, which instructs Chambers to consider the Prosecutor’s evidence


63 Prosecutor v. Jelisić, Judgement, 05.07.2001, IT-95-10-A, paras. 36, 37 (“Jelisić Appeals Judgement”); verweist auf Prosecutor v. Kunarac, Decision on Motion for Acquittal, 03.07.2000, IT-23-1-T, para. 3 (“Kunarac Decision”); Prosecutor v. Delalić, Judgement, 20.02.2001, IT-96-21-A, para. 434 (“Delalić Appeals Judgement”).

64 Vgl. Nemitz (Fn. 50), S. 53, 71; Niv (Fn. 50), 1124.

65 Ruto Principles (Fn. 52), para. 23.

66 Ruto Principles (Fn. 52), para. 24, verweist auf Jelisić Appeals Judgement (Fn. 63), para. 55.

67 Explizit darauf berufend Ruto Principles (Fn. 52), para. 24.

68 Jelisić Appeals Judgement (Fn. 63), para. 35 f.

69 Ruto Principles (Fn. 52), para. 23.

70 Vgl. Prosecutor v. Ruto/Sang, Separate Further Opinion of Judge Eboe-Osuji, ICC-01/09-01/11-1334-Anx (“Opinion Eboe-Osuji”), para. 6.

71 Opinion Eboe-Osuji (Fn. 70), para. 4.

72 Dissenting Opinion Oral Decision (Fn. 7), para. 41, verweist auf Prosecutor v. Ruto/Sang, Decision on Defence Applications for Judgments of Acquittal, 05.04.2016, ICC-01/09-01/11-2027-Red-Corr (“Ruto Decision, Reasons of Judge Eboe-Osuji”); Dissenting Opinion of Judge Herrera Carbuccia, ICC-01/09-01/11-2027-AnxI, para. 3.

73 Vgl. Dissenting Opinion Oral Decision (Fn. 7), para. 38; Dissenting Opinion Herrera Carbuccia (Fn. 10), para. 5.

74 Acquittal (Fn. 7), S. 4 Rn. 14-16.

75 Damit wendet die Mehrheit den Maßstab aus Jelisić Appeals Judgement (Fn. 63), para. 56 an; vgl. auch Swoboda (Fn. 26), S. 341.

76 Dissenting Opinion Oral Decision (Fn. 7), para. 41; Dissenting Opinion Herrera Carbuccia (Fn. 10), para. 5.

77 Dissenting Opinion Oral Decision (Fn. 7), paras. 40, 41, 50.

78 Dissenting Opinion Oral Decision (Fn. 7), para. 41.

79 Opinion Tarfusser (Fn. 10), para. 67.

von Fallois, Das Verfahren gegen Laurent Gbagbo und Charles Blé Goudé69

at its highest.”80 Da sich also die Kammer für das im inquisitorischen Verfahren verankerte Beweiswürdigungssystem entschieden habe, könne die Kammer nicht gleichzeitig „prima facie“ eine tatsächliche Vermutung für die Beweiskraft der Beweismittel aufstellen. Denn diese Vorbeurteilung sei mit der adversatorischen Praxis des Beweisausschlussmodells untrennbar verbunden.

Dass diese Entscheidung überzeugt, zeigt sich an folgender Überlegung: Selbst wenn die Kammer „prima facie“ die Richtigkeit der Beweise unterstellt hätte, wäre die Entscheidung des Gerichts über die „NCA Motion” die selbe geblieben: „Simply put, there is no evidence in respect of which the Majority’s determination as to the need for a defence case would have changed depending on the standard applied. Otherwise stated, it is not that the Prosecutor’s evidence would only support the Prosecution’s case if it were taken ‘at its highest’, (…) it is, rather, that the Prosecutor’s evidence, whether taken individually or as whole, does not support any of the charges levelled against the accused.”81

Die von Herrera Carbuccia präferierte adversatorische „prima facie“ Herangehensweise war damit mit dem gewählten Beweiswürdigungsmodell unvereinbar und überflüssig, da die Mehrheit der Richter bereits zu diesem Zeitpunkt vollkommen davon überzeugt war, dass selbst unter Anwendung eines „prima facie“-Standards eine Verurteilung unmöglich sei.

