Inwiefern die Auslieferung von Unionsbürgern durch Deutschland an Drittstaaten eine (ungerechtfertigte) Diskriminierung darstellt

Cathleen-Florentine Woelcke*

A. Einführung

Frankfurter Flughafen, 2013. Ein Italiener (Pisciotti) auf der Durchreise von Nigeria in sein Heimatland Italien, landet in Frankfurt zwischen und wird von deutschen Sicherheitskräften festgenommen. Die Verhaftung erfolgte aufgrund von Straftaten, die Pisciotti in den USA als Teil eines Kartells begangen haben soll und wegen derer er auf der Fahndungsliste von Interpol stand. Nach seiner Festnahme in Deutschland beantragten die USA die Auslieferung, da gegen Pisciotti in den USA ein Haftbefehl wegen eben dieser Taten erlassen worden war. Gegen gerichtliche Entscheidungen für die Zulässigkeit der Auslieferung geht Pisciotti erfolglos vor, sodass er 2014 in die USA ausgeliefert wird. Der Deutsche Bangert, der mit Pisciotti zusammen Teil des Kartells war, gegen den ebenfalls ein Haftbefehl vorlag und der sich ebenso in Deutschland befand, wurde unter Verweis auf das Auslieferungsverbot des Art. 16 II 1 GG nicht ausgeliefert. Vorliegend befanden sich also zwei Unionsbürger, ein Deutscher und ein Italiener, in der exakt gleichen Situation und wurden doch unterschiedlich behandelt.

Anliegen dieser Arbeit soll es sein, nach grundlegender Auseinandersetzung mit Art. 16 II GG, eine vielschichtige Betrachtung des Vorwurfes einer diskriminierenden Ungleichbehandlung von Unionsbürgern vorzunehmen auf der Grundlage, dass Art. 16 II 1 GG nicht unionsrechtskonform auf diese angewandt wird. Wichtige Faktoren, denen hierfür Beachtung geschenkt werden sollen, sind unter anderem der Wert und die Reichweite der Unionsbürgerschaft im Auslieferungsrecht, die Frage nach der Eröffnung des Unionsrechts im Rahmen nationaler Rechtsprechung und das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV. Die Bearbeitung erfolgt hierbei sowohl exemplarisch an ergangenen Urteilen, als auch abstrahiert vom Einzelfall, diskutiert kritisch Diskrepanzen zwischen Rechtsprechung und Literatur und bemüht sich logische Thesen aus der Rechtsprechung von Europäischem Gerichtshof (EuGH) und Bundesverfassungsgericht (BVerfG) abzuleiten, um schlussendlich zu einer allgemeingültigen, fundierten und differenzierten Antwort auf die Frage zu gelangen, inwiefern Deutschland rechtlich daran gehindert ist Unionsbürger an Drittstaaten auszuliefern.

B. Grundlegende Erwägungen bezüglich Art. 16 II GG

Dreh- und Angelpunkt der Kontroverse bezüglich der Auslieferung von EU-Bürgern durch Deutschland an Drittstaaten ist Art. 16 II GG. Um später die Thematik der unionsrechtskonformen Auslegung behandeln zu können, ist ein erstes, eingrenzendes Verständnis der Dimensionen und des Umfanges dieses Artikels selber, unabdingbar.

Das Auslieferungsverbot ist ein seit dem Mittelalter bestehender Grundsatz, der Ausdruck der Souveränität des Staatsoberhauptes und später des Staates war. Fortlaufend finden sich vergleichbare Regelungen durch alle Epochen hindurch1 und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Nichtauslieferung deutscher Staatsangehöriger als „gemeindeutscher Rechtsgrundsatz“ verfestigt.2 1919 wurde das Auslieferungsverbot erstmals als Art. 112 III3 zu Verfassungsrang erhoben. Nach Ende des zweiten Weltkrieges und der Besetzung Deutschlands stand der Auslieferung Deutscher an das Ausland zwischenzeitlich keinerlei rechtliche Regelung entgegen. Erst Art. 7 HLV4, der vom Herrenchiemseer Verfassungsentwurf weitgehend als neuer Art. 4 übernommen und in ein Auslieferungsverbot in Absatz eins und Asylrecht in Absatz zwei gegliedert wurde, änderte dies. Während das Asylgrundrecht ein Vorbild hatte5, stellte das „Grundrecht auf Auslieferungsfreiheit“6 ein absolutes Novum dar.7 Geprägt wurde der Beschluss des Art. 4 maßgeblich durch den Souveränitätsaspekt eines Auslieferungsverbotes und die Besatzungssituation durch die Alliierten.8

Das kategorische Verbot der Auslieferung deutscher Staatsbürger bestand bis in die 1990er Jahre fort. Trotz erster „Entwicklung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit auf UN-Ebene“9 Anfang der 1990er Jahre, führte erst die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes 1998 dazu, dass in Deutschland eine Änderung des protektionistischen10 Art. 16 II GG angestoßen wurde.11 Für diese Änderung wurde primär angeführt, dass eine strikte Bevorzugung eigener Bürger und die Abschottung gegenüber Justizzugriffen anderer Staaten nicht mehr zeitgemäß war, da der singulär agierende Nationalstaat in Zeiten der EU in den Hintergrund


*Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School, Hamburg. Die Arbeit ist im Rahmen des Seminars „Moderne Probleme im (Wirtschafts-)Strafrecht“ entstanden.

1 Vgl. §29 der Reichskammergerichtsordnung vom 7.8.1495; Art. VIII, §1 des Friedensvertrages von Osnabrück vom 14./24.10.1648; Bundesbeschluss der Deutschenbundesversammlung vom 26.1.1854.

2 Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 8 – 10.

3 „Kein Deutscher darf einer ausländischen Regierung zur Verfolgung oder Bestrafung überliefert werden“.

4 „Kein Deutscher darf einer fremden Macht ausgeliefert werden. Fremde genießen den Schutz vor Auslieferung und Ausweisung, wenn sie unter Verletzung der in dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte im Ausland verfolgt werden und nach Hessen geflohen sind“ (1946).

5 vgl. Art. 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN-Generalversammlung vom 10.12.1948.

6 BVErfGE 113, 273 (296).

7 Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 18.

8 Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 24.

9 Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 27.

10 Vgl. Zimmermann/Tams, in: Berliner Kommentar GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 64 f.; U.Becker, in: v.Mangoldt/Klein/Starck GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 64.

11 Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 27 – 29.

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getreten war und seine Berechtigung verloren hatte.12

Trotz der nicht unerheblichen Historie des Auslieferungsverbotes, ist es kein Bestandteil der Ewigkeitsklausel des Art. 79 III GG13. Das BVerfG formulierte die Antwort auf diese Frage wie folgt: „Die Auslieferung Deutscher verstößt, jedenfalls bei Beachtung der verfassungsrechtlichen Bindungen, nicht gegen die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze. Weder wird durch eine rechtsstaatlichen Grundsätzen gehorchende Auslieferung Deutscher deren Menschenwürde verletzt noch werden dadurch die Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG angetastet“14.

In seiner heutigen Form schützt Art. 16 II GG alle deutschen Staatsbürger im Sinne des Art. 116 I GG vor Auslieferungen, also vor der „Entfernung einer Person durch einen Grundrechtsverpflichteten aus dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland und Überstellung an eine ausländische Hoheitsgewalt auf deren Ersuchen“15. Art. 16 II GG wohnt hierbei eine doppelte Teleologie inne, die sowohl staatliche als auch individual-rechtliche Facetten umfasst. Aus staatlicher Sicht soll Art. 16 II GG und das hierin verkörperte Verbot der Auslieferung eigener Staatsbürger Ausdruck der staatlichen Souveränität sein, sowie des aus der Personalhoheit der Staaten fließende Rechts, seine Bürger nicht an fremde Länder ausliefern zu müssen. Hierneben tritt noch eine individualrechtliche Komponente, wonach die Bürger „nicht gegen ihren Willen aus der ihnen vertrauten Rechtsordnung entfernt werden (sollen und) jeder Staatsangehörige […] vor den Unsicherheiten einer Aburteilung unter einem ihm fremden Rechtssystem und in für ihn schwer durchschaubaren fremden Verhältnissen bewahrt werden“16 soll.17 Von Teilen der Lehre wird zudem angeführt, dass Sinn und Zweck seien, dass der Staatsbürger nur nach Recht bewertet wird, das er als mündiger Bürger selbst mit legitimiert hat.18

C. Auslieferungen als zu rechtfertigender Eingriff?

Auslieferungen sind schon lange Zeit prägende Komponente des zwischenstaatlichen Zusammenlebens gewesen, die durch bilaterale Absprachen und Verträge geregelt wurden. Mit Entstehung von Staatenbunden, wie der EU, ergibt sich jedoch ein neues internationales Handlungsumfeld. Gerade durch Ausflüsse dieser veränderten Umstände, wie z.B. der Unionsbürgerschaft, eröffnen sich Konflikte bezüglich der Anwendung und der Verflechtung nationaler und unionsrechtlicher Normen in Bezug auf eigene Staatsbürger und Unionsbürger.

