Zum Umfang des Mitbestimmungsrechts gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG

Christin Lindenberg*

A. Einführung

„BIG BROTHER IS WATCHING YOU.”1 Dieses Zitat aus dem Roman „1984“ von George Orwell beschreibt, wie sich viele Arbeitnehmer heutzutage an ihrem Arbeitsplatz fühlen. Längst sind es nicht mehr nur Videokameras, die dem Arbeitgeber eine ständige Überwachung seiner Arbeitnehmer ermöglichen. Smartphones und Notebooks gehören inzwischen zur Grundausstattung vieler Arbeitnehmer. Sie erleichtern die Arbeit, bieten dem Arbeitgeber aber auch zusätzliche Überwachungsmöglichkeiten.

Die Arbeitnehmer stehen dieser Entwicklung aber nicht völlig machtlos gegenüber. In Zeiten der Digitalisierung gewinnt auch das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aus § 87 I Nr. 6 BetrVG an Bedeutung. Danach hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht, wenn der Arbeitgeber technische Einrichtungen einführt oder anwendet, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen. Doch wird das Mitbestimmungsrecht aus § 87 I Nr. 6 BetrVG der technischen Entwicklung der letzten Jahre gerecht?

Daran lässt sich zweifeln. Als der Gesetzgeber § 87 I Nr. 6 BetrVG im Jahr 1972 erlassen hat, standen Produktographen und Multimomentkameras im Zentrum der technischen Überwachung.2 Die technische Entwicklung der letzten Jahre konnte der Gesetzgeber damals noch nicht vorhersehen.3 Umso verwunderlicher ist, dass auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) an seiner in den 1980er Jahren entwickelten Rechtsprechung festhält. In einer Reihe von Grundsatzentscheidungen hat das BAG eine weite Auslegung des Mitbestimmungsrechts vorgenommen.4 Das Festhalten an dieser Rechtsprechung führt dazu, dass heutzutage nahezu jedes technische Gerät mitbestimmungspflichtig ist – unabhängig davon, ob der Arbeitgeber eine Überwachung damit überhaupt bezweckt.

Es drängt sich die Frage auf, ob der weite Umfang des Mitbestimmungsrechts aus § 87 I Nr. 6 BetrVG in Zeiten der Digitalisierung noch zeitgemäß ist.

Ausgehend vom Zweck der Mitbestimmung nach § 87 I Nr. 6 BetrVG (B.) wird zur Beantwortung dieser Frage zunächst die rechtliche Ausgangslage in Bezug auf den Umfang des Mitbestimmungsrechts analysiert (C.). Anschließend werden Reformvorschläge dargestellt, um daran anknüpfend einen eigenen Lösungsvorschlag zu entwickeln (D.) Abschließend zeigt ein Praxishinweis, wie Arbeitgeber und Betriebsräte kooperativ zusammenarbeiten können (E.).

B. Zweck der Mitbestimmung nach

§ 87 I Nr. 6 BetrVG

Technische Kontrolleinrichtungen wie Videokameras ermöglichen im Gegensatz zu menschlicher Kontrolle eine ununterbrochene, unbegrenzte und für den Arbeitnehmer oft nicht wahrnehmbare Überwachung.5 Sie greifen damit stärker in den Persönlichkeitsbereich ein als eine manuelle Überwachung. Um vor diesen besonderen Gefahren beim Einsatz technischer Überwachungseinrichtungen zu schützen, hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 I Nr. 6 BetrVG.6 Das Mitbestimmungsrecht ist die kollektivrechtliche Ergänzung des Individualschutzes durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG)7 und konkretisiert den Grundsatz aus § 75 II S. 1 BetrVG, wonach Arbeitgeber und Betriebsrat die freie Persönlichkeitsentfaltung der Arbeitnehmer zu schützen haben.8

C. Rechtliche Ausgangslage

I. Voraussetzungen der Mitbestimmung nach

§ 87 I Nr. 6 BetrVG

Nachfolgend soll anhand von Beispielen aufgezeigt werden, dass das BAG die Voraussetzungen des Mitbestimmungsrechts aus § 87 I Nr. 6 BetrVG weit auslegt und damit einen weiten Umfang der Mitbestimmung schafft.

1. Technische Überwachungseinrichtung

Die Mitbestimmung nach § 87 I Nr. 6 BetrVG setzt die Überwachung mittels einer technischen Einrichtung voraus. Typische Beispiele sind Videokameras, Ortungssysteme und technische Zeiterfassungsgeräte.9

a) Bisherige Rechtsprechung: Erfordernis einer

eigenständigen Kontrollwirkung

Lange Zeit hat es das BAG für erforderlich gehalten, dass die technische Einrichtung über eine eigenständige Kontrollwirkung verfügt. Danach muss die technische Einrichtung selbst Daten über Arbeitnehmer aufzeichnen oder verarbeiten.10 Ein Mitbestimmungsrecht besteht daher nicht, wenn technische Geräte im Wesentlichen durch menschliches Verhalten


* Die Autorin ist Studentin der Bucerius Law School, Hamburg.

1 George Orwell, 1984, S. 3.

2 Vgl. BAG, NJW 1974, 2023, 2023 f.

3 Wiese/Gutzeit, in: Wiese/Kreutz/Oetker, Gemeinschaftskommentar Betriebsverfassungsgesetz11, 2018, § 87 Rn. 506.

4 Vgl. BAGE 27, 256, 256 ff.; BAGE 46, 367, 367 ff.

5 BAGE 44, 285, 311; Wiese/Gutzeit, in: Wiese/Kreutz/Oetker (Fn.3),

§ 87 Rn. 509.

6 Vgl. BT-Drucks. VI/1786, S. 48 f.; BAGE 157, 220, 224.

7 Bender, in: Wlotzke/Preis/Kreft, Kommentar zum BetrVG4, 2009,

§ 87 Rn. 106.