b) Anwendung „beyond reasonable doubt“-Maßstab

Herrera Carbuccia kritisierte auch, dass die Mehrheit für die Beurteilung der „NCA Motion statt der relativ grobmaschigen Schlüssigkeitsprüfung „could convict““ bereits den der abschließenden Urteilsberatung vorbehaltenen Prüfungsmaßstab aus Art. 66 IStGH-Statut, also den Nachweis der Schuld der Angeklagten „beyond reasonable doubt“, angewandt habe.82 Dadurch würden erstens die Rechte der Angeklagten und zweitens die Funktion der „NCA Motion“ im Prozessverlauf missachtet werden.

aa) Missachtung der Rechte der Angeklagten

Falls die „NCA Motion“ unter Anwendung des „beyond reasonable doubt“-Maßstabs abgelehnt wird, ist dies tatsächlich nachteilig für die Rechte der Angeklagten:83 Denn dadurch würde der Freispruch am Ende des Verfahrens zwar nicht unmöglich, aber davon abhängig werden, dass die Angeklagten entgegen der Unschuldsvermutung Beweise für ihre Unschuld erbringen, um den von der Kammer als grundsätzlich ausreichend erachteten Beweisvortrag der Anklage zu entkräftigen.84 Dagegen muss jedoch zweierlei eingewandt werden:

Tritt das gegenteilige Szenario ein und dem Antrag auf „No Case to Answer“ wird unter Anwendung des „beyond reasonable doubt“-Maßstabs stattgegeben, dient dies im Gegenteil dem besten Interesse der Angeklagten und erspart ihnen unnötige Sorgen und Kosten.85

Vor allem aber muss bedacht werden, dass sich der Prüfungsmaßstab aus guten Gründen nur an der von der Verteidigung zu erfüllenden Beweislast orientiert, „as the defence case which would follow will not harden the prosecutors case; indeed, quite the contrary will be the case.“86 Aus diesem Grund führt die Anwendung des „beyond reasonable doubt“-Maßstabs nicht dazu, dass den Angeklagten ihr Recht auf effektive Verteidigung genommen wird – im Gegenteil, wenn bereits der „best case“ der Anklage nicht für eine Verurteilung ausreicht, verlangt die Unschuldsvermutung sogar die Anwendung eines solchen strengen Maßstabs: Andernfalls wird das Verfahren nur in der Hoffnung weitergeführt, dass der Angeklagte im Rahmen seines Vortrags die einzigen Beweismittel liefert, auf deren Grundlage er verurteilt werden könnte.87

bb) Funktion der „NCA Motion“

In Bezug auf Herrera Carbuccias zweiten Kritikpunkt soll analysiert werden, ob der von der Mehrheit angewandte Maßstab tatsächlich dem Zweck der „NCA Motion“ widerspricht.

Herrera Carbuccia betonte, dass durch die „NCA Motion“ das Verfahren nicht frühzeitig abgebrochen werden solle, nur weil die Beweislage schwach sei.88 Stattdessen handele es sich dabei nur um einen Zwischenschritt („halfway-stage“), bei der es nicht um Schuld „beyond reasonable doubt“ gehe, sondern nur darum, ob das Verfahren weitergeführt werden solle oder ob bereits jetzt absehbar ist, dass keine vernünftige Verfahrenskammer auf Basis der beigebrachten Beweise verurteilen könnte.89

Herrera Carbuccia kritisierte, dass die Mehrheit diesen im adversatorischen Verfahrensablauf verankerten Unterschied vergessen habe und somit zu früh den Maßstab für die Entscheidung über die „NCA Motion“ angewandt habe, der der abschließende Urteilsberatung vorbehalten sei:90

Dagegen muss Folgendes eingewandt werden: Der Verweis auf Art. 66 IStGH-Statut bezieht sich nicht in erster Linie auf den Urteilsmaßstab aus Art. 66 Abs. 3 IStGH-Statut, sondern stellt einen Verweis auf Abs. 2 dar, wonach die Beweislast bei der Anklage liegt, und zwar auch die Beweislast dafür, dass ein „case“ durch die Verteidigung erforderlich wird:91


80 Reasons Henderson (Fn. 10), para. 4.

81 Opinion Tarfusser (Fn. 10), para. 68; vgl. auch zum Freispruch nach Regel 98 bis Strugar Decision (Fn. 51), para. 18; Tochilovsky (Fn. 55), S. 540 Var. 2.

