Die Rechtskraft ausländischer Schiedssprüche – Analyse des kollisionsrechtlichen Status quo

Christoph Timm*

Im Streit befindliche Parteien, die ein Schiedsverfahren einleiten, möchten ihre Rechte und Pflichten endgültig geklärt wissen. Das prozessuale Pendant dieser Parteierwartung ist die Rechtskraft des Schiedsspruchs (res iudicata). Sie stellt sicher, dass der zwischen den Parteien ergangene Schiedsspruch Beachtung in einem nachfolgenden Gerichtsprozess findet.

Die Rechtskraft ist ein international anerkanntes1 Rechtsinstitut, das ursprünglich für Urteile entwickelt wurde. Der Rechtskraft werden gemeinhin zwei grundlegende Wirkungen zuerkannt.2 Erstens besagt der Grundsatz des ne bis in idem, dass über denselben Streitgegenstand nicht neu verhandelt und entschieden werden darf (Präklusionswirkung).3 Zweitens ist der Richter eines Folgeverfahrens an eine rechtskräftige Entscheidung gebunden, soweit sie für den zweiten Rechtsstreit präjudiziell ist (Bindungswirkung).4

Obgleich die Rechtskraft von Schiedssprüchen mit ihren Wirkungen dem Grunde nach in den meisten Rechtsordnungen anerkannt ist, gibt es im internationalen Vergleich erhebliche Unterschiede bezüglich ihres Umfangs.5 Denn die Rechtskraft von Schiedssprüchen leitet sich jeweils aus national-autonomen Grundsätzen zur Rechtskraft von Urteilen ab, die teilweise stark variieren.6

A. Problemaufriss

Zwei Szenarien sind denkbar, in denen die Endgültigkeit des Schiedsspruchs vor staatlichen Gerichten durch die Parteien in Frage gestellt wird. Erstens ist es möglich, dass eine Partei den Schiedsspruch schlichtweg nicht befolgt und den Streitgegenstand des Schiedsverfahrens bei einem staatlichen Gericht anhängig macht. In diesem Fall wird die Präklusionswirkung des rechtskräftigen Schiedsspruchs relevant. Zweitens kann die vom Schiedsspruch festgesetzte Rechtsfolge in einem späteren staatlichen Gerichtsverfahren, für das die Rechtsfolge präjudiziell ist, in Zweifel gezogen werden. Hier stellt sich die Frage nach der Bindungswirkung des rechtskräftigen Schiedsspruchs.

Problematisch gestalten sich beide Szenarien, wenn Schiedsort7 und Folgegericht in unterschiedlichen Staaten liegen. Wird der ausländische8 Schiedsspruch etwa vor einem staatlichen Gericht eingewendet9, so hat das Gericht die Rechtskraftwirkungen zu prüfen. Da ausdrückliche Parteivereinbarungen über die Rechtskraft und ihre Wirkungen praktisch nicht vorkommen,10 steht das Folgegericht vor der Frage, ob es bei der Prüfung inländische oder ausländische Rechtskraftgