Alexandra-Theresa Hufnagel*
A. Einführung
Unter den Stichworten „Geburtstourismus“1 und Leihmutterschaft2 werden unkonventionelle Umstände der Geburt immer häufiger zum Gegenstand gesellschaftlicher Debatten. Wurden im Jahre 1999 noch 727 künstliche Befruchtungen von Leihmüttern in den USA verzeichnet, so stieg die Zahl bis 2013 bereits auf 3.432 an. Dabei stammen 16 % der Wunscheltern aus dem Ausland.3
In beiden exemplarischen Konstellationen stellen sich unweigerlich die Fragen nach der Abstammung sowie dem rechtlichen Schutz der im Ausland geborenen Kinder. Gem. Art. 19 I 1 EGBGB unterliegt die Abstammung eines Kindes im deutschen autonomen Kollisionsrecht dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Gerade in den dargestellten Situationen bereitet die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts indes Probleme, die jüngst ebenfalls Niederschlag im Vorschlag zu einer Europäischen Abstammungsverordnung vom 7.12.2022 gefunden haben. Wie aber kann das IPR auch diese Konstellationen bewältigen und dabei zu sachgerechten Lösungen verhelfen? Nach welchen Kriterien sollte sich die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kleinstkindern richten und stellt der gewöhnliche Aufenthalt vor diesem Hintergrund überhaupt ein taugliches Anknüpfungsmoment dar?
B. Zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts
I. Begriffsentwicklung
Traditionell wurde zur Bestimmung des Heimatrechts einer Person (sog. Personalstatut) im kontinentaleuropäischen Rechtskreis an die Staatsangehörigkeit4 und im anglo-amerikanischen Rechtskreis an das domicile bzw. den Wohnsitz angeknüpft.5 Der gewöhnliche Aufenthalt hat sich dagegen erst später als Anknüpfungsmoment durchgesetzt.
Neben der vereinzelten Verwendung des Begriffs vor allem in bilateralen Abkommen des Deutschen Reichs, die die Zulassung der beiderseitigen Staatsangehörigen zum Armenrecht regelten,6 fand der gewöhnliche Aufenthalt Einzug in das Vormundschaftsabkommen von 19027 sowie das Entmündigungsabkommen aus dem Jahre 1905.8 In beiden Konventionen wurde der Aufenthaltsbegriff neben der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit erstmalig auch zur Ermittlung des anwendbaren materiellen Rechts herangezogen. Diese markieren somit die „eigentliche Geburtsstunde“9 des gewöhnlichen Aufenthalts als Anknüpfungsmoment im IPR.
Als Reaktion auf den Anstieg der Zahl der Staatenlosen sowie der Personen mit mehrfacher Staatsangehörigkeit im Zeitraum zwischen den Weltkriegen rückte der gewöhnliche Aufenthalt als Anknüpfungsmoment in den ergänzenden Regelungen für Staatenlose und Mehrstaater im Rahmen der Haager Konferenz 1928 erstmalig in das Zentrum einer Kollisionsnorm.10 Infolge der immensen Bevölkerungsverschiebungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs hat sich der gewöhnliche Aufenthalt schließlich als Anknüpfungsmoment neben oder an Stelle der Anknüpfung an den Wohnsitz und die Staatsangehörigkeit etabliert.11 Spätestens mit Inkrafttreten des IPR-Neuregelungsgesetzes von 1986 entwickelte sich der gewöhnliche Aufenthalt neben der Staatsangehörigkeit zur „zweiten tragenden Säule des deutschen IPR“12 und avanciert heutzutage zum zentralen Anknüpfungsmoment in Bezug auf die Ermittlung des Personalstatuts.13
II. Auslegung
Auf dieser Grundlage lässt sich ein inhaltliches Begriffsverständnis des gewöhnlichen Aufenthalts anhand der etablierten Auslegungscanones unter Berücksichtigung der autonomen kollisionsrechtlichen Maßstäbe entwickeln.14
1. Wortlaut
Der Wortlaut des gewöhnlichen Aufenthalts ist wenig ergiebig. Während unter dem Begriff des Aufenthalts eine gewisse physische Präsenz zu verstehen ist, bleibt uneindeutig, ab wann ein Aufenthalt als „gewöhnlich“ gilt. So könnte die „Gewöhnlichkeit“ einerseits eine gewisse Stabilität und Dauer des Aufenthalts voraussetzen, andererseits aber gerade auch einen relativ vorübergehenden Aufenthalt akzeptieren. Ob zur Beurteilung subjektive oder objektive Kriterien heranzuziehen sind, lässt der Ausdruck ebenfalls offen.15
2. Systematik
Systematisch befindet sich der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Internationalen Familienrecht in den Art. 14 I, II, 19 I EGBGB, Art. 1, 2 MSA, Art. 3 I lit. a, 4 HKÜ sowie den Art. 15 III, 16, 17 KSÜ. All diese Vorschriften beinhalten jedoch keine Anhaltspunkte, wie der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts zu verstehen ist.16
*Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School Hamburg. Der Beitrag stellt eine gekürzte Fassung ihrer Examensseminararbeit bei Prof. Dr. Karsten Thorn, LL.M. dar.
