Die Zulässigkeit einer Kündigung wegen Whistleblowings

Anna Schneeberg*

A. Einführung

Mangelnde Corona-Schutzvorschriften, Gammelfleisch oder Hygienemängel in Altenpflegeheimen – in mehr als dreißig Prozent1 der deutschen Unternehmen sollen sich Arbeitgeber oder Arbeitnehmer im Jahr 2020 „illegal oder unethisch“ verhalten haben. Oft gelangen jene Missstände mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung jedoch nicht an die Öffentlichkeit. Für die Arbeitnehmer steht ihr Arbeitsplatz und damit ihre Existenzsicherung auf dem Spiel, sodass für viele das Prinzip: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ gilt.2

Die Problematik des Whistleblowings beschreibt die Handlung eines Arbeitnehmers, der intern, extern oder öffentlich auf Missstände im Unternehmen, die von Kollegen, Vorgesetzten oder dem Arbeitgeber verursacht wurden, aufmerksam macht.3 Whistleblowing ist sowohl offen, vertraulich, als auch anonym möglich.4 Das offene Whistleblowing im privaten Arbeitsverhältnis soll Gegenstand der Ausarbeitung sein.

Eine gesetzliche Regelung zum Whistleblowing gibt es trotz zahlreicher Gesetzesinitiativen bisher nicht. Das Richterrecht des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) setzt die Maßstäbe der aktuellen Rechtspraxis. Die europäische Whistleblower-Richtlinie (WBRL)5 und weitere Gesetzesinitiativen bringen eine neue Dynamik in den Diskurs.

Die Arbeit wird sich zunächst mit dem Whistleblowing als Kündigungsgrund auseinandersetzen (B) und die Maßstäbe der aktuellen Rechtspraxis (B.I.) sowie jene der WBRL (B.II.) darstellen. Es folgen Ausführungen zur Umsetzung der WBRL und zu entsprechenden Gesetzesentwürfen (B.III.).

Anschließend wird ein eigener Gesetzesentwurf als Antwort auf die Ausgangsfrage unter Berücksichtigung der Kritik an der aktuellen Rechtspraxis und der WBRL präsentiert (C), bevor die Arbeit mit einem Fazit schließt (D).

B. Whistleblowing als Kündigungsgrund

Ob eine Kündigung wegen Whistleblowings zulässig ist, entscheidet die aktuelle Rechtspraxis (B.I.), zu der die WBRL konkurrierend steht.

I. Aktuelle Rechtspraxis

Der Arbeitgeber kann dem Arbeitnehmer gemäß § 1 II Var. 2 KSchG ordentlich verhaltensbedingt6 oder gemäß § 626 I BGB außerordentlich7 kündigen, wenn eine arbeitsvertragliche Pflicht des Arbeitnehmers besteht und der Arbeitnehmer die verfassungsrechtlichen oder einfachgesetzlichen Grenzen der Pflicht durch Whistleblowing überschritten hat.

Den Arbeitnehmer trifft grds. die Loyalitätspflicht als sonstige Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag i.V.m. § 241 II BGB, in zumutbarem Umfang auf die geschäftlichen Interessen des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen und Geschäftsgeheimnisse, die er im Rahmen seiner Tätigkeit erfährt, zu wahren.8 Die Grenzen der Loyalitätspflicht ergeben sich aus einer Abwägung der deutschen und unionsrechtlichen Grundrechte, sowie der Menschenrechte.9 Die Grundrechte wirken über §§ 241 II, 242 BGB mittelbar auf das Arbeitsverhältnis.10

1. Interessen des Arbeitgebers

Der Arbeitgeber hat regelmäßig ein Interesse an dem Schutz seiner unternehmerischen Betätigungsfreiheit aus Art. 12 I GG und Art. 16 GRC. Die Rechtsprechung hebt insbesondere den Schutz der Reputation des Arbeitgebers im wirtschaftlichen Verkehr gemäß Art. 2 I, 12 I, 19 III GG in Abwägung mit dem öffentlichen Interesse hervor.11

2. Interessen des Arbeitnehmers

Dem gegenüber steht das Interesse des Arbeitnehmers an der Beseitigung der Missstände. Bei einem Hinweis sind die Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG12, Art. 10 EMRK13, Art. 11 GRC14), die Gewissensfreiheit (Art. 4 I Alt. 2 GG)15,


*Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School, Hamburg. Der Beitrag stellt eine überarbeitete und gekürzte Fassung ihrer Examensseminararbeit im Schwerpunktbereich Arbeitsrecht bei Prof. Dr. Matthias Jacobs dar.

1 Fachhochschule Graubünden, Softwarefirma EQS: Whistleblowing Report 2021, https://tinyurl.com/2u26je9a, zuletzt abgerufen am 15.11.2022.

2 Vgl. Überschrift Herbert/Oberrath, NZA 2005, 193.

3 SWK-ArbR/Mengel, Whistleblowing Rn. 1; Steigert, S. 25-26.

4 Vgl. Steigert, S. 25-26; SWK-ArbR/Mengel, Whistleblowing Rn. 7.

5 Richtlinie 2019/1937/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, ABl. EU Nr. L 305/17, S. 17.

6 BAG, 3.11.2011 − 2 AZR 748/10, NZA 2012, 607 Rn. 20; BeckOK/Rolfs, KSchG § 1 Rn. 58; NK-GA Bd. III/Kerwer, KSchG § 1 Rn. 760.

7 ErfK/Niemann, BGB § 626 Rn. 20; NK-GA Bd. II/Meyer, BGB § 626 Rn. 52.

8 BAG, 3.7.2003 – 2 AZR 235/02, BAGE 107, 36 Rn. 30; EGMR, 21.7.2011 – 2874/08, NZA 2011, 1269, 1271 Rn. 64 (Heinisch); MüKoBGB/Spinner, § 611a Rn. 993, 1007; Kreis, S. 19 ff.

