Im Prinzip Interpretation: Die Prinzipientheorie der
Grundrechte aus verfassungsinterpretatorischer Perspektive

Friedrich Muche*

A. Einleitung

„Nullpunkt der Dogmatik“1, „Für fruchtbare Verbindungen zwischen Theorie und Dogmatik […] ein gelungenes Beispiel“2, eine Theorie, die „die Rechtsprechung des BVerfG zu den Grundrechten wie durch Zauberhand in eine (nahezu) uneingeschränkt konsistente, nachvollziehbare Ordnung“ zu bringen scheint3 – so ist die wohl einflussreichste und meist rezipierteste Monografie auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts der letzten Jahrzehnte, Robert Alexys „Theorie der Grundrechte“, beschrieben worden. Wer sich mit der Funktionsweise der Grundrechte und dem Konzept der Abwägung auseinandersetzt, kommt um die von Alexy maßgeblich entwickelte4 Prinzipientheorie nicht herum. Das gilt für den deutschsprachigen Diskurs, wie – in einem für einen deutschsprachigen Beitrag außergewöhnlichen Maße – den internationalen Diskurs.5 Die Prinzipientheorie ist dabei insbesondere von der sog. „Kieler Schule“ mannigfaltig weiterentwickelt und auf unterschiedlichste Bereiche ausgedehnt worden.6 Gegenstand dieser Untersuchung soll aber die Prinzipientheorie, wie sie in der „Theorie der Grundrechte“ Gestalt angenommen hat, sein. Das rührt einerseits daher, dass die „Theorie der Grundrechte“ als Ausgangspunkt und „Kern“ der vielen Strömungen auch heute noch von hoher Relevanz für den aktuellen Diskurs ist7 und Schwerpunkt dieser Untersuchung andererseits vor allem der verfassungsinterpretatorische Ansatz der Prinzipientheorie sein soll; nicht dagegen darüberhinausgehende Aussagen der Prinzipientheorie8.

Die Prinzipientheorie erhebt den Anspruch, als allgemeine juristische Theorie9 „geleitet […] von der Frage nach der richtigen grundrechtlichen Entscheidung und der rationalen grundrechtlichen Begründung […]“10 die einzig adäquate Grundrechtsdogmatik zu ermöglichen.11 Schlüssel dazu soll die normtheoretische Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien sein, die mit dem Prinzip als normtheoretische Entität die Grundrechtsabwägung theoretisch voraussetzt.12 Mit der Strukturierung des theoretisch vorausgesetzten Abwägungsvorganges als juristischer Diskurs13 gelingt es der Theorie, beinahe jedes Argument in das System zu integrieren und beinahe jede grundrechtliche Entscheidung zu rekonstruieren.14 Sie ist damit als verfassungsinterpretatorischer Ansatz hoch interessant.

Die voraussetzungsvollen Annahmen und das weitreichende Erklärungspotenzial haben immer wieder zu intensiver Kritik geführt. Soweit die Folgen angegriffen werden, muss sich die Prinzipientheorie als „Theorie, die alles erklärt“ wissenschaftstheoretischen Vorwürfen aussetzen, wissenschaftlich nutzlos und unfähig zur Kritik zu sein.15 Eng mit diesen Vorwürfen verbunden ist auch die Kritik, die Prinzipientheorie sei strukturell und damit auch dogmatisch unterkomplex und berge damit die Gefahr, intuitionistische Entscheidungen zu begründen.16


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg und studentische Hilfskraft am Commerzbank Stiftungslehrstuhl Grundlagen des Rechts (Prof. Dr. Christian Bumke) und am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg (Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Holger Fleischer).

1 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, Reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit, 2003, S. 81 f.; ihm zust. Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: Depenheuer et al. (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 253, 268; und P. Reimer, Der Staat 2013, 26, 40.

2 Bumke, Rechtsdogmatik, Eine Disziplin und ihre Arbeitsweise, Zugleich eine Studie über das rechtsdogmatische Arbeiten Friedrich Carl von Savignys, 2017, S. 30 dortige Fn. 115.

3 Klement, JZ 2008, 756.

4 Dies wird man gerade für den deutschsprachigen Diskurs kaum bestreiten können; vgl. etwa für eine (kritische) Übersicht der Prinzipientheoretischen Ansätze Poscher, The Principle Theory: How Many Theories and What is Their Merrit? In: M. Klatt (Hrsg.), Institutionalized Reason, 2012, S. 218. Wobei die Unterscheidung keineswegs neu ist: Alexy, Theorie der Grundrechte9, 2020, S. 77 dortige Fn. 27; ders., Zum Begriff des Rechtsprinzips, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs2, 2016, S. 177, 211 f., entwickelte seine Theorie unter expliziter Bezugnahme auf die Unterscheidungvon R. Dworkin, Taking Rights Seriously, New Impression with a Reply to Critics, 2004, S. 24 ff., zwischen „legal principles“ und „legal rules“, die sich logisch, d.h. kategorisch voneinander unterscheiden. Dabei ist diese kategoriale Unterscheidung auch im deutschsprachigen Diskurs nicht neu; auch hier greift Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips (Fn. 4), S. 177, 186 f., auf Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts2, 1964, S. 87 ff.; Larenz, Richtiges Recht, Grundzüge einer Rechtsethik, 1979, S. 24; und Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, entwickelt am Beispiel des deutsche Privatrechts2, 1983, S. 52 ff., zurück.

5 Ihn als „[…] Propheten, der im eigenen Land nichts gilt“ bezeichnend: Hong, Abwägungsfeste Rechte, von Alexys Prinzipien zum Modell der Grundsatznorm, 2019, S. 22; s.a. Poscher, Ratio Juris 2020, 134, 136 ff.

6 Siehe für den Begriff der „Kieler Schule“ die Übersicht bei Jestaedt, Die Abwägungslehre (Fn. 1), S. 253 dortige Fn. 2. Als besonders einflussreich wird man sicherlich die Arbeiten von Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, 1990, und Borowski, Grundrechte als Prinzipien2, 2007, ansehen.

7 Siehe etwa Hong (Fn. 5), S. 15 ff.; Quecke, Unantastbare Menschenwürde, Zur Dogmatik des Art. 1 Abs. 1 GG zwischen Absolutheitsanspruch und Abwägungsdenken, 2020, S.105. S.a. Kallmeyer, Ideales Sollen, Eine Analyse der Prinzipienkonstruktion, 2016; Klatt, Die praktische Konkordanz von Kompetenzen, Entwickelt anhand der Jurisdiktionskonflikte im europäischen Grundrechtsschutz, 2014, S. 156 ff.