1 Hahn, 2023.
2 Zum Ablauf der Leihmutterschaft Schramm/Wermke, Leihmutterschaft, 3 ff.
3 Horban/Väth, 2020.
4 Kropholler, IPR, § 37 I.
5 Zur Entwicklung des Domizilprinzips de Winter, RdC 128 (1969-III), 361 ff.
6 Vgl. RGBl. 1879, 316; RGBl. 1881, 81; RGBl. 1887, 120.
7 RGBl. 1904, 240.
8 RGBl. 1912, 463.
9 Baetge, Gewöhnlicher Aufenthalt, 6.
10 Dutta, IPRax 2017, 140.
11 Cavers, Habitual Residence, Am. U. L. Rev. 21 (1972), 475 ff.
12 Kropholler, IPR, § 39 III.
13 Dutta, IPRax 2017, 139.
14 Spitzlei, JuS 2022, 316 f.
15 Lurger, Verortung, 220.
16 Hösel, Leihmutterschaft, 54 f.
3. Historie
Historisch diente der Begriff vorrangig zur Sicherung einer einheitlichen Auslegung. In Abgrenzung zum Wohnsitzbegriff sollte es sich beim gewöhnlichen Aufenthalt überdies um ein faktisches Kriterium handeln, das die Tatsachen im Einzelfall angemessen berücksichtigt. Ferner deutet dessen hauptsächliche Verwendung im Bereich des Armenrechts sowie in Vormundschafts- und Entmündigungssachen auf einen vordergründigen Nutzen des Begriffs in Zusammenhängen, die von einem erhöhten Schutz- und Fürsorgebedürfnis geprägt sind, hin (s. B. I.).17
4. Telos
a) Prinzip der räumlich engsten Verbindung
In teleologischer Hinsicht fungiert der gewöhnliche Aufenthalt als Instrument zur Verwirklichung der Gesamtziele des Kollisionsrechts. Das Primärziel des IPR besteht in der Ermittlung derjenigen Rechtsordnung, zu der der Sachverhalt den engsten Bezug aufweist.18 Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ist wiederum als besondere Ausprägung dieses Grundsatzes zu verstehen.19
b) Kindeswohlbindung
Sowohl im abstammungsrechtlichen Kontext als auch angesichts des Minderjährigenschutzes liegt dem gewöhnlichen Aufenthalt darüber hinaus das Kindeswohlprinzip zugrunde.20 Auch für den Kindeswohlbegriff existiert indes keine rechtliche Präzisierung. ErwGr. 20 zur Brüssel-IIb-VO21 konstatiert lediglich, dass das Kindeswohl und der gewöhnliche Aufenthalt im Unionsrecht in einem Wechselwirkungsverhältnis stehen. Rechtsvergleichend zeichnet sich insgesamt ab, dass der gewöhnliche Aufenthalt vielmehr als Mittel zur Wahrung des Kindeswohls zu verstehen ist, als dass dem Kindeswohl eine konkretisierende Wirkung für den gewöhnlichen Aufenthalt zukommt.22
III. Inhaltliche Grundzüge
Als Ergebnis der Auslegung ergibt sich schließlich Folgendes für das inhaltliche Begriffsverständnis:
Für die Festlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ist der Ort maßgeblich, an dem der Schwerpunkt der familiären, beruflichen und/oder gesellschaftlichen Bindungen der Person, ihr sog. Daseinsmittelpunkt, liegt.23 Dabei ist primär auf die soziale Integration abzustellen, für die wiederum eine gewisse Aufenthaltsdauer erforderlich ist.24 Nach europäischem Begriffsverständnis wird hingegen befürwortet, primär auf den subjektiven Bleibewillen (sog. animus manendi) abzustellen und objektive Umstände wie die Aufenthaltsdauer nur als Indizien für diesen anzusehen.25
Somit fußt der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts auf zwei Säulen: der tatsächlichen körperlichen Anwesenheit sowie der sozialen Integration.
C. Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts
Nachdem die inhaltlichen Grundzüge des Begriffs erarbeitet wurden, ist nunmehr zu klären, wonach sich die Bestimmung, ob diese Begriffsmerkmale im konkreten Fall erfüllt sind, richtet (s. C. I.), bevor auf die Besonderheiten bei der Aufenthaltsbestimmung von Kleinstkindern einzugehen ist (s. C. II.).
I. Konkretisierung der Begriffsmerkmale
1. Tatsächliche Anwesenheit
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts setzt eine gewisse physische Präsenz zwingend voraus; die bloße Absicht einer Person, sich an einem Ort niederzulassen, genügt nicht.26 Ein tatsächlicher Aufenthalt von gewisser Dauer kann i. V. m. den dadurch faktisch entstandenen Bindungen den gewöhnlichen Aufenthalt begründen.27 Eine feste Frist dafür existiert zwar nicht, jedoch wird in der deutschen Rechtsprechung und Literatur meist als Faustformel ein Zeitraum von sechs Monaten angeführt.28
2. Soziale Integration
Das Kriterium der sozialen Integration als Ausdruck der „Gewöhnlichkeit“ des Aufenthalts ist, im Gegensatz zu dem der körperlichen Anwesenheit, stark normativ geprägt, weshalb dessen Bestimmung im Einzelfall Schwierigkeiten bereitet.29
Rechtsvergleichend lassen sich dennoch Grundsätze herausarbeiten, über die Konsens herrscht. Demzufolge sollen für die Beurteilung der sozialen Integration primär äußerlich erkennbare Kriterien maßgeblich sein.30 Außerdem ist der familiären Bindung einer Person der Vorrang gegenüber ihren sozialen und beruflichen Kontakten einzuräumen.31 Sprachkenntnisse, die Schul- und Berufsausbildung im In- oder Ausland und die Anmietung bzw. der Kauf einer Wohnung sollen ebenfalls eine unterstützende Indizwirkung zugunsten der sozialen Integration entfalten.
