Choice Architecture vor dem Hintergrund der Privatautonomie

Michael Saalfeld*

A. Einleitung

Ein Mindestmaß an Information ist notwendige Bedingung jeder autonomen Entscheidung. Ohne hinreichendes Wissen über seine Umwelt vermag ein Mensch kaum, selbstbestimmt sein Leben zu gestalten. Diese trivialen Einsichten bilden die Grundlage für das sogenannte Informationsmodell. Der Kerngedanke dieses vor allem im Privatrecht relevanten Regulierungsansatzes ist es, „unter größtmöglichem Absehen von einer inhaltlichen Regelung des betroffenen Sachverhalts die informationelle Disparität zwischen verschiedenen Marktakteuren durch (zumeist) zwingende Verfügbarmachung von Informationen zu beseitigen.“1

Es soll also die Notwendigkeit (sozial-)staatlichen Paternalismus durch die Schaffung informatorischer Parität zurückgedrängt werden.2 Dahinter stehen Hoffnungen, dass die informierte Entscheiderin ihr Leben ganz nach ihren persönlichen Präferenzen gestalten können und dies auch tun wird.3 Ein Blick auf die Realität trübt diese Erwartungen jedoch: „Anleger lesen keine Börsenprospekte, sie vertrauen auf Werbespots mit Schauspielern und Moderatoren. Raucher ärgern sich über bevormundende Warnungen auf Zigarettenpapieren und werden auch durch das vollständige Tabakwerbeverbot der Europäischen Union nicht gebremst. Verbraucher ziehen den aktuellen Genuss dem langfristigen Ansparen vor und sind auch bereit, hohe risikogerechte Darlehenszinsen zu zahlen, um ihren Gegenwartskonsum finanzieren zu können.“4

Beobachtungen dieser Art wurden von kognitionswissenschaftlichen Strömungen aufgegriffen. Verhaltensforscher wie Daniel Kahneman und Richard Thaler legten dar, dass Menschen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Informationen nicht nur eingeschränkt rational umgehen, sondern auch regelmäßig in gleichförmiger Weise vom Rationalverhalten abweichen. Während manche Informationen die Entscheidungen des Einzelnen übermäßig beeinflussen, werden andere von ihm nicht hinreichend gewürdigt oder ganz vernachlässigt.5

Diese Erkenntnisse stießen die Entwicklung eines neuen Forschungsfelds an, das man heute vor allem unter dem Namen „Behavioral Economics“ kennt.6 Auf dessen Basis entwickelten Wissenschaftler wie Cass R. Sunstein und Richard Thaler Methoden, Informationen und rechtliche Strukturen so zu instrumentalisieren, dass sie die Entscheidung des Einzelnen gezielt in eine Richtung lenken, ohne ihm dabei eine Entscheidungsoption aufzuzwingen.7 Diese Strategien können unter dem Begriff der „Choice Architecture“ zusammengefasst werden.8 Ihnen ist gemeinsam, dass sie dem Adressaten im jeweiligen Kontext grundsätzlich eine freie Entscheidung belassen und seine ökonomische Anreizstruktur kaum berühren, faktisch aber einen erheblichen Einfluss auf das Entscheidungsergebnis haben können.9

Obwohl Choice Architecture-Maßnahmen (im Folgenden auch „behavioralistische Interventionen“)10 geeignet sind, ein sehr weites Feld an praktisch relevanten rechtlichen Fragen zu eröffnen, wurde ihre juristische Einordnung von der deutschen Literatur bisher nur vergleichsweise wenig untersucht.11 Dieser Beitrag soll deshalb – als Einführungs- und Einstiegsliteratur – auf die Thematik und ihre rechtliche Dimension aufmerksam machen.

Zunächst möchte ich drei elementare Erkenntnisse der


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School in Hamburg.
1 Hacker, Verhaltensökonomik und Normativität, 2017, S. 395.

2 Ausführlicher: Schön, in: FS Canaris, 2007, S. 1191, 1193-1196.

3 Siehe dazu näher: Hacker (Fn. 1), S. 425-429.

4 Schön (Fn. 2), S. 1191, 1211.

5 Grundlegend war insoweit: Kahneman, Schnelles Denken, Langsames Denken (Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt), 2012. Kahneman wurde 2002 gerade mit Blick auf Vorläuferpublikationen zu diesem Werk mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet.

6 Diese Forschungsrichtung wandte sich gegen die in der Ökonomie lange dominante „Rationalverhaltensannahme“, infolge derer man für die Modellierung wirtschaftlicher Vorgänge stets von Menschen mit den Eigenschaften eines „Homo oeconomicus“ ausging, also eines fiktiven Charakters, der zu uneingeschränkt rationalem Verhalten fähig ist und stets nach maximalem Eigennutz strebt. Einführend insoweit etwa: Lieth, Die ökonomische Analyse des Rechts im Spiegelbild klassischer Argumentationsrestriktionen des Rechts und seiner Methodenlehre, 2007, S. 49-62; oder auch Just, Introduction to Behavioral Economics, 2014, S. 2-8. Zur Entwicklung der Behavioral Economics: Cartwright, Behavioral Economics, 2011, S. 7-10.

7 Grundlegend war insoweit: Thaler/Sunstein, Nudge, Wie man kluge Entscheidungen anstößt (aus dem Amerikanischen von Christoph Bausum), 2008. Gerade mit Blick auf dieses Werk wurde auch Thaler 2017 mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet.

8 Das Konzept der Choice Architecture ist eigentlich ein weitergehendes. Mit ihm wird generell beschrieben, wie die – geplante oder auch unbewusste – Gestaltung des Umfelds, in dem sich der Entscheider befindet, auf seine Entscheidung einwirkt. Im Folgenden soll der Begriff nur dazu dienen, die unter B.I und B.II dargestellten Maßnahmen zur Änderung dieses Umfelds ohne signifikante Beeinflussung der Anreizstruktur des Entscheiders zusammenzufassen; siehe näher: Thaler/Sunstein (Fn. 7), S. 118-144; Schweizer, Nudging and the principle of proportionality, 2015, S. 2-4.