Einer dieser Konfliktfälle, der durch den Fall Pisciotti enorm an Brisanz gewonnen hat, betrifft die Frage, wie bei der Auslieferung von EU-Bürgern durch Deutschland zu verfahren sei. Im Fall Pisciotti hatten mehrere Marineschlauchproduzenten das sogenannte Marineschlauch-Kartell gebildet, indem sie zwischen 1999 und 2006 Weltmarktpreise für Ölschläuche abgesprochen hatten. Die EU-Kommission und das US-Justizministerium verhängten hieraufhin hohe Geldstrafen. In den USA werden Kartellbeteiligte jedoch darüber hinaus auch individuell strafrechtlich verfolgt. Gegen Pisciotti und neun andere Manager, darunter auch den Deutschen Bangert, wurde 2010 von einem Gericht in Florida ein Haftbefehl erlassen und Pisciotti auf die Interpol Fahndungsliste gesetzt. Bei einer Zwischenlandung seines Fluges von Nigeria nach Italien wurde Pisciotti 2013 am Frankfurter Flughafen festgenommen.19

Es befanden sich nun also zwei Unionsbürger auf deutschem Staatsgebiet, die in den USA wegen des gleichen Verbrechens angeklagt waren und denen vergleichbare Strafen drohten. Die folgende exemplarische Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Bangert und Pisciotti soll und kann deshalb Einblicke in die Verfahrensweise bei der Auslieferung durch Deutschland geben, wobei die Staatsangehörigkeit einen determinierenden Faktor darstellen könnte.

I. Auslieferung deutscher Staatsbürger (Bangert)

Gemäß Art. 16 II 1 GG dürfen Deutsche nicht an das Ausland ausgeliefert werden. Die einzige Ausnahme hiervon statuiert Satz 2. Hiernach sind Auslieferungen möglich, wenn ein Gesetz durch abweichende Regelung die Auslieferung an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof gestattet. Praktisch gesehen findet sich der Großteil dieser abweichenden Regelungen in dem förmlichen Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG). Die Auslieferung ist jedoch auch dann nur möglich, soweit „rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind“ (Art. 16 II 2 Hs. 2 GG)20. Bei der Auslieferung Bangert’s handelte es sich jedoch weder um die Auslieferung an einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union, noch um das Ersuchen eines internationalen Gerichtshofes. Vorliegend ging das Ersuchen von einem Drittstaat, namentlich den USA aus, sodass die Bundesrepublik Deutschland unter Rekurs auf Art. 16 II 2 GG die Auslieferung des deutschen Staatsbürgers Bangert verweigerte.21

II. Auslieferung von EU-Bürgern (Pisciotti)

Nach Pisciottis Festnahme in Frankfurt 2013, beantragten die USA noch im gleichen Jahr die Auslieferung gegenüber Deutschland. Pisciotti monierte hiergegen sowohl Verstöße gegen deutsches, als auch gegen europäisches Recht. Diese Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt a.M. mit Beschluss vom 22.02.2014 zurückgewiesen. Begründet wurde die Entscheidung unter Berufung auf die vorherige Rechtsprechung des BVerfG22, wonach die Anwendbarkeit des Unionsrechts nicht eröffnet sei.23


12 Abg. Schmidt-Jortzig (Plenarprotokoll 14/90, S. 12348 ff.).

13 Zehetgruber, StraFo 2015, 133, 137.

14 BVerfGE 113, 273 (296); BVerfGE 4, 299 (303f.); BVerfGE 29, 183 (193).

15 BVerfGE 113, 273 (293).

16 BVerfGE 113, 273 (294).

17 v. Arnauld, in: von Münch/Kunig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 31.

18 BVerfGE 113, 273 (294); Masing, in: Dreier GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 9.

19 Chmielewski, juve.de v. 28.04.2016, online abrufbar unter https://t1p.de/od7g; Zimmermann, ZIS 2017, 220, 220f.

20 Für eine erläuternde Übersicht der Auslieferungshindernisse s.: Ambos/Gronke, in: Ambos/König/Rackow, § 73 Rn. 80-97.

21 Zimmermann, ZIS 2017, 220, 224.

22 Beschluss vom 28.07.2008 – 2 BvR 1347/08.

23 Zehetgruber, StraFo 2015, 133, 133f.

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Gegen diese Entscheidung ging Pisciotti vor dem BVerfG mit Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Abwendung der Auslieferung, vor. Dieser Antrag wurde vom BVerfG abgelehnt, welches die Entscheidung des OLG nicht nur für rechtmäßig hielt,24 sondern nach der „acte claire-Doktrin“ für so offenkundig richtig, dass auch eine Vorlage an den EuGH entbehrlich gewesen sei.25 Auf Grundlage dieser Entscheidung stimmte die Bundesregierung 2014 der Auslieferung Pisciotti’s an die USA zu und diese wurde noch im gleichen Jahr vollzogen.26

III. Rechtliche Ungleichbehandlung?

Nach den Urteilen des OLG Frankfurt a.M. und des BVerfG im Fall Pisciotti erschien die Rechtslage offensichtlich und evident die Auslieferung von EU-Bürgern zu erlauben. Nach Meinung des BVerfG war dies sogar so evident, dass eine Vorlage an den EuGH entfallen konnte (s.o.). Diese Meinung war jedoch bei weitem nicht unumstritten. Im September 2015 legte das BG Linz nach einem zivilrechtlichen Rechtsstreit dem EuGH die Frage vor, ob Art. 18 AEUV dahingehend auszulegen sei, dass die Auslieferungsfreiheit des Art. 16 II 1 GG auch für nicht deutsche EU-Bürger gelte27. Auch Pisciotti hatte mit seinem Verfahren noch nicht abgeschlossen und nach Beendigung seiner Haftstrafe in den USA eine Staatshaftungsklage gegen die Bundesrepublik Deutschland bemüht, um Ersatz der Schäden zu verlangen, die ihm durch die seiner Ansicht nach unionsrechtswidrige Auslieferung entstanden waren. Das zuständige LG Berlin setzte das Verfahren aus, da seiner Ansicht nach keine gesicherte Rechtsprechung seitens des EuGH bestand28 und legte diesem die Rechtssache mit der Frage vor, ob Auslieferungsvorgänge, wie der vorliegende, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.29 Bemerkenswert an dieser Entscheidung des Landgerichtes Berlin war, obwohl naheliegend,30 dass es sich hiermit gegen die vom BVerfG vertretende „acte claire-Doktrin“ wandte. Kernstück beider Vorlagefragen war hiermit der Wert der Unionsbürgerschaft und inwieweit das Handeln der Bundesrepublik, Art. 16 II 1 GG nicht auf einen EU-Bürger angewandt zu haben, eine nicht-gerechtfertigte rechtliche Ungleichbehandlung darstellte.

1. Relevante Ungleichbehandlung

a) Ungleichbehandlung

Der Fall Pisciotti offenbart augenscheinlich und ohne Zweifel, dass EU-Bürger und deutsche Staatsangehörige bei Auslieferungsentscheidungen durch die BRD unterschiedlich behandelt werden. Bangert und Pisciotti befanden sich in der exakt gleichen Situation (siehe unter C I und II), doch nur einer von beiden, Pisciotti, wurde ausgeliefert. Das die beiden unterscheidende Kriterium war ausschließlich ihre Staatsangehörigkeit.