Deuten einzelne dieser Indizien auf unterschiedliche Rechtsordnungen hin, so bedarf es weiterer Faktoren, die ein non liquet im Hinblick auf äußere Aspekte der sozialen Integration aufzulösen vermögen. In diesem Zusammenhang empfiehlt sich insbesondere die Berücksichtigung des Aufenthaltswillens (animus manendi). Dieser kann Mängel sonstiger objektiver Faktoren nach einhelliger Meinung der Literatur und Rechtsprechung überwinden.32
II. Besonderheiten der Aufenthaltsbestimmung bei Kleinstkindern
Die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kleinstkindern bereitet allerdings auch unter Zuhilfenahme der dargestellten Indizien und Zweifelsregeln erhebliche Schwierigkeiten: Welche zeitlichen Kriterien können für Kleinstkinder gelten? Welche Indizien können zur Bestimmung der sozialen Integration eines Kleinstkindes herangezogen werden
17 Baetge, Gewöhnlicher Aufenthalt, 7.
18 Vgl. schon Savigny, Römisches Recht, 108.
19 Kropholler, IPR, § 4 II; Schwind, RabelsZ 54 (1990), 265 f.
20 Muschter, Statutenwechsel, 190 f.
21 Vormals ErwGr. 12 EuEheVO.
22 Rentsch, Gewöhnlicher Aufenthalt, 185.
23 BGH 5.2.1975, NJW 1975, 1068; BGHZ 221, 300; OLG Hamm 17.3.1992, NJW 1992, 636; Grüneberg/Thorn, Art. 5 EGBGB Rn. 10.
24 EuGH 28.6.2018, Rs. C-512/17; OLG Karlsruhe FamRZ 2008, 2223; MüKo/v. Hein, Art. 5 EGBGB Rn. 159 ff.
25 EuGH 22.12.2010, Rs. C-497/10 Rn. 51; Weller, IPRax 2014, 227.
26 EuGH 2.4.2009, Rs. C-523/07 Rn. 38; EuGH 22.12.2010, Rs. C-497/10 PPU Rn. 49; EuGH 9.10.2014, Rs. C-376/14 PPU Rn. 51; Kropholler, IPR, § 39 II 3 a.
27 v. Hoffmann/Thorn, IPR, § 5 Rn. 76.
28 BGHZ 78, 293; BGH 18.6.1997, FamRZ 1997, 1070; Winkler v. Mohrenfels, FPR 2001, 191.
29 EuGH 28.6.2018, Rs. C-512/17 Rn. 41.
30 Kränzle, Heimat, 263 ff.
31 Ebd., 125; s. auch ErwGr. 24 EuErbVO.
32 BGHZ 78, 293; SoergelBGB/Kegel, Art. 5 EGBGB Rn. 53 f.
und welche Bedeutung kommt dem Aufenthaltswillen zu, solange Kleinstkinder keine natürliche Einsichtsfähigkeit, geschweige denn Geschäftsfähigkeit, besitzen?
Als Kleinstkinder werden Kinder bezeichnet, die das zweite Lebensjahr nicht überschritten haben. Als Synonyme werden häufig die Bezeichnungen als Säuglinge oder Neugeborene verwendet.33 Bei Kleinstkindern handelt es sich demnach um besonders junge Kinder in ihrem ersten Lebensabschnitt unmittelbar nach der Geburt. Daher können die besonderen Kriterien, die zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kindern im Allgemeinen entwickelt wurden, nicht ohne Weiteres auf Kleinstkinder übertragen werden.34
Bereits die Anwendung des zeitlichen Elements der Aufenthaltsdauer ist umso weniger hilfreich, je jünger das Kind ist. Daher kann der gewöhnliche Aufenthalt insbesondere auch bei Kleinstkindern schon vor Ablauf eines Zeitraums von ca. sechs Monaten (s. C. I. 1.) begründet werden, „wenn sich aus den Umständen ergibt, dass der Aufenthalt auf eine längere Zeitdauer angelegt ist“35 und der Aufenthaltsort den künftigen Daseinsmittelpunkt bilden soll. Fraglich ist jedoch, wie der Daseinsmittelpunkt eines Kleinstkindes zu bestimmen ist.