9 St. Rspr. BVerfG, 26.3.1987 – 2 BvR 589/79, BVerfGE 74, 358 Rn. 35; BVerfG, 4.5.2011 – 2 BvR 2365/09, BVerfGE 128, 326 Rn. 86 ff.

10 BVerfG, 15.1.1958 – 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198 ff.; BAG, 3.7.2003 – 2 AZR 235/02, BAGE 107, 36 Rn. 31; BeckOK/Rolfs, KSchG § 1 Rn. 300.

11 EGMR, 21.7.2011 – 28274/08, NZA 2011, 1269, 1273 Rn. 89 (Heinisch); EGMR, 16.2.2021, 23922/19, NZA 2021, 851, 855 Rn. 85 (Gawlik); Ziegelmayer, GRUR 2012, 761, 762; Schmitt, RdA 2017, 365, 366; MüKoBGB/Henssler, § 626 Rn. 167.

12 Vgl. BeckOK/Schemmer, GG Art. 5 Rn. 4 ff.; Klaas, CCZ 2019, 163, 164.

13 EGMR, 21.7.2011 – 28274/08, NZA 2011, 1269, 1270 Rn. 41 ff. (Heinisch).

14 Preis/Sagan, W 20 Rn. 12; Calliess/Ruffert/Klingreen, GRC Art. 52 Rn. 24.

15 Vgl. BVerfG, 20.12.1960 – 1 BvL 21/60, BVerfGE 12, 45 Rn. 30; BeckOK/Germann, GG Art. 4 Rn. 87.

Schneeberg, Die Zulässigkeit einer Kündigung wegen Whistleblowings24

sowie das Recht auf Anzeige (Art. 2 I i.V.m. Art. 20 III GG)16 betroffen.

3. Interesse der Öffentlichkeit

Die Öffentlichkeit hat sowohl ein schutzwürdiges Interesse an der Rechtsdurchsetzung als auch an der Information über die Missstände in Unternehmen mit Bedeutung für die Allgemeinheit.17 Der EGMR18 befand etwa das öffentliche Interesse an der staatlichen Daseinsvorsorge im Altenpflegeheim als schutzwürdig.

4. Konkretisierung durch Kriterien der Rechtsprechung

Das BAG19 und der EGMR20 haben weitgehend entsprechende Kriterien aufgestellt, die die Interessenabwägung beim Whistleblowing zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit konkretisieren sollen.21 Die ergänzenden Kriterien sind: Motivation des Arbeitnehmers, Berechtigung der Anzeige und Vorrang interner Klärung.22 Es folgen jeweils eine Darstellung und eine Bewertung der einzelnen Kriterien.

a) Motivation des Arbeitnehmers

Zunächst können rechtsmissbräuchliche Beweggründe des Arbeitnehmers für eine Pflichtverletzung sprechen.23

Die Motivation des Arbeitnehmers ist jedoch weder für das öffentliche Informationsinteresse relevant, noch ist der Arbeitgeber schutzwürdiger, wenn der Arbeitnehmer aus Hass handelt.24 Zudem kann eine Motivation keine Pflicht verletzen.25

b) Berechtigung der Anzeige

Des Weiteren ergebe sich aus der Rücksichtnahmepflicht, dass der Arbeitnehmer „berechtigt“ gewesen sein muss, den Hinweis abzugeben.26 Der Arbeitnehmer muss zum Zeitpunkt der Meldung gutgläubig, nach einem subjektiven ex-ante-Maßstab, gewesen sein.27 Laut EGMR28 treffen den Arbeitnehmer Nachforschungsobliegenheit. Damit bleibt der konkrete Verschuldensmaßstab unklar.29

c) Vorrang innerbetrieblicher Abhilfe

Eine Kündigung sei unverhältnismäßig, wenn es keine milderen, gleich geeigneten Mittel im Vergleich zu der Anzeige gibt.30 Die Loyalitätspflicht aus §§ 241 II, 242 BGB gebiete es, Missstände primär gegenüber dem Vorgesetzten oder der zuständigen, innerbetrieblichen Stelle und nur subsidiär gegenüber Behörden anzuzeigen.31 Die Presse dürfe der Arbeitnehmer nur als ultima ratio zur Aufdeckung anders nicht beizukommender, gravierender32 Missstände einschalten.33 Interne Meldestellen schützen als milderes Mittel die Interessen des Arbeitgebers.34 Insgesamt ist der Vorrang interner Meldungen über vertrauliche Meldesysteme daher ein ausgeglichenes Abwägungsergebnis.

II. Konkurrenz durch europäische Whistleblower-Richtlinie

Die aktuelle Rechtspraxis steht in Konkurrenz zur WBRL35 vom 16. Dezember 2019, die gemäß Art. 26 I WBRL bis zum 17.12.2021 als unionsweit einheitliches Mindestschutzniveau von Hinweisgebern36 in nationales Recht umgesetzt werden sollte.

1. Regelungsgegenstände zur Kündigung

Die WBRL schützt Hinweisgeber i.S.d. Art. 4 WBRL vor einer Kündigung (Art. 19 lit. a WBRL), wenn der Hinweisgeber einen Verstoß im Unternehmen gegen die in Art. 2 I lit. a-c i.V.m. Anhang Teil I WBRL aufgelisteten EU-Rechtsakte meldet.37 Die Richtliniengeber dürfen wegen der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 II EUV den Anwendungsbereich nicht auf nationales Recht ausweiten.38 Gemäß Art. 19 lit. a Var. 2 WBRL ist eine Kündigung wegen Whistleblowings verboten. Der folgende Teil erläutert die kündigungsrelevanten Kriterien der WBRL.