Die deutsche Judikative verweigerte die Anwendung des Deutschengrundrechtes aus Art. 16 II GG, auf nicht deutsche Staatsbürger. Auch die nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG für EU-Bürger anschließend normalerweise erfolgende Anwendung des Art. 2 I GG mit Schrankenleihe des betroffenen Deutschengrundrechtes, wurde hier unterlassen.31

b) Rechtliche Relevanz – Anwendbarkeit des Unionsrechts

Für eine rügbare Ungleichbehandlung müsste diese jedoch auch von rechtlicher Relevanz sein, also gegen spezifisches und auf den Einzelfall anwendbares Recht verstoßen. In Frage kommt insoweit das Unionsrecht, dessen Anwendungsbereich jedoch eröffnet sein müsste. Dem Unionsrecht kommt für Sachverhalte der Auslieferung spätestens seit Etablierung der Unionsbürgerschaft eine verstärkte Funktion zu, welche die rechtliche Gleichstellung der Unionsbürger forcieren soll.

aa) Unionsbürgerschaft

Gemäß Art. 20 I AEUV besitzen alle Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaates zusätzlich zu ihrer nationalen Staatsbürgerschaft auch die Unionsbürgerschaft, die neben die nationale Staatsbürgerschaft tritt. Diese ist „dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein32, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit […] die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen“33. Als Folge dieser Auslegung der Unionsbürgerschaft durch den EuGH wird eine dynamische „wechselseitige Verklammerung von Unionsbürgerschaft und allgemeinem Diskriminierungsverbot“34 gesehen.

Art. 20 II 1 AEUV bestimmt, dass den Unionsbürgern die im Vertrag niedergelegten Rechte und Pflichten zukommen sollen.35 Art. 18 AEUV konkretisiert dieses mit der Auslegung der Unionsbürgerschaft in Anbetracht des mitschwingenden Diskriminierungsverbotes. Hier heißt es: „Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten“.

Eine unterschiedliche Behandlung von EU-Staatsbürgern und eigenen Staatsangehörigen, wie im Fall Pisciotti ist hiernach sodann ein zu rechtfertigender Eingriff in das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV, soweit das Unionsrecht für den Fall anwendbar ist.

bb) Eröffnung des Unionsrechts

In welchen Fällen das Unionsrecht anwendbar ist bzw. angewendet werden muss, ist nicht einheitlich geregelt und im Einzelfall heftig umstritten. Die Ansichten in diesem


24 Leonhardt/Bingöl, DeLuxe 2019, 1, 1.

25 Zimmermann, ZIS 2017, 220, 221.

26 Zehetgruber, StraFo 2015, 133, 134.

27 Schotthöfer & Steiner, C473-15, ECLI:EU:C:2017:633.

28 Leonhardt/Bingöl, DeLuxe 2019, 1, 1.

29 Zimmermann, ZIS 2017, 220, 222.

30 Zimmermann, ZIS 2017, 220, 222.

31 Leonhardt/Bingöl, DeLuxe 2019, 1, 5.

32 vgl. u. a. Grzelczyk, C‑184/99, ECLI:EU:C:2001:458, Rn. 31; Ruiz Zambrano, C‑34/09, ECLI:EU:C:2011:124, Rn. 41; Coman C‑673/16, ECLI:EU:C:2018:385, Rn. 30.

33 Grzelczyk, C‑184/99, ECLI:EU:C:2001:458, Rn. 31.

34 von Bogdandy, in: GrabitzHNKoEUR, Art. 18 Rn. 35.

35 Lorenzmeier, in: Vedder/HvH, Art. 20 AEUV Rn. 6.

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Meinungsstreit teilen sich regelmäßig in nationale und supranationale Lager, genauer gesagt in BVerfG und nationale Gerichte einerseits und EuGH andererseits.

(1) Ansicht des BVerfG und nationaler Gerichte

Eine hierzu wegweisende, wobei nicht unstrittige36, Entscheidung traf 2014 das OLG Frankfurt a.M. im Fall Pisciotti. Es entschied hier, dass das Unionsrecht im geschilderten Fall nicht eröffnet sei und begründete dies zweierlei.

Erstens, handele es sich beim Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten nicht um eine Materie, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fiele. Hierfür berief es sich auf ein Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2008 zum damals noch im Vertrag über die Europäische Gemeinschaft (EGV) verankerten Diskriminierungsverbot37 (Art. 12 I EGV).38 Das BVerfG stellte in dieser Entscheidung über die Auslieferung eines niederländischen Staatsbürgers an die USA klar, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 12 I EGV nur im sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechtes greife. Der Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten sei aber gerade keine Materie, die in diesen sachlichen Anwendungsbereich falle.39 Diese Entscheidung sei immer noch anwendbar, da nicht erkennbar sei, dass „diese Rechtsprechung vor dem Hintergrund des […] Vertrags von Lissabon, der Verankerung des Diskriminierungsverbots in Art. 21 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta und der Übernahme der Diskriminierungsverbote in den AEUV […] eine Veränderung erfährt“40.

Zweitens argumentierte das OLG Frankfurt a.M. hilfsweise, dass die „Privilegierungen der eigenen Staatsangehörigen im strafrechtlichen Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten, nicht zuletzt Ausfluss des Rechts der Mitgliedstaaten (sei,) ihre auch vom Unionsrecht geschützte nationale Identität bewahren zu können, so dass der Anwendungsbereich des europäischen Diskriminierungsverbots […] in diesem Bereich eine spezifische Begrenzung (erfahre)“41.

Der gegen die Entscheidung des OLG gerichtete Antrag auf einstweilige Anordnung, wurde vom BVerfG abgelehnt.42 Das BVerfG bestätigte in seiner Begründung hierbei maßgeblich die vorgebrachte Argumentation des OLG43 und attestierte, dass die „Klarheit der Rechtslage eine Vorlage entbehrlich macht“44.

Abstrahiert vom Einzelfall und unter Berücksichtigung vergangener Rechtsprechung45, geht die deutsche Judikatur sehr restriktiv nur dann von einer Eröffnung des Unionsrechts aus, wenn ein EU-Mitgliedsstaat durch Europarecht veranlasst oder determiniert handelt.46

(2) Ansicht des EuGH

Trotz mangelnder Vorlage in diesen Auslieferungsentscheidungen landete die Rechtssache Pisciotti im Rahmen einer Staatshaftungsklage vor dem Landgericht Berlin und durch deren Vorlage 2016 doch noch vor dem EuGH.

Für die Vorlagefrage der Anwendbarkeit des Unionsrechts verwies der EuGH auf die Rechtssache Petruhhin.47 Befasst war das Gericht hierbei mit der Auslieferung eines estnischen Staatsangehörigen durch Lettland an den Drittstaat Russland, zwischen dem kein Auslieferungsabkommen mit der Europäischen Union bestand, sodass dies als Anknüpfungspunkt für die Eröffnung des Unionsrechts entfiel.48 Der EuGH erklärte das Unionsrecht in diesem Fall dennoch für eröffnet, da bei der Beurteilung des sachlichen Anwendungsbereiches der Verträge iSv Art. 18 AEUV dieser Artikel unter Berücksichtigung der Bestimmungen des AEU-Vertrages über die Unionsbürgerschaft auszulegen sei, die unter anderem das Recht auf Freizügigkeit aus Art. 21 AEUV umfasst. Da Petruhhin durch das Bewegen nach Lettland als Unionsbürger von seinem Recht auf Freizügigkeit in der Union rechtmäßig Gebrauch gemacht hatte, erklärte der EuGH den Anwendungsbereich der Verträge iSv Art. 18 AEUV für eröffnet. Diese Ansicht festigte der EuGH weiter in seinem Beschluss zur Rechtssache Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR v. Eugen Adelsmayr.49 Abstrahiert gesehen, ist der Anwendungsbereich des Unionsrechts nach Ansicht des EuGH folglich immer dann eröffnet, sobald sich eine Vorschrift oder Maßnahme mittelbar auf die Grundfreiheiten der Unionsbürger auswirkt.50