1. Gewöhnlicher Aufenthalt der faktischen Betreuungsperson
Aufgrund der starken Abhängigkeit der Kleinstkinder von ihren Bezugs- und Obhutspersonen, wird erwogen, ihren gewöhnlichen Aufenthalt am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts ihrer faktischen Betreuungspersonen zu lokalisieren.36 Allein auf den gewöhnlichen Aufenthalt der faktischen Betreuungsperson abzustellen, würde letztendlich jedoch eine abgeleitete Aufenthaltsbestimmung des Säuglings bedeuten und somit dem faktischen Charakter dieses Anknüpfungskriteriums widersprechen.37
2. Prognose-Formel
Im Rahmen einer selbständigen Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kleinstkindern ist deren eigener Daseinsmittelpunkt als Ausdruck ihrer sozialen Integration entscheidend. Bei einem Kleinstkind ist dies der Ort, an dem es sich dauerhaft tatsächlich aufhält und versorgt wird. Dieser ist mithilfe einer Prognose zu bestimmen.38 Demnach befindet sich deren gewöhnlicher Aufenthalt dort, wo die faktische Betreuungsperson ihren Daseinsmittelpunkt hat.39
Da Kleinstkinder zudem nicht dazu in der Lage sind, überhaupt einen positiven Bleibewillen auszubilden, kann auch dieser nicht in die Gesamtbetrachtung miteinbezogen werden.40 Stattdessen ist die soziale und familiäre Integration ihrer faktischen Betreuungspersonen zu analysieren.41 Dabei wird der gewöhnliche Aufenthalt eines Kleinstkindes zwar nicht von dem der Betreuungsperson abgeleitet, jedoch wird der tatsächlichen Abhängigkeit des Kindes von dieser bei der Verortung seines gewöhnlichen Aufenthalts durchaus Rechnung getragen.
Im Falle der Geburt während eines kurzfristigen Auslandsaufenthalts der Gebärenden sowie in Konstellationen der Leihmutterschaft sind über die allgemeinen Grundsätze hinaus jedoch zusätzliche Erwägungen anzustellen, die den besonderen Umständen Rechnung tragen.
3. Kurzfristiger Auslandsaufenthalt der Gebärenden
a) Gewöhnlicher Aufenthalt im Geburtsstaat
Ob ein Säugling einen gewöhnlichen Aufenthalt im Geburtsstaat hat, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Mit der körperlichen Anwesenheit ist ein wichtiges Kriterium bereits erfüllt.42 Zusätzlich bedarf es allerdings weiterer Faktoren, die die Integration des Säuglings in ein familiäres Umfeld nicht nur vorübergehend in diesem Staat als wahrscheinlich erscheinen lassen. Daran dürfte es bei kurzfristigen Auslandsgeburten indes fehlen.
b) Gewöhnlicher Aufenthalt im (potentiell) künftigen Aufenthaltsstaat
Stattdessen ist die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Aufenthaltsstaat der faktischen Betreuungspersonen des Kleinstkindes zu erwägen, in welchem sich das Kind ebenfalls künftig aufhalten soll. Voraussetzung dafür ist jedoch weiterhin eine gewisse physische Präsenz, sodass ein während eines kurzfristigen Aufenthalts geborener Säugling seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Heimatstaat seiner faktischen Betreuungspersonen erst nach seiner dortigen Ankunft begründen kann.43 Folglich fehlt Kleinstkindern in solchen Konstellationen im Zeitraum zwischen Geburt im Ausland und Ankunft im Heimatstaat der Betreuungspersonen grundsätzlich ein gewöhnlicher Aufenthalt.44
4. Grenzüberschreitende Leihmutterschaft
Auch in Fällen der grenzüberschreitenden Leihmutterschaft soll der gewöhnliche Aufenthalt des Neugeborenen dort sein, wo die faktischen Betreuungspersonen ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.45 Häufig sind dies die Wunscheltern, deren gewöhnlicher Aufenthalt auch bei vorübergehender Reise ins Ausland weiterhin in deren Heimatstaat bleibt.46 Zum Umgang mit solchen Fällen nimmt der BGH den allgemeinen Grundsätzen entsprechend eine faktische Prognose vor:47 Planen die Wunscheltern eines von einer Leihmutter im Ausland geborenen Kindes von vornherein, mit dem Kind das Geburtsland schnellstmöglich zu verlassen, und wird dieser Plan auch zeitnah umgesetzt, so begründet das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt allein im Aufenthaltsstaat der faktischen Betreuungspersonen, ohne dass mit der Geburt ein solcher zunächst im Ausland begründet worden wäre.48 Demgegenüber soll dann, wenn dieser Plan, etwa aufgrund eines
33 DWDS, Kleinstkind.
34 BeckOGK/Yassari, Stand: 1.12.2022, Art. 3 HUP Rn. 20 ff.
35 BGHZ 78, 293, 295.
36 MüKo/Helms, Art. 19 EGBGB Rn. 8; Siehr, StAZ 2015, 258.
37 MüKo/v. Hein, Art. 5 EGBGB Rn. 167; v. Hoffmann/Thorn, IPR, § 5 Rn. 81.
38 Dethloff, JZ 2014, 929; Sitter, Leihmutterschaft, 246 f.
39 S. dazu auch Diel, Leihmutterschaft, 189 f; Henrich, FS Schwab, 1147.
40 Ebd., 85 f.
41 BGHZ 221, 300; OLG Schleswig 26.7.2000, FamRZ 2000, 1426; OLG Köln 12.3.2012, FamRZ 2012, 1406; OLG Bremen 22.12.2015, NJW 2016, 655.
42 EuGH 15.2.2017, Rs. C-499/15; EuGH 17.10.2018, Rs. C-393/18 PPU.
43 Rauscher, Entwicklung des IPR, 3569 Rn. 25; s. zu vereinzelten Ausnahmen vom Erfordernis der physischen Präsenz auch EuGH 16.5.2017, Rs. C-111/17 PPU (Schlussantrag); EuGH 8.6.2017, Rs. C-111/17 PPU Rn. 32; MüKo/v. Hein, Art. 5 EGBGB Rn. 168.