16 Vgl. BVerfG, 2.7.2001 – 1 BvR 2049/00, NZA 2001, 888, 889.

17 EGMR, 21.7.2011 – 28274/08, NZA 2011, 1269, 1271 Rn. 71 (Heinisch); Rudkowski, CCZ 2013, 204, 207; Kreis, S. 48; Colneric/Gerdemann, S. 166 ff.

18 EGMR, 21.7.2011 – 28274/08, NZA 2011, 1269, 1273 Rn. 90 (Heinisch).

19 BAG, 3.7.2003 – 2 AZR 235/02, BAGE 107, 36 Rn. 38 ff.; BAG, 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, NZA 2017, 703 Rn. 14.

20 EGMR, 21.7.2011 – 28274/08, NZA 2011, 1269 Rn. 64 (Heinisch); EGMR, 21.6.2016 – 79972/12 Rn. 42 (Soares).

21 Vgl. MüKoBGB/Henssler, § 626 Rn. 184; EuArbRK/Schubert, EMRK Art. 10 Rn. 38; Schmitt, NZA-Beilage 2020, 50, 51.

22 BAG, 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, NZA 2017, 703 Rn. 14; EGMR, 21.7.2011 – 28274/08, NZA 2011, 1269 Rn. 64 (Heinisch); EGMR, 21.6.2016 – 79972/12 Rn. 42 (Soares).

23 Vgl. BAG, 3.7.2003 – 2 AZR 235/02, BAGE 107, 36 Rn. 39; EGMR, 21.7.2011 – 28274/08, NZA 2011, 1269, 1272 Rn. 80 (Heinisch); Staudinger/Preis, § 626 Rn. 131a.

24 Wendeling-Schröder, RdA 2004, 374, 377; Berthold, S. 74.

25 Rudkowski, CCZ 2013, 204, 206; Klaas, CCZ 2019, 163, 167; krit.: Sasse, NZA 2008, 990, 992.

26 LAG Hamm, 21.7.2011 – 11 Sa 2248/10, RDG 2012, 72, 73; ErfK/Niemann, BGB § 626 Rn. 64a; Brungs, 122 ff.

27 BVerfG, 2.7.2001 – 1 BvR 2049/00, NZA 2001, 888, 890; Gerdemann, NJW 2021, 2324, 2326; ausweitend auf Rechtsirrtümer so auch: BAG, 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, NZA 2017, 703, 704 Rn. 16.

28 EGMR, 12.2.2008 – 14277/04 (Guya); EGMR, 16.2.2021, 23922/19, NZA 2021, 851, 853 Rn. 68 (Gawlik).

29 Vgl. BVerfG, 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307, 315 ff.; Gerdemann, NJW 2021, 2324, 2326.

30 BAG, 3.7.2003 – 2 AZR 235/02, BAGE 107, 36 Rn. 40 ff.; Herbert/Oberrath, NZA 2005, 193, 197.

31 BAG, 3.7.2003 – 2 AZR 235/02, BAGE 107, 36 Rn. 38; BAG, 15.12.2016 – 2 AZR 42/16, NZA 2017, 703, 704 Rn. 14; EGMR, 21.7.2011 – 2874/08, NZA 2011, 1269, 1271 Rn. 65 (Heinisch).

32 Beachte § 17 UWG; Zimmer/Seebacher, CCZ 2013, 31, 32 m.w.N.

33 Staudinger/Preis, § 626 Rn. 133; Schmitt, RdA 2017, 365, 366.

34 BAG, 3.7.2003 ‒ 2 AZR 235/02, NZA 2004, 427, 430; Brungs, S. 139.

35 RL 2019/1937/EU (Fn. 6), S. 17.

36 Vgl. Art. 1 WBRL; Steinhauser/Kreis, EuZA 2021, 422, 423.

37 ErfK/Preis, BGB § 611a Rn. 719a; Steinhauser/Kreis, EuZA 2021, 422, 423.

38 Colneric/Gerdemann, S. 149; Forst, EuZA 2020, 283, 285.

Schneeberg, Die Zulässigkeit einer Kündigung wegen Whistleblowings25

a) Motivation des Arbeitnehmers

Der Schutz der WBRL ist entgegen der Rechtsprechung des BAG39 und des EGMR40 nicht an eine bestimmte Motivlage des Hinweisgebers geknüpft.41 Lediglich böswillige oder missbräuchliche Meldungen sind laut WBRL nicht schutzwürdig.42 Das rechtsstaatliche Interesse am Normenvollzug eines unionsweit einheitlichen Mindestschutzniveaus sei relevanter als die Motive des Hinweisgebers.43

b) Berechtigung der Anzeige

Der Hinweisgeber ist gegen eine Kündigung des Arbeitgebers geschützt, wenn er gemäß Art. 6 I lit. a WBRL eine begründete Annahme zum Zeitpunkt der Meldung oder Offenlegung hat, dass die gemeldeten Informationen der Wahrheit entsprechen und in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen.44 Art. 5 I lit. a WBRL erfasst gutgläubige Hinweisgeber, sodass der Verschuldensmaßstab einheitlich ist. Probleme bereiten jedoch die knappen Gutglaubensbestimmungen, die einen weiten Interpretationsspielraum lassen.

c) Fehlender innerbetrieblicher Vorrang

Die WBRL unterscheidet gemäß Art. 5 Nr. 4-6 WBRL nach internen Meldungen innerhalb von Unternehmen, externen Meldungen an zuständige Behörden und dem öffentlichen Zugänglichmachen von Informationen über Verstöße als sog. „Offenlegung“. Gemäß Art. 10 WBRL können die Hinweisgeber wählen, ob sie einen Verstoß intern oder extern melden. Einen Vorrang innerbetrieblicher Abhilfe gibt es laut WBRL nicht.45