In Bezug auf die Rechtssache Pisciotti stellte der EuGH unter Rekurs auf die Entscheidung im Fall Petruhhin deshalb fest, dass für diesen als Unionsbürger unter rechtmäßiger Ausübung seines Rechtes auf Freizügigkeit durch die Reise von Nigeria nach Italien, gem. Art. 21 AEUV das Unionsrecht eröffnet sei.51

(3) Zwischenergebnis zu den Ansichten

Die Rechtssache Pisciotti offenbart eine überaus interessante Abweichung zwischen restriktiver, nationaler und weitgefasster Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf die Eröffnung des Unionsrechts. Während das OLG und das BVerfG für die Frage der Anwendbarkeit des Unionsrechts unter Rekurs auf vergangene BVerfG-Rechtsprechung eine generelle Nichtanwendbarkeit des Unionsrechts für Auslieferungsersuchen ableiten, stellt der EuGH auf andere Faktoren ab. Dieser nimmt insofern eine stärker am Einzelfall orientierte Betrachtung vor, bei der die rechtmäßige Nutzung von


36 vgl. Zimmermann, ZIS 2017, 220, 221.

37 OLG Frankfurt BeckRS 2014, 07459 Rn. 25.

38 Art. 18 AEUV = ex Art. 12 EGV; s. Streinz, in: EUV/AEUV Streinz, Art. 18 AEUV.

39 BVerfG Beschl. v. 28.7.2008 – 2 BvR 1347/08, BeckRS 2011, 87018 Rn. 14.

40 OLG Frankfurt BeckRS 2014, 07459 Rn. 26.

41 OLG Frankfurt BeckRS 2014, 07459 Rn. 26.

42 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Februar 2014 – 2 BVG 4/14, Rn. 12, http://www.bverfg.de/e/qk20140217_2bvq000414.html.

43 Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Februar 2014 – 2 BVG 4/14, Rn. 17; 22; 25.

44 Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Februar 2014 -2 BVG 4/14, Rn. 25.

45 Vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 -, Rn. 1-233, http://www.bverfg.de/e/rs20130424_1bvr121507.html

46 Zimmermann, ZIS 2017, 220, 223.

47 Pisciotti, C-191/16, ECLI:EU:C:2018:222, Rn. 31-33.

48 Petruhhin, C‑182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 30.

49 Peter Schotthöfer & Florian Steiner GbR, ECLI:EU:C:2017:633, Rn. 19.

50 Hyes v. Kronberger, C-323/95, ECLI:EU:C:1997:169, Rn. 17.

51 Ebenfalls so: Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 106.

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Unionsrechten determinierender Faktor für die Eröffnung des Unionsrechts ist. Dieser Auffassung ist insofern Vorrang einzuräumen, als dass die Rechtsprechung des BVerfG verkennt, dass in der Ausübung von Auslieferungen auf Grundlage von EU-ratifizierten Auslieferungsabkommen, bereits eine unmittelbare Anwendung von Unionsrecht liegt, die den Anwendungsbereich des Unionsrecht unweigerlich eröffnet.52

dd) Zwischenergebnis zur rechtlichen Relevanz

In Fällen der Auslieferung von Unionsbürgern an Drittstaaten ist das Unionsrecht und mithin das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV eröffnet. Die Nichtanwendung des Art. 16 II GG auf Unionsbürger durch Deutschland ist insofern von rechtlicher Relevanz, da es entgegen des Postulates des Art. 18 AEUV deutsche Staatsbürger anders behandelt und in Konsequenz besserstellt, als andere Unionsbürger.

c) Zwischenergebnis zur Ungleichbehandlung

Bei der Auslieferung von EU-Bürgern an Drittstaaten durch Deutschland liegt folglich eine Ungleichbehandlung von rechtlicher Relevanz vor, da durch die Eröffnung des Unionsrechts gegen das hiervon umfasste Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV verstoßen wird, wenn Art. 16 II GG nur auf Deutsche nicht aber auf alle Unionsbürger angewendet wird.

2. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH stellt Art. 18 AEUV in Bezug auf mittelbare53 und unmittelbare54 Diskriminierung ein relatives Verbot dar, sodass die Ungleichbehandlung von Unionsbürgern grundsätzlich einer Rechtfertigung zugänglich ist.

a) Grund bzw. Regelungsziel

Für eine mögliche Rechtfertigung muss zunächst einmal ein auf objektiven Erwägungen55 beruhender legitimer Grund bzw. ein legitimes Regelungsziel vorliegen, welches mit der Ungleichbehandlung verfolgt wird und zu dieser in einem angemessenen Verhältnis steht.56

aa) Gefahr der Straflosigkeit

Ein mögliches legitimes Ziel könnte die Verhinderung von Straflosigkeit sein. Diese Gefahr bestehe in Fällen, in denen eine von einem Auslieferungsersuchen betroffene Person weder ausgeliefert werden, noch, mangels nationaler Vorschriften, die dem ersuchten Mitgliedstaat die rechtliche Zuständigkeit für die Verfolgung der Auslandstat einräumt, verfolgt werden könnte.57

Der EuGH erkannte dieses Ziel in seiner Entscheidung zur Rechtssache Petruhhin an und stufte es unter Verweis auf die EU als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen gem. Art. 3 II EUV als legitim ein58, denn so sei dessen Aufrechterhaltung bedingt durch geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung und Verhütung von Kriminalität.59 Begründet wurde diese Entscheidung auch unter Rekurs auf den völkerrechtlichen Grundsatz „aut dedere aut iudicare“. Hiernach müssen Staaten vermeintliche Straftäter entweder ausliefern oder verfolgen. Problematisch kann sich dies aber gestalten, wenn die Auslieferungsfreiheit, die für eigene Staatsbürger gilt, auch auf Unionsbürger angewandt wird und diese konsequenterweise nicht mehr ausgeliefert werden, da im Folgenden, Probleme mit der Verfolgung entstehen können, wenn die nationale Strafverfolgung nicht die nötige Zuständigkeit dafür hat den vermeintlichen Straftäter für die im Ausland begangene Straftat zu verfolgen.60

Exemplarisch zeigte sich dieses Problem in der Rechtssache Petruhhin. Petruhhin berief sich, um die Auslieferung zu verhindern, darauf, dass die für lettische Staatsangehörige geltende Auslieferungsfreiheit61 aufgrund des aus der Unionsbürgerschaft folgenden Diskriminierungsverbotes auch auf ihn anzuwenden sei.62 Der Staatsanwalt Bot argumentierte jedoch und dieser Argumentation folgte der EuGH auch später in seinem Urteil, dass Petruhhin aufgrund der nationalen, lettischen Bestimmungen nicht verfolgt werden könnte, sodass es bei einer Nicht-Auslieferung zur Straffreiheit kommen würde. Die unterschiedliche Behandlung wurde also damit begründet, dass eigene Staatsangehörige im Inland von den nationalen Behörden nach dem aktiven Personalitätsprinzip63 verfolgt werden könnten, hingegen Unionsbürger mangels Zuständigkeit der nationalen Gerichte nicht.64


52 Zimmermann, ZIS 2017, 220, 224; Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 104f.

53 Mund & Fester, C-398/92, ECLI:EU:C:1994:52, Rn. 17; Pastoors, C-29/95, ECLI:EU:C:1997:28, Rn. 19; Bickel und Franz, C-274/96, ECLI:EU:C:1998:563, Rn. 27; ED Srl, C-412/97, ED, ECLI:EU:C:1999:324, Rn. 46; Ferlini, C-411/98, ECLI:EU:C:2000:530, Rn. 59; Kommission/Belgien, C-65/03, ECLI:EU:C:2004:402, Rn. 30.

54 von Bogdandy, in: GrabitzHNKoEUR, Art. 18 AEUV Rn. 22; vgl. Kadelbach, in: Ehlers, §26 Rn. 81; Kingreen, in: Ehlers, §13 Rn. 25.

55 Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 108.

56 Grukin und Paul, C-353/06, ECLI:EU:C:2008:559, Rn. 29; Sayn-Wittgenstein, C-208/09, ECLI:EU:C:2010:806, Rn. 81; Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, ECLI:EU:C:2011:291, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung; Petruhhin, C‑182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 34.; Pisciotti C-191/16, ECLI:EU:C:2018:222, Rn. 46.

57 Schlussantrag des Generalanwaltes Bot v. 10.05.2016, Beck EuRS 2016, 472768, Rn. 64.

58 Petruhhin, C‑182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 36f.; auch schon in vorheriger Rechtsprechung: vgl. hierzu Spasic, C‑129/14, ECLI:EU:C:2014:586, Rn. 58 und 72.

59 Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 108.

60 Petruhhin, ECLI:EU:C:2016:630 Rn. 39; Schlussantrag des Generalanwaltes Bot v. 10.05.2016, Beck EuRS 2016, 472768, Rn. 56-64.

61 Art. 98 S. 3 Lettische Verfassung: „Ein lettischer Bürger darf nicht an das Ausland ausgeliefert werden, mit Ausnahme der in internationalen, von der Saeima (Parlament) ratifizierten Vereinbarungen vorgesehenen Fälle, sofern durch die Auslieferung die in der Verfassung gewährleisteten Grundrechte nicht verletzt werden“.

62 OLG München Beschl. v. 13.4.2017 – 1 AR 126/17, BeckRS 2017, 108983.

63 Oehmichen, FD-StrafR 2020, 432542.

64 Schlussantrag Generalanwalt Bot v. 10.05.2016, Beck EuRS 2016, 472768, Rn. 65-69.

Woelcke, Inwiefern die Auslieferung von Unionsbürgern durch Deutschland an Drittstaaten eine (ungerechtfertigte) Diskriminierung darstellt150

Während dies für das lettische Strafrecht zutreffend ist65, besteht in Deutschland mit § 7 II Nr. 2 StGB eine Norm, die die sog. stellvertretende Strafrechtspflege, also die Verfolgung einer von Ausländern im Ausland begangenen Straftat, ermöglichen soll, soweit eine Auslieferung des Straftäters nicht möglich ist. Aufgrund dieser Norm halten einige Literaturansichten den legitimen Zweck der Verhinderung von Straflosigkeit für nicht anwendbar, da dieser durch § 7 II Nr. 2 StGB ausgehebelt würde.66 Anderer Ansicht ist hierbei jedoch die deutsche Regierung, die anführte, dass die subsidiäre Zuständigkeit des § 7 II Nr. 2 StGB nicht ausgeführt werden könnte, wenn die beantragte Auslieferung, wie zum Beispiel in der Rechtssache Pisciotti ausführbar ist, da hierbei der Tatbestand des § 7 II Nr. 2 StGB, der die Nicht-Ausführbarkeit der Auslieferung fordert, nicht erfüllt sei.67 Dieser Ansicht der deutschen Regierung trat der EuGH in seinem Urteil zur Rechtssache Pisciotti nicht entgegen, sodass dies den Schluss zulässt, dass § 7 II Nr. 2 StGB nicht wie von der Lehre vermutet das legitime Ziel der Straflosigkeit hinfällig macht, sondern ihm eine rechtfertigende Wirkung für die Ungleichbehandlung zukommen kann.

bb) Missbrauchsgefahr

Eine Literaturansicht68 sieht den legitimen Zweck der Ungleichbehandlung in der Vereitelung von Missbrauch. Sie fürchtet, dass eine bedingungslose Anwendung des Art. 16 II GG dazu führen würde, dass Unionsbürger, denen die Auslieferung in Drittstaaten droht, nach Deutschland fliehen würden, um so lieber nach deutschem, als anderem internationalen Recht bestraft zu werden. Diese gefürchtete Fluchtwelle könnte sodann zu einer enormen Kapazitäts- und Finanzbelastung des deutschen Justizwesens führen, die nicht hinzunehmen wäre.

Als Lösungsansatz dieses Problems postuliert die Literaturansicht, dass eine Anwendung des Art. 16 II GG auf Unionsbürger nur dann erfolgen sollte, soweit zwischen diesen und Deutschland eine gewisse Integration bestehe, die unter anderem über die Aufenthaltsdauer quantifiziert werden könnte. Gestärkt wird dieser Vorschlag unter Verweis auf vergangene EuGH-Rechtsprechung, die ein solches Erfordernis wiederholt in ihren Entscheidungen zum Europäischen Haftbefehl69 gebilligt hat, wo eine Aufenthaltsdauer von fünf Jahren oder in Bezug auf Sozialleistungen70 von drei bis fünf Jahren gefordert wurde.

Die wohl herrschende Meinung erkennt die Missbrauchsgefahr jedoch weder in reiner, noch in eingeschränkter Form als legitimes Regelungsziel an. Hierfür und gegen die vorherige Ansicht wird zunächst einmal angeführt, dass diese verkennt, dass es neben Deutschland noch andere EU-Staaten mit vergleichbarer Auslieferungsfreiheit für eigene Staatsbürger gibt71. In Anbetracht dessen ist nicht ohne weitere Begründung ersichtlich, weshalb gerade Deutschland „Opfer“ dieser innereuropäischen Fluchtwelle werden sollte. Außerdem sei selbst bei einer solchen „Fluchtwelle“ die Annahme einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung bei weitem nicht zwingend. Zunächst einmal lässt sich anführen, dass die Kosten, die für die deutsche Justiz entstehen würden, von erheblichem Gewicht sein müssten, um die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.72 Die Kosten, die bei Verweigerung der Auslieferung durch die eigenhändige Strafverfolgung entstehen würden, sind aber in der Regel gerade nicht so hoch, dass ihnen eine rechtfertigende Wirkung zukommen könnte.73

cc) Wahrung der Verfassungsidentität

Teilweise wird auch die Wahrung der Verfassungsidentität als so gewichtiger Grund angesehen, dass er die Ungleichbehandlung von Unionsbürgern rechtfertigen könnte. Ausgangspunkt dieser Herangehensweise ist Art. 4 II EUV, der es Mitgliedstaaten gewährleistet ihre nationale Identität in Form der grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zu bewahren74 und dort wo diese gefährdet sind, das Unionsrecht, wie zum Beispiel Art. 18 AEUV, nicht oder nur begrenzt anwenden zu müssen.

Welchen genauen Inhalt diese grundlegenden verfassungsmäßigen und politischen Strukturen haben, kann jeder Mitgliedstaat grundsätzlich nur selbst festlegen. Die Rechtsprechung des BVerfG stellt den Begriff der grundlegenden verfassungsmäßen und politischen Strukturen mit dem der in Art. 79 III GG definierten Verfassungsidentität gleich.75 Hiernach sind folglich also nur solche nationalen Vorschriften umfasst, die unter den Schutz der Ewigkeitsklausel fallen. Für die Durchführung dieser Identitätskontrolle, also die Feststellung, ob ein Akt der europäischen Union den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes verletzt, hat sich das BVerfG im Rahmen des Urteiles vom 30.06.2009 zum Vertrag von Lissabon, ein „Kontrollmonopol“76 eingeräumt. Aus Art. 4 II EUV leitet das BVerfG zudem die Pflicht der Union ab, das Ergebnis der nationalen Identitätskontrolle anzuerkennen.77

Das OLG Frankfurt argumentierte im Fall Pisciotti mit dem Rechtfertigungsgrund der Verfassungsidentität als es anführte, dass „die Privilegierung der eigenen Staatsangehörigen im strafrechtlichen Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten Ausfluss des Rechts der Mitgliedsstaaten [ist], ihre auch vom Unionsrecht geschützte nationale Identität bewahren zu können“78. Abgesehen davon, ob es dem OLG unter


65 Art. 4 III Krimināllikum (Lettisches Strafgesetzbuch): „Ausländer, die nicht im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Lettland sind und im Hoheitsgebiet eines anderen Staates schwere oder besonders schwere Straftaten begangen haben, die sich gegen die Interessen der Republik Lettland oder ihrer Bewohner richten, haben sich, unabhängig von den Gesetzen des Staates, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen wurde, nach dem vorliegenden Gesetz strafrechtlich zu verantworten“.

66 Vgl. hierzu Zimmermann, ZIS 2017, 220, 225; Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 115.

67 Leonhardt/Bingöl, DeLuxe 2019, 1, 4.

68 Rung, EWS 2014, 277, 279.

69 Wolzenburg, C-123/08, ECLI:EU:C:2009:616, Rn. 54 ff.

70 Förster, C-158/07, ECLI:EU:C:2008:630, Rn. 45 ff.; Bidar, C-209/03, ECLI:EU:C:2005:169, Rn. 54ff., 59 f.

71 Vgl. für Österreich: § 12 I ARHG, sowie § 65 I Nr. 2 öStGB; für Frankreich: Art. 696-4, 1 Code de procédure pénale, sowie Art. 113-8-1 Code pénal.

72 Huber, EuR 2013, 637, 647.

73 Esser/Rübenstahl/Boerger, NZWiSt 2014, 401, 410.

74 Zimmermann, ZIS 2017, 220, 226.

75 OMT-Entscheidung des BVerfGE 134, 366 (384-387).

76 Fn. 72 in: Zimmermann, ZIS 2017, 220, 226.

77 Puttler, in: Calliess/Ruffert, Art. 4 Abs. 2 Rn. 17.

78 OLG Frankfurt BeckRS 2014, 07459 Rn. 26.

Woelcke, Inwiefern die Auslieferung von Unionsbürgern durch Deutschland an Drittstaaten eine (ungerechtfertigte) Diskriminierung darstellt151

Berücksichtigung des „Kontrollmonopols“ des BVerfG überhaupt zustand eine Verletzung der Verfassungsidentität zu monieren, muss beachtet werden, dass Art. 16 II GG eben gerade kein Teil der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG ist (siehe oben unter B I 3) und das Argument folglich leerläuft.79

Eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung über das Argument der Wahrung der Verfassungsidentität läuft folglich leer, da Deutschland seine grundlegenden verfassungsmäßigen Strukturen zwar schützen darf, Art. 16 II GG nach Rechtsprechung des BVerfG aber gerade kein Teil hiervon ist.

dd) Ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsatz

Teile der Lehre, die die vorhergegangenen Rechtfertigungsgründe missbilligen, ziehen auf Grundlage der Entscheidung des OLG Frankfurt in der Rechtssache Pisciotti eine Rechtfertigung aus einem ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatzheraus in Betracht, der aus dem bilateralen Abkommen folge.

Das OLG Frankfurt, später bestätigt durch das BVerfG, erblickte in Art. 16 II GG einen „nationalen verfassungsrechtlichen Besitzstand“80, durch den Art. 18 AEUV eine „spezifische Begrenzung“81 erfahren würde. Ausführungen dazu, wie diese Figur des „nationalen verfassungsrechtlichen Besitzstandes“ dogmatisch einzuordnen ist, bleiben OLG und BVerfG leider schuldig. Sicher ist jedoch, dass die Rechtsfigur unterhalb der Verfassungsidentität angesiedelt sein muss.82 Einziges Argument bleibt, dass in diesem spezifischen Fall die Anerkennung nationaler Vorschriften als Ausnahme vom europäischen Diskriminierungsverbot implizit in Art. 17 II AuslAbkEU-USA83 anerkannt sei.84 Art. 17 II AuslAbkEU-USA bestätige, dass sich das aus der Verfassung, also Art. 16 II GG, ergebende Auslieferungshindernis fortwirkend zum nationalen Besitzstand zähle und das europäische Diskriminierungsverbot hierdurch eine spezifische Begrenzung erfahre. Während das AuslAbkEU-USA eine grundsätzliche Pflicht zur Auslieferung vorsieht, wird diese nämlich spezifisch dadurch begrenzt, dass bei verfassungsrechtlichen Auslieferungshindernissen bilaterale Konsultation zu erfolgen hat. Aus dieser Gegebenheit schließt das BVerfG dann abschließend, dass der EU-Gesetzgeber in Art. 17 II AuslAbkEU-USA zum Schutze und in Anbetracht des Art. 16 II GG ausgehandelt habe.85

Diese Ansicht wird in der Lehre jedoch heftig als abwegig und weit hergeholt kritisiert. Es wird hiergegen angeführt, dass eine solche Sichtweise den Wortlaut des Art. 17 II AuslAbkEU-USA doch deutlich überspannt, wenn man ihm solche weitreichende Bedeutung beimisst. Übersehen werde vom BVerfG, dass das Fehlen von Klauseln über die Auslieferung eigener Staatsangehöriger primär auf die stark ablehnende Haltung der USA diesbezüglich zurückzuführen sei. Die Aufnahme des Art. 17 II AuslAbkEU-USA, die teilweise vielleicht sogar im Interesse der Mitgliedstaates war, sei vor diesem Hintergrund deshalb vielmehr dahin gehend zu verstehen, dass auf Interessen der USA sowie der Mitgliedstaaten, ausgewogen Rücksicht genommen wurde.86 Eine Anerkennung nationalen verfassungsrechtlichen Besitzstandes durch die Union ist deshalb nicht ohne weitere Begründung abzuleiten. Maximal eine indikative Wirkung als Verweis auf die Beachtlichkeit der nationalen Verfassungen kann Art. 17 II AuslAbkEU-USA zugestanden werden.87 Abstrahiert vom Einzelfall, scheint also das Abkommen und die darin enthaltenen Klauseln, zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat nicht geeignet, die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.

Teilweise erschöpfen sich Autoren noch im Versuch dieses Argument des ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatzes mit dogmatisch stichhaltigem Inhalt zu füllen. In Betracht kommt hierfür zunächst die ratio legis des Art. 16 II 1 GG und die damit einhergehende Frage, ob diese Norm ihres Sinnes beraubt wird, wenn sie auf nicht-deutsche Unionsbürger ausgeweitet wird. Die Ratio liegt, wie oben bereits ausgeführt darin, dass Bürger nicht gegen ihren Willen aus der ihnen vertrauten Rechtsordnung entfernt werden. Da die EU jedoch als Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts (vgl. Art. 67 I AEUV) verstanden wird, in dem die gleichen Werte herrschen (vgl. Art. 2 EUV) und grundsätzlich gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Rechtsordnungen vorherrscht (vgl. Art. 82 AEUV), also ein EU-weiter gemeinsamer, vertrauter Rechtsraum, ist es nicht ersichtlich, weshalb die Entfernung aus diesem für Unionsbürger generell erträglicher sein soll, als für deutsche Unionsbürger. Der Sinn der Norm ist folglich ohne weiteres dem Sinn nach auf Unionsbürger zu übertragen.88

Zuletzt wird angeführt, dass die deutsche Staatsangehörigkeit an Wert verlieren könnte, wenn das bisher für Deutsche vorbehaltene Auslieferungsverbot auf alle Unionsbürger erstreckt würde. Diese Ansicht kann in vielerlei Hinsicht nicht überzeugen. Zunächst einmal ist diese grundlegende Entwertung meiner Ansicht nach nicht überzeugend, da ihr ein relatives Element zugrunde liegt, das die Privilegierung aus der Schlechterstellung anderer Unionsbürger bezieht. Die Entwertung wird nicht damit begründet, dass der deutschen Staatsbürgerschaft Privilegien entzogen werden, sondern damit, dass der Kreis derer, die in ihren Genuss kommen, ausgeweitet wird. Gerade in Anbetracht der Unionsbürgerschaft, die der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten sein soll, erscheint diese Ansicht durch ihren streng protektionistischen Ansatz, als überholt und veraltet.89 Abschließend verkennt diese Ansicht, dass die Ausweitung der Auslieferungsfreiheit auf alle Unionsbürger einen hohen Mehrwert in sich trägt. Denn so verfügen neben Deutschland auch weitere Mitgliedstaaten


79 Esser/Rübenstahl/Boerger, NZWiSt 2014, 401, 407.

80 OLG Frankfurt BeckRS 2014, 07459 Rn. 27.

81 OLG Frankfurt BeckRS 2014, 07459 Rn. 27.

82 Zimmermann, ZIS 2017, 220, 227.

83 Art. 17 II AuslAbkEU-USA: „In den Fällen, in denen die Verfassungsgrundsätze des ersuchten Staates […] ein Hindernis für die Erfüllung seiner Auslieferungspflicht darstellen können und dieses Abkommen oder der geltende bilaterale Vertrag keine Regelung dieser Angelegenheit vorsehen, konsultieren sich der ersuchte und der ersuchende Staat“.