8 Vgl. etwa zu der Bedeutung der Prinzipientheorie für das Verhältnis von Recht und Moral: Alexy, Begriff und Geltung des Rechts4, 2005, S. 131; oder zur „freistehenden Prinzipienkonzeption der Gerechtigkeit“: Jansen, Die Struktur der Gerechtigkeit, 1998.

9 Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 21.

10 Ebd., S. 32.

11 Ebd., S. 18.

12 Ebd., S. 71.

13 Ebd., S. 144 f., 498 ff.; vgl. auch ders., Theorie der juristischen Argumentation, Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 1983, S. 261 ff.

14 Das wird der Theorie gemeinhin zugeschrieben: vgl. etwa Bumke, AöR 2019, 1, 66; Heinold, Die Prinzipientheorie bei Ronald Dworkin und Robert Alexy, 2011, S. 25; Hong (Fn. 5), S. 25; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Studien zur Interpendenz von Grundrechtsdogmatik und Rechtsgewinnungstheorie, 1999, S. 212 f.; ders., Die Abwägungslehre (Fn. 1), S. 261; Klement, JZ 2008, 756; Poscher, Grundrechte (Fn. 1), S.75 f.; Quecke (Fn. 7), S. 101 f.

15 Insb. Poscher, Grundrechte (Fn. 1), S.75 f.; vgl. auch Klement, JZ 2008, 756.

16 Poscher, Ratio Juris 2020, 134, 137: „Judges [..] rely on […] deciding cases on the basis of their own personal whims.“


Alle diese Kritikpunkte weisen in eine Richtung: das Verhältnis der Prinzipientheorie zur Verfassungsinterpretation. Dieses soll Gegenstand der folgenden Untersuchung sein. Dabei werden zwei Ebenen zu unterscheiden sein: die theorieinterne Methode der Interpretation und die Begründung der Prinzipientheorie als juristische Theorie der Grundrechte des Grundgesetzes.

Dieser Untersuchung liegt ein Verständnis von Verfassungsinterpretation als Formulierung konkreter rechtlicher Sollensurteile auf Grundlage des Texts des Grundgesetzes unter Zuhilfenahme einer bestimmten Methodik zugrunde.

B. Die Prinzipientheorie der Grundrechte und ihr Selbstverständnis

Für eine sinnvolle Betrachtung der methodischen Implikationen und Verortung der Prinzipientheorie ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen theoretischen und praktischen Anspruch der Theorie unerlässlich. Auch kann die eingebettete Methodik innerhalb der prinzipientheoretischen Rechtsanwendung nicht verstanden werden und nach der dogmatischen Verankerung der Prinzipientheorie im Grundgesetz schon gar nicht sinnvoll gefragt werden, ohne die Grundzüge der Prinzipientheorie der Grundrechte vorauszusetzen. Beides soll daher im Folgenden skizziert werden.

I. Das theoretische Selbstverständnis der Prinzipientheorie der Grundrechte

Die in der „Theorie der Grundrechte“ entwickelte Prinzipientheorie versteht sich selbst als eine allgemeine, juristische Theorie der Grundrechte des Grundgesetzes.17 Darunter ist zum einen zu verstehen, dass sie sich als Theorie der Grundrechte des Grundgesetzes, d.h. nach einem formalen Grundrechtsbegriff der Art. 1 bis 19 GG und der individuelle Rechte gewährende Sätze der Art 20 IV, 33, 38, 101, 103, 104 GG und der in diesen ausgedrückten Normen begreift.18 Sie erhebt damit vorerst keinen Anspruch über die Grundrechte hinaus.19 Zum anderen versteht sie sich als allgemeine Theorie, nicht als eine partikulare Theorie, d.h. sie hat Probleme zum Gegenstand, die sich bei allen Grundrechten stellen.20

Interessant für die Zwecke dieser Untersuchung ist die Einordnung als juristische Theorie, d.h. als eine dogmatische Theorie.21 Als solche soll sie als Strukturtheorie die strukturelle Rolle „der grundrechtlichen Begriffe, der Wirkung auf das Rechtssystem und der grundrechtlichen Begründung“ innerhalb der dogmatischen Theorie klären. Damit bildet sie als „primär analytische[r]“ Baustein den Grundstein einer integrativen, d.h. einer empirischen, analytischen, normativen und damit in den eigenen Begriffen dogmatischen Theorie.22 Zu den drei Dimensionen der integrativen Theorie tritt die praktische Orientierung, die in letzter Konsequenz die „rationale Begründung konkreter grundrechtlicher Sollensurteile“ leisten soll.23

II. Ein kurzer Aufriss der Prinzipientheorie der Grundrechte

Sucht man die Funktion der Prinzipientheorie vor allem darin24, den Grundstein zu legen, um die Bildung konkreter grundrechtlicher Sollensurteile rational begründen zu können, wird man das Augenmerk auf die Leistung der Theorie, den unbestimmten Grundrechtsnormen (relativ) konkrete Regeln zuzuordnen, also der Konkretisierung25 der Grundrechtsnormen, legen müssen.26 Dies gelingt der Prinzipientheorie der Grundrechte im Wesentlichen durch zwei Aspekte: die normtheoretische Unterscheidung der Grundrechtsbestimmungen in Regeln und Prinzipien (1.) und die Begründbarkeit neuer konkreter grundrechtlicher Regeln aus der Kollision grundrechtlicher Prinzipien (2.). Beides kommt im Doppelcharakter der Grundrechtsnorm (3.) zum Tragen.

1. Regeln und Prinzipien

Nach der Prinzipientheorie der Grundrechte statuieren alle Grundrechtsbestimmungen zwei Arten von qualitativ unterschiedlichen Normen: Regeln und Prinzipien.27


17 Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 21.

18 Ebd., S. 56. Alexy unterscheidet zwischen der Grundrechtsnorm als Bedeutung einer Grundrechtsbestimmung und der Grundrechtsbestimmung, d.h. dem Verfassungstext (ebd., S. 43, 54). Die Unterscheidung kommt daher, dass Alexy die Norm als indifferente, in einem deontischen Satz ausdrückbare, Bedeutung verschiedener möglicher Normsätze begreift (ebd., S. 42 ff.). Dieser Unterscheidung nur einen heuristischen Wert beimessend: Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, Untersuchung über die Begrenzung und Ausgestaltung der Grundrechte, 1998, S. 53 dortige Fn. 135.

19 Freilich erhebt die prinzipientheoretische Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien auch einen rechtstheoretischen Anspruch: vgl. nur bereits Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips (Fn. 4), S. 177 ff.; aber etwa auch die Begründung unabhängig von der Grundrechtsnorm in: ders., Grundrechte (Fn. 4), S. 75. S.a. für die vielfältigen Weiterentwicklungen: Sieckmann, Prinzipienmodelle (Fn. 6), S. 21; Jansen (Fn. 8); Kallmeyer (Fn. 7). Unabhängig davon, ob ihre Aussagen zu teilen sind, soll die normtheoretische Unterscheidung aber, soweit sie über ihre Konsequenzen für die Verfassungsinterpretation hinausgeht, nicht Teil dieser Untersuchung sein.

20 Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 28.

21 Ebd., S. 22.

22 Alle Zitate und Nachweise ebd., S. 32.

23 Zitat und Nachweise ebd., S. 26 f., 32.

24 Freilich wird man die Funktion von Rechtsdogmatik nicht auf diese Dimension, die Rechtsanwendung, limitieren können, vgl. etwa die Unterscheidung in vier Aufgabengebiete bei Bumke, Rechtsdogmatik (Fn. 2), S. 45 ff.

25 Mit gänzlich anderer Begründung, aber mit einem ähnlichen Ergebnis: den Kern der Verfassungsinterpretation in der Konkretisierung sehend K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland20, 1999, Rn. 60 ff. Nicht nur der Prozess der Interpretation durch Konkretisierung weist dabei eine besondere Ähnlichkeit auf, sondern auch, dass eine Trennung der Entwicklung oder Bildung der konkreten Normen vom konkreten Fall nicht möglich ist (ebd., Rn. 64 f.) und unter leitender und begrenzender Funktion der praktischen Konkordanz, also der Optimierung der Wirksamkeit der kollidierenden Güter, zu erfolgen hat (ebd., Rn. 71 f.). Die konkrete, zugeordnete Norm, ist dabei nicht mit der individuellen Norm in einem Kelsenschen Sinne zu verwechseln: Kelsen, Reine Rechtslehre, Einleitung in die Rechtswissenschaftliche Problematik, Studienausgabe der 1. Auflage 1934, 2008, S. 89 f., beschreibt als solche das richterliche Urteil. Die zugeordnete Norm ist zwar konkretisiert, aber immer noch abstrakt-generell.

26 Als Kern der Prinzipientheorie wird dagegen gemeinhin die normtheoretische Unterscheidung gesehen: vgl. nur ebd., S. 71; Borowski (Fn. 6), S. 68; Poscher, RW 2010, 349. Stellt man aber auf die interpretatorische Leistung der Theorie ab, ist diese „lediglich“ ein (wesentlicher) Baustein innerhalb des interpretatorischen Prozesses.

27 Darin soll der Doppelcharakter der Grundrechtsnorm bestehen: Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 122.


Regeln sind Normen, die entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Als solche sind sie definitive Festsetzungen im Raum des rechtlich und tatsächlich Möglichen.28 Prinzipien sind dagegen Optimierungsgebote, die gebieten, dass etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird.29 Dabei wird der Bereich des rechtlich Möglichen durch gegenläufige Regeln und Prinzipien bestimmt.30 Greifbar wird diese Unterscheidung bei der Kollision von Normen. Während sich die Kollision von Regeln „in der Dimension der Geltung“ abspielt, findet die Kollision zwischen Prinzipien „in der Dimension des Gewichts“ statt.31 Für die Regeln bedeutet dies, dass sich die Kollision zweier Regeln nur durch die Verdrängung der einen Regel durch die andere in diesem Fall lösen lässt. Das kann durch die Bildung von Ausnahmeklauseln oder durch Vorrangregeln wie den Lex-specialis-Grundsatz oder etwa Art. 31 GG erfolgen.32 Anders verhält es sich bei der Prinzipienkollision.

2. Die Prinzipienkollision – das Kollisionsgesetz

Die Prinzipienkollision findet dagegen anhand der Gewichte der Prinzipien im konkreten Fall statt.33 Dies gestaltet sich derartig, dass eine Vorrangrelation zwischen den Prinzipien unter den Bedingungen des konkreten Falls festgelegt wird – eine sog. bedingte Vorrangrelation.34 Die so festgelegte Vorrangrelation, dass das Prinzip P1 dem Prinzip P2 unter der Bedingung C vorgeht, hat die Struktur einer Regel, bei der die Rechtsfolge des Prinzips P2 gesollt ist, wenn der Tatbestand in Form der Bedingungen C, in denen dieses Prinzip vorgeht, erfüllt ist.35 Alexy veranschaulicht dies am Beispiel des Verhandlungsunfähigkeitsbeschlusses.36 Die Kollision der widerstreitenden Prinzipien im Verhandlungsunfähigkeitsbeschluss, das Recht des Beschuldigten auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II 1 GG und das Prinzip der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtpflege, wird anhand des konkreten Gewichts der Prinzipien in dem Fall aufgelöst. D.h. es wird eine Vorrangrelation zwischen den Prinzipien unter den Bedingungen des konkreten Falls festgestellt. Diese Vorrangrelation unter den Bedingungen des konkreten Falls ist die konkretisierte, für die Entscheidung maßgebliche Grundrechtsnorm, spezieller -regel, mit den Vorrangbedingungen als Tatbestand. Im Fall des Verhandlungsunfähigkeitsbeschluss ist das die Norm: „Besteht die naheliegende, konkrete Gefahr, dass der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, so verletzt ihn die Fortsetzung des Verfahrens in seinem Grundrecht aus Art. 2 II 1 GG“37 und ist damit verfassungswidrig38. Diese konkretisierte Norm ist dann eine Grundrechtsnorm, wenn für sie, d.h. die Vorrangrelation, eine korrekte grundrechtliche Begründung möglich ist. Sie ist dann eine zugeordnete Grundrechtsnorm.39 In dieser Konkretisierung besteht die interpretatorische Leistung der Prinzipientheorie.

3. Der Doppelcharakter der Grundrechtsnorm

Alexy versteht die Grundrechtsnorm allerdings als Norm mit Doppelcharakter.40 Dies ist sie, wenn sie als Norm, oder spezifisch Regel, mit einer abwägungsbezogenen Schrankenklausel formuliert wird.41 Sie gewinnt dadurch die allgemeine Struktur: „Eingriffe in die Freiheit der Person sind verboten, wenn sie nicht aufgrund eines Gesetztes erfolgen oder nicht zur Erfüllung solcher gegenläufigen Prinzipien erforderlich sind, die unter den Umständen des Falles dem Prinzip der Freiheit der Person vorgehen.“42 Man mag mit Hong einwenden, es handele sich um nichts anderes als Regeln mit abwägungsbezogenem Einzelfallvorbehalt. Und damit sei die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien aufgegeben.43 Dabei wird man aber anerkennen müssen, dass die von Alexy als Doppelstruktur bezeichnete Regelform nichts anderes ist als die um einen Gesetzesvorbehalt ergänzte allgemeine Regelform einer durch das Kollisionsgesetz zugeordneten Grundrechtsnorm.44 Insofern stellen alle dem allgemeinen Freiheitsrecht durch eine Prinzipienkollision zugeordneten Grundrechtsnormen einen Unterfall dieser Norm dar. Daher mag zwar der Vorwurf gerechtfertigt sein, die Bezeichnung der Grundrechtsnorm


28 Ebd., S. 76. Dworkin, (Fn. 4), S. 24, spricht in diesem Zusammenhang von der Anwendung „in an all-or-nothing fashion“. Diese „Festsetzung“ wird allerdings sogleich wieder (im Zusammenhang mit Prinzipien) so weit relativiert, als sie unter dem Vorbehalt steht, dass nicht im konkreten Fall ein gegenläufiges Prinzip schwerer wiegt als das hinter der Regel stehende Prinzip und das sog. formelle Prinzip hinter der Bindung an die Regel (Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 89). Vgl. dazu ausführlicher: Portocarrero Quispe, Der autoritative Charakter der Grundrechtsabwägung, Eine Untersuchung über die Rolle der formellen Prinzipien in der Grundrechtsinterpretation, 2014, S. 253 f.

29 Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 75 f. Der Begriff des Prinzips war immer wieder Gegenstand ausschweifender Diskussionen und hat auch wohl bis heute keine klare Gestalt angenommen. Ausgangspunkt der Diskussion ist die Erkenntnis von Sieckmann, Prinzipienmodelle (Fn. 6), S. 65, und Aarnio, Taking Rules Seriously, in: Maihofer/Sprenger (Hrsg.), Law and the State in Modern Times, ARSP-Beiheft 1990, 180, 187, dass Optimierungsgebote als Gebote, etwas in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu maximieren, mit der Erfüllung oder Nicht-Erfüllung des Gebots als Prinzipien die Struktur einer Regel nach eigenem Verständnis aufweisen. Dies hat Poscher, RW 2010, 349, zum Anlass genommen, die Existenz des Gegenstandes der Prinzipientheorie zu negieren. Alexy, Ideales Sollen, in: Clérico/Sieckmann (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation, 2009, S. 21 ff., vertritt mittlerweile einen Prinzipienbegriff in Form des idealen Sollens, einem zu optimierenden Gebot. Der Streit um den Gegenstand dürfte aber immer noch nicht geklärt sein: s. zuletzt Poscher, Ratio Juris 2020, 134. Erwidernd Alexy, Ratio Juris 2020, 283, 286. Vgl. auch Kallmeyer (Fn. 7).

30 Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 76.

31 Zitate ebd., S. 79.

32 Ebd., S. 78.

33 Ebd., S. 79.

34 Ebd., S. 81.

35 Ebd., S. 81 f., verwendet dafür die folgende auf v. Wright zurückgehende Notation: (P1 P P2) C, vgl. etwa ders., Theory and Decision 1972, 140, 150, wobei P die Präferenzrelation ausdrückt.

36 BVerfGE 51, 324. Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 79 ff.

37 BVerfGE 51, 324, 346. Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 82 f.

38 Ebd., S. 82.

39 Ebd., S. 86 f.

40 Ebd., S. 122 ff.

41 Ebd., S. 123.

42 Ebd., S. 124. Hier in der Gestalt des allgemeinen Freiheitsrechts.

43 Hong (Fn. 5), S. 71 ff.

44 Zwar nennt Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 122 ff., dies nicht explizit, es wird aber bereits durch die (hier umgekehrte) Notation als (P2,…,Pn P P1) C deutlich, wobei lediglich P1, als das einschlägige grundrechtliche Prinzip, festgelegt ist; in der genannten Form als allgemeines Freiheitsrecht wohl als das Prinzip der allgemeinen Handlungsfreiheit. Auch das zweite laut Alexy, a.a.O., S. 123, in der Norm ausgedrückte Erfordernis, das der Erforderlichkeit und der implizierten Geeignetheit, ist nach seinem Prinzipienverständnis aber bereits in jeder durch eine bedingte Vorrangrelation ausgedrückten Norm enthalten (vgl. nur ebd., S. 101 ff.).


als eine mit Doppelcharakter sei trivial, weil der Doppelcharakter jeder zugeordneten Norm unabhängig von der Grundrechtseigenschaft bereits aus dem Kollisionsverhalten von Prinzipien folge. Ein Widerspruch zu dem entwickelten Prinzipienbegriff folgt aus der Beschreibung der Grundrechtsnormen als Normen mit Doppelcharakter aber nicht.

Damit lassen sich wiederum alle durch die bedingte Vorrangrelation zugeordneten Normen als aus der allgemeinen Struktur abgeleitete Normen verstehen.45 In ihrer Bildung findet die Interpretation innerhalb der Strukturtheorie statt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist damit nicht Ergebnis der theorieinternen Interpretation, sondern struktureller Bestandteil der Interpretation.46

C. Die Prinzipientheorie der Grundrechte als Verfassungsinterpretation

Die Bildung konkretisierter, zugeordneter Grundrechtsnormen ist bereits an wesentlicher Stelle für die Verfassungsinterpretation verortet worden. Dabei können auch die Voraussetzungen dieses Mechanismus, die Prinzipienstruktur der Grundrechte, als Ergebnis von Auslegung verstanden werden. Beides soll im Folgenden genauer untersucht werden.

I. Interpretation innerhalb der Prinzipientheorie der Grundrechte

Im Zentrum der Auslegung durch die Prinzipientheorie der Grundrechte steht die Bildung zugeordneter Grundrechtsnormen durch die fallbedingte Kollision und die damit verbundene Bildung von bedingten Vorrangrelationen. Die beliebig konstruierbaren bedingten Vorrangrelationen sollen dann (zugeordnete) Grundrechtsnormen sein, wenn sie grundrechtlich korrekt begründet werden können.47 Die grundrechtlich korrekte Begründung wird damit zum Brennpunkt der Methodik innerhalb der Theorie. Dabei ist die Struktur als „juristischer Diskurs“ (1.) und die darin stattfindende interne (2.) und externe (3.) Rechtfertigung von Interesse.

1. Der juristische Diskurs

Die Prinzipientheorie der Grundrechte ist, wie sie hier verstanden wird, eine diskurstheoretische Grundrechtstheorie.48 D.h., dass sie auf dem epistemologischen Fundament steht, dass „die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen [..] die potentielle Zustimmung aller anderen [ist]. […] Die Wahrheit einer Proposition meint das Versprechen, einen vernünftigen Konsens über das Gesagte zu erzielen.“49 D.h., „Die Idee der Wahrheit lässt sich nur mit Bezugnahme auf die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen entfalten.“50

Alexy versucht auf Grundlage der Diskurstheorie als prozedurale Theorie, also als Theorie, in der die Richtigkeit einer normativen Aussage von dem Prozedere, in der diese entstanden ist, abhängt, die Anforderungen an das Prozedere durch spezifische Diskursregeln zu gewährleisten.51 Für deren Anwendungsbereich unterscheidet er den allgemeinen praktischen Diskurs und den juristischen Diskurs als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses. An den juristischen Diskurs werden über die Regeln des allgemeinen praktischen Diskurses hinaus spezifische Regeln für den juristischen Diskurs gestellt52, wobei sich für grundrechtliches Argumentieren zusätzliche Besonderheiten ergeben53. Die Begründungen der bedingten Vorrangrelationen müssen sich an diesen Maßstäben messen lassen, um vernünftig und damit richtigkeitsfähig zu sein.54

Für diese Begründung unterscheidet Alexy zwei Arten der Rechtfertigung, die interne und die externe.55

2. Die interne Rechtfertigung

Die interne Rechtfertigung einer juristischen Begründung erfordert, dass die Entscheidung aus den zur Begründung angeführten Sätzen logisch folgt,56 während die externe Rechtfertigung der Begründung der angeführten Sätze, der Prämissen dient. Die interne Rechtfertigung zeigt damit zugleich, was in der externen Rechtfertigung zu


45 Für den Begriff der abgeleiteten Norm im Gegensatz zur zugeordneten Norm siehe Alexy, Grundrechte (Fn. 4), 57 ff.; ders., Die logische Analyse juristischer Entscheidungen, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, Studien zur Rechtsphilosophie2, 2016, S. 23 ff. Die abgeleiteten Normen enthalten jeweils semantische Regeln, d.h. sprachliche Präzisierungen (vgl. ebd.) für den spezifischen Fall des Merkmals der allgemeinen Form, „wenn sie [..] nicht zur Erfüllung solcher gegenläufigen Prinzipien erforderlich sind, die unter den Umständen des Falles dem Prinzip der Freiheit der Person vorgehen“ (Zitat bei: ders., Grundrechte (Fn. 4), S. 124).

46 Vgl. ebd., S. 100 f. Siehe auch C. II.

47 Ebd., S. 86 f.

48 Vgl. nur ebd., S. 144 f., 498 ff., mit Verweis auf: ders., Argumentation (Fn. 13), S. 260 ff. Man kann zwar mit Borowski (Fn. 6), S. 134, einwenden, dass der Rechtsanwender durch die Strukturierung durch die Prinzipientheorie der Grundrechte bloß auf die Bezugnahme bzw. Verbindung mit einer juristischen Argumentationstheorie verwiesen ist, dies aber keinen notwendigen Zusammenhang mit einer „Diskurstheorie des Rechts“ begründe. Dies lässt sich aber nur schwerlich mit der expliziten Integration und Spezifikation der „Theorie der juristischen Argumentation“ in bzw. für die Theorie der Grundrechte durch Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 144 f., 498 ff., und das bereits spezifisch diskurstheoretische Erfordernis einer korrekten Grundrechtlichen Begründung für die Qualifikation als grundrechtliche Norm vereinbaren.

49 Habermas, Wahrheitstheorien, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des Kommunikativen Handelns, 1995, S. 127, 137. Habermas, a.a.O, versteht den Begriff der Wahrheit nur auf Aussagen bezogen in Abgrenzung zur Richtigkeit, die sich wiederum auf Bewertungen und Gebote bezieht. Die Konsensustheorie erstreckt sich aber auf beide gleichermaßen (ebd.).

50 Ebd., S. 136.

51 Alexy, Die Idee einer prozeduralen Theorie der juristischen Argumentation in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, Studien zur Rechtsphilosophie, 2016, S. 94 ff.; ders., Argumentation (Fn. 13), S. 225 ff.; ders., Probleme der Diskurstheorie, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, Studien zur Rechtsphilosophie2, 2016, S. 109 ff.

52 Alexy, Argumentation (Fn. 13), S. 261 ff.; ders., Grundrechte (Fn. 4), S. 498. Krit. dazu Habermas, Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats7, 2019, S. 283 ff.

53 Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 501.

54 Alexy, Argumentation (Fn. 13), S. 34 ff., erhebt nicht den Anspruch, aufgrund dieser Regeln „richtige“ normative Aussagen feststellen zu können. Sie sollen viel mehr Maßstab dafür sein, dass ein in diesen Regeln begründetes Ergebnis den Anspruch auf Richtigkeit erheben kann. Ders., Grundrechte (Fn. 4), 520 f., spricht zwar von einer „Ergebnisoffenheit“ grundrechtlichen Argumentierens, das bedeutet aber nicht, dass damit nicht die Idee der richtigen grundrechtlichen Begründung und damit auch grundrechtlich Auslegung innerhalb des ergebnisoffenen rationalen Diskurses trotzdem vorhanden ist.

55 Alexy, Analyse (Fn. 45), S. 17 f., 29 ff.; ders., Argumentation (Fn. 13), S. 273 ff.

56 Alexy, Analyse (Fn. 45), S. 17 f., ders., Argumentation (Fn. 13), S. 283.


begründen ist.57 Für den Fall der Grundrechtsanwendung bedeutet dies die Ableitung der Entscheidung aus der konkretisierten Norm, d.h. aus der bedingten Vorrangrelation. Die Begründung der zugeordneten Norm und damit die Konkretisierungsleistung innerhalb der Prinzipientheorie der Grundrechte findet deshalb innerhalb der externen Rechtsfertigung statt.58

3. Die externe Rechtfertigung

In der externen Rechtfertigung soll die bedingte Vorrangrelation begründet werden.

a) Begründungsgegenstände

Als zu begründende Gegenstände wird man zwei unterscheiden müssen: die gegenläufigen Prinzipien und deren Anwendbarkeit und die Vorrangrelation zwischen den einschlägigen Prinzipien. Damit läuft die Auslegung im Wesentlichen auf die Begründung einer Abwägungsentscheidung in der konkreten Situation hinaus.59

b) Begründungsinstrumente

Grundsätzlich unterscheidet Alexy im Rahmen der externen Rechtfertigung zwischen sechs Gruppen von Argumentformen und Regeln: die klassischen Auslegungscanones, dogmatische Argumente, Präjudizverwertung, allgemein praktische und empirische Argumente und spezielle juristische Argumentformen.60 Für die Grundrechtsargumentation als besonderer juristischer Diskurs61 untergliedert er diese nochmal in Formen, die der Basis und dem Prozess der grundrechtlichen Argumentation zugeschrieben werden können.62

Zur Basis der grundrechtlichen Argumentformen zählen dabei die Auslegungscanones, Präjudizien und dogmatische Argumente.63 Darauf, dass der Nutzen der klassischen Auslegungscanones durch die Offenheit der Grundrechtsbestimmungen und vor allem bei der Begründung von Abwägungsentscheidungen begrenzt ist, weist Alexy hin.64

Anders verhält es sich dagegen mit präjudiziellen Argumenten auf Grundlage der zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, denen „eine erhebliche Rolle“ zukomme.65 Diese führen als „Fixpunkte grundrechtlichen Argumentierens“ zu einer zunehmenden „Verdichtung“ eines „relativ Umfassende[n] und dichte[n] Netzwerk[s] von Normen“.66 Die konkretisierte Grundrechtsnorm wird zum Argument für die Konkretisierung der nächsten. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der Verweis Alexys auf die präjudizielle Verfestigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.67 Folgt doch dieser bereits aus dem Prinzipiencharakter68, wird er zugleich als theorienotwendiger Mechanismus Argument innerhalb dieses Mechanismus.69

An dritter Stelle stehen dogmatische Argumente, bzw. die materiale Grundrechtstheorie als normative Theorie.70 Aufgrund der Struktur der Prinzipientheorie der Grundrechte als Prinzipientheorie soll es sich dabei nur um eine Wert-, Zweck- oder Prinzipientheorie handeln können.71 Der Begriff der normativen Theorie dürfte dabei aber denkbar weit gefasst sein.72 Damit ist die Prinzipientheorie der Grundrechte wertungsoffen.

Dem Begriff des Prozesses der grundrechtlichen Argumentation sind vor allem die allgemein praktischen und empirischen Argumente zuzuordnen73, auf die es in Abwesenheit (oder Unabhängigkeit) von präjudiziellen Argumenten maßgeblich ankommen wird.74 Alexy bringt damit die Ergebnisunsicherheit des grundrechtlichen Diskurses als Grund und Folge der Notwendigkeit allgemein praktischer Argumente für die rationale Grundrechtsauslegung zum Ausdruck.75


57 Alexy, Analyse (Fn. 45), S. 17 f., ders., Argumentation (Fn. 13), S. 273 ff.

58 Alexy, Analyse (Fn. 45), S. 32 ff. Missverständlich bezeichnet Quecke (Fn. 7), S. 114, die interne Rechtfertigung betreffe die Ableitung der bedingten Vorrangrelation aus dem situativen Gewicht der gegenläufigen Prinzipien. Dies scheint aber schwer mit der Forderung von Alexy, Argumentation (Fn. 13), S. 274 f.; ders., Analyse (Fn. 45), S. 19 f. 32ff., nach einer Universellen Regel (Universalitätsprinzip), aus der das individuelle Sollensurteil folgt, vereinbar, die bereits gebildete bedingte Vorrangrelation ist vielmehr die universelle Regel. Die interne Rechtfertigung kann daher nicht Teil der Begründung dieser Regel sein, da sie diese voraussetzt.

59 Später konkretisierte Alexy, Die Gewichtsformel, in: Jickeli et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, 2003, S. 791, den Maßstab für die Begründung der bedingten Vorrangrelation als Abwägung durch die folgende Formel für die Begründung der bedingten Vorrangrelation

und der abstrakten Gewichte G, der Sicherheiten der empirischen Annahmen über die Auswirkungen auf die Prinzipien S und die Eingriffsintensitäten I für die jeweiligen Prinzipien Pi, … ,Pm,Pj, … ,Pn

60 Alexy, Argumentation (Fn. 13), S. 285.

61 Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 501. Die Besonderheit ergibt sich durch die Stellung innerhalb des allgemeinen Diskurses. So unterscheidet ebd., S. 500, zwischen vier Stufen eines Diskursmodells: (1) der allgemeine praktische Diskurs, (2) das Gesetzgebungsverfahren, (3) der juristische Diskurs und (4) das Gerichtverfahren. Der grundrechtliche Diskurs nimmt dabei eine Zwitterstellung ein, da es sich zwar um eine Form des juristischen Diskurses handelt, dieser aber dem Gesetzgebungsverfahren vorgelagert ist.

62 Ebd., S. 501.

63 Ebd., S. 501 f., nennt Alexy dabei vordergründig semantische und genetische Argumente, verweist aber auch auf teleologische, systematische und historische.

64 Ebd., S. 501 ff. Dies wird wohl kaum jemand bestreiten; s. aber Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1961, S. 34.

65 Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 505.

66 Ebd., S. 505. Dies ist es, was Jestaedt, Grundrechtsentfaltung (Fn. 14), S. 217, als „nachgerade prononciert verfassungsgerichtspositivistische Ausrichtung“ bezeichnet.

67 Vgl. Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 508.

68 Vgl. ebd., S. 100 f.

69 Siehe dazu ausführlicher C. II, insbesondere Fn. 95.

70 Ebd., S. 508 f: die materiale Grundrechtstheorie füllt als normative Theorie die Lücke der Strukturtheorie als primär analytische Theorie zur integrativen Grundrechtstheorie.

71 Ebd., S. 126 ff., 512.

72 Erfasst sollen alle von E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529, unterschiedenen Theorien sein; vgl. Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 512 ff.

73 Der Begriff ist missverständlich; versteht sich die Theorie der juristischen Argumentation doch selbst als prozedurale Diskurstheorie (siehe oben C. I. 1.). Die Unterscheidung dient aber der Abgrenzung zu den klassischen, präjudiziellen und dogmatischen, (vermeintlich) den Diskurs „determinierenden“ Argumenten, welchen allerdings auch keine (vollständig) determinierende Wirkung zuerkannt wird. Der Begriff bezieht sich daher auf die Erkenntnis, auf den allgemeinen praktischen Diskurs angewiesen zu sein. Vgl. ebd., S. 520 f.