Die WBRL differenziert des Weiteren nach Meldungen an Behörden und an die Öffentlichkeit. Wenn die Behörde nicht innerhalb einer bestimmten Zeit46 auf Hinweise reagiert und Abhilfe geschaffen hat, darf der Whistleblower gemäß Art. 15 I lit. a WBRL öffentliche Stellen alarmieren.47 Gemäß Art. 6 I lit. b i.V.m. Art. 10 WBRL hat der Hinweisgeber die Wahl, ob er den Missstand intern oder extern meldet. Einen Vorrang der internen Meldung gibt es nicht.48

d) Darlegungs- und Beweislast

Anders als nach den allgemeinen Beweisgrundsätzen49 sieht die WBRL eine Beweislastumkehr in Art. 21 V WBRL vor, nach welcher der Unternehmer den Zusammenhang zwischen der Meldung des Arbeitnehmers und der Kündigung darlegen und beweisen muss.50 Der Schutz vor Kündigungen gegenüber den allgemeinen Beweisgrundsätzen solle damit vereinfacht werden.51

e) Zwischenergebnis

Die WBRL hat einige Schutzlücken der Rechtsprechung geschlossen (Motivation, einheitlicher Verschuldensmaßstab), die Anzahl an neuen Schutzlücken überwiegt aber (Wahl der Meldestelle, knappe Gutglaubensvorschriften, Mittäter und Teilnehmer). Als Sekundärrecht gilt die WBRL zunächst nicht unmittelbar. Die Schutzlücken kann der nationale Gesetzgeber noch schließen.

III. Umsetzung der europäischen Whistleblower-Richtlinie

Eine fristgemäße Umsetzung der WBRL scheiterte in der Großen Koalition im Jahr 2021.52 Die kündigungsschutzrechtlichen Konsequenten für Arbeitnehmer in privaten Arbeitsverhältnissen sind unklar. Allerdings hat das BMJV kürzlich einen neuen Referentenentwurf angefertigt.

1. Vergebliche Gesetzesinitiative in der Großen Koalition

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) hat für die Umsetzung der WBRL im November 2020 einen nicht veröffentlichten Referentenentwurf für ein Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG-E 2020) erarbeitet.53 Der Referentenentwurf scheiterte im April 2021 in der Ressortabstimmung der beteiligten Bundesministerien.54 Die Regelungen des HinSchG-E 2020 beschränken sich auf das Nötigste und unterschreiten obendrein das Schutzniveau der WBRL an einigen Stellen.55 Insbesondere der Verschuldensmaßstab, die Unbeachtlichkeit der Motivation des Hinweisgebers, die Voraussetzungen zum Schutz vor Repressalien und die Beweislast entsprechen den Vorschriften der WBRL. Die Gestaltungsspielräume der WBRL nutzte das BMJV nicht.56

2. Schutz der Whistleblower nach Ablauf der Umsetzungsfrist

Die Umsetzungsfrist der WBRL lief am 17. Dezember 2021 gemäß Art. 26 I WBRL ohne die Verabschiedung eines Gesetzes der Bundesregierung ab. Die EU-Kommission hat daraufhin am 27. Januar 2022 gemäß Art. 258 AEUV ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland


39 Vgl. BAG, 3.7.2003 – 2 AZR 235/02, BAGE 107, 36 Rn. 39.

40 EGMR, 21.7.2011 – 2874/08, NZA 2011, 1269 (Heinisch); EGMR, 16.2.2021 – 23922/19, NZA 2021, 851 (Gawlik).

41 EG 32 RL 2019/1937/EU (Fn. 6), S. 23; EuArbRK/Fest, RL (EU) 2019/1937 Art. 6 Rn. 5; Krause, SR 2019, 138, 151; Schmolke, NZG 2020, 5, 6.

42 Vgl. EG 32 RL 2019/1937/EU (Fn. 6), S. 23; EuArbRK/Fest, RL (EU) 2019/1937 Art. 6 Rn. 5; Schmolke, ZGR 2019, 877, 910.

43 Vgl. Kreis, S. 170 ff.; Krause, SR 2019, 138, 151.

44 Thüsing/Rombey, NZG 2018, 1001, 1005; Schmitt, NZA-Beilage 2020, 50, 55 ff.; Steinhauser/Kreis, EuZA 2021, 422, 427.

45 Vgl. Forst, EuZA 2020, 283, 296; Gerdemann, NZA-Beilage 2020, 43, 48; Gerdemann/Spindler, ZIP 2020, 1896, 1900 ff.; Schmolke, NZG 2020, 5, 9.

46 Vgl. Art. 9 I lit. f, 11 II lit. d RL 2019/1937/EU (Fn. 6), S. 39.

47 ErfK/Preis, BGB § 611a Rn. 719c; Preis/Sagan, W 20 Rn. 13.

48 Vgl. Schmolke, NZG 2020, 5, 9 m.w.N.

49 Vgl. BeckOK/Baumgärtner, BGB § 612a Rn. 9; MüKoBGB/Müller-Glöge, § 612a Rn. 24.

50 Vgl. ErfK/Preis, BGB § 611a Rn. 719c; Colneric/Gerdemann, S. 119.

51 EG 93 RL 2019/1937/EU (Fn. 6), S. 31-32; Gerdemann, RdA 2019, 16, 26.

52 Kutsche: Neues Gesetz soll Whistleblower schützen; https://tinyurl.com/2s3suam7, zuletzt abgerufen am 15.11.2022.

53 BMJV: HinSchG-E 2020, https://tinyurl.com/tkhwjb2e, zuletzt abgerufen am 15.11.2022.

54 Kutsche: Neues Gesetz soll Whistleblower schützen, https://tinyurl.com/2s3suam7, zuletzt abgerufen am 15.11.2022.

55 Schmolke, NZG 2020, 5, 9; Dilling, CCZ 2021, 60.

56 Schmolke, NZG 2020, 5, 9; Dilling, CCZ 2021, 60.

Schneeberg, Die Zulässigkeit einer Kündigung wegen Whistleblowings26

eingeleitet.57 Was bedeutet das für die Zulässigkeit von Kündigungen wegen Whistleblowings?

a) Beschränkte unmittelbare Wirkung der Schutzvorhaben

Der Umsetzungsausfall58 könnte nach Art. 288 III AEUV, Art. 4 III EUV und den unionsrechtlichen Grundsätzen effet utile und estoppel zu einer unmittelbaren Wirkung der WBRL führen.59 Dafür müssen die Vorschriften der WBRL inhaltlich unbedingt („self-executing“-Normen) und hinreichend bestimmt sein.60 Aufgrund des Sanktionsgedanken des Art. 288 III AEUV wirken Richtlinien grds. lediglich vertikal unmittelbar im öffentlichen Sektor.61 Die WBRL schützt aber nur Meldungen, die gemäß Art. 11 ff. WBRL an spezielle Whistleblower-Behörden abgegeben wurden. Der Umsetzungsspielraum der Art. 11 ff. WBRL ist erheblich und damit nicht hinreichend bestimmt für eine unmittelbare Wirkung der Normen.62 Folglich scheitert ein unmittelbarer Schutz.

b) Richtlinienkonforme Auslegung

Die Schutzvorhaben der WBRL könnten sich außerdem im Rahmen einer richtlinienkonformen Auslegung nationaler Normen auf das private Arbeitsverhältnis auswirken. Die Grenze der richtlinienkonformen Auslegung bilden die allgemeinen Rechtsgrundsätze.63 Die WBRL weicht erheblich von der Rechtsfortbildung, die die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Whistleblowings bestimmt – ab, sodass die Gerichte ihre aktuelle Rechtsprechung aufgeben werden müssen.64 Außerdem darf sich eine richtlinienkonforme Auslegung nur auf Verstöße gegen Unionsrecht beschränken, um das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu wahren.65

3. Warten auf „die Ampel“ – Bewertung der aktuellen Lage

Am 5. April 2022 hat das BMJV einen (inoffiziellen) Referentenentwurf für ein „Gesetz für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen“ (HinSchG-E 2022)66 zur Abstimmung an die Ministerien geschickt.67 Das Bundeskabinett hat am 27. Juli 2022 einen Regierungsentwurf für das Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) beschlossen.68

Der Referentenentwurf ist ernüchternd. Der Gesetzesentwurf entspricht weitgehend dem HinSchG-E 2020. Es gibt keine kündigungsschutzrelevanten Abweichungen.

C. Eigener Gesetzesentwurf

Bisher gibt es in Deutschland keine zufriedenstellende und rechtssichere Lösung für die Frage, ob eine Kündigung wegen Whistleblowings zulässig ist.69 Wie würde ein potenzieller Gesetzesentwurf aussehen, der (endlich) mehr Rechtssicherheit und ein höheres Schutzniveau für die Zulässigkeit einer Kündigung wegen Whistleblowings schafft?

I. Verortung im AGG

Die Regelungen der WBRL zur Zulässigkeit einer Kündigung wegen Whistleblowings sollen als Ergänzungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) umgesetzt werden.70

Ausgangspunkt für die Verortung im AGG ist das Repressalienverbot des Art. 19 WBRL.71 Grds. ähnelt eine Kündigung wegen Whistleblowings einer Benachteiligung nach § 3 AGG. Der Arbeitnehmer übt über das Whistleblowing seine Grundrechte aus und sollte deshalb ebenfalls keine Benachteiligungen im Arbeitsverhältnis erfahren müssen.

1. Lösung der Systemfremdheit

Die Diskriminierungskategorien des § 1 AGG sind naturgegeben (Geschlecht, „Rasse“72) oder der bewussten menschlichen Wahl entzogen (Religion, Weltanschauung).73 Whistleblowing ist hingegen ein bewusstes Verhalten.74 Eine Verortung des Whistleblowings im AGG könnte daher „systemfremd“ sein.75 Daher soll Whistleblowing nicht mit § 1 AGG gleichgestellt, sondern als „verhaltensbedingte Benachteiligung“ als § 1a AGG ergänzt werden. Der Unterschied der beiden Benachteiligungsverbote wird so betont. Gleichzeitig wird deutlich, dass Whistleblowing ebenfalls ein Tatbestand ist, der zur allgemeinen Gleichbehandlung passt. Eine Ergänzung des AGG durch das Whistleblowing als „verhaltensbedingte Benachteiligung“ ist dem AGG somit nicht systemfremd.


57 DataGuidance: EU: Commission launches infringement procedures against Member States for failure to transpose Whistleblowing Directive, https://tinyurl.com/mve7jcdy, zuletzt abgerufen am 15.11.2022.

58 Calliess/Ruffert/Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 52.

59 Ständige Rspr. EuGH: Vgl. EuGH, 4.12.1974 – 41/74, NJW 1975, 2165 (Van Duyn); EuGH, 26.2.1986 – 152/84 Rn. 46; Calliess/Ruffert/Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 49.

60 EuGH, 5.4.1979 – Rs 148/78 (Ratti); Calliess/Ruffert/Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 54.

61 EuGH, 26.2.1986 – 152/84, NJW 1986, 2178 (Marshall); Streinz/W. Schroeder, AEUV Art. 288 Rn. 99 ff.

62 Colneric/Gerdemann, S. 64 ff.; Gerdemann, NJW 2021, 3489, 3492 Rn. 15, 23.

63 BVerfG, 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06, NJW 2012, 669 Rn. 47; EuGH, 16.7.2009 – C-12/08, ZIP 2010, 52 Rn. 61 (Mono Car Styling); Gerdemann, NJW 2021, 3489, 3493 Rn. 29.

64 Gerdemann, NJW 2021, 3489, 3494 Rn. 31.

65 Colneric/Gerdemann, S. 70; Gerdemann, NJW 2021, 3489, 3494 Rn. 33.

66 BMJV: HinSchG-E 2022, https://tinyurl.com/bdemjnnc, zuletzt abgerufen am 15.11.2022.

67 Roßmann: Neuer Gesetzesentwurf: Schutz für Whistleblower, https://tinyurl.com/y2hb2yvm, zuletzt abgerufen am 15.11.2022.

68 Integrityline: Hinweisgeberschutzgesetz – Alle Infos zur Umsetzung, https://tinyurl.com/ysr5t4y2, zuletzt abgerufen am 15.11.2022. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses wurde das Gesetz noch nicht verabschiedet.

69 Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP), S. 88, https://tinyurl.com/2ahfvmst, zuletzt abgerufen am 15.11.2022.

70 Vgl. Garden/Hiéramente, BB, 2019, 963, 966; Gerdemann, NZA-Beilage 2020, 43, 47 ff.

71 Vgl. Colneric/Gerdemann, S. 171.

72 „Fehler“ in der Wortwahl, „Rassifizierung“ als „naturgemäß“ vom Menschen gemacht, § 1 AGG normiert aber den Begriff.

73 Forst, EuZA 2013, 37, 62; Kreis, S. 199.

74 Forst, EuZA 2013, 37, 62; Kreis, S. 199.

75 Vgl. Forst, EuZA 2013, 37, 62; Kreis, S. 199.

Schneeberg, Die Zulässigkeit einer Kündigung wegen Whistleblowings27

2. Umfangreicher Schutz der Whistleblower

Ein weiterer Vorteil an der Implementierung in das AGG ist, dass der Hinweisgeber wegen des umfassenden Repressalienverbotes des Art. 19 WBRL nicht nur vor Kündigungen, sondern gemäß §§ 2 AGG i.V.m. § 1a AGG auch vor anderen Benachteiligungen geschützt ist.

Mit der Aufnahme des Whistleblowings ins AGG wird der Gesetzgeber daher dem „Dilemma“ der Whistleblower gerecht, das weitaus umfangreicher ist als die Sorge vor einer Kündigung und löst somit den Gewissenskonflikt des Arbeitnehmers.76

3. Passende Systematik des AGG

Der persönliche Anwendungsbereich des AGG in § 6 AGG ist ebenfalls Ergebnis einer unionsrechtlichen Umsetzung,77 sodass der Anwendungsbereich auch auf die kündigungsschutzrechtlichen und antidiskriminierungsrechtlichen Aspekte der WBRL passt.

Außerdem entspricht die Beweislastumkehr des § 22 AGG der des Art. 21 V WBRL. Der Arbeitgeber muss in beiden Fällen den Zusammenhang zwischen der Meldung des Arbeitnehmers und der Benachteiligung darlegen und beweisen.78

Zuletzt sprechen die Organisationspflichten des Arbeitgebers in §§ 11, 12 AGG, sowie die Rechte der Beschäftigten in §§ 13-16 AGG für eine passende Systematik des AGG für das Whistleblowing.

II. Entwurf eines Gesetzes zum Schutz vor Kündigungen und sonstigen Benachteiligungen von Hinweisgebern

Es folgt der eigene Gesetzesentwurf der Verfasserin.

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), das zuletzt durch Art. 8 SEPA-BegleitG v. 3.4.2013 (BGBl. I S. 610) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:

1. § 1 AGG wird wie folgt geändert:

Der Titel wird in „Personenbedingte Benachteiligungen“ geändert.

2. § 7 AGG wird wie folgt geändert:

Der Titel wird in „Personenbedingtes Benachteiligungsverbot“ geändert.

3. Nach § 1 AGG wird folgender § 1a AGG angefügt:

„§ 1a AGG: Verhaltensbedingte Benachteiligungen

Eine sekundäre Zielsetzung des Gesetzes ist es, Benachteiligungen aufgrund eines grundrechtlich geschützten Verhaltens zu verhindern oder zu beseitigen, dazu gehört Whistleblowing.“

4. § 3 AGG wird wie folgt geändert:

Folgender Absatz 6 wird angefügt:

„(6) 1Whistleblowing i.S.d. § 1a Nr. 1 liegt vor, wenn eine Person Informationen über einen Verstoß des Arbeitgebers, eines Vorgesetzten oder eines Mitarbeiters gegen Strafrecht oder Ordnungswidrigkeitenrecht, der Geschäftsgeheimnisse beinhaltet, gutgläubig nach § 276 I BGB meldet oder offenlegt. 3Whistleblowing liegt nicht vor, wenn die Person selbst mit dem Verstoß als Täter, Mittäter oder Teilnehmer im Zusammenhang steht.“

5. Nach § 7 AGG wird folgender § 7a AGG angefügt:

㤠7a AGG: Verhaltensbedingtes Benachteiligungsverbot

(1) Personen in einem Arbeitsverhältnis dürfen nicht wegen eines in § 1a genannten verhaltensbedingten Grundes benachteiligt werden.

(2) Ein absolutes Kündigungsverbot besteht bei Whistleblowing an interne und externe Meldestellen. Dafür muss der Hinweisgeber geltend machen, die Voraussetzungen des § 3 V zu erfüllen.