9 Dieser Regulierungsansatz wird auch oft unter dem Stichwort des „Libertären Paternalismus“ diskutiert; siehe etwa Thaler/Sunstein (Fn. 7), S. 14-16. In der deutschen Literatur wird das Wort „libertär“ insoweit gerne durch „liberal“ ersetzt; so etwa bei Eidenmüller, JZ 2011, 814; siehe auch Weber/Schäfer, Der Staat 2017, 561, 575-577.

10 Anschließend an die (differenziertere) Darstellung bei Hacker (Fn. 1), S. 439-444.

11 Zu nennen sind insbesondere Fleischer, in: FS Immenga, 2004, S. 575; van Aaken, in: GS Augustin, 2006, S. 109; Eidenmüller (Fn. 9), 814; Kirste, JZ 2011, 805; Kasiske, in: Bock (Hrsg.), Strafrecht als interdisziplinäre Wissenschaft, 2015, S. 75; Kirchhof, ZRP 2015, 136; Korch, Haftung und Verhalten: Eine ökonomische Untersuchung des Haftungsrechts unter Berücksichtigung begrenzter Rationalität und komplexer Präferenzen, 2015; Wolff, RW 2015, 195; die Beiträge in: Kemmerer/Möllers/Steinbeis/Wagner (Hrsg.), Choice Architecture in Democracies, Exploring the Legitimacy of Nudging, 2016; Schweizer (Fn. 8), Purnhagen/Reisch, ZEuP 2016, 629; Seckelmann/Lamping, DÖV 2016, 189; Hacker (Fn. 1); Weber/Schäfer (Fn. 9), 561; Smeddinck/Bornemann, DÖV 2018, 513; Gebhardi, „Nudging“, Vorläufiger Titel, Dissertation im Erscheinen.

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Kognitionsforschung vorstellen, die die Grundlage der Choice Architecture bilden (B). Dann will ich auf zwei in diesen Bereich fallende Maßnahmenkategorien sowie einen weiteren von verhaltensökonomischen Erkenntnissen geprägten Regulierungsansatz eingehen (C). Im letzten Teil sollen schließlich einige wenige der vielen Forschungsfragen aufgezeigt werden, die sich bei der rechtswissenschaftlichen Untersuchung der Choice Architecture stellen könnten. Dafür werde ich solche Problembereiche aufgreifen, die meines Erachtens bei der verfassungsrechtlichen Prüfung einer behavioralistischen Intervention am Maßstab der Privatautonomie nach Art. 2 I GG näher zu untersuchen wären (D).

B. Grundliegende Erkenntnisse aus der Kognitionsforschung

I. Bounded Rationality

Zunächst also zu den kognitionswissenschaftlichen Grundlagen. Im Gegensatz zum modellhaften „Homo oeconomicus“ ordnen Menschen die Informationen, über die sie verfügen, nicht immer richtig ein. Außerdem gründen sie ihre Entscheidungen meist nur auf Teilbereiche ihres eigentlich vorhandenen, für die Entscheidung theoretisch relevanten Wissens. Das Verhalten, das sie an den Tag legen, kann man deswegen als „boundedly rational“, also als begrenzt rational beschreiben.12

Um trotz dieser „Schwächen“ handlungsfähig zu bleiben, bedienen sich Menschen bei fast jeder alltäglichen Entscheidung einer Vielzahl von Heuristiken, grober Entscheidungsregeln, deren Gehalt sie in der Vergangenheit bei verschiedensten Gelegenheiten intuitiv erlernt haben. Besonderes Kennzeichen dieser Regeln ist es, dass sie weitestgehend losgelöst vom jeweiligen Kontext flexibel eingesetzt werden können. Sie beschränken sich also nicht auf eine Sachmaterie, sondern eher auf einen relativ weiten Kreis von Problemkonstellationen.13 Welche Heuristiken der Einzelne erlernt hat oder gerade anwendet, ist ihm praktisch immer nahezu unbekannt.14 Heuristiken arbeiten im Unterbewusstsein und sind oft derart komplex untereinander und mit (anderen) Erinnerungsmustern vernetzt, dass selbst ein aufmerksamer Beobachter in den meisten Fällen allenfalls erahnen kann, welche Regeln letztlich für das vom Entscheider gewählte Ergebnis „verantwortlich“ waren.15

Der Einsatz von Heuristiken führt zu einer enormen Ersparnis von Informationskosten. Gleichzeitig birgt er die Gefahr kognitiver Verzerrungen, sogenannter „Biases“. Diese entstehen, wenn die Entscheidungsregel im jeweiligen Kontext unpassend oder auf übermäßige Weise eingesetzt wird.16 Die verhaltensökonomische Forschung hat über die Zeit hinweg verschiedenste regelmäßig auftauchende Biases entdeckt. Übermäßiger Optimismus und übertriebenes Selbstbewusstsein („Overconfidence Effect“)17 , die gedankliche Verknüpfung sachlich inkonnexer Informationen („Ankereffekt“)18 oder die übermäßige Neigung zu subjektiv besser bekannten Strukturen („Status Quo Bias“ und „Availibility Bias“)19 sind nur einige Beispiele.20

II. Bounded Willpower

Doch Menschen sind nicht nur „boundedly rational“. Sie handeln auch dann, wenn sie tatsächlich hinreichend informiert sind, oft irrational: So tendieren sie dazu, eher ihren Kurzzeitinteressen als ihren Langzeitinteressen nachzugehen. Gemeint ist damit nicht, dass Menschen gewöhnlicherweise die Realisierung von Kurzzeitzielen präferieren – dann wäre ein solches Verhalten gerade rational. Vielmehr ist darüber hinaus erkennbar, dass sie die negativen Langzeiteffekte ihrer Handlungen ausblenden; also gar nicht „ernsthaft“ in eine Abwägung mit den Vorteilen der Verwirklichung ihrer Kurzzeitinteressen einsteigen, wie dies ein perfekt rationaler Entscheider tun müsste. Bezeichnet wird dieses Verhaltensmerkmal gemeinhin als „Bounded Willpower“.21

III. Bounded Self-Interest

Außerdem konnte man beobachten, dass Menschen sich – nicht wie der stets eigennützig denkende „Homo oeconomicus“ – auch von Fairnessnormen motivieren lassen. Sie zeigen dann „Bounded Self-interest“. Damit ist nicht etwa nur altruistisches Verhalten gemeint. Vielmehr geht es darum, dass Menschen dazu neigen, andere fair zu behandeln, obwohl es dafür streng ökonomisch betrachtet keine hinreichenden Gründe gibt – also meist aus purer Dankbarkeit.22

Dies wirkt auf den ersten Blick zwar weniger „dramatisch“ als „Bounded Rationality“ und „Bounded Willpower“, kann aber im Einzelfall den Interessen des Entscheiders so massiv zuwiderlaufen, dass selbst er seine Entscheidung im Nachhinein als schweren Fehler bezeichnen würde. Außerdem kann er dadurch in die Gefahr geraten, von Anderen ausgenutzt zu werden.23

C. Kategorien verhaltensökonomisch geprägter Regulierungsansätze

Diese Erkenntnisse können nun zur Grundlage einiger Maßnahmentypen gemacht werden.