74 Alexy, Analyse (Fn. 45), S. 44 f.

75 Vgl. Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 521, mit der Konsequenz: die Notwendigkeit autoritativen Entscheidens.


4. Bewertung und Zwischenfazit

Vereinfacht lässt sich sagen, die Prinzipientheorie der Grundrechte lässt damit eine nahezu unbegrenzte Menge methodischer Ansätze und Wertungen innerhalb der Begründung eines interpretatorischen Ergebnisses zu.76 Diese Einsicht überrascht nicht, versteht sich die Prinzipientheorie der Grundrechte doch als Strukturtheorie mit der Aufgabe, Klarheit über „die Struktur der Grundrechtnormen sowie aller in der grundrechtlichen Begründung relevanter Begriffe und Argumentformen“ zu schaffen.77 Sie hat nicht den Anspruch aus sich allein heraus, die Bildung bestimmter konkreter grundrechtlicher Sollensurteile vorzugeben. Ihre Leistung besteht darin, zu beschreiben, was bei der Grundrechtsanwendung und Verfassungsinterpretation zu begründen ist.78 Die Prinzipientheorie der Grundrechte bildet damit einen Rahmen für die Grundrechtsanwendung und -interpretation und ist insoweit dogmatisch unvollständig oder offen. Daher trifft die Einschätzung, sie laufe darauf hinaus, „dass im Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände eine rational begründete Entscheidung getroffen werden muss“ zwar zu, die Schlussfolgerung, sie sei „der Nullpunkt der Dogmatik“79, aber nur insofern, als sie dadurch als Grundstein einer Dogmatik verstanden werden kann.80 Angesichts des grundsätzlich nahezu unbegrenzten argumentativen Instrumentariums kann auch der Vorwurf, sie sei ein „methodologische[r] Rückfall“ nur schwerlich überzeugen. Die Prinzipientheorie der Grundrechte legt damit in Fragen der Abwägung eher den Finger in die Wunde, dass in diesen Fragen sonst auch keine vollständig befriedigenden Antworten gefunden werden.81 Die Leistung der Theorie besteht also darin, den Rahmen zu schaffen, in dem die Auslegung, die Erzeugung konkretisierter Grundrechtsnormen, stattfindet.

Aber auch diese Leistung muss teilweise relativiert werden. So steht jede der gebildeten Vorrangrelationen unter den spezifischen Bedingungen des Einzelfalls. Durch die Komplexität jedes Sachverhalts können die Bedingungen nicht abschließend aufgezählt werden: Jede konkretisierte Grundrechtsnorm steht damit praktisch, nicht theoretisch, unter dem Vorbehalt einer neuen Abwägung. Die so gebildete abstrakt-generelle (zugeordnete) Grundrechtnorm ist praktisch nur Einzelfallentscheidung und damit „nur“ präjudizielles Argument.82 Aber auch unter diesen Einschränkungen kann die Strukturierungsleistung der Theorie bei der Verfassungsinterpretation nicht geleugnet werden – man betrachte nur die abgeleitete allgemeine Formulierung der Struktur der Grundrechtsnorm mit Doppelcharakter.

II. Interpretatorisches Fundament der Prinzipientheorie der Grundrechte

Eine andere Frage ist die nach der Verankerung der Prinzipientheorie im Grundgesetz; oder anders formuliert: Ergibt sich der Prinzipiencharakter als interpretatorisches Ergebnis aus dem Grundgesetz?83

Alexy versteht die Grundrechte bzw. das Grundgesetz als kombiniertes Regel/Prinzipien-Modell. Damit lehnt er neben dem reinen Prinzipienmodell vor allem das reine Regelmodell ab.84 Die Gründe dafür sollen hier interessieren.

Maßgeblicher Baustein für dieses Ergebnis ist die Äquivalenz von Abwägung, bzw. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Prinzipienstruktur.85 Davon ausgehend betrachtet er die Grundrechte in Form der vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte, solcher mit einfachen und solcher mit qualifiziertem Vorbehalt, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Anwendung dieser ohne Abwägung, bzw. den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, nicht (sinnvoll) möglich ist.86 Diesem Ergebnis wird wohl, trotz oder gerade wegen der aus historischer Perspektive nicht notwendigen Auslegung87, heute niemand widersprechen.88

Die Äquivalenz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Prinzipienstruktur kann allerdings zweierlei für die Reichweite und Verankerung der Prinzipientheorie im Grundgesetz bedeuten:

Einerseits könnte der Prinzipienbegriff maßgeblich durch das interpretatorische Ergebnis bestimmt sein, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei anwendbar. In dem Fall trifft der Vorwurf sie nicht, „sie muss [..] begründen, warum jedes Grundrecht am besten als Optimierungsgebot zu verstehen ist. […] Sie muss sich gleichsam im dogmatischen


76 Sie sind freilich an die Regeln und Formen des allgemeinen praktischen Diskurses gebunden, vgl. dazu Alexy, Argumentation (Fn. 13), S. 361 ff.

77 Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 32.

78 Vgl. dazu Jestaedt, Grundrechtsentfaltung (Fn. 14), S. 214, der dies allerdings nur für den hypothetischen Fall, dass Grundrechte als Prinzipien zu beschreiben sind, anerkennt.

79 Zitate, auch das folgende, bei Poscher, Grundrechte (Fn. 1), S. 77 f.,  81 f.; ihm folgend Jestaedt, Die Abwägungslehre (Fn. 1), S. 268.

80 Borowski (Fn. 6), S. 131 f., sieht das Verhältnis andersherum: Nicht die Dogmatik fülle die dogmatischen Lücken in der Prinzipientheorie, sondern die Abwägung sei grundrechtsdogmatische Lücke. Dies lässt sich aber nicht direkt in Einklang mit der Rolle der Dogmatik innerhalb der juristischen Argumentation bei der Begründung bedingter Vorrangrelationen bringen; vgl. Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 144, 508 ff.

81 Wie bereits beschrieben führt das sehr weite Prinzipienverständnis der Prinzipientheorien der Grundrechte auch zu Abwägungen – vereinfacht gesagt – „zwischen“ Regeln und Prinzipien (vgl. Fn. 28), in denen den „klassischen“ Argumenten wohl eine deutlich größere Bedeutung zukommt. Damit ist der Abwägungsbegriff auch ein weiterer, als er wohl gemeinhin gebraucht wird. In Abwägungen im engeren Sinne scheint dagegen auch sonst keine in letzter Konsequenz befriedigende Antwort auf die Methodik innerhalb der Abwägung gefunden.