8 BAG, NJW 1974, 2023, 2024.

9 Wiese/Gutzeit, in: Wiese/Kreutz/Oetker (Fn. 3), § 87 Rn. 676.

10 BAG, NZA 1995, 313, 313.

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gesteuert werden und nur als Hilfsmittel dienen (z.B. Uhr oder Brille).11 Dadurch entstehen keine technikspezifischen, über die manuelle Überwachung hinausgehenden Gefahren für das Persönlichkeitsrecht.12

Konsequenterweise hat das BAG in einem Beschluss vom 10.12.2013 ein Mitbestimmungsrecht bei der Verwendung von Google Maps zur Überprüfung der angegebenen Strecke auf einer Fahrtkostenabrechnung verneint. Google Maps zeichne selbst keine Daten über das Fahrverhalten des Arbeitnehmers auf. Die Überprüfung der Fahrtkostenabrechnung werde durch menschliches Handeln gesteuert.13

b) Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung im

Facebook-Beschluss

Umso überraschender war der Facebook-Beschluss vom 13.12.2016, in der das BAG eine Facebookseite, auf der Besucher Beiträge über die Leistung der Arbeitnehmer veröffentlichen können, für mitbestimmungspflichtig hielt.14 Bei konsequenter Fortsetzung seiner bisherigen Rechtsprechung, hätte das BAG ein Mitbestimmungsrecht mangels eigenständiger Kontrollwirkung von Facebook verneinen müssen. So sah es auch die Vorinstanz, die entschied, dass Facebook selbst keine Daten über die Arbeitnehmer aufzeichne.15 Das BAG hingegen betont zwar, dass die Überwachung „durch die technische Einrichtung selbst bewirkt werden“ muss, führt aber gleichzeitig aus, dass es nicht erforderlich sei, dass die Daten von der technischen Einrichtung „selbst und automatisch“ erhoben werden.16 Es genüge, wenn die Informationen durch die Besucher eingegeben und von Facebook dauerhaft gespeichert werden.17 Damit gab das BAG das Erfordernis einer eigenständigen Kontrollwirkung auf und erweiterte den Umfang des Mitbestimmungsrechts.

In der Literatur ist der Facebook-Beschluss zu Recht auf Kritik gestoßen.18 Facebook ist eine technische Einrichtung, die maßgeblich durch manuelles Verhalten gesteuert wird.19 Von einer solch manuell gesteuerten Einrichtung können keine besonderen Gefahren durch technische Überwachungseinrichtungen ausgehen. Insofern sind die Beiträge auf Facebook mit Beschwerdebriefen an den Arbeitgeber zu vergleichen.20 Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers entsteht nicht durch eine eigene Kontrollwirkung von Facebook, sondern aufgrund der Öffentlichkeitswirkung des sozialen Netzwerks.21 Zweck des § 87 I Nr. 6 BetrVG ist aber nicht der Schutz vor jeglichen Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht, sondern nur vor solchen, die durch technische Überwachung entstehen. Die Voraussetzung der eigenständigen Kontrollwirkung ist daher erforderlich, um den Schutzzweck des § 87 I Nr. 6 BetrVG nicht zu umgehen.22

2. Überwachung

Eine entscheidende Rolle für den Umfang des Mitbestimmungsrechts spielt die Auslegung des Begriffs „überwachen“ in § 87 I Nr. 6 BetrVG.

a) Erhebungsphase

Unstrittig ist, dass die Datenerhebung unter den Überwachungsbegriff fällt. Die Datenaufzeichnung mittels technischer Geräte wie Stechuhren, Videokameras und Abhörgeräten ist daher mitbestimmungspflichtig.23

b) Verarbeitungs- und Auswertungsphase

Es stellt sich jedoch die Frage, ob auch die Verarbeitungsphase, in der die gesammelten Daten gesichtet und zueinander in Beziehung gesetzt werden,24 unter den Überwachungsbegriff zu subsumieren ist. Davon ist abhängig, ob auch die technische Verarbeitung von manuell erhobenen leistungs- oder verhaltensbezogenen Daten mitbestimmungspflichtig ist. Das betrifft insbesondere sog. Personalinformationssysteme, die leistungsbezogene Arbeitnehmerdaten für Zwecke der Gehaltsabrechnung verarbeiten.

Das BAG hat in einer Leitentscheidung vom 14.9.1984 die technische Auswertung manuell erfasster verhaltensbezogener Daten für mitbestimmungspflichtig erklärt.25 Diese Entscheidung ist in großen Teilen der Literatur auf Zustimmung gestoßen,26 wird aber zum Teil immer noch stark kritisiert. Es sei nicht zeitgerecht, den Arbeitgeber bei Zustimmungsverweigerung des Betriebsrats auf eine manuelle Datenauswertung zu verweisen.27 Nachfolgend soll die Richtigkeit der Rechtsprechung anhand der Auslegungskanones untersucht werden.

aa) Wortlaut

Im normalen Sprachgebrauch meint „Überwachen“ das genaue Beobachten des Verhaltens von Personen.28 Das spricht für einen engen Überwachungsbegriff, der nur die Datenerhebung erfasst.29 Andererseits ist es widersprüchlich,


11 BAG, NZA 1995, 313;

Wiese/Gutzeit, in: Wiese/Kreutz/Oetker (Fn. 3), § 87 Rn. 537.

12 Vgl. BAG, NZA 1995, 313;

Bender, in: Wlotzke/Preis/Kreft (Fn. 7), § 87 Rn. 113.

13 BAG, NZA 2014, 439, 440 f.

14 BAGE 157, 220, 227.

15 LAG Düsseldorf, NZA-RR 2015, 355, 358 ff.

16 BAGE 157, 220, 224, 229.

17 BAGE 157, 220, 229.

18 Vgl. Grimm/Kühne, jM 2017, 330;

Jacobs/Frieling, JZ 2017, 961, 962 ff.;

Nebeling/Klumpp, DB 2014, 2352, 2353; Mues, ArbRB 2017, 174, 175.

19 Vgl. Ludwig/Ramcke, BB 2016, 2293, 2294.

20 LAG Düsseldorf, NZA-RR 2015, 355, 359; Jacobs/ Frieling, JZ 2017, 961, 962; Wisskirchen/Schiller/Schwindling, BB 2017, 2105, 2107.

21 Jacobs/Frieling, JZ 2017, 961, 962 f.; Grimm/Kühne, jM 2017, 330, 333;

Nebeling/Klumpp, DB 2014, 2352, 2353.

22 Vgl. Grimm/Kühne, jM 2017, 330, 333; Jacobs/Frieling, JZ 2017, 961, 962.

23 Bender, in: Wlotzke/Preis/Kreft (Fn. 7), § 87 Rn. 117.

24 Wiese/Gutzeit, in: Wiese/Kreutz/Oetker (Fn. 3), § 87 Rn. 549.

25 BAGE 46, 367, 377 ff.; seitdem st. Rspr.: BAG, NZA 1986, 526, 536 f.; BAGE 157, 220, 224.

26 Vgl. u.a. Klebe, in: Däubler/Kittner/Klebe/Wedde (Hrsg.), Kommentar zum BetrVG16, 2018, § 87 Rn. 174 f.; Kania, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht18, 2018, § 87 Rn. 49.