84 Zimmermann, ZIS 2017, 220, 227.

85 Rung, EWS 2014, 277, 279.

86 Rung, EWS 2014, 277, 279.

87 Zimmermann, ZIS 2017, 220, 227.

88 Zimmermann, ZIS 2017, 220, 227.

89 Zimmermann, ZIS 2017, 220, S. 228.

Woelcke, Inwiefern die Auslieferung von Unionsbürgern durch Deutschland an Drittstaaten eine (ungerechtfertigte) Diskriminierung darstellt152

über Auslieferungsschutzklauseln für ihre Staatsangehörigen, die konsequenterweise bei einer Ausweitung auch auf deutsche Staatsangehörige zu erstrecken wären und diese umfassender im europäischen Raum vor Auslieferung schützen würden.90

Zusammenfassend lässt sich dieser Rechtfertigungsgrund also nicht mit dem dogmatischen Inhalt füllen, der eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte.

ee) Zwischenergebnis

Die angeführten legitimen Gründe bzw. Regelungsziele versuchen die offensichtliche Ungleichbehandlung durch dogmatische oder rationale Überlegungen zu rechtfertigen. Einzig die Gefahr der Straflosigkeit ist ein zunächst legitimes Regelungsziel, welches, soweit geeignet, erforderlich und angemessen, die Ungleichbehandlung von deutschen Staatsangehörigen und Unionsbürgern in Bezug auf die Auslieferung rechtfertigen könnte.

b) Geeignetheit

Die Auslieferung von Unionsbürgern müsste geeignet sein die Straflosigkeit zu verhindern. Hierfür müsste das zur Erreichung des Zieles gewählte Mittel tauglich sein und diesen angestrebten Zweck zumindest fördern. Durch die Auslieferung von Unionsbürgern an Drittstaaten wird dieses Ziel nicht nur gefördert, sondern sogar erreicht, da die Auslieferung nur erfolgt, soweit ein Haftbefehl für die auszuliefernde Person besteht und so eine gezielte Strafverfolgung der Tat durch die ausländischen Behörden jedenfalls erfolgt. Die Auslieferung erscheint folglich auch geeignet, dem Ziel der Straflosigkeit zu begegnen.91

c) Erforderlichkeit

Damit die Auslieferung in diesem Kontext auch als erforderlich anzusehen ist, dürfte es kein alternatives Mittel geben, um das Ziel der Verhinderung von Straflosigkeit zu erreichen, welches bei gleicher Effektivität weniger stark in die Rechte (Art. 21 AEUV) des Auszuliefernden eingreift.92 Ein mögliches milderes Mittel hat der EuGH in seinem Urteil zur Rechtssache Petruhhin entwickelt. Hiernach könnte ein milderes Mittel die Auslieferung an den Heimatstaat des von der Auslieferung betroffenen Unionsbürgers sein.93

Im strafrechtlichen Kontext hat der Unionsgesetzgeber mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 zum Europäischen Haftbefehl ein Instrument etabliert, welches die unionsweite justizielle Zusammenarbeit erleichtern sollte.94 Der Europäische Haftbefehl ist gem. Art. 1 I RB-EUHb eine „justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedsstaat ergangen ist (sog. Ausstellungsstaat) und die Festnahme sowie Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedsstaat (sog. Vollstreckungsstaat) zum Zwecke der Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung zum Ziel hat“95. Hierfür muss der Ausstellungsstaat gem. § 83a I IRG einen Europäischen Haftbefehl an den Vollstreckungsstaat überstellen, der alle gem. § 83a I Nr. 1-6 IRG geforderten Angaben enthalten muss, damit die darauffolgende Auslieferung zulässig ist.96 Zudem besteht das Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit, so dass die begangene Tat grundsätzlich97 sowohl im Heimatstaat, als auch im Vollstreckungsstaat unter Strafe stehen muss.98

Der EuGH entschied in seinem Urteil zur Rechtssache Petruhhin, dass dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Auszuliefernde hat, insoweit die Möglichkeit gegeben werden muss, den eigenen Staatsbürger über einen Europäischen Haftbefehl für sich zu beanspruchen.99 In der Rechtssache Pisciotti weitete der EuGH dieses Rechtsprechung auch auf Sachverhalte aus, in denen zwischen ersuchendem und vollstreckendem Staat ein Auslieferungsabkommen besteht und stellte darüber hinaus klar, dass der Europäische Haftbefehl aber zumindest den gleichen Sachverhalt betreffen muss.100 Konkret trifft hierdurch den Vollstreckungsstaat die Verfahrenspflicht den Heimatstaat des Auszuliefernden über das Auslieferungsersuchen zu informieren. Sofern der Heimatstaat nach seinem nationalen Recht für die Verfolgung der vom Staatsbürger im Ausland begangenen Straftat zuständig ist, kann er dann einen Europäischen Haftbefehl erlassen. Da der Staatsbürger hierdurch nicht aus der ihm vertrauten Rechtsordnung entfernt wird, den Kernbestand seiner Unionsrechte behält101 und der Eingriff in sein Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV deutlich milder ausfällt, ist nach Rechtsprechung des EuGH dem europäischen Haftbefehl gegenüber dem Ersuchen des Drittstaates Vorrang einzuräumen.102 Dieses Mittel ist gleich geeignet, da der Staatsbürger in seinem Heimatstaat für die Straftat verfolgt wird und nicht straffrei ausgeht und greift zudem, wie gerade belegt, milder in die Freiheitsrechte des Auszuliefernden ein.

Trotz europäischem Haftbefehl des Heimatstaates vollzogene Auslieferung an Drittstaaten stellen eine unverhältnismäßige und nicht gerechtfertigte Diskriminierung des Unionsbürgers dar.103 Erlässt der Heimatstaat hingegen auf Information des Vollstreckungsstaates innerhalb einer angemessenen Frist104 keinen europäischen Haftbefehl, so stellt die Auslieferung nach ständiger Rechtsprechung des EuGH105 grundsätzlich keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Rechte des Aus-


90 Zimmermann, ZIS 2017, 220, S. 228.

91 vgl. hierzu Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 110.

92 Petruhhin, C‑182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 41.

93 Petruhhin, C‑182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 48-50.

94 Petruhhin, C‑182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 43.

95 Terminologische Einschübe gem. Schäfer, Jus 2019, 856, 856.

96 Schäfer, Jus 2019, 856, 857.

97 Eine Ausnahme besteht für 32 Straftaten bzw. Deliktsbereiche, die in Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI festgelegt sind.

98 Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 156.

99 Erfordernis, dass Mechanismen gegenseitiger Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten vorrangig genutzt werden, welches sich aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 IIIU Abs. 1 EUV) herleitet (vgl. Ruffert, Jus 2017, 475, 476).

100 Pisciotti C-191/16, ECLI:EU:C:2018:222, Rn. 54.

101 Giegerich, in: Maunz/Dürig GG, Art. 16 Abs. 2 Rn. 111.

102 Petruhhin, C‑182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 48f.; Leonhardt/Bingöl, DeLuxe 2019, 1, 4.; Pisciotti C-191/16, ECLI:EU:C:2018:222, Rn. 51; Ruska Federacija, C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 70.

103 Gaßner/Stoecker, jurisPR-Compl 4 2018, Anm. 2.

104 B.Y., C-398/19, ECLI:EU:C:2020:1032, Rn. 53f.

105 vgl. Petruhhin, C‑182/15, ECLI:EU:C:2016:630, Rn. 60; Pisciotti C-191/16, ECLI:EU:C:2018:222, Rn. 51-56; BY C398/19, ECLI:EU:C:2020:1032, Rn. 45; Raugevicius, C-247/17, ECLI:EU:C:2018:898, Rn. 50.