82 Hong (Fn. 5), S. 50 ff., beschreibt dies mit der eigentümlichen Metapher der Heisenbergschen Unschärferelation als Alexysche Unschärfe. Es handelt sich um nichts anderes als das Problem der ratio decendi eines Präjudizes. Die Ergänzung der Unschärfebedingung von Hong (Fn. 5), S. 53 ff., geht nicht darüber hinaus, das zu verdeutlichen.

83 Es sei darauf hingewiesen, dass Alexy, Begriff (Fn. 8), S. 121 ff., auch aus rechtstheoretischen Gründen von der notwendigen Existenz von Prinzipien innerhalb eines (minimal entwickelten) Rechtssystems ausgeht. Konsequenzen für die Grundrechtsinterpretation ergeben sich daraus allerdings nicht notwendig.

84 Vgl. Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 104 ff.

85 Vgl. ebd., S. 107 ff. Zur Äquivalenz zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: ebd., S. 100 f., allerdings ohne Begründung der Implikation des Prinzipiencharakters durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

86 Ebd., S. 107 ff.

87 Vgl. für das Grundrechtsverständnis der Weimarer Verfassung H. Dreier, Die Zwischenkriegszeit, in: Merten/Papier (Hrsg.) Handbuch der Grundrechte, Band I, Entwicklungen und Grundlagen, 2004, § 4 Rn. 20 ff.

88 Auch die Argumentation von Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 107 ff., dürfte, da sie ohne spezifisch prinzipientheoretische Argumente auskommt, nicht allzu strittig sein.


Häuserkampf bewähren“89, weil sie in ihrer Reichweite nicht über die Grundrechtsvorbehalte hinausgeht.90 Sie ist in ihrer Reichweite dann allerdings soweit begrenzt, dass sich einige ihrer Konsequenzen nicht mehr auf diese Begründung stützen können; allen voran die prinzipientheoretische Gesetzesbindung durch formelle Prinzipien.91 Sollte die Prinzipieneigenschaft in jedem möglichen Fall allerdings als Erstes zur Debatte stehen92, büßt die Prinzipientheorie ein Gros ihrer Erklärungskraft ein.

Andererseits könnte die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sich nach der Anwendbarkeit der Prinzipientheorie innerhalb des Grundgesetzes richten.93 Das hätte allerdings zur Folge, dass weite Teile der Prinzipientheorie nicht (begründet) im Grundgesetz verankert sind. Hier träfen dann die oben beschriebenen Vorwürfe zu. Die Beschreibungskraft der Prinzipientheorie der Grundrechte bei der Rekonstruktion der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts baut darauf, dass sie die Rekonstruktion der Rechtsprechung maßgeblich zum Fundament der Entwicklung der Prinzipientheorie aus dem Grundgesetz macht – die Rekonstruktion ist also zugleich Begründung der Rekonstruktion.94 Das ist eine heuristisch sinnvolle Ausgangslage, eine interpretatorische Begründung kann sie darüber hinaus aber nicht für dieses Fundament liefern.95

D. Fazit

Die Prinzipientheorie der Grundrechte erbringt eine erhebliche Strukturierungs- und Erklärungsleistung für die Grundrechtsinterpretation und das Grundrechtsverständnis insgesamt. Sie weiß zu beschreiben, was zu begründen ist und gibt einen Rahmen für die Begründung vor, kann aber keine Ergebnisse anleiten. Ihre Ergebnisse lassen sich „wie von Zauberhand“96 als eine kohärente Ordnung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darstellen. Diese bemerkenswerte Ordnungsleistung ist aber nicht „kostenlos“. Sie hat den Preis, weitreichende Annahmen vorauszusetzen oder die Validität ihrer Prämissen im Einzelfall immer wieder unter Beweis stellen zu müssen.


89 Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, in: Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, Studien zur Grundrechtstheorie Robert Alexys, 2007, S. 79.

90 In diese Richtung scheint Borowski (Fn. 6), S. 114 ff., zu gehen, wenn er beschreibt, dass die strukturelle Eigenschaft jeder Norm einzeln durch Auslegung zu ermitteln ist. So versteht wohl auch Klement, JZ 2008, 756, 761, die Relation.

91 Vgl. Fn 28.

92 So könnte beispielsweise die Abwägungsfähigkeit des staatlichen Neutralitätsgebots (vgl. BVerfGE 153, 1, 39 – Kopftuch III) wohl nicht a priori aus dem Prinzipiencharakter geschlussfolgert werden, sondern dieser wäre erst zu ermitteln bzw. zu begründen.

93 Davon scheint Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 100 f., auszugehen, wenn er sich auf die Implikation des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch die Prinzipien konzentriert. Im Übrigen sprechen die weitreichenden Konsequenzen für diese Annahme; siehe nur zu den formellen Prinzipien: ebd., S. 89, 122, und Fn. 28.

94 Exemplarisch dafür dürfte das Beispiel des Schnellreinigungsfalls (BVerfGE 32, 54) sein; vgl. die Rekonstruktion, die aber zugleich eine Begründung der Funktionsweise der Prinzipientheorie ist: Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 115 f. Andere Beispiele sind etwa die Rekonstruktion des Lebach-Urteils (BVerfGE 35, 202; Alexy, a.a.O., S. 84 ff.) und des Verhandlungsunfähigkeitsbeschlusses (BVerfGE 51, 324; Alexy, a.a.O.; S. 79 ff.), und für die Gewichtsformel der TITANIC-Fall (BVerfGE 86, 1; Alexy, Die Gewichtsformel (Fn. 59), S. 774 ff.).

95 Man könnte darüber hinaus annehmen, dadurch werde die Interpretation des BVerfG in die Theorie inkorporiert, d.h. sich die Höchstrichterlicher Argumentation zu eigen gemacht, um die Prämissen der Prinzipientheorie zu begründen. Dies hätte eine bemerkenswerte „Doppelrolle“ des BVerfG in Bezug auf die Theorie zur Folge: Die Entscheidungen wären einmal argumentatorisches Fundament der Prinzipientheorie im Grundgesetz aber auch zugleich präjudizielle Argumente innerhalb der Theorie selbst. Zwar erklärt Alexy, Grundrechte (Fn. 4), S. 32, die Rechtsprechung des BVerfG zum „wichtigste[n] Stoff“ der Theorie, es ist aber zweifelhaft, ob die Vertreter der Prinzipientheorie der Grundrechte sich in diese Abhängigkeit begeben wollen.

96 Klement, JZ 2008, 756.