12 Jolls/Sunstein/Thaler, in: Sunstein (Hrsg.), Behavioral Law and Economics, 2000, S. 13, 14 f.; siehe auch Englerth, in: v. Towfigh/Petersen (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2010, S. 177-193.

13 Zu alledem besonders zugänglich: Kahneman (Fn.5), S. 127-135; oder auch Baddeley, Behavioural Economics, A Very Short Introduction, 2017, S. 36-38; ausführlicher: Cartwright (Fn. 6), S. 27-84.

14 Dazu etwa Kahneman (Fn. 5), S. 42; siehe auch in Bezug auf die Wahrnehmung schon von Entscheidungssituationen als solchen Weber/Schäfer (Fn. 9), 561, 578.

15 Vgl. etwa Hacker (Fn. 1), S. 145 f. Insoweit besonders eindrücklich: Kahneman (Fn. 5), S. 69-80.

16 Besonders eingänglich: Thaler/Sunstein (Fn. 7), S. 31-60.

17 Kahneman (Fn. 5), S. 247-328.

18 Kahneman (Fn. 5), S. 152-163.

19 Kahneman (Fn. 5), S. 173-183, 374 f.; Thaler/Sunstein (Fn. 7), S. 55-57.

20 Umfassend: Kahneman (Fn. 5), S. 137-243; kürzer: Baddeley (Fn. 13), S. 38-48; siehe auch Sunstein, in: ders. (Fn. 12), S. 1, 3-5 mit Verweis auf die entsprechenden Folgebeiträge im selben Werk.

21 Jolls/Sunstein/Thaler (Fn. 12), S. 13, 15; Englerth (Fn. 12), S. 193-196.

22 Jolls/Sunstein/Thaler (Fn. 12), S. 13, 16; Englerth (Fn. 12), S. 174-177.

23 Ein aus der rechtswissenschaftlichen Literatur besonders bekanntes Beispiel hierfür dürfte etwa die Angehörigenbürgschaft sein; siehe zu ihrer juristischen Aufarbeitung etwa Beck, Jura 2019, 244.

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I. Debiasing

Da wäre zunächst das „Debiasing“. Darunter versteht man solche Strategien, die auf Ebene der Entscheidungsfindung gegen die Manifestation von Biases vorgehen.24

Eine Möglichkeit, diesen Effekt zu erzielen, ist es, die Adressaten zu stärkerem Nachdenken anzuregen. Hierfür hilft es, mit Kahneman zwischen zwei Denkmodi zu unterscheiden, derer sich der Mensch tagtäglich bedient: Einer, der es ihm ermöglicht, schnell, quasi „automatisch“ zu reagieren, der wenig aufwendig, dafür aber auch kaum akut kontrollierbar ist („System 1“); und einer, der bewusstere und überlegtere Entscheidungen entstehen lässt, aber auch bedeutend mehr (Konzentrations-)Aufwand mit sich bringt („System 2“).25 Mit gezieltem Debiasing kann man nun den Adressaten von System 1 in System 2 versetzen. Dadurch werden freilich nicht alle Biases ausgeschlossen. Die Anwendung einiger Heuristiken, die im System 1 dominant sind, greifen aber bei einer „System 2-Entscheidung“ typischerweise weniger stark durch.26 Eine Methode, dies zu erzielen, ist es zum Beispiel, den Adressaten vor eine finale, irreversible Entscheidung zu stellen, etwa mittels einer dispositiven Gestaltung von Widerrufsrechten.27 Er kann aber auch schlicht über die im jeweiligen Kontext häufig vorkommenden Biases direkt aufgeklärt werden. Denkbar wären beispielsweise Warnungen vor Selbstüberschätzung auf dem Kapitalmarkt.28

Ein anderer Weg, Biases zu bekämpfen, ist das „Rebiasing“. Dabei wird einem zu befürchtenden Bias durch gezielte Beeinflussung der Entscheiderin ein im jeweiligen Kontext inhaltlich konträr wirkender Bias entgegengesetzt – quasi als „Gegengift“.29 Ein Beispiel hierfür wäre das von Thaler und Benartzi entwickelte „Save More Tomorrow“-Programm, bei dem insbesondere die Verlustaversion (ein Bias, der entgangene Gewinne für Menschen weniger schmerzlich erscheinen lässt als Verluste) instrumentalisiert wird, um die Adressaten zum Abschluss einer Rentenversicherung und damit zur Überwindung ihrer „Bounded Willpower“ zu bewegen.30 Biases werden bei dieser Art der Choice Architecture also nicht mehr nur zum Gegenspieler, sondern auch zum Mittel staatlicher Regulierung.31

II. Nudging

Ähnlich wie das Rebiasing funktioniert nun das „Nudging“. Auch dessen kennzeichnendes Merkmal ist es, dass gezielt Heuristiken aktiviert werden, die bei der Entscheidungsfindung des Adressaten sonst nicht in gleichem Maße zur Geltung gelangt wären. Ziel muss es hier aber nicht sein, gegen einen Bias vorzugehen. Es kann auch auf einen Entscheider schlicht mit dem Ziel eingewirkt werden, ihn zu einer bestimmten Entscheidung hinzubewegen.32