44 BeckOGK/Yassari, Stand: 1.12.2022, Art. 3 HUP Rn. 28 f.
45 OLG Nürnberg 4.8.2021, NJW-RR 2021, 1232.
46 KG Berlin 19.2.2014, FamRZ 2014, 1790; Thomas/Putzo-ZPO/Hüßtege, §122 FamFG Rn. 4.
47 Kvit/Spickhoff, FamRZ 2023, 658.
48 BGHZ 221, 300.
Einreiseverbots, nicht alsbald umgesetzt wird und sich das Kind nach seiner Geburt längere Zeit im Ausland aufhält, von der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland auszugehen sein.49
D. Eignung als Anknüpfungsmoment
Trotz der Konkretisierungsbemühungen in Rechtsprechung und Lehre50 bleiben bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kleinstkindern weiterhin Unsicherheiten bestehen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der gewöhnliche Aufenthalt von Kleinstkindern überhaupt als geeignetes Anknüpfungsmoment taugt oder ob dieser de lege ferenda durch zweckdienlichere Alternativen zu ersetzen ist.
I. Darstellung der Anknüpfungsalternativen
1. Anknüpfung an die lex fori
Eine alternative Lösung bestünde darin, entsprechend der Grundsätze der Nichtermittelbarkeit des anwendbaren Rechts auf die lex fori zurückzugreifen.51 Somit würde sich in Konstellationen der Leihmutterschaft die Abstammung meist nach dem Aufenthaltsrecht der Wunscheltern bestimmen, da anzunehmen ist, dass sie die Gerichte in ihrem Aufenthaltsstaat anrufen werden. Eine solche Anknüpfung hätte den praktischen Vorteil, dass die Gerichte infolge des strikten Gleichlaufs von forum und ius stets ihr eigenes materielles Recht anwenden könnten.52
Dieses Argument überzeugt jedoch nicht, da das IPR gerade die Anwendung der sachnächsten Rechtsordnung, unabhängig der Nationalität des angerufenen Gerichts, sicherstellen möchte.53 Zudem würde bei einem hilfsweisen Rückgriff auf die lex fori gem. Art. 19 I 1, 2 EGBGB die Zahl der zur Verfügung stehenden Rechtsordnungen faktisch verringert, da die betroffenen Personen in den allermeisten Fällen die Gerichte ihres Heimatstaats anrufen werden. Dies ist wiederum nicht mit dem Günstigkeitsprinzip als Ausdruck des Kindeswohls vereinbar.54
2. Einführung der Rechtswahlfreiheit
Erwägenswert erscheint es außerdem, stattdessen das Konzept einer rechtsgeschäftsähnlichen Parteiautonomie einzuführen.55 Demnach wäre ein nach außen hin manifestierter Bleibewille für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts konstitutiv. Dadurch würde sichergestellt, dass ein Neugeborenes seinen gewöhnlichen Aufenthalt im künftigen Aufenthaltsstaat bereits zum Zeitpunkt der Geburt begründen kann, sodass das vorübergehende Fehlen eines gewöhnlichen Aufenthalts vermieden werden könnte. Allerdings ist kritisch hervorzuheben, dass Kleinstkinder keine bewussten Entscheidungen über ihren Lebensmittelpunkt treffen und keine rechtsgeschäftsähnlichen Äußerungen tätigen können.56 Stattdessen käme dem Bleibewillen der faktischen Betreuungsperson Indizwirkung zu.57 Diese Anknüpfungsalternative käme damit praktisch erneut einem abgeleiteten Aufenthaltsbegriff gleich.
3. Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt der gebärenden Person
a) Vorschlag zu einer Europäischen Abstammungsverordnung vom 7.12.2022
Die aufgezeigten Probleme bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts in diesen Konstellationen haben auch Niederschlag im Vorschlag zu einer Europäischen Abstammungsverordnung vom 7.12.2022 gefunden. Anstelle des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ist gem. Art. 17 I VO-E nunmehr der gewöhnliche Aufenthalt der gebärenden Person zum Zeitpunkt der Niederkunft für die Beurteilung des auf die Begründung der Elternschaft anzuwendenden Rechts maßgeblich.
Zur Begründung der Wahl dieses Anknüpfungsmoments wird in ErwGr. 51 der vorgeschlagenen Verordnung angeführt, dass dadurch die Bestimmbarkeit des anzuwendenden Rechts sichergestellt werden soll. Das hiernach zur Anwendung gebrachte Recht solle dann explizit auch in den Fällen gelten, in welchen die entbindende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen als dem Staat ihrer Niederkunft hat. Dadurch soll dem starken Bedürfnis nach Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und Transparenz in Abstammungsfragen Rechnung getragen werden. Dies dient erneut dem Kindeswohl.