27 Vgl. Worzalla, in: Hess/Worzalla/Glock, Kommentar zum BetrVG10, 2018, § 87 Rn. 377; Kraft, ZfA 1985, 141, 152.

28 Duden, https://www.duden.de/rechtschreibung/ueberwachen (zuletzt abgerufen am 11.4.2019): „genau verfolgen was jemand tut, etwas durch ständiges Beobachten kontrollieren“.

29 Worzalla, in: Hess/Worzalla/Glock (Fn. 27), § 87 Rn. 376; Kraft, ZfA 1985, 141, 152; Söllner, DB 1984, 1243, 1244; siehe auch Hunold, BB 1985, 193, 196.

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wenn die Figur des „Oberkontrolleurs“, der die von anderen erfassten Daten auswertet, nicht unter den Überwachungsbegriff fällt.30 Im Ergebnis ist der Wortlaut daher offen.31

bb) Telos

Der Zweck der Mitbestimmung besteht im Schutz der Arbeitnehmer vor Eingriffen in ihr Persönlichkeitsrecht aufgrund der besonderen Gefahren technischer Überwachung (vgl. unter B.).32 Der Gesetzgeber hatte bei Erlass des § 87 I Nr. 6 BetrVG im Jahr 1972 noch nicht die Anwendung der Norm auf technische Datenverarbeitungseinrichtungen vor Augen. Maßgeblich ist aber allein, ob die digitale Datenverarbeitung das Persönlichkeitsrecht aufgrund technischer Besonderheiten beeinträchtigt. In Anlehnung an das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts33 hat das BAG ausführlich dargelegt, welche Persönlichkeitsbeeinträchtigungen durch technische Datenverarbeitung entstehen.34 Die technische Datenverarbeitung ermöglicht, dass eine unbegrenzte Anzahl von Informationen auf Dauer gespeichert wird, jederzeit abrufbar ist und beliebig miteinander verknüpft werden kann, um Aussagen über das Verhalten und die Leistung der Arbeitnehmer zu erhalten.35 Darüber hinaus führt sie aufgrund der erforderlichen Selektion von Daten zu einem Kontextverlust, indem ursprüngliche Erhebungszusammenhänge verloren gehen.36 Die technische Datenverarbeitung gefährdet das Persönlichkeitsrecht somit erheblich stärker als eine manuelle Datenverarbeitung.37

Der Einwand, dass der Arbeitnehmer von einer technischen Datenverarbeitung nichts merke und daher kein psychischer Überwachungsdruck entstehe,38 überzeugt nicht. Im Gegenteil wiegt der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht umso schwerer, als dass der Arbeitnehmer nicht über die Verarbeitung seiner Daten Bescheid weiß und daher eine ständige Überwachung fürchten muss.39

cc) Zwischenergebnis

Teleologische Erwägungen sprechen für eine weite Auslegung des Überwachungsbegriffs, sodass auch die technische Verarbeitung manuell erhobener Daten mitbestimmungspflichtig ist.

3. Bestimmung zur Überwachung

Nach § 87 I Nr. 6 BetrVG muss die technische Einrichtung „dazu bestimmt [sein], das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen“.

Entgegen dem natürlichen Wortlaut geht das BAG seit dem sog. Produktographenbeschluss aus dem Jahr 1975 davon aus, dass die subjektive Verwendungsabsicht des Arbeitgebers unerheblich ist.40 Es ist irrelevant, ob der Arbeitgeber mit der technischen Einrichtung eine Beurteilung von Verhalten und Leistung bezweckt oder tatsächlich vornimmt. Maßgeblich ist vielmehr die objektive Eignung der Einrichtung zur Überwachung (objektiv-finale Theorie).41 Die herrschende Lehre folgt der objektiv-finalen Theorie.42 Für das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer mache es keinen Unterschied, ob die Überwachung das Ziel oder ein bloßer Nebeneffekt ist.43 Ein Abstellen auf die Verwendungsabsicht führe ferner zu einer Missbrauchsgefahr, da der Arbeitgeber seine Überwachungsabsicht verbergen könnte.44

Zu bedenken ist jedoch, dass heutzutage nahezu alle technischen Geräte verhaltensbezogene Daten aufzeichnen (z.B. Handys) und damit objektiv zur Überwachung geeignet sind. Die objektiv-finale Theorie führt daher zu einem erheblichen Umfang des Mitbestimmungsrechts.45

4. Überwachungsgegenstand: Verhalten oder

Leistung der Arbeitnehmer

Gemäß § 87 I Nr. 6 BetrVG muss das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer Gegenstand der Überwachung sein. Beispiele für verhaltens- und leistungserhebliche Daten sind der Beginn und das Ende der täglichen Arbeitszeit, die Ableistung von Überstunden oder Fehlzeiten.46

In einer Reihe von Leitentscheidungen hat das BAG auch den Überwachungsgegenstand erweitert. Zunächst entschied das BAG, dass die Leistungs- und Verhaltensdaten einem bestimmten Arbeitnehmer zuzuordnen sein müssen und die Möglichkeit der Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe nicht genügt.47 In einer Entscheidung vom 18.2.1986 hat das BAG den Umfang der Mitbestimmung aber erweitert, indem es ein Mitbestimmungsrecht in Fällen bejahte, in denen die Daten einer überschaubaren Gruppe zugeordnet werden, die gemeinsam für ein bestimmtes Ergebnis verantwortlich ist (z.B. bei Arbeit im Gruppenakkord).48 In diesen Fällen werde der durch die technische Einrichtung erzeugte Überwachungsdruck mittels bestehender Gruppenzwänge auf den Einzelnen übertragen, sodass § 87 I Nr. 6 BetrVG telelogisch einschlägig sei.49


30 Däubler, in: Gläserne Belegschaften7, 2017, Rn. 718;

im Ergebnis so auch Fitting, in: Fitting (Begr.), Handkommentar BetrVG29, 2018, § 87 Rn. 240.

31 So auch Schapper/Waniorek, AuR 1985, 246, 247;

Wiese/Gutzeit, in: Wiese/Kreutz/Oetker (Fn. 3), § 87 Rn. 553.

32 BT-Drucks. VI/1786, S. 48 f.

33 BVerfGE 65, 1.

34 BAGE 46, 367, 378 ff.

35 Fitting, in: Fitting (Fn. 30), § 87 Rn. 240;

Wiese/Gutzeit, in: Wiese/Kreutz/Oetker (Fn. 3), § 87 Rn. 555.