Ein Beispiel hierfür wäre das „Fairness Nudging“. Bei diesem Ansatz wird versucht, den Bounded Self-Interest zu instrumentalisieren, um so die Beachtung von Gemeinwohlzielen durch die Adressaten zu fördern. Bewirkt werden kann dies etwa mittels gezielter, graphisch unterstützter Hinweise auf Missstände in Produktionsländern. Durch sie sollen die Adressaten dazu angeregt werden, solche Produkte zu kaufen, die unter menschenwürdigen Produktionsbedingungen hergestellt wurden – auch, wenn dies vielleicht gegen ihre unmittelbaren Interessen geht (etwa in Bezug auf individuelle Schönheitsvorstellungen bei Kleidung).33

III. Bias Countering

Das „Bias Countering“ schließlich fällt nicht unter den Begriff der Choice Architecture, bedient sich aber dennoch der Erkenntnisse der Kognitionsforschung. Bei diesem Maßnahmetyp wird die Entstehung eines bestimmten Bias angenommen und eine ihm entsprechende Entscheidung antizipiert. Die Maßnahme selbst liegt dann in einer Korrektur der Auswirkungen des Entscheidungsergebnisses des Adressaten, lässt aber dessen Entscheidungsprozess unberührt.34 So könnten etwa Anlageberater dazu verpflichtet werden, überoptimistisches Verhalten ihrer Kunden bei der Beratung zu berücksichtigen, unabhängig davon, ob letztere dies explizit verlangt haben oder nicht.35

D. Choice Architecture vor dem Hintergrund der Privatautonomie

Behavioralistische Interventionen werfen für den Rechtswissenschaftler nun eine Vielzahl von Fragen auf. Als besonders interessanter Diskussionspunkt bietet sich etwa ihr Verhältnis zur Privatautonomie nach Art. 2 I GG an. Im Folgenden möchte ich einige Aspekte zu ihm in der Struktur einer Verfassungsmäßigkeitsprüfung überblicksartig darstellen. Ziel soll es sein, zu veranschaulichen, dass behavioralis\-tische Interventionen rechtlich relevante Besonderheiten aufweisen, die sich bei anderen Maßnahmentypen nicht so in den Vordergrund drängen.36


24 Eine Gesamtdarstellung findet sich bei Hacker (Fn. 1), S. 574-642; eine Übersicht über einige Strategien zum Debiasing bei Fischhoff, in: Gilovich/Griffin/Kahneman (Hrsg.), Heuristics and Biases, The Psychology of Intuitive Judgement, 2002, S. 730, 732.

25 Kahneman (Fn. 5), S. 32-37.

26 Besonders eingänglich: Kahneman (Fn. 5), S. 55-68; siehe auch van Aaken, in: Kemmerer/Möllers/Steinbeis/Wagner (Hrsg.), Choice Architecture in Democracies, Exploring the Legitimacy of Nudging, 2016, S. 161, 180-182.

27 Siehe dazu etwa Eidenmüller, in: Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis, 2011, S. 134-139.

28 Hacker (Fn. 1), S. 599.

29 Hacker (Fn. 1), S. 585.

30 Siehe dazu näher Thaler/Sunstein (Fn. 7), S. 148-166.

31 Eine Gesamtdarstellung zum Rebiasing findet sich bei Hacker (Fn. 1), S. 585-594.

32 Siehe etwa Thaler/Sunstein (Fn. 7), S. 13-19. Die am Maßnahmenziel ausgerichtete Unterscheidung zwischen Debiasing, Rebiasing und Nudging dient, soweit ersichtlich, nur der Strukturierung. Sie erleichtert m.E. aber den rechtswissenschaftlichen Umgang mit einzelnen Maßnahmen. ­Oft wird der Themenbereich nur unter einem weiten Begriff des “Nudging” behandelt, der auch De- und Rebiasing umfasst.

33 Hacker (Fn. 1), S. 642-647; siehe auch Thaler/Sunstein (Fn. 7), S. 248-274; Wolff (Fn. 11), 195, 201 f.

34 Hacker (Fn. 1), S. 647-649.

35 Vgl. Hacker (Fn. 1), S. 647.

36 Dabei können die folgenden Überlegungen weder beanspruchen, die Thematik abschließend, noch in ihren wesentlichen Gesichtspunkten vollständig zu erschließen. Sie sind erste Denkanstöße, die einen Eindruck davon vermitteln sollen, welche Schwierigkeiten der rechtliche Umgang mit der Choice Architecture bergen könnte und worüber man in diesem Kontext weiter nachdenken kann.

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I. Eröffnung des Schutzbereichs und Eingriff

Art. 2 I GG gewährleistet die Privatautonomie als Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben.37 Behavioralistische Interventionen können in diesen Schutzbereich eingreifen. So bleibt es den Adressaten einer solchen Maßnahme zwar unbenommen, sich entgegen der Richtung zu entscheiden, die diese vorgibt. Nach dem modernen Eingriffsbegriff können aber auch mittelbar-faktische Einwirkungen Grundrechtseingriffe darstellen; vorausgesetzt, sie sind von einer gewissen Intensität.38 Dies dürfte regelmäßig der Fall sein, schließlich ist Choice Architecture gerade auf die Erzielung faktischer Wirkungen ausgerichtet.39

Damit ist aber noch nicht gesagt, ob alle Formen der Choice Architecture Grundrechtseingriffe darstellen. Besonders interessant erscheint insoweit die Frage, ob auch solche behavioralistischen Interventionen in die Privatautonomie eingreifen, die nur der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen zugutekommen sollen. So könnte man etwa Maßnahmen, die allein darauf abzielen, den Entscheider von System 1 auf System 2 zu „schalten“, als einzigen Autonomiegewinn begreifen. Schließlich machen sie dessen Entscheidung nur für ihn bewusster.40 Schwierigkeiten tun sich hier jedoch auf, wenn man es auch als Teil der individuellen Präferenzordnung begreift, sich mit einer Sache gerade nicht näher beschäftigen und stattdessen System 1 in den Dienst nehmen zu wollen. In diese Freiheit wird dann auch durch solche Maßnahmen eingegriffen – unabhängig davon, ob mit ihnen irgendeine anderweitige, die Freiheitsausübung fördernde Wirkung einhergeht oder nicht.41 Ähnliches ergibt sich, wenn man Maßnahmen in den Blick nimmt, die den Adressaten vor bestimmten Biases schützen sollen, ohne auf eine bewusstere Entscheidung zu setzen, etwa gezieltes Rebiasing. Hier wird ihm zumindest die Freiheit genommen, darüber zu bestimmen, ob er in seiner Entscheidung durch den Staat und in Form eines anerkannten Rationalitätsideals unterstützt werden soll.42

II. Verhältnismäßigkeit

Schon auf Eingriffsebene stellen sich also interessante Forschungsfragen. Doch auch bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer behavioralistischer Intervention stößt man auf Unsicherheiten.