b) Kritik
Durch die in Art. 17 I VO-E vorgenommene Hauptanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt der gebärenden Person werden schwierige Abgrenzungsprobleme bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Säuglings im Zeitpunkt der Geburt vermieden. Nichtsdestotrotz weist die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt der gebärenden Person deutliche Parallelen zu einer abgeleiteten Aufenthaltsbestimmung auf, die die eigenen Interessen der Kinder nicht adäquat berücksichtigt.58
Auch der in Art. 17 I VO-E vorgesehene Anknüpfungszeitpunkt ist kritisch zu bewerten. Die Anknüpfung unwandelbar auf die Gegebenheiten im Zeitpunkt der Geburt zu fixieren, erweist sich in Fällen, in denen sich der gewöhnliche Aufenthalt von Mutter und Kind ändert oder sich ihr gewöhnlicher Aufenthalt in unterschiedliche Staaten verlagert, nicht als sachgerecht. Treten nämlich nach der Geburt weitere abstammungsrechtlich relevante Ereignisse ein, etwa eine spätere Vaterschaftsanerkennung, sollte vielmehr die Rechtsordnung des Staates zur Anwendung gelangen, in dem das Kind zu diesem späteren Zeitpunkt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.59
4. Anknüpfung an den Geburtsort
In Betracht kommt zudem eine Anknüpfung an den Geburtsort des Säuglings, der als subsidiäres Anknüpfungsmoment bereits in Art. 17 I VO-E aufgenommen wurde. Dieser ist leicht zu bestimmen und fördert damit die Rechtssicherheit.
49 MüKo/Helms, Art. 19 Rn. 8; a. A. VG Berlin 5.9.2012, StAZ 2012, 382, das auch bei einem sechsmonatigen Aufenthalt im Ausland einen gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes verneinte.
50 EuGH 28.6.2018, Rs. C-512/17.
51 Insbesondere Ehrenzweig, Okla. L. Rev. 18 (1965), 340.
52 Dutta, IPRax 2017, 143.
53 Grundlegend v. Bar/Mankowski, IPR I, § 6 Rn. 470.
54 Baetge, Gewöhnlicher Aufenthalt, 101.
55 Dutta, IPRax 2017, 146.
56 Thomale, GPR 2019, 175; dies konzedierend, obwohl i. Ü. für ein willensbezogenes Aufenthaltskonzept plädierend Weller, Willenszentrierter Aufenthaltsbegriff, 321.
57 Ebd., 295 ff.
58 BeckOK/Lorenz, Stand: 1.8.2018, Art. 5 EGBGB Rn. 15 f; Grüneberg/Thorn, Art. 5 EGBGB Rn. 10.
59 Antomo et al., StAZ 2023, 142; Marbourg Group Comments, 4.
Zumindest in Konstellationen der Leihmutterschaft ist der Geburtsort auch sehr bewusst ausgewählt. Dadurch käme außerdem regelmäßig das ausländische, leihmutterschaftsfreundliche Recht zur Anwendung, sodass eine hinkende Abstammung60 des Kindes vermieden werden könnte.61
Jedoch ist der Geburtsort insbesondere in Fällen von Geburten während kurzfristiger Auslandsaufenthalte weiterhin rein zufällig und demnach gerade nicht vorhersehbar.62 In solchen Fällen wird diese Anknüpfungsalternative den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht und läuft dem Prinzip der räumlich engsten Verbindung im IPR zuwider.63
5. Anknüpfung an den schlichten Kindesaufenthalt
Ferner wird auch eine alternative Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt des Kindes vorgeschlagen.64 Diese lässt sich auf den etwa in Art. 5 II sowie Art. 24 I 2 EGBGB zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedanken stützen, wonach auf den schlichten Aufenthalt zurückzugreifen ist, sofern ein gewöhnlicher nicht bestimmt werden kann. Während dieses Anknüpfungsmoment zwar die Anwendbarkeit des ausländischen, leihmutterschaftsfreundlichen Rechts sichern würde, steht dem jedoch erneut der Einwand der Zufälligkeit gegenüber.
Die Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt ist jedoch wandelbar. Entscheidend ist der gewöhnliche Aufenthalt zum Zeitpunkt, zu dem die Abstammung festgestellt werden soll.65 Zieht das Kind nach der Geburt in ein anderes Land, so ändert es seinen schlichten Aufenthalt, womit ein Statutenwechsel einhergeht, der nicht mehr zufällig erscheint.