36 BAGE 46, 367, 379 f.;

Bender, in: Wlotzke/Preis/Kreft (Fn. 7), § 87 Rn. 118.

37 A.A.: Jacobs/Frieling, JZ 2017, 961, 964;

Ludwig/Ramcke, BB 2016, 2293, 2296.

38 Worzalla, in: Hess/Worzalla/Glock (Fn. 27), § 87 Rn. 376.

39 Vgl. dazu Däubler (Fn. 30), Rn. 720.

40 BAGE 27, 256, 260 f.; BAGE 46, 367, 376; BAGE 109, 235, 241 f.

41 BAGE 27, 256, 260 f.; BAGE 109, 235, 241 f.

42 Vgl. u.a. Klebe, in: Däubler/Kittner/Klebe/Wedde (Fn. 26), § 87 Rn. 186; Richardi/Maschmann, in: Richardi (Hrsg.), Kommentar zum BetrVG16, 2018, § 87 Rn. 513.

43 BAGE 27, 256, 261;

Bender, in: Wlotzke/Preis/Kreft (Fn. 7), § 87 Rn. 115.

44 Däubler (Fn. 30), Rn. 756; Kissel, in: FS Zeidler, 1987, S. 1507, 1518; Wohlgemuth, AuR 1984, 257, 260.

45 Vgl. Giese, in: Baker McKenzie (Hrsg.), Arbeitswelt 4.0, 2017, S. 132.

46 Fitting, in: Fitting (Fn. 30), § 87 Rn. 223.

47 BAG, NZA 1986, 488, 490; BAGE 77, 262, 267.

48 BAG, NZA 1986, 488, 489 f.

49 BAG, NZA 1986, 488, 490; BAGE 77, 262, 267; a.A.: Kort, CR 1987, 300, 307; Ehmann, ZfA 1986, 357, 381, die anführen, dass der Druck des einzelnen Arbeitnehmers nicht durch eine technische Überwachungseinrichtung, sondern durch Gruppenzwang entstehe.

Lindenberg, Zum Umfang des Mitbestimmungsrechts gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG20

5. Zusammenfassung

Das Mitbestimmungsrecht aus § 87 I Nr. 6 BetrVG besteht in sehr weitem Umfang. In einer Reihe von Leitentscheidungen hat das BAG eine extensive Auslegung des Mitbestimmungstatbestands vorgenommen. Neben der technischen Erhebung fasst das BAG auch die technische Datenverarbeitung manuell erfasster Daten unter den Überwachungsbegriff. Für die Bestimmung zur Überwachung genügt es, dass die technische Einrichtung objektiv zur Überwachung geeignet ist. Erst Ende 2016 hat das BAG das Mitbestimmungsrecht im Facebook-Beschluss erneut ausgeweitet, indem es auf eine eigenständige Kontrollwirkung verzichtet hat. Die Bedeutung des Mitbestimmungsrechts hat damit in den letzten Jahren durch den vermehrten Technikeinsatz in erheblichem Maße zugenommen.

II. Grenzen bei der Ausübung der

Mitbestimmung durch die DSGVO?

Wird der weite Umfang des Mitbestimmungsrechts durch inhaltliche Gestaltungsgrenzen bei der Ausübung in Form von Betriebsvereinbarungen beschränkt? Aus aktuellem Anlass stellt sich insbesondere die Frage, ob die Regelungsbefugnis des Betriebsrats durch Inkrafttreten der DSGVO am 25.5.2018 beschränkt wurde.

Wie aus § 26 VI BDSG folgt, bleibt das Mitbestimmungsrecht aus § 87 I Nr. 6 BetrVG vom Datenschutzrecht unberührt. Die abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen dürfen aber nicht gegen das Datenschutzrecht verstoßen.50 Die DSGVO enthält eine Öffnungsklausel für die Datenverarbeitung im Beschäftigungskontext in Art. 88 I DSGVO. Danach können in Betriebsvereinbarungen51 „spezifischere Vorschriften“ für die Datenverarbeitung vorgesehen werden. Es stellt sich die Frage, ob Art. 88 I DSGVO es dem Betriebsrat ermöglicht, eine Regelung zu erzwingen, die das Schutzniveau der DSGVO erhöht. Kann er ein generelles Verbot der Datenverwendung zu Verhaltenskontrollen erzwingen, obwohl eine solche Verwendung aufgrund eines gesetzlichen Ermächtigungstatbestands zulässig wäre?52 Verneint man diese Frage, beschränkt sich die Betriebsratsmitbestimmung im Kontext der Datenverarbeitung inhaltlich auf eine bloße Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben.53 Entscheidend ist, ob die DSGVO vollharmonisierend wirkt.54

1. Wortlaut

Der Wortlaut „spezifischere Vorschriften“ in Art. 88 I DSGVO ist nicht eindeutig. Es wird vertreten, dass sich die Spezifität darauf bezieht, dass die Betriebsvereinbarung einen besonderen Lebenssachverhalt, nämlich den der Beschäftigung, regelt. Daraus würde nicht zwangsläufig ein Verbot zur Erhöhung des Datenschutzniveaus folgen.55 Zum Teil wird aber auch vertreten, dass „spezifischere Vorschriften“ nur solche sind, die die Regelungen der DSGVO konkretisieren, nicht jedoch von ihr abweichen.56 Darüber hinaus ist es denkbar, dass die Verwendung des Komparativs anzeigt, dass strengere Regelungen zulässig sind.57

2. Telos

Der Zweck der DSGVO spricht für eine Vollharmonisierung und damit gegen die Möglichkeit zur Erhöhung des Datenschutzniveaus. Erwägungsgrund 10 stellt klar, dass die DSGVO ein gleichmäßig hohes Datenschutzniveau und die Beseitigung von Hemmnissen für den Verkehr personenbezogener Daten bezweckt (vgl. auch Art. 1 III DSGVO).58 Eine Erhöhung des Schutzniveaus durch Betriebsvereinbarungen würde einer einheitlichen Anwendung jedoch entgegenstehen und den freien Datenverkehr behindern.59

3. Kompetenzrechtliche Probleme

Andererseits würde eine Versagung der Erhöhung des Schutzniveaus dazu führen, dass die DSGVO sehr einschneidende Vorgaben für das Arbeitsrecht enthält. Das hätte kompetenzrechtliche Probleme zur Folge. Die DSGVO wurde auf Art. 16 II AEUV gestützt.60 Fraglich ist aber, ob solch weitgehende Vorgaben nicht auf die Kompetenznorm zum Erlass arbeitsrechtlicher Vorschriften in Art. 153 I UAbs. 1 lit. b AEUV gestützt werden müssten.61 Danach hätte keine Verordnung, sondern nur eine Richtlinie erlassen werden können.62