1. Legitimer Zweck

Choice Architecture kann zu den verschiedensten Zwecken eingesetzt werden: Der Gesundheitsschutz, die Einkommensstabilität, die Prävention von Diskriminierung und der Naturschutz sind nur einige Beispiele. Dem ersten Anschein nach liegt es nahe, den legitimen Zweck stets in solchen Allgemeinwohlinteressen zu sehen und ihn etwa über die Wohlfahrtsökonomik zu bestimmen.43

Es bei diesen Feststellungen zu belassen, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Wie gerade angesprochen, kann eine behavioralistische Intervention auch das primäre Ziel verfolgen, den Einzelnen vor einer kognitiven Verzerrung zu bewahren. Nun ist es zwar nicht schwer, Maßnahmen dieser Zielrichtung auf die mittelbare Verwirklichung eines Allgemeinwohlziels zurückzuführen.44 Wenn sich der Maßnahmenschwerpunkt aber auf Wirkungen beim Individuum selbst verlagert, kann der Verweis auf ein mitunter realisiertes Allgemeinwohlinteresse wie eine Fiktion wirken. Als Extrembeispiel: Durch einen Nudge könnte etwa das Pünktlichkeitsverhalten der Adressaten verbessert, dadurch deren Chancen, ihren Arbeitsplatz zu behalten, längerfristig erhöht, hiermit wiederum stabilere Haushalte erzeugt und so ein volkswirtschaftlicher Wohlfahrtsgewinn erzielt werden. Sicherlich würde es die meisten von uns freuen und uns auch nützen, pünktlicher zu sein. Der Allgemeinwohlbezug dieser Eigenschaft steht jedoch völlig im Hintergrund.45 Fälle dieser Art (natürlich nicht notwendig dieser Eindeutigkeit) werfen die Frage auf, ob der Schutz des Adressaten vor seinen eigenen Biases auch ein legitimer Zweck ist.46

Doch schon bevor man diese Frage wirklich angehen kann, stößt man auf eine Unsicherheit: Wie ist es überhaupt möglich, die privatautonome Entscheidung des Einzelnen zu fördern, wenn man dazu bereits in dessen Privatautonomie eingreifen muss? Eine Antwort darauf könnte sich über die Konkretisierung von Eingriffs- und Fördergegenstand ergeben. Wie oben gezeigt, kann Choice Architecture die Entscheidung des Adressaten vorwegnehmen, ob er sich mit etwas näher beschäftigen will und/oder ob er bei seiner Entscheidung vom Staat unterstützt werden soll. Insoweit könnte man einen Eingriff erkennen. Dem könnte man nun zwei mögliche Förderbereiche gegenüberstellen: Zum einen kann der Adressat dabei unterstützt werden, bewusste(re) Entscheidungen zu treffen, indem er von System 1 in System 2 versetzt wird. Zum anderen können ihn im Unterbewusstsein wirkende Interventionen vor kognitiven Verzerrungen schützen. Nimmt man diese Aufteilung an, sind Förder- und Eingriffsgegenstand nicht mehr identisch, sondern liegen in jeweils verschiedenen Teilbereichen der Privatautonomie.

Wendet man sich nun wieder der Frage nach der Legitimität der so identifizierten Förderbereiche zu, rückt die


37 BVerfGE 114, 73, 89.

38 Siehe dazu etwa Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 313.

39 Dies ist freilich eine starke Abkürzung. Bei einer ausführlicheren Behandlung müsste man sich insbesondere auch mit der Natur der Privatautonomie auseinandersetzen und fragen, ob und inwieweit diese durch den Staat ausgestaltbar ist. Ausführlichere Behandlungen finden sich etwa bei Schweizer (Fn. 8), S. 6-11 und bei van Aaken (Fn. 26), S. 161, 184 f.

40 Dies ginge von einem Verständnis aus, welches die Grundlage von (Privat-)Autonomie nicht in der Freiheit von Beeinflussung, sondern in der Bewusstheit der Entscheidung sieht; siehe dazu etwa Sunstein, Yale Journal of Regulation 2015, 413, 437-442.

41 Siehe etwa Kirchhof (Fn. 11), S. 136, 137, der vom „Recht, in Ruhe gelassen zu werden“ spricht.

42 Dazu näher unten unter D.II.1 und D.II.3.b).

43 Siehe etwa Purnhagen/Reisch (Fn. 11), 629, 650.

44 Wolff (Fn. 11), 195, 219; siehe dazu auch van Aaken (Fn. 26), S. 161, 188-190.

45 Schwieriger gestaltet sich etwa die Bewertung von Grenzfällen wie den auf Zigarettenschachteln anzubringenden „Schockbildern“, deren Abschreckungswirkung den Einzelnen von erheblichen gesundheitlichen Selbstschädigungen abhalten, dadurch aber auch – mittelbar – zu Kosteneinsparungen im Gesundheitssektor und zu Verkleinerungen der Kranken- und Lebensversicherungsbeiträge Dritter führen sollen.

46 Vorweg: Einige Autoren sind zumindest dann, wenn wirklich nur die Individualinteressen des Adressaten selbst im Vordergrund stehen, insoweit sehr kritisch; siehe etwa Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 119 oder Schweizer (Fn. 8), S. 11-15. Wie diese Betrachtung vor dem Hintergrund, dass aber eben meist auch Allgemeinwohlziele verfolgt werden, relativiert werden muss, wäre eine weitere Forschungsfrage; siehe zu alledem van Aaken (Fn. 11), S. 109, 134-139.