Überdies verhindert die Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt einen vorübergehenden Zustand, in dem der Kindesaufenthalt nicht festgestellt werden kann.66 Die Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt bewirkt mithin allenfalls eine Erweiterung der zur Verfügung stehenden Rechtsordnungen. Dies trägt dem Günstigkeitsprinzip Rechnung und fördert damit das Kindeswohl.67
Auch rechtspositivistische Erwägungen legen die Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt nahe, denn durch die Bindung an die tatsächliche physische Präsenz des Kindes beachtet dieses Anknüpfungsmoment, im Gegensatz zu anderen Alternativen, i. S. v. rechtstaatlicher Gesetzesbindung und Rechtssicherheit eine gewisse minima semantica zum Funktionsäquivalent des gewöhnlichen Aufenthalts.68
II. Beurteilung
1. Grenzen der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt bei Kleinstkindern
a) Keine abgeleitete Aufenthaltsbestimmung
Die zur Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts herangezogenen Kriterien tragen dem frühen Entwicklungsstadium von Kleinstkindern gerade nicht adäquat Rechnung. Die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts der Kleinstkinder mutet praktisch zumeist wie eine abgeleitete Aufenthaltsbestimmung an, die mit dem Prinzip einer kindzentrierten Anknüpfung gerade nicht im Einklang steht und den Charakter des gewöhnlichen Aufenthalts als faktisches Kriterium, dem eine gewisse parteiautonome Essenz immanent ist, nicht angemessen berücksichtigt.69 Wesentliches Motiv für die Ersetzung des Wohnsitzes durch das Anknüpfungsmoment des gewöhnlichen Aufenthalts im Kollisionsrecht war jedoch gerade der Verzicht auf formale Ableitungen und Legaldefinitionen, was nicht unterlaufen werden darf.70
b) Rechtspolitische Erwägungen
Unabhängig davon, ob der Rekurs auf die soziale Integration der faktischen Betreuungspersonen auf eine abgeleitete Aufenthaltsbestimmung hindeutet, wird dadurch in Konstellationen der Leihmutterschaft der gewöhnliche Aufenthalt des Säuglings zumeist im Aufenthaltsstaat der faktischen Betreuungspersonen verortet. Im Falle deutscher Wunscheltern käme über Art. 19 I 1 EGBGB folglich deutsches Abstammungsrecht zur Anwendung. Danach stammt das Kind von der ausländischen Leihmutter, nicht aber von der deutschen Wunschmutter ab. Infolgedessen dürfte das Kind nicht nach Deutschland einreisen.71 Dieses Ergebnis könnte eine abschreckende Wirkung für künftige Wunscheltern entfalten und damit ex ante eine generalpräventive Steuerungsfunktion erfüllen, die mit dem gesetzgeberischen Ziel, die Leihmutterschaft zu unterbinden, im Einklang steht.72 Dies führt in der Praxis allerdings zu nur schwer hinnehmbaren Nachteilen für das Wunschkind, dem die Einreise in den Aufenthaltsstaat der Wunscheltern verwehrt wird. Das Kindeswohl ex post hilft in solchen Konstellationen somit häufig doch über die eigentlich bestehende Gesetzeslage hinweg.73 Auch die rechtspolitische Perspektive spricht demnach gegen die Tauglichkeit dieses Anknüpfungskriteriums.
c) Erstmalige Aufenthaltsbegründung
Darüber hinaus ist die praktische Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kleinstkindern, vornehmlich im Kontext der Leihmutterschaft, häufig unsicher:74 Bis wann gilt die Reise in den Aufenthaltsstaat der faktischen Betreuungspersonen noch als unmittelbar nach der Geburt erfolgt? Ab wann ist hingegen ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes im Geburtsstaat anzunehmen? Bei Kleinstkindern geht es allerdings nicht um die Änderung eines bereits etablierten Aufenthalts, sondern um die Begründung ihres ersten gewöhnlichen Aufenthalts. Diesen von einer unsicheren Prognose abhängig zu machen, würde sowohl den Zweck des Art. 19 I EGBGB als auch die Eigenschaft des gewöhnlichen Aufenthalts als faktisches Merkmal konterkarieren.75
d) Argumentum ad absurdum in Leihmutterschaftsfällen
Daneben sind auch die paradoxen Ergebnisse, welche in Konstellationen der Leihmutterschaft durch die Anknüpfung
60 D. h. unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich der Abstammung in verschiedenen Staaten; erläuternd dazu Wagner, NZFam 2019, 514.
61 Sitter, Leihmutterschaft, 248.
62 Andrae, IFR, § 7 Rn. 13.
63 Vgl. schon Savigny, Römisches Recht, 108.
64 S. zur Auffassung, die Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt könne auch de lege lata durch die Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts bewirkt werden, Duden, Leihmutterschaft, 101.
65 Staudinger/Henrich, Art. 19 EGBGB Rn. 14.
66 Baetge, Gewöhnlicher Aufenthalt, 142 ff.
67 Sitter, Leihmutterschaft, 248 f.
68 Vgl. Thomale, GPR 2019, 174.
69 v. Hoffmann/Thorn, IPR, § 5 Rn. 81.
70 MüKo/v. Hein, Art. 5 EGBGB Rn. 167.
71 Lagarde, ZEuP 2015, 238.
72 Vgl. Thomale, GPR 2019, 175.
73 Vgl. BGHZ 203, 350; BGH 5.9.2018 NJW-RR 2018, 1473.
74 Sitter, Leihmutterschaft, 247.
75 Ebd.
an den gewöhnlichen Aufenthalt erzielt werden, gegen dessen Eignung als Anknüpfungsmoment vorzubringen. Befindet sich der gewöhnliche Aufenthalt aufgrund der Prognose, das Kind werde unmittelbar nach der Geburt mit den Wunscheltern nach Deutschland einreisen, in Deutschland, kommt deutsches Abstammungsrecht zur Anwendung. Danach stammt das Kind von der ausländischen Leihmutter ab, kann infolgedessen nicht nach Deutschland einreisen und konsequenterweise einen gewöhnlichen Aufenthalt dort nie begründen.76 Liegt der gewöhnliche Aufenthalt aufgrund einer negativen Einreiseprognose hingegen im Ausland, würde das Kind (vorbehaltlich einer ordre public-Kontrolle) von deutschen Eltern abstammen.77 In diesem Fall könnte das Kind sofort nach Deutschland einreisen;78 sein gewöhnlicher Aufenthalt im Ausland würde dann entfallen.79
2. Vorteile der schlichten Aufenthaltsanknüpfung
Eine Anknüpfung an den schlichten Kindesaufenthalt hingegen könnte ebendiese Defizite überwinden und birgt zugleich weitere Vorzüge.