4. Entstehungsgeschichte

Der entscheidende Hinweis für die Zulässigkeit einer Erhöhung des Datenschutzniveaus folgt aus der Entstehungsgeschichte. Der ursprüngliche Entwurf der Kommission sah vor, dass Kollektivvereinbarungen nach Art. 88 I DSGVO nur „in den Grenzen der Verordnung“ erlassen werden dürfen.63 Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wurde diese Formulierung aufgegeben, während sie in anderen Zusammenhängen (vgl. die Erwägungsgründe 98, 149, 162, 164) beibehalten wurde.64 Der Verzicht auf diese Formulierung macht deutlich, dass eine Abweichung nach


50 Vgl. Däubler (Fn. 30), Rn. 780, 783b.

51 Dass Betriebsvereinbarungen unter Art. 88 I DSGVO fallen folgt aus

Erwägungsgrund 155.

52 Vgl. Schrey/Kielkowski, BB 2018, 629, 631 ff.

53 Vgl. Franzen, in: Franzen/Gallner/Oetker (Hrsg.), Kommentar zum

europäischen Arbeistrecht2, 2018, Art. 88 Rn. 10.

54 Franzen, in: Franzen/Gallner/Oetker (Fn. 53), Art. 88 Rn. 7.

55 Riesenhuber, in: Brink/Wolff, Beck’scher Online-Kommentar Datenschutzrecht24, 2018, Art. 88 Rn. 66 ff.;

vgl. auch Düwell/Brink, NZA 2017, 1081, 1082.

56 Nolte, in: Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil (Hrsg.), Kommentar zur DSGVO, 2018, Art. 88 Rn. 19;

vgl. auch Kort, DB 2016, 711, 714; Wybitul, NZA 2017, 413.

57 Düwell/Brink, NZA 2016, 665, 666; Pauly, in: Paal/Pauly (Hrsg.), Beck’sche Kompakt-Kommentare DSGVO und BDSG2, 2018, Art. 88 Rn. 4.

58 Vgl. Maschmann, in: Kühling/Buchner, Kommentar zur DSGVO2, 2018, Art. 88 Rn. 36.

59 Nolte, in: Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil (Fn. 56), Art. 88 Rn. 22; Maschmann,in: Kühling/Buchner (Fn. 58), Art. 88 Rn. 36.

60 Vgl. Maschmann, in: Kühling/Buchner (Fn. 58), Art. 88 Rn. 39.

61 Körner, NZA 2016, 1383.

62 Körner, NZA 2016, 1383; Franzen, DuD 2012, 322. 326.

63 Taeger/Rose, BB 2016, 819, 830;

Pauly, in: Paal/Pauly (Fn. 57), Art. 88 Rn. 4.

64 Körner, NZA 2016, 1383;

Tiedemann, in: Sydow, Handkommentar DSGVO, 2017, Art. 88 Rn. 3.

Lindenberg, Zum Umfang des Mitbestimmungsrechts gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG21

„oben“ möglich sein soll.65

5. Zusammenfassung

Dem Betriebsrat ist es bei der Ausübung seines Mitbestimmungsrechts aus § 87 I Nr. 6 BetrVG möglich, ein Schutzniveau zu verhandeln, das über das der DSGVO hinausgeht. Die DSGVO sorgt daher nicht für eine inhaltliche Begrenzung des Mitbestimmungsrechts.

III. Ergebnis: Weiter Umfang der Mitbestimmung

Die Analyse der rechtlichen Ausgangslage zeigt, dass das Mitbestimmungsrecht aus § 87 I Nr. 6 BetrVG in sehr weitem Umfang besteht. Das BAG interpretiert dessen Voraussetzungen extensiv, um neue Techniken dem Mitbestimmungsrecht zu unterwerfen. Dadurch sind nicht mehr nur Produktographen und Videokameras vom Mitbestimmungsrecht umfasst, sondern z.B. auch Facebookseiten. Auch der inhaltliche Gestaltungsspielraum des Betriebsrats bei der Ausübung der Mitbestimmung wurde durch die DSGVO nicht begrenzt.

Das weite Verständnis führt dazu, dass dem Mitbestimmungsrecht aus § 87 I Nr. 6 BetrVG eine enorme praktische Bedeutung zukommt. Technische Einrichtungen mit objektiver Überwachungseignung gehören heute zur Grundausstattung eines Betriebs – mag eine Überwachung damit auch gar nicht bezweckt sein.

D. Digitalisierung als Herausforderung:

Reformbedarf?

Die Digitalisierung ist in vollem Gange. Der Einsatz von Handys ist selbstverständlich, auch der Einsatz von GPS-Ortungssystemen in Dienstwagen ist längst keine Neuheit mehr. Von dem ursprünglich bei Erlass des § 87 I Nr. 6 BetrVG verfolgten Zweck – einer Mitbestimmung bei der Verwendung von Produktographen – ist nicht mehr viel übrig. Dennoch hält das BAG an den in den 1980er Jahren gefällten Leitentscheidungen fest und legt das Mitbestimmungsrecht weiter weit aus.66 Doch ist die Rechtsprechung zu § 87 I Nr. 6 BetrVG noch zeitgemäß?

I. Reformvorschläge von Arbeitgebervertretern

„Bleibt es [das Arbeitsrecht] unverändert bestehen […], werden wir uns unweigerlich zum Entwicklungsland zurückentwickeln“.67 Es sind solche Aussagen, mit denen Arbeitgebervertreter eine Reform des § 87 I Nr. 6 BetrVG fordern. Das Mitbestimmungsrecht sei angesichts der extensiven Rechtsprechung „uferlos“.68 Um wettbewerbsfähig zu bleiben, dürften technische Innovationen in Deutschland – das im Vergleich zu anderen Ländern ein hohes Maß an Mitbestimmung vorsieht69 – nicht durch langwierige Diskussionen mit Betriebsräten verhindert werden.70 Das Mitbestimmungsrecht aus § 87 I Nr. 6 BetrVG müsse daher an die heutige Arbeitsrealität angepasst werden.71