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verfassungsrechtliche Rechtsprechung zum Schutz des Einzelnen vor sich selbst in den Blick. Diese hält eine „Vernunfthoheit“ staatlicher Organe über den Grundrechtsträger grundsätzlich für unzulässig.47 Sogar selbstgefährdendes Verhalten begreift das BVerfG als „Ausübung grundrechtlicher Freiheit“.48 „Zu gesetzlichen Regelungen, die in das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit (…) eingreifen, ist der Gesetzgeber befugt, wenn sie den Betroffenen daran hindern sollen, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen.“49 Generell steht die verfassungsrechtliche Rechtsprechung also dem Schutz eines Menschen vor sich selbst äußerst zurückhaltend gegenüber.50

Darauf aufbauend könnte man fragen, ob und wann behavioralistische Interventionen eine „Vernunfthoheit“ des Staates über den Adressaten darstellen. Eine denkbare Antwort wäre: Es wird zumindest solange keine „Vernunfthoheit“ ausgeübt, wie die Maßnahme den tatsächlichen und nicht nur einen hypothetischen Willen des Adressaten unterstützt.51 Dafür lohnt es sich, die beiden gerade identifizierten Förderbereiche gesondert in den Blick zu nehmen:

Bei Maßnahmen, die die Adressatin in System 2 versetzen sollen, wird dieser die Gelegenheit gegeben, eine Präferenz zu bilden, wenn sie noch keine hat; oder auch eine Präferenz, die sie schon hat, zu überdenken. Es wäre zwar zu befürchten, dass sich allgemein als „rational“ anerkannte Vorstellungen eher bei reflektierter Entscheidung durchsetzen und in der Maßnahme dann eine indirekte, mittelbare Form der Steuerung durch den Staat liegt. Dennoch scheint es naheliegender, davon auszugehen, dass auf die Maßnahme eine autonome Entscheidung der Adressatin folgt, die ihrem tatsächlichen Willen entspricht und deswegen als solche anerkannt werden muss.

Schwieriger stellt sich der andere Förderbereich dar, bei dem versucht wird, Biases auszuräumen, die den Einzelnen von der Verwirklichung seiner tatsächlichen Präferenzen abhalten. Mit einer behavioralistischen Intervention, die allein in ihrem Unterbewusstsein wirken soll, drängt der Staat der Adressatin schließlich seine Vorstellung von vernünftiger Entscheidung auf, ohne, dass sie sich bewusst gegen diese Beeinflussung wehren kann. Das mag in Einzelfällen zwar eine Erleichterung für sie darstellen – oftmals entspricht der tatsächliche Willen der Entscheiderin den verbreiteten Vorstellungen von Rationalität. Letztere sind aber (meist) nur Ausdruck von Durchschnittspräferenzen, die für das Individuum und seine persönliche Präferenzordnung gerade nicht maßgeblich sind.52 Vor diesen Hintergründen könnte man die Legitimität dieses „Selbstschutzzwecks“ generell ablehnen. Will man das nicht, muss man versuchen, eine Grenze zwischen illegitimer Aufdrängung eines staatlichen Rationalitätsideals und legitimer Unterstützung bei der Bewältigung menschlicher Schwächen zu ziehen.

2. Geeignetheit

Auf Geeignetheitsebene dürften sich keine besonderen Schwierigkeiten ergeben. Die jeweils zu Grunde gelegte verhaltenspsychologische Erkenntnis müsste nur einen gewissen Mindeststandard an wissenschaftlich fundierter Sicherheit aufweisen, um von der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers erfasst werden zu können.53

3. Erforderlichkeit

Sucht man nun nach einem milderen, gleich geeigneten Mittel, kommen neben anderen behavioralistischen Interventionen insbesondere solche Regeln, die die wirksame Rückgängigmachung einer „fehlerhaft“ getroffenen Entscheidung möglich machen (wie etwa durch Widerruf oder Anfechtung), das „Bias Countering“ und der schlichte rechtliche Ausschluss einzelner Entscheidungsoptionen durch zwingende Normen in Betracht.

a) Vergleich auf Ebene der Geeignetheit

Will man diese Maßnahmen zunächst nur mit Blick auf ihre Geeignetheit vergleichen und versucht man dafür, die tatsächliche Wirksamkeit der jeweiligen behavioralistischen Intervention zu messen, stößt man auf das Problem der externen Validität verhaltenspsychologischer Erkenntnisse. So ist es gerade bei der Übertragung der Ergebnisse von Laborexperimenten auf typischerweise komplexere Realsituationen oftmals sehr diffizil, die tatsächlichen Auswirkungen der Maßnahme zu bestimmen – dies gilt ganz besonders im Bereich der Kognitionsforschung.54 Besondere Schwierigkeiten ergeben sich hier letztlich auch daraus, dass man sich häufig nicht ganz im Klaren darüber sein kann, ob wirklich nur ein Bias, oder nicht eher eine Vielzahl kognitiver Verzerrungen und Eindrücke die Entscheidungen der meisten Adressaten determiniert.55 Mit einer genaueren Bestimmung der Geeignetheit einer behavioralistischen Intervention gehen also erhebliche empirische Herausforderungen einher.

Aber selbst wenn man die Geeignetheit im jeweiligen Kontext annäherungsweise zu bestimmen vermag, wird man häufig feststellen, dass sie geringer ausfällt als die der oben angesprochenen Alternativmaßnahmen. Zwingende Regeln etwa, die eine Entscheidungsoption ganz ausschließen, sind hinsichtlich der von ihnen direkt in den Blick genommenen Lebenssachverhalte grundsätzlich wirksamer als bloße „Stupser“ des Adressaten in eine Richtung.

Eine besondere Einschränkung der Geeignetheit kann sich außerdem bei solchen Maßnahmen ergeben, die in erster Linie die Adressaten vor sich selbst schützen sollen.56 Schließlich ist es denkbar, dass Choice Architecture der


47 BVerfGE 128, 282, 308.

48 BVerfG, Kammerbeschluss vom 11. August 1999 – 1 BvR 2181/98.

49 BVerfGE 60, 123, 132.

50 Näher bei Schweizer (Fn. 8), S. 11-15; und bei van Aaken (Fn. 11), S. 109, 136 f.

51 Vgl. etwa Sunstein (Fn. 40), S. 413, 437-439.

52 Zu dieser Problematik umfassend: Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, 2005, S. 177-218; in Bezug auf Choice Architecture: Eidenmüller (Fn. 9), 814, 819 f.