(3) 1Ein relatives Kündigungsverbot besteht bei Whistleblowing an die Öffentlichkeit oder unzuständige Stellen.
2Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Whistleblowers durch den Arbeitgeber bedarf der vorherigen Zustimmung nach pflichtgemäßem Ermessen der Behörde. 3Die Behörde hat die Kündigung abzulehnen, wenn:

[1.] der Hinweisgeber den Verstoß zunächst intern oder extern gemeldet hat und in einer angemessenen Frist die Behörde keine Folgemaßnahmen angekündigt oder ergriffen hat, oder

[2.] die Interessen der Öffentlichkeit die Interessen des Arbeitgebers erheblich überwiegen. Die Interessen der Öffentlichkeit überwiegen erheblich, wenn der Verstoß wegen eines Notfalls, der Gefahr irreversibler Schäden oder vergleichbarer Umstände eine unmittelbare oder offenkundige Gefährdung des öffentlichen Interesses darstellen kann oder Beweismittel unterdrückt oder vernichtet werden könnten.

(4) Eine Benachteiligung nach Abs. 1 durch Arbeitgeber oder Beschäftigte ist eine Verletzung vertraglicher Pflichten.“


76 Vgl. Art. 19 RL 2019/1937/EU (Fn. 6), S. 43; Gerdemann, NZA-Beilage 2020, 43, 49.

77 Umsetzung der RL 2000/43/EG; 2000/78/EG; 2002/73/EG; 2004/113/EG.

78 Vgl. ErfK/Preis, BGB § 611a Rn. 719c; Colneric/Gerdemann, S. 119.

Schneeberg, Die Zulässigkeit einer Kündigung wegen Whistleblowings28

III. Gesetzesbegründung

1. Abgrenzung „personenbedingt“ und „verhaltensbedingt“

Der Entwurf differenziert in Anlehnung an § 1 II 1 KSchG zwischen „personenbedingt“ in § 1 AGG und § 7 AGG und „verhaltensbedingt“ in § 1a AGG und § 7a AGG. Die Differenzierung verdeutlicht den Unterschied zwischen den „naturgegebenen oder der eigenen Wahl entzogenen“79 Diskriminierungskategorien im AGG einerseits und andererseits dem Whistleblowing als Handlung.

2. Verschuldensmaßstab

Ein Hinweisgeber ist gemäß § 3 VI AGG nur von dem Benachteiligungsverbot des AGG erfasst, wenn er gutgläubig handelt und damit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach § 276 I BGB bei der Überprüfung des Wahrheitsgehalts der Meldung eingehalten hat.80

Maßgeblich ist die Perspektive eines vernünftig handelnden und gewissenhaft denkenden Arbeitnehmers, der sich bei Zweifeln Rechtsbeistand sucht. Dabei gilt: Je schwerwiegender die Äußerung das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt, umso höher sind die Anforderungen an die Erfüllung der Sorgfaltspflichten.81

3. Verhaltensbedingtes Benachteiligungsverbot

Gemäß §§ 7a, 1a, 2 I Nr. 2 AGG bestehen absolute Kündigungsverbote i.S.d. § 134 BGB als dogmatische Anknüpfung einer zulässigen Kündigung wegen Whistleblowings. Die Voraussetzungen des KSchG müssen dafür nicht erfüllt sein.82

Die Begriffsbestimmungen der internen (Art. 5 Nr. 4 WBRL) und externen (Art. 5 Nr. 5 WBRL) Meldung sowie der „Offenlegung“ (Art. 5 Nr. 6 WBRL) entsprechen denen der WBRL.

Der Kündigungsschutz der § 7a II-III AGG ist nach zwei Stufen aufgebaut.83

a) Absolutes Kündigungsverbot

Die erste Stufe ist das absolute Kündigungsverbot in § 7a II AGG wegen interner oder externer Meldungen.

Die Norm setzt Art. 10 WBRL um, indem sie die Wahl des Meldekanals ins Ermessen des Arbeitnehmers stellt. Wenn der Arbeitnehmer nach Art. 6 I lit. b i.V.m. Art. 10 WBRL selbst entscheiden kann, ob er sich direkt an die zuständigen Behörden wendet oder zunächst innerbetrieblich Abhilfe sucht, muss der Arbeitnehmer auch bei beiden Meldeformen gleich vor einer Kündigung geschützt sein.

Die Verfassungsmäßigkeit des Art. 10 WBRL ist zwar unklar, dennoch bietet die WBRL den Mitgliedstaaten keinen Gestaltungsspielraum, hinsichtlich eines Vorrangs interner Meldungen.84 Insbesondere Art. 7 II WBRL verleiht den Mitgliedstaaten keinen Gestaltungsspielraum Eine Übernahme des Vorrangs der internen Meldung nach dem ultima-ratio-Prinzip der Rechtsprechung in die Umsetzung der WBRL wäre daher nicht vereinbar mit der WBRL.

b) Relatives Kündigungsverbot

Die zweite Stufe bildet das relative Kündigungsverbot in § 7a III AGG, das die Offenlegung nach Art. 15 WBRL umsetzt. Bei einer Meldung an die Öffentlichkeit besteht die Gefahr, dass der Arbeitgeber einen Reputationsschaden erleidet, weshalb die Offenlegung grds. gemäß Art. 15 I lit. a, b WBRL das letzte Mittel des Hinweisgebers sein soll. Daher statuiert § 7a III AGG ein relatives Kündigungsverbot mit vorherigem Zustimmungserfordernis der Behörde.