1. Von der objektiv-finalen Theorie zur

subjektiv-finalen Theorie

Mit dem Produktographenbeschluss im Jahr 1975 hatte das BAG die damalige Diskussion über die Auslegung des Wortes „bestimmt“ im Sinne der objektiv-finalen Theorie beendet.72 Insbesondere von Arbeitgebervertretern wird die Diskussion neuerdings aber wieder ins Rollen gebracht. Als Reaktion auf die Möglichkeiten heutiger Technik, die objektiv nahezu immer zur Überwachung geeignet sind, wird ein Abstellen auf die subjektive Verwendungsabsicht des Arbeitgebers gefordert (subjektiv-finale Theorie).73

2. Rückbesinnung auf den Schutzzweck

der Mitbestimmung

Um ein „ausuferndes Eigenleben“ des § 87 I Nr. 6 BetrVG zu verhindern, hält Worzalla es für erforderlich, das Mitbestimmungsrecht auf seinen ursprünglichen Zweck zurückzuführen.74 Das BAG habe den Zweck der Mitbestimmung zu einem umfassenden Persönlichkeitsschutzprogramm ausgeweitet. Erforderlich sei aber, dass ein Mitbestimmungsrecht nur besteht, wenn eine Persönlichkeitsbeeinträchtigung der Arbeitnehmer durch die Besonderheit der technischen Einrichtung ausgelöst wird.75 Der allgemeine Persönlichkeitsschutz dürfe nicht länger als Zweck herangezogen werden, um eine Mitbestimmung zu begründen. Er sei schon durch das Datenschutzrecht (DSGVO, BDSG) und die Schutz- und Förderpflicht aus § 75 II BetrVG gewahrt.76

In der Tat hat das BAG den Zweck des § 87 I Nr. 6 BetrVG im Facebook-Beschluss zu einem allgemeinen Persönlichkeitsschutz ausgeweitet, indem es auf eine eigenständige Kontrollwirkung verzichtet hat. Daher wird konkret vorgeschlagen, das Erfordernis der eigenständigen Kontrollwirkung wieder einzuführen. Nur wenn Daten ohne menschliche Steuerung direkt durch die technische Einrichtung erhoben oder verarbeitet werden, liege eine technikspezifische Gefahr vor.77

II. Reformvorschläge von

Arbeitnehmervertretern

Auf Seiten der Arbeitnehmer und Betriebsräte stoßen die genannten Reformvorschläge auf Kritik. Sie betonen, dass die Gefahren für das Persönlichkeitsrecht in Zeiten der Digitalisierung zunehmen. Dennoch sei die Digitalisierung sozial gestaltbar, sodass sie sich auch zugunsten der Arbeitnehmer auswirken kann. Dafür sei aber eine umfassende Beteiligung des Betriebsrats essentiell.78 Die weite Auslegung des Mitbestimmungsrechts aus § 87 I Nr. 6 BetrVG sei somit


65 Wybitul/Sörup/Pötters, ZD 2015, 559, 561.

66 Vgl. Giese (Fn. 45), S. 131 ff.

67 Zumkeller, AuA 2015, 334, 334.

68 Grimm, ArbRB 2015, 336, 339; Giese (Fn. 45), S. 132.

69 Vgl. Rüthers, NJW 2003, 546, 550; Junker, ZfA 2001, 225, 242 f.

70 Schipp, ArbRB 2016, 177, 179; Giese (Fn. 45), S. 141.

71 Giese (Fn. 45), S. 139;

Wisskirchen/Schiller/Schwindling, BB 2017, 2105, 2109.

72 BAGE 27, 256, 260 f.

73 Grimm, ArbRB 2015, 336, 339;

Günther/Böglmüller, NZA 2015, 1025, 1027.

74 Worzalla, in: Hess/Worzalla/Glock (Fn. 27), § 87 Rn. 344 ff.;

Wiese/Gutzeit, in: Wiese/Kreutz/Oetker (Fn. 3), § 87 Rn. 511.

75 Worzalla, in: Hess/Worzalla/Glock (Fn. 27), § 87 Rn. 344 ff.

76 Worzalla, in: Hess/Worzalla/Glock (Fn. 27), § 87 Rn. 346.

77 Vgl. Wisskirchen/Schiller/Schwindling, BB 2017, 2105, 2108.

78 Klebe, in: Däubler/Kittner/Klebe/Wedde (Fn. 26), § 87 Rn. 161, 165.

Lindenberg, Zum Umfang des Mitbestimmungsrechts gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG22

geboten.79 Da es für die Persönlichkeitsverletzung des Arbeitnehmers keinen Unterschied mache, ob die Überwachung das verfolgte Ziel oder lediglich ein Nebeneffekt ist, sei auch an der objektiv-finalen Theorie festzuhalten.80

Krause forderte in seinem Gutachten zum 71. Deutschen Juristentag sogar eine Klarstellung des Wortlautes des § 87 I Nr. 6 BetrVG dahingehend, dass jeglicher Umgang mit personenbezogenen oder personenbeziehbaren Daten der Mitbestimmung unterliegt.81 Der aktuelle Normtext fokussiere zu stark auf die unmittelbare Überwachung in Form der Datenerhebung (z.B. durch Videokameras) und vernachlässige die Verarbeitung von Daten, aus denen Rückschlüsse auf das Verhalten der Arbeitnehmer möglich sind.82

III. Vermittelnder Lösungsvorschlag

Den Arbeitnehmervertretern ist beizupflichten, dass mit vermehrtem Technikeinsatz die Gefahr einer Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch technische Überwachung steigt. Gleichzeitig ist den Arbeitgebervertretern zuzustimmen, dass heutzutage nahezu alle technischen Geräte objektiv zur Überwachung geeignet sind, vom Arbeitgeber aber häufig zu anderen Zwecken eingesetzt werden. Es gilt einen Lösungsweg zu finden, der beiden Interessen gerecht wird.

1. Beschränkung auf den historischen

Schutzzweck

Zweifelsohne sollte ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 I Nr. 6 BetrVG bestehen, wenn technische Kontrolleinrichtungen aufgrund ihrer technischen Besonderheiten in das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer eingreifen. Dass das Mitbestimmungsrecht in Zeiten der Digitalisierung dadurch immer häufiger eingreift, ist gerechtfertigt. Nichtsdestotrotz darf der Zweck der Mitbestimmung nicht auf einen allgemeinen Persönlichkeitsschutz ausgedehnt werden. Eine solch weite Interpretation umgeht den in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommenden Gesetzgeberwillen.83 Entgegen dem Facebook-Beschluss ist daher eine eigenständige Kontrollwirkung der technischen Einrichtung zu fordern. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Mitbestimmungsrecht nur besteht, wenn es um die besonderen Gefahren technischer Einrichtungen geht.