53 Purnhagen/Reisch (Fn. 11), 629, 650.

54 Siehe dazu etwa Hacker (Fn. 1), S. 146-149; oder auch Smeddinck/Bornemann (Fn. 11), 513, 521; Seckelmann/Lamping (Fn. 11), 189, 198.

55 Siehe dazu etwa Schwartz, Regulating for Rationality, Stanford Law Review 2015, 1373, 1390-1393.

56 Angenommen, dieser Zweck wird im jeweiligen Einzelfall für legitim erachtet.

Saalfeld, Choice Architecture vor dem Hintergrund der Privatautonomie70

Verwirklichung der individuellen Präferenzen des Einzelnen auch entgegenwirken kann – vor allem dann, wenn diese eben nicht dem Durchschnitt entsprechen. So mag etwa eine Warnung vor übermäßig optimistischen Sportwetten zwar den Menschen helfen, die in diesem Zusammenhang tatsächlich einem „Overconfidence Bias“ unterlägen wären. Gleichzeitig kann sie solche Adressatinnen vor Wetten zurückschrecken lassen, die aufgrund tieferer Recherche tatsächlich hohe Gewinnchancen eines Vereins ermittelt hatten und bei einer Wette mit höherem Einsatz auch einen höheren Gewinn erzielt hätten. Versucht man, ein Geeignetheitsniveau einer behavioralistischen Intervention mit „Selbstschutzziel“ zu ermitteln, müssten solche Effekte als Negativposten berücksichtigt werden.57

Grundsätzlich kann man also davon ausgehen, dass Choice Architecture-Maßnahmen eine geringere Wirksamkeit aufweisen als Maßnahmen anderer Art. Eine Ausnahme davon könnte jedoch dann vorliegen, wenn die jeweilige behavioralistische Intervention eine von ihrem Zweck umfasste, generelle Verhaltensänderung bei den Adressaten hervorzurufen vermag. So gehen mit vielen für den Einzelnen nicht ganz irrelevanten Erfahrungen individuelle Anpassungseffekte einher: Das persönliche „Heuristikenset“ wird dabei quasi nachjustiert. Sind diese Effekte gerade auch Ziel der Maßnahme, kann sie als geeigneter zu bewerten sein als ihre Alternativen.58 Ein Beispiel hierfür wäre etwa ein Nudge, der die Adressaten in einem isolierten Kontext zu einem umweltfreundlicheren Verhalten anregt, aber auch dazu führt, dass sie allgemein verantwortungsvoller mit ihrem „ökologischen Fußabdruck“ umgehen.59

b) Vergleich auf Ebene des Eingriffsgewichts

Wendet man sich nun dem Vergleich des Eingriffsgewichts der jeweiligen behavioralistischen Intervention mit einer Alternativmaßnahme zu, stellt sich die Frage, wie man das Ausmaß der Autonomieeinbußen bestimmt, die mit ersterer einhergehen.60 Eine denkbare Vorgehensweise wäre es, zuerst einen (durchschnittlichen) Ausgangszustand zu ermitteln, in dem sich die Adressaten befinden, wenn die jeweilige Choice Architecture-Maßnahme auf sie einwirkt. Wird festgestellt, dass unter den Adressaten auch solche sind, die im jeweiligen Kontext eine klare Präferenz haben (was so gut wie immer der Fall sein wird), müsste außerdem analysiert werden, inwieweit die Maßnahme geeignet ist, diese Adressaten zu einer Entscheidung gegen ihre Präferenz zu bewegen oder sie zumindest bei der Verwirklichung dieser zu stören. Ist dies bei einem erheblichen Anteil der Adressaten zu befürchten, liegt ein gewichtigerer Eingriff vor.61

In diesem Zuge rückt auch die gerade angesprochene Anpassungswirkung behavioralistischer Interventionen wieder in den Vordergrund. So ist zu befürchten, dass mit ihr auch nicht beabsichtigte Veränderungen des Entscheidungsverhaltens der Adressaten einhergehen können. Ein Kennzeichen von Heuristiken ist es ja schließlich, in den verschiedensten Lebenslagen Verwendung zu finden. Wird das „Heuristikenset“ des Einzelnen nachhaltig modifiziert oder ergänzt, liegt es nahe, dass dieser auch in ganz anderen Kontexten eben anders entscheidet.62 Nun wird es in den meisten Fällen kaum möglich sein, diese Streuungseffekte hinreichend zu überblicken. Dafür bedürfte es der Auswertung einer Fülle an wissenschaftlich verwertbaren Daten, die momentan wohl noch nicht ansatzweise vorliegt. Bis dies der Fall ist, stellt sich also die Herausforderung, eine Grenze zwischen eingriffsvertiefender Beeinflussung und rechtlich unbeachtlicher Fortentwicklung des Erfahrungshorizontes der Adressaten zu ziehen.63

Besondere Beachtung müsste schließlich noch der heimliche Charakter der Choice Architecture finden. So handelt es sich regelmäßig um ein verdecktes, dem Bürger in Gestalt und Wirkung weitestgehend unbekanntes Vorgehen.64 Ganz besonders deutlich ist das im Falle des Nudging: Dieses zielt gerade auf eine unterbewusste Schubwirkung ab, die als solche gar nicht in die Abwägung des Entscheidenden einfließen soll. Das Nudging folgt einer einfachen Logik: Je weniger transparent der Nudge, desto weniger vermeidbar dessen Wirkung und desto effektiver die Maßnahme.65 Bemühungen um eine Abmilderung durch Aufklärung über den Nudge erscheinen vor diesem Hintergrund nur im Nachhinein sinnvoll machbar: Vor einem Nudge etwa darauf hinzuweisen, dass es sich bei den folgenden Informationen um eine staatliche Beeinflussung der Denkstrukturen des Adressaten handelt, dürfte in den meisten Fällen eher dem Zweck der Maßnahme zuwiderlaufen. Ganz regelmäßig ist also damit zu rechnen, dass Choice Architecture weitestgehend „hinter dem Rücken“ der Adressaten stattfindet. Dies verringert deren Rechtsschutzmöglichkeiten und vertieft damit den Eingriff.66