Die Regelung ist an das Zustimmungserfordernis des Integrationsamtes der Kündigung eines Schwerbehinderten aus § 168 SGB IX angelehnt. Ein Zustimmungserfordernis schützt bestimmte Personengruppen, die aufgrund persönlicher Merkmale (temporär oder dauerhaft) besonders schutzwürdig sind.85

Der Whistleblower ist ebenfalls in einer schutzwürdigen Position nach einer Meldung an die Öffentlichkeit. Grds. soll zwar ein Kündigungsverbot zum Schutz des Arbeitnehmers bestehen, da die Offenlegung aber ultima-ratio sein soll, soll die Kündigung nach § 7a III 2 AGG unter den Erlaubnisvorbehalt der Behörde gestellt werden. Die Behörde soll bestätigen, dass die Voraussetzungen des Whistleblowers vorliegen und der Hinweisgeber sich berechtigt an die Öffentlichkeit gewandt hat.86

Der Arbeitnehmer muss dafür binnen angemessener Frist87 geltend machen, unter die Voraussetzungen des Whistleblowings nach § 3 VI AGG zu fallen. Die Behörde hat gemäß § 7a III 3 Nr. 1, 2 AGG nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Die Frist soll dem Arbeitgeber und der Behörde einen Anreiz bieten, rechtzeitig ordnungsgemäße Folgemaßnahmen zu ergreifen.88

Eine Belastung der Behörden durch das Zustimmungserfordernis wird insbesondere unter Bereitstellung des in dem aktuellen Referentenentwurf des BMJV aufgestelltem Budget89 nicht erwartet. Anders als der HinSchG-E 2022 liefert der vorliegende Gesetzesentwurf zu den Ausgaben einen äquivalenten Gewinn für den Schutz und für die Rechtssicherheit des Arbeitnehmers.


79 Bezeichnung von: Kreis, S. 199.

80 Simonet, RdA 2013, 236, 239; Klaas, CCZ 2019, 163, 167.

81 BVerfG, 25.6.2009 – 1 BvR 134/03, NJW-RR 2010, 470, 472 Rn. 62.

82 Vgl. Colneric/Gerdemann, S. 118.

83 Vgl. Thüsing/Rombey, NZG 2018, 1001, 1003.

84 Vgl. Colneric/Gerdemann, S. 98; anders: Frankreich, s. Querenet-Hahn/Kettenberger, CB 2017, 8 ff.

85 Vgl. LPK-SGB IX/Düwell, § 168 Rn. 3.

86 Vgl. LPK-SGB IX/Düwell, § 168 Rn. 2.

87 Vgl. BAG, 23.2.2010 – 2 AZR 659/08, BAGE 133, 249 Rn. 16: Drei Wochen, Analogie zu § 4 S. 1 KSchG.

88 Vgl. Colneric/Gerdemann, S. 104.

89 Vgl. HinSchG-E 2022 (Fn. 54), S. 40-59.

Schneeberg, Die Zulässigkeit einer Kündigung wegen Whistleblowings29

D. Fazit und Ausblick

1. Eine Kündigung wegen Whistleblowings ist nach der aktuellen Rechtspraxis zulässig, wenn der Arbeitnehmer wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht hat oder rechtswidrige oder unethische Ziele verfolgt. Neben dogmatischen Unstimmigkeiten sind insbesondere der unklare Verschuldensmaßstab und die Beachtlichkeit der Motivation des Hinweisgebers Schutzlücken der Rechtspraxis.

2. Die Schutzlücken werden durch die WBRL nur teilweise gefüllt. Die Motivation des Hinweisgebers ist nach der WBRL irrelevant. Die Grenze bilden böswillige oder missbräuchliche Meldungen. Außerdem statuiert die WBRL eine Beweislast zugunsten des Hinweisgebers.

3. Daneben entstehen durch die WBRL neue Schutzlücken. Dazu zählen die Wahl des Meldekanals durch den Hinweisgeber, sowie der unbestimmte Rechtsbegriff „begründete Annahme“, der das Verschulden regelt.

4. Der HinSchG-E 2020 sollte die WBRL überschießend umsetzen. Vorgesehen war eine Übernahme der WBRL mit ihren Kritikpunkten und ohne Nutzung der Gestaltungsspielräume. Der Entwurf scheiterte jedoch und die Umsetzungsfrist lief ab.

5. Die WBRL wirkt nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht unmittelbar horizontal im Privatsektor gemäß Art. 288 III AEUV, Art. 4 III EUV.

6. Die Arbeitsgerichte müssen das nationale Recht richtlinienkonform auslegen und daher die aktuelle Rechtspraxis hinsichtlich Meldungen von Verstößen gegen Unionsrecht verwerfen.

7. Der neue HinSchG-E 2022 entspricht weitgehend dem HinSchG-E 2020. Es gibt keine kündigungsschutzrelevanten Abweichungen.

8. Die Implementierung einer „verhaltensbedingten Benachteiligung“ im AGG ist ein Gegenentwurf zu den bisherigen gescheiterten Gesetzesentwürfen zur Umsetzung der WBRL. Der Entwurf fokussiert den Schutz des Hinweisgebers vor Benachteiligungen und liefert mit den gestaffelten Kündigungsverboten eine dogmatische Lösung für die Frage nach der Zulässigkeit einer Kündigung wegen Whistleblowings.

Der HinSchG-E 2022 wird voraussichtlich Anfang 2023 in Kraft treten – ein weiteres Spezialgesetz mit 42 Paragrafen, unbestimmten Rechtsbegriffen und ungenauen Maßstäben im „Dschungel“ des Arbeitsrechts. Das neue Gesetz behebt weder umfassend die Ausgangsprobleme der aktuellen Rechtspraxis noch liefert es eine dogmatische Lösung für die Frage der Zulässigkeit einer Kündigung wegen Whistleblowings.

Was bedeutet die aufgezeigte rechtliche Situation mutmaßlicher Weise für das zukünftige Handeln von Arbeitnehmern, die eigentlich gewillt wären, die Öffentlichkeit über einen Missstand zu informieren? Mangels Transparenz und Rechtssicherheit werden Arbeitnehmer besser von Anfang an wegschauen, als eine Kündigung oder Schikane zu riskieren – ein fatales Fazit für das deutsche Arbeitsrecht und die deutsche Wirtschaft.