82 Acquittal (Fn. 7), S. 4 Rn. 14-16.; vgl. Swoboda (Fn. 26), S. 340.

83 Vgl. Ruto Decision, Reasons of Judge Eboe-Osuji (Fn. 72), para. 72.

84 Vgl. Kordić/Čerkez Trial Decision (Fn. 62), para. 27; Zomer (Fn. 50), Rn. 2.2.

85 Vgl. Safferling, International Criminal Procedure, 2012, S. 450.

86 Safferling (Fn. 85), S. 449.

87 Vgl. Reasons Henderson (Fn. 10), para. 14; Elberling, in: Klamberg (Fn. 37), Art. 66 Rn. 541 f;. Zappalà, in: Cassese/Gaeta (Fn. 21), S. 1342.

88 Dissenting Opinion Herrera Carbuccia (Fn. 10), para. 5; Strugar Decision (Fn. 51), para. 20.

89 Dissenting Opinion Oral Decision (Fn. 7), para. 41; vgl. auch Opinion Eboe-Osuji (Fn. 70), para. 10; für Regel 98 bis Tochilovsky (Fn. 55), S. 539.

90 Dissenting Opinion Oral Decision (Fn. 7), para. 41.

91 Vgl. Reasons Henderson (Fn. 10), para. 15, explizit Verweis nur auf Art. 66 II.

von Fallois, Das Verfahren gegen Laurent Gbagbo und Charles Blé Goudé70

It should be noted, in this regard, that the dissenting judge is mistaken in stating that the majority has acquitted Mr Gbagbo and Mr Blé Goudé by applying the beyond a reasonable doubt standard. The majority limited itself to assessing the evidence submitted and whether the Prosecutor has met the onus of proof to the extent necessary for warranting the Defence to respond.92

Die Mehrheit forderte für die Entkräftigung einer „NCA Motion“ damit die Erfüllung derselben Beweislast, die für eine Verurteilung notwendig wäre. Dies überzeugt, da der bis zur „No Case to Answer“-Entscheidung vorgetragene „case“ der Anklagebehörde derselbe ist, auf dem auch eine Verurteilung beruhen müsste.93

Damit prüfte die Mehrheit die Schuld der Angeklagten nicht bereits auf der „halfway stage“ der „NCA Motion“ unter Anwendung des „beyond reasonable doubt“-Standards per se,94 sondern nutzte den Prüfungsmaßstab des Art. 66 IStGH-Statut nur, um herauszufinden ob das Gericht überhaupt jemals verurteilen könnte.95 Beim Merkmal „beyond reasonable doubt“ handelt es sich also lediglich um „a gloss on the meaning of ’could convict’.96

4. Zwischenfazit

Herrea Carbuccias Kritik kann insgesamt nicht gefolgt werden:

Zwar ging die Mehrheit anders als Herrera Carbuccia nicht „prima facie“ von einer tatsächlichen Vermutung zugunsten der Beweise der Anklage aus. Dies war, wie aufgezeigt, auch sinnvoll, machte aber für die Entscheidung der Mehrheit bezüglich der „NCA Motion“ keinen Unterschied, da die Beweise nach Auffassung der Mehrheit sogar „taken at its highest“ so ungenügend waren, dass keine einzige vernünftige Verfahrenskammer auf dieser Grundlage jemals die Angeklagten schuldig sprechen könnte.97

Mit dem Verweis auf Art. 66 IStGH-Statut wandte die Mehrheit auch nicht direkt den Urteilsmaßstab an, sondern konkretisiert nur den für die „NCA Motion“ geltenden „could convict“-Maßstab im Sinne der Jelisić-Rechtsprechung, um deutlich zu machen, dass die Anklagebehörde den ihr obliegenden Nachweis schon nicht ausreichend erbracht hatte, um einen „case“ durch die Verteidigung zu erfordern, und schon gar nicht, um eine Verurteilung „beyond reasonable doubt“ zu ermöglichen.98

Insgesamt hat sich die Mehrheit damit im Rahmen ihres Ermessens unter Berücksichtigung der Rechte der Angeklagten und der Funktion der „NCA Motion“ vertretbar für den von ihr angewandten Prüfungsmaßstab entschieden.