57 Vgl. auch hierzu Eidenmüller (Fn. 9), 614, 820.

58 Das Thema der Anpassungs- und Lerneffekte ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. So kann man sich von behavioralistischen Interventionen nur längerfristige, unterbewusste Verhaltens- und Einstellungsänderungen erhoffen. Unmittelbare Einsichts- und Lernprozesse, die nicht (nur) im Unterbewusstsein stattfinden, können durch sie aber allenfalls indirekt hervorgerufen werden (etwa durch Maßnahmen, die die Adressaten zu verstärktem Nachdenken anregen). Es wird sogar befürchtet, dass Choice Architecture bestimmte Lernprozesse auch verlangsamen könnte; schließlich nimmt sie dem Adressaten die Aufgabe der Bewältigung bestimmter Probleme ab und hindert ihn, daraus zu lernen. Siehe zu alledem näher: Seckelmann/Lamping (Fn. 11), 189, 192-194; Weber/Schäfer (Fn. 9), 561, 574, 587 f.; van Aaken (Fn. 26), S. 161, 169, 174 f.; Hacker (Fn. 1), S. 137 f.

59 Vgl. Seckelmann/Lamping (Fn. 11), 189, 194.

60 Insoweit die Bezeichnung “freedom costs” verwendend: Van Aaken (Fn. 26), S. 161, 192 f.

61 Siehe dazu van Aaken (Fn. 26), S. 161, 193 f.

62 Gleichwohl ist es völlig unvermeidlich, als Gesetzgeber auf die Präferenzstrukturen und Heuristiken der Bürger einzuwirken; siehe etwa Sunstein (Fn. 40), S. 413, 420-422; Seckelmann/Lamping (Fn. 11), 189, 192-194. Ob sich hier also wirklich ein Unterschied zu klassischen Regulierungsmaßnahmen ergibt, ist eine weitere Forschungsfrage.

63 Vgl. erneut Hacker (Fn. 1), S. 255-286. Diese Schwierigkeiten könnten durch die Wahl der Regulierungsalternative des „Bias Countering“ bis zu einem gewissen Grad umgangen werden. Steht etwa zur Befürchtung, dass der Eingriff erhebliche Verhaltensänderungen bei den Adressaten in anderen Kontexten hervorrufen würde, könnten mit diesem Mittel einzelne Bereiche herausgegriffen werden, in denen die Wirkungen des zu befürchtenden Bias bekämpft werden sollen – freilich auf Kosten weitergehender, möglichweise wünschenswerter Anpassungseffekte.

64 Seckelmann/Lamping (Fn. 11), 189, 196.

65 Hasnas, Regulation 2016, 38, 43.

66 Siehe zu dieser Problematik insbesondere: Seckelmann/Lamping (Fn. 11), 189, 196; Schweizer (Fn. 8), S. 17; und auch van Aaken (Fn. 26), S. 161, 172-175.

Saalfeld, Choice Architecture vor dem Hintergrund der Privatautonomie71

4. Angemessenheit

Auf Ebene der Angemessenheit stellen sich schließlich einige der oben bereits angesprochenen Probleme erneut: Die Bestimmung der Autonomieeinbußen, die externe Validität der zu Grunde gelegten empirischen Erkenntnisse, die Auswirkungen von Anpassungseffekten und die typische Verdecktheit verhaltensökonomisch motivierter Eingriffe. Abzuwägen wären die festgestellten Autonomieeinbußen zum einen mit den verfolgten Allgemeinwohl- und Drittschutzinteressen und, wenn der Schutz des Individuums vor seinen eigenen Biases (ebenfalls) Ziel der Maßnahme ist, zum anderen auch mit etwaigen Autonomiegewinnen der Adressaten selbst.67

E. Fazit

Wo steht man nach all diesen Beobachtungen? Auf jeden Fall vor einigen neuen Fragen. Das Konzept der Choice Architecture weist Besonderheiten auf, deren rechtliche Einordnung viele Unsicherheiten mit sich bringt und von denen hier nur wenige sehr oberflächlich angerissen werden konnten. Insgesamt dürfte jedoch deutlich geworden sein, dass es sich um ein komplexes Forschungsfeld handelt, in der verhaltenswissenschaftliche Empirik, ökonomische Theorie und dogmatische Einordnung Hand in Hand zu gehen haben; das also interdisziplinäres Arbeiten erfordert.68 Warum sollte man ein solch schwieriges Projekt angehen? Nun, ein Grund dürfte die praktische Relevanz des Themas sein: Nachdem die Politik Maßnahmen wie dem Nudging zunächst nur im angloamerikanischen Raum verstärkte Beachtung geschenkt hat, kommt die Choice Architecture als Regulierungsstrategie langsam aber sicher auch im deutschen Rechtsraum an69 – und in der öffentlichen Debatte.70 Will man also zur Erforschung eines aktuellen und bisher noch relativ wenig aufgearbeiteten Themas beitragen, wird man hier sicherlich fündig.


67 Dazu auch: Van Aaken (Fn. 26), S. 161, 193 f. und Schweizer (Fn. 8), S. 19-22, der dort auf den S. 22-24 außerdem auf den weiteren, in dieser Arbeit nicht dargestellten Aspekt der Folgerichtigkeit eingeht.

68 Auch insoweit konnten in dieser Arbeit letztlich nur erste Eindrücke, grobe Vorstellungen über die Erkenntnisse anderer Wissenschaften und nicht zuletzt auch persönliche Erfahrungen einfließen. Für eine wirklich gegenstandsadäquate (rechts-)wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema bedürfte es viel umfangreicherer Forschungsarbeit.

69 Zu dieser Entwicklung siehe etwa Weber/Schäfer (Rn. 11), 561, 579; Steinbeis, „Nudging“ arrives in Germany, Verfassungsblog 2014.

70 Siehe z.B.: Horn, Libertärer Paternalismus, Sklavenhalter der Zukunft, FAZ Online vom 11.03.2013; Jahberg/Neuhaus, Streit ums Nudging, Wie der Staat Verbraucher erzieht, Der Tagesspiegel Online vom 03.03.2015; Lobo, Nudging, Du willst es doch auch. Oder?, Spiegel Online vom 11.10.2017.