2. Anwendung der subjektiv-finalen Theorie

Ferner darf nicht vergessen werden, dass technische Einrichtungen häufig auch den Arbeitnehmern zugutekommen, indem sie ihnen die Arbeit erleichtern. Steht sicher fest, dass eine Überwachung mittels der technischen Einrichtung nicht erfolgt, besteht kein Anlass für ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 I Nr. 6 BetrVG. Aus diesem Grund sollte auf die Verwendungsabsicht des Arbeitgebers abgestellt werden.

a) Datenauswertung als objektives Indiz für

die Überwachungsabsicht

Problematisch ist, dass die subjektiv-finale Theorie ein erhebliches Umgehungspotenzial birgt. Den Arbeitgebern wird es nicht schwer fallen, Schutzbehauptungen aufzustellen, um eine bestehende Überwachungsabsicht zu verstecken. Erforderlich sind daher objektive Indizien, die auf eine Überwachungsabsicht schließen lassen. Eine Überwachungsabsicht sollte grundsätzlich erst dann angenommen werden, wenn die Daten tatsächlich ausgewertet werden.84 Zeichnet der Arbeitgeber nicht nur Daten auf, sondern verarbeitet sie auch zu Aussagen über die Leistung der Arbeitnehmer, kann angenommen werden, dass er sie zu Kontrollzwecken verwendet. Im Fall eines Diensthandys wäre die Überwachungsabsicht daher grundsätzlich zu verneinen, wenn Daten über vom Arbeitnehmer geführte Telefonate lediglich aufgezeichnet und über die Handyabrechnung dem Arbeitgeber bereitgestellt werden. Eine Überwachungsabsicht wäre erst zu bejahen, wenn der Arbeitgeber die Handyabrechnung tatsächlich überprüft, um z.B. herauszufinden wie oft der Arbeitnehmer Privatgespräche führt. Die Datenauswertung könnte somit ein objektives Indiz für das Vorliegen der Überwachungsabsicht sein.

Allerdings hängt das Mitbestimmungsrecht dann maßgeblich davon ab, ob der Arbeitgeber die erhobenen Daten auswertet. Da eine solche Auswertung aber in der Sphäre des Arbeitgebers stattfindet, wird es für den Betriebsrat oft kaum erkennbar sein, ob ihm ein Mitbestimmungsrecht zusteht. Um ihm diese Beurteilung zu ermöglichen, müssen Informationspflichten des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat bestehen. Der Arbeitgeber muss den Betriebsrat darüber informieren, wozu die aufgezeichneten Daten genutzt werden und muss darüber einen Nachweis erbringen. Unter Umständen ist dem Betriebsrat auch Einblick in das jeweilige Datenverarbeitungssystem zu gewähren, um die vom Arbeitgeber gestellten Informationen zu prüfen.85

b) In Zweifelsfällen: Vermutung für das Bestehen

der Überwachungsabsicht

Problematisch ist jedoch, dass die Feststellung der Überwachungsabsicht selbst bei Heranziehung objektiver Indizien wie der Auswertung schwierig sein kann. Über das Bestehen des Mitbestimmungsrechts nach § 87 I Nr. 6 BetrVG wird im Beschlussverfahren entschieden (§ 80 I i.V.m. § 2a I Nr. 1, II ArbGG), sodass das Gericht im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes nach § 83 I ArbGG selbst ermitteln muss, ob eine Überwachungsabsicht besteht. Relativ unproblematisch ist die Feststellung der Verwendungsabsicht, wenn die Datenauswertung auf technischem Wege erfolgt. Dann ist es dem Gericht durch Einblick in das Datenverarbeitungssystem möglich, festzustellen, ob eine Auswertung erfolgt und ob daher auf eine Überwachungsabsicht zu schließen ist. Problematisch ist jedoch, dass der Arbeitgeber technisch aufgezeichnete Daten auch manuell auswerten kann. Indizien können insofern handschriftliche Notizen des


79 Klebe, NZA-Beilage 2017, 77, 82.

80 Karthaus, NZA 2017, 558, 561.

81 Krause, Gutachten B zum 71. DJT, S. 80.

82 Vgl. Krause, Gutachten B zum 71. DJT, S. 80.

83 Vgl. BT-Drucks. VI/1786, S. 48 f.

84 Vgl. Günther/Böglmüller, NZA 2015, 1025, 1027;

Hanau, NJW 2016, 2613, 2615.

85 Vgl. zu Informationspflichten gegenüber dem Betriebsrat auch Wisskirchen/Schiller/Schwindling, BB 2017, 2105, 2108;

Schipp, ArbRB 2016, 177, 179.

Lindenberg, Zum Umfang des Mitbestimmungsrechts gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG23

Arbeitgebers sein. Außerdem kann das Gericht Rückschlüsse aus individualrechtlichen Maßnahmen wie Kündigungen ziehen, wenn der Arbeitgeber nur mittels der technischen Einrichtung von dem der Kündigung zugrundeliegenden Verhalten des Arbeitnehmers erfahren konnte. Ansonsten bleibt dem Gericht lediglich die Überprüfung der Aussagen des Arbeitgebers auf deren Glaubwürdigkeit. Ein solches Beweisproblem ist einem subjektiven Tatbestandsmerkmal jedoch immanent – man denke an die Feststellung des Vorsatzes im Strafrecht.86

Ein Restrisiko bleibt dahingehend bestehen, dass das Gericht nicht sicher feststellen kann, ob eine Überwachungsabsicht besteht. Zu wessen Lasten soll dieses Risiko gehen? Auch im Beschlussverfahren gelten die Grundsätze der objektiven Beweislast.87 Zweifel am Bestehen der Verwendungsabsicht gehen bei einem non liquet zulasten der Partei, die von ihrem Vorliegen begünstigt würde.88 Das wäre in diesem Fall der Betriebsrat, sodass kein Mitbestimmungsrecht bestehen würde. Dieses Ergebnis ist aber nicht sachgerecht. Es ist der Arbeitgeber, der die technische Einrichtung einsetzt und damit die abstrakte Möglichkeit zur Überwachung schafft. Der einzelne Arbeitnehmer wird regelmäßig keinen Einblick haben, ob über ihn aufgezeichnete Daten auch ausgewertet werden. Die Ungewissheit über die Auswertung durch den Arbeitgeber wird noch gerichtlich bestätigt, indem es selbst dem Gericht nicht gelingt, eine Überwachungsabsicht auszuschließen. Kann der Arbeitnehmer aber nicht sicher ausschließen, dass eine technische Überwachung stattfindet, dann wird ihn schon diese Ungewissheit in seiner freien Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigen. Es folgt daher aus dem Zweck des § 87 I Nr. 6 BetrVG, dass ein Mitbestimmungsrecht nur dann nicht bestehen sollte, wenn eine Überwachungsabsicht sicher nicht besteht. Aus diesem Grund ist eine Umkehr der objektiven Beweislast angebracht. Zweifel des Gerichts an der Verwendungsabsicht sollten zulasten des Arbeitgebers gehen. Seine Überwachungsabsicht würde vermutet und ein Mitbestimmungsrecht bejaht werden.