C. Fazit

Der vermeintlich überraschende Freispruch zeichnete sich also tatsächlich schon lange im Prozessverlauf ab. Sucht man Gründe für den Freispruch, sind diese – wie dargestellt – nicht in den durchaus vertretbaren Entscheidungen der Richter zu den Verfahrensabläufen zu finden, sondern müssen in der Überzeugungskraft der Beweise selbst und in ihrer Präsentation durch die Anklagebehörde gesucht werden. Nicht nur Völkerstrafrechtler sehen deshalb das Scheitern des Prozesses auf Seiten der Anklagebehörde verankert,99 sondern auch Richter Tarfusser wird in der Begründung des Freispruchs sehr deutlich: „I feel it is my duty to add here that I found (…) the overall performance of the Office of the Prosecutor far from satisfactory.”100

Neben der Enttäuschung über die Arbeit der Anklagebehörde bleibt damit vor allem die Kritik an der Funktionsfähigkeit des IStGH als arbeitsfähigem Weltgericht.101

Dennoch ist es abschließend wichtig, sich mit den Worten von Richard Goldstone ins Gedächtnis zu rufen, dass der Freispruch von Gbagbo und Blé Goudé nicht nur als Niederlage der internationalen Strafjustiz begriffen werden darf, sondern in gewisser Weise auch ein Sieg der unabhängigen Justiz ist: „The fairness of any criminal justice system must be judged by acquittals and not by convictions.“102 %————–Content End—————————————


92 Prosecutor v. Gbagbo/Blé Goudé, Transcript Detention Decision, 16.01.2019, ICC-02/11-01/15-T-234-ENG ET WT, S. 4 Rn. 11-16, („Detention Decision“).

93 Vgl. Safferling (Fn. 85), S. 449.

94 Sich als zutreffend herausstellend Bradford, No Case to Answer? Show Me the (Standard of) Proof!, http://opiniojuris.org/2019/01/20/no-case-to-answer-show-me-the-standard-of-proof/ (Stand: 19.08.2019).

95 Explizit Jelisić Appeals Judgement (Fn. 63), para. 35, „could convict” enthalte notwendigerweise das Konzept von „guilt beyond reasonable doubt“.

96 Prosecutor v. Sikirica, Judgement on Motions for Acquittal, 03.09.2001, IT-95-8-T, paras. 10; verweist auf Kunarac Decision (Fn. 63), para. 3.

97 Vgl. dazu Delalić Appeals Judgement (Fn. 63), para. 434.

98 Vgl. Detention Decision (Fn. 92), S. 4, Rn. 11-16.

99 Ellis, The Latest Crisis of the ICC: The Acquittal of Laurent Gbagbo, http://opiniojuris.org/2019/03/28/the-latest-crisis-of-the-icc-the-acquittal-of-laurent-gbagbo/, Peniguet/Cruvellier, Acquittal of Gbagbo and Blé Goudé: a hammering for the Prosecutor’s office, https://www.justiceinfo.net/en/tribunals/icc/40006-acquittal-of-gbagbo-and-ble-goude-a-hammering-for-the-prosecutor-s-office.html (Aufruf: 14.08.2019).

100 Opinion Tarfusser (Fn. 10), para. 89.

101 Ellis (Fn. 99); Safferling, Der Internationale Strafgerichtshof schwächt sich selbst, https://www.fau.de/2019/01/news/​nachgefragt/der-internationale-strafgerichtshof-schwaecht-sich-selbst/ (Aufruf: 15.08.2019).

102 Goldstone, Acquittals by the International Criminal Court, https://www.ejiltalk.org/acquittals-by-the-international-criminal-court/ (Aufruf: 15.08.2019).