Woelcke, Inwiefern die Auslieferung von Unionsbürgern durch Deutschland an Drittstaaten eine (ungerechtfertigte) Diskriminierung darstellt153

zuliefernden dar, da in dieser Konstellation keine weniger einschränkende Maßnahme gleicher Wirkung ersichtlich ist. Dennoch muss die Information über die Auslieferung durch den Vollstreckungsstaat an den Heimatstaat erfolgen, die die Möglichkeit des milderen Mittels eröffnet, selbst wenn sie erfolglos bleibt.106 Dieses Verfahren hat sich in der Rechtssache B.Y. jedoch als nicht gänzlich unproblematisch erwiesen, denn so bedarf der Heimatstaat für den Erlass eines europäischen Haftbefehles einer substanziellen Beweislage, die die Strafbarkeit indizieren oder beweisen.107 Mangelt es an dieser gibt es keine unionsrechtliche Möglichkeit die Beweise vom Drittstaat, in dem das Verbrechen begangen wurde, zu ersuchen.108 Stattdessen können sich diffuse Konstellationen ergeben, in denen der Angeklagte sich selbst entgegen des nemo- tenetur-Grundsatzes gegenüber Vollstreckungs- und Heimatstaat belastet, um der Auslieferung an den Drittstaat zu entgehen.109 Dies ist verfassungsrechtlich zwar legitim, aber strafrechtlich zumindest bedenklich.

Bei Auslieferungsersuchen zur Strafverfolgung steht durch den Erlass eines europäischen Haftbefehls durch den Heimatstaat des Auszuliefernden, also ein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Verfügung, welches immer angedacht und bei Möglichkeit genutzt werden muss. In Fällen, in denen der Heimatstaat von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch macht, ist die Auslieferung jedoch zur Erreichung des Zieles der Verhinderung von Straflosigkeit das erforderliche Mittel.

d) Angemessenheit

Die Maßnahme der Auslieferung und mithin Eingriff in die Freizügigkeit des Auszuliefernden, müsste abschließend auch angemessen, also verhältnismäßig im engeren Sinne sein.110 In einer umfassenden Gesamtabwägung müssen hierfür sowohl der Zweck, als auch das genutzte Mittel berücksichtigt und die diesbezügliche Relation (Zweck-Mittel-Relation) in Bezug auf ihre Angemessenheit hin untersucht werden.

Das Ziel der Verhinderung von Straflosigkeit hat sich in Bezug auf seinen unionsrechtlichen Kontext als durchaus gewichtig gezeigt. Das Mittel der Auslieferung kann in verschiedenen Nuancen auftreten, die unterschiedlich stark in die Rechte des Auszuliefernden eingreifen. Handelt es sich um die Auslieferung an einen Mitgliedsstaat (den Heimatstaat), so verbleibt der Auszulieferende in der vertrauten Rechtsordnung und wird unter einem bekannten System für seine Straftat zur Verantwortung gezogen. Der Eingriff ist deshalb als nicht signifikant gewichtiger anzusehen, als die „normale“ Verurteilung eines Straftäters. Anders verhält es sich in Bezug auf die Auslieferung eines Unionsbürgers an einen Drittstaat, da der Auszuliefernde hierbei aus seinem vertrauten Umfeld entfernt und unter fremden, unbekannten Maßstäben verurteilt wird. Dies stellt einen durchaus gewichtigeren Eingriff dar, der jedoch in Anbetracht dessen, dass vorher Maßnahmen ergriffen wurden, um eine unionsinterne Verfolgung zu erwirken, abgemildert wird. In einer solchen Situation wurden alle möglichen Handlungsalternativen in Betracht gezogen, die einen milderen Eingriff darstellen würden. Ist jedoch keine davon erfolgsgekrönt, so muss der stärkere Eingriff vollzogen werden, um die Gefahr der Straflosigkeit des Auszuliefernden abzuwenden. Aufgrund dieser Abstufungen innerhalb des Vorganges, die darauf angelegt sind, den Eingriff so milde wie möglich auszugestalten, kann in Bezug auf die Auslieferung zur Verhinderung von Straflosigkeit von einer angemessenen Maßnahme gesprochen werden.

e) Zwischenergebnis

Das Ziel der Gefahr von Straflosigkeit vorzubeugen ist ein vom EuGH anerkanntes legitimes Ziel. Die dazu ergriffenen Maßnahmen, die sich in extremster Form als Auslieferung an Drittstaaten ausgestalten, sind geeignet, erforderlich und angemessen, um dieses Ziel zu erreichen.

3. Zwischenergebnis

Es handelt es sich bei der Auslieferung von Unionsbürgern und der gleichzeitigen Verweigerung der Auslieferung eigener Staatsbürger zwar um eine rechtlich relevante Ungleichbehandlung, die jedoch durch die objektive Erwägung der Verhinderung von Straflosigkeit gerechtfertigt werden kann.

D. Fazit

Die Nichtanwendung von nationalen Auslieferungsverboten wie dem Art. 16 II GG auf Unionsbürger, stellt einen zu rechtfertigenden Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV dar. Diese Vorschrift ist zudem auch, anders als nach Auffassung des BVerfG, zu berücksichtigen, da nach der hier gefolgten Ansicht des EuGH das Unionsrecht eröffnet ist, soweit ein Auslieferungsabkommen besteht oder der Auszuliefernde von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, was fast immer der Fall sein wird. Diese Ungleichbehandlung ist jedoch einer Rechtfertigung zugänglich, soweit sie auf einer objektiven Erwägung beruht, die in angemessenem Verhältnis zu einem legitimerweise verfolgten Zweck steht. Dieser Zweck wird in der Verhinderung von Straflosigkeit erblickt und ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sowohl legitim, als auch geeignet. Erforderlich ist die Auslieferung an einen Drittstaat jedoch nur dann, wenn der Herkunftsstaat des Auszuliefernden nach Kenntnisnahme des Auslieferungsersuchens des Drittstaates keinen europäischen Haftbefehl erlassen hat. Erlässt der Herkunftsstaat diesen jedoch, so verhindert dies die Auslieferung an den Drittstaat, da mit dem europäischen Haftbefehl und der damit verbundenen Auslieferung innerhalb der europäischen Union ein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Verfügung gestanden hätte, dem nach Rechtsprechung des EuGH Vorrang einzuräumen ist. Eine dennoch erfolgende Auslieferung an den Drittstaat


106 Böhm, NStZ 2021, 209, 215.

107 Schäfer, Jus 2019, 856, 856.

108 B.Y., C-398/19, ECLI:EU:C:2020:1032, Rn. 48f.

109 Böhm, NStZ 2021, 209, 216.

110 vgl. Grukin und Paul, C-353/06, ECLI:EU:C:2008:559, Rn. 29; Sayn-Wittgenstein, C-208/09, ECLI:EU:C:2010:806, Rn. 81; Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, ECLI:EU:C:2011:291, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung; Petruhhin, C‑182/15, ECLI:EU:C:2016:630 Rn. 34.; Pisciotti C-191/16, ECLI:EU:C:2018:222, Rn. 46.

Woelcke, Inwiefern die Auslieferung von Unionsbürgern durch Deutschland an Drittstaaten eine (ungerechtfertigte) Diskriminierung darstellt154

wäre mithin unionsrechtswidrig.

Abgesehen von dieser Einschränkung ist Deutschland in Einklang mit der vergangenen EuGH-Rechtsprechung in dieser Thematik, rechtlich faktisch nicht gehindert Unionsbürger an Drittstaaten auszuliefern, sofern im ersuchenden Drittstaat rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. EU-Ausländer genießen folglich trotz Unionsbürgerschaft bis dato in Deutschland einen geringeren Schutz als deutsche Staatsbürger. Fraglich bleibt alleine, ob dies in Anbetracht der fluiden Beschaffenheit der Unionsbürgerschaft so bleiben wird.