3. Neuformulierung des § 87 I Nr. 6 BetrVG

Zur Umsetzung des vorgetragenen Lösungsvorschlags ist eine Gesetzesänderung nicht erforderlich. Die Beschränkung der Mitbestimmung auf seinen historischen Zweck folgt schon aus der Gesetzesbegründung, die zur Auslegung der Norm ohnehin herangezogen werden muss. Auch das Abstellen auf die subjektive Verwendungsabsicht ist mit dem Wortlaut „bestimmt“ vereinbar. Um dem BAG aber endgültig die Grundlage für ausufernde Beschlüsse wie im Facebook-Fall zu entziehen, empfiehlt sich eine Klarstellung im Wortlaut. § 87 I Nr. 6 BetrVG könnte demnach wie folgt lauten:

§ 87 (1) Der Betriebsrat hat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, in folgenden Angelegenheiten mitzubestimmen: […]

6. Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen zur Überwachung des Verhaltens oder der Leistung der Arbeitnehmer, die aufgrund technischer Besonderheiten eine über die menschliche Überwachung hinausgehende Gefahr für den persönlichen Bereich der Arbeitnehmer erzeugen, es sei denn der Arbeitgeber beabsichtigt deren Verwendung ausschließlich zu anderen als zu Überwachungszwecken.

Der eingeschobene Nebensatz stellt den Zweck der Mitbestimmung klar und beschränkt das Mitbestimmungsrecht auf technische Einrichtungen mit eigenständiger Kontrollwirkung. Die „es sei denn“‑Konstellation dient einer Umkehr der objektiven Beweislast, sodass gerichtliche Zweifel bei der Verwendungsabsicht zulasten des Arbeitgebers gehen.

E. Praxishinweis: Abschluss einer

Rahmenbetriebsvereinbarung

Die Reformvorschläge dürften beim BAG und beim Gesetzgeber aber auf taube Ohren treffen.89 Sie wurden zum Teil schon vor dem Facebook-Beschluss vorgebracht, in dem das BAG dennoch an der extensiven Auslegung des § 87 I Nr. 6 BetrVG festgehalten hat. Auch der Gesetzgeber hat bei einer Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 das Mitbestimmungsrecht aus § 87 I Nr. 6 BetrVG unverändert gelassen.90

Arbeitgeber und Betriebsrat müssen einen Weg finden, wie sie auf Grundlage der jetzigen Rechtsprechung kooperativ und vertrauensvoll zusammenarbeiten können. In Zeiten der Digitalisierung werden angesichts der weiten Auslegung nahezu täglich mitbestimmungspflichtige Themen auf der Tagesordnung eines Betriebes stehen. Der Abschluss einer aufwendigen Betriebsvereinbarung für jede einzelne technische Einrichtung ist dabei umständlich und zeitaufwendig. Empfehlenswert ist daher der Abschluss einer freiwilligen Rahmenbetriebsvereinbarung, die allgemeine für den Technikeinsatz geltende Grundregeln enthält (z.B. hinsichtlich Art und Umfang der Datenerhebung und -verarbeitung, dem Kreis der Zugriffsberechtigten und der Speicherdauer).91 Bei der Einführung und Veränderung technischer Geräte müssen dann nur noch die Fragen verhandelt werden, die in der Rahmenbetriebsvereinbarung nicht adressiert sind.

F. Fazit

Die Auslegung des Mitbestimmungsrechts aus § 87 I Nr. 6 BetrVG ist ein Balanceakt zwischen dem Persönlichkeitsschutz der Arbeitnehmer und dem Arbeitgeberinteresse an der Verwendung technischer Einrichtungen. Das BAG steht insoweit auf der Seite der Arbeitnehmer. In Zeiten, in denen Produktographen als innovativ galten, hat es die Grundsteine für eine weite Auslegung des Mitbestimmungsrechts geschaffen. Dass die in den 1980er Jahren aufgestellten Grundsätze in einem Gebiet, das durch


86 Vgl. auch Jacobs/Frieling, JZ 2017, 961, 964.

87 Greiner, in: Grunsky/Waas/Benecke/Greiner, Kommentar zum ArbGG8, 2014, § 83 Rn. 13.

88 Koch, in: ErfK (Fn. 26), § 83 Rn. 5.

89 Vgl. Kort, RdA 2018, 24, 31 f.; Schreiner, DB 2017, 2361.

90 Zu den damaligen Änderungen des BetrVG:

Berkowsky, NZI 2001, 529, 529 f.

91 Schulze/Pfeffer, ArbRAktuell 2017, 358;

Wisskirchen/Schiller/Schwindling, BB 2017, 2105, 2108 f.;

Klebe, NZA-Beilage 2017, 77, 82;

Polzer, in: FS Hoyningen-Huene, 2014, S. 363, 371.

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technische Innovationen geprägt ist, nicht mehr sachgerecht sind, liegt eigentlich auf der Hand. Dennoch hält das BAG an seiner Rechtsprechung fest. In der Praxis führt die BAG-Rechtsprechung dazu, dass mitbestimmungspflichtige technische Themen nahezu täglich auf der Tagesordnung stehen.

Wünschenswert wäre eine Reform des § 87 I Nr. 6 BetrVG, die wieder zum ursprünglichen Zweck der Mitbestimmung zurückkehrt und das Mitbestimmungsrecht von einer tatsächlich bestehenden Überwachungsabsicht abhängig macht.Mit einer solchen Reform ist in absehbarer Zeit aber nicht zu rechnen. Arbeitgebern und Betriebsräten bleibt daher nichts anderes übrig, als kooperativ zusammenzuarbeiten. Dafür bietet sich der Abschluss einer Technik-Rahmenbetriebsvereinbarung an. Keine ideale Lösung für den Umgang mit dem Mitbestimmungsrecht aus § 87 I Nr. 6 BetrVG – aber wohl doch eine realistische!