a) Prinzip der räumlich engsten Verbindung
Durch die Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt kommt das Recht des Ortes zum Tragen, zu dem das Kind ungeachtet seiner bislang, absolut gesehen, kurzen Lebenszeit immerhin die längste und damit engste Verbindung seit seiner Geburt hat.80 Infolgedessen erübrigen sich auch rechtliche Unsicherheiten in den Fällen, in denen die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts anhand anderer Umstände scheitert, etwa weil das Kind noch keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.81 Eine solche Anknüpfung entspricht somit dem im Kollisionsrecht maßgeblichen Prinzip der räumlich engsten Verbindung und trägt gleichsam zur Rechtssicherheit bei.82
b) Ordnungs- und Verkehrsinteresse
Hinzukommend wird eine solche Anknüpfung auch den allgemeinen Ordnungsinteressen gerecht.83 Dem Verkehrsinteresse wird zunächst damit Rechnung getragen, dass das Abstellen auf den schlichten Aufenthaltsort des Kindes die Vorhersehbarkeit für alle Betroffenen gewährleistet und damit in besonderem Maße die Rechtssicherheit fördert, an der es bei der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt von Kleinstkindern bislang fehlt.
Daneben wird auch dem Ordnungsinteresse, das den äußeren und inneren Entscheidungseinklang fördern will, durch die Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt in erheblichem Maße gedient. Diese Anknüpfung stellt nämlich einen Gleichlauf inländischer und ausländischer Entscheidungen dergestalt her, dass das ausländische Abstammungsrecht im Inland für die Bestimmung der Abstammung maßgeblich wäre, sodass die Elternschaft der Wunscheltern auch im Inland begründet würde. Infolgedessen könnten hinkende Rechtsverhältnisse, die dem Kindeswohl zuwiderlaufen, vermieden werden.84
c) Teleologischer Kontext
Ebenso spricht der Gleichlauf mit weiteren das Kindeswohl schützenden Konventionen für die Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt. So sehen Art. 6 I, II KSÜ für Flüchtlingskinder, vertriebene Kinder und Kinder ohne gewöhnlichen Aufenthalt die Zuständigkeit der Behörden an deren schlichten Aufenthaltsort vor. Nach Art. 7 I Brüssel-IIb-VO i. V. m. Art. 15 I KSÜ soll für Kindesschutzmaßnahmen der gewöhnliche Aufenthalt ebenfalls im Ausland liegen, was eine Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt unterstützt.85
3. Ergebnis
Die vorstehenden Erwägungen verdeutlichen, dass der gewöhnliche Aufenthalt von Kleinstkindern als Anknüpfungsmoment, insbesondere in Fällen von Geburten während kurzfristiger Auslandsaufenthalte sowie in Konstellationen der Leihmutterschaft, erhebliche Schwächen aufweist.86 Eine Anknüpfung an den schlichten Kindesaufenthalt kann diese erheblich abmildern. Nach hier vertretener Auffassung ist die schlichte Aufenthaltsanknüpfung dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts allerdings auch durch Auslegung nicht zu entnehmen. Vielmehr gilt es, das Anknüpfungsmoment bei Kleinstkindern de lege ferenda durch den schlichten Aufenthalt zu ersetzen. Insofern Kindeswohlerwägungen der Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt im Einzelfall zuwiderlaufen, können diese im Rahmen des ordre public weiterhin zu einer nachträglichen Ergebniskorrektur beitragen.
E. Resümee
Der gewöhnliche Aufenthalt fungiert mittlerweile als zentrales Anknüpfungsmoment im IPR, wenn es darum geht, die Rechtsordnung zu identifizieren, mit der eine natürliche Person die engste Beziehung unterhält.
Zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts wird grundsätzlich auf die tatsächliche körperliche Anwesenheit von gewisser Dauer sowie auf die soziale Integration einer Person in einem Staat abgestellt. Aufgrund des geringen Alters sowie der fehlenden sozialen bzw. kulturellen Bindungen eines Kleinstkindes bereitet die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts anhand der allgemeinen Kriterien erhebliche Probleme.
Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen und dabei insbesondere das frühe Entwicklungsstadium der Kleinstkinder adäquat zu berücksichtigen, bietet sich die Verwendung anderer Anknüpfungsmomente an. Dabei erscheint eine Anknüpfung an den schlichten Kindesaufenthalt am geeignetsten. Die Gegenüberstellung der beiden Anknüpfungsmomente zeigt schließlich, dass anstelle des gewöhnlichen Aufenthalts de lege ferenda an den schlichten Kindesaufenthalt anzuknüpfen ist.
76 Vgl. Oldenburger, NZFam 2020, 460.
77 S. ausführlich zur griechischen Rechtslage Koutsouradis, FS Coester-Waltjen, 139 ff.
78 Vgl. Witzleb, FS Martiny, 217.
79 Heiderhoff, IPRax 2012, 525.
80 Siehr, IPRax 2015, 145; vgl. auch Fiorini, ICLQ 61 (2012), 538.
81 Hösel, Leihmutterschaft, 65.
82 Rentsch, ZEuP 2015, 306
83 Kegel/Schurig, IPR, § 2 II.
84 Henrich, FS Schwab, 1148 f.
85 MüKo/Helms, Art. 19 EGBGB Rn. 8.
86 Vgl. auch Heiderhoff, NJW 2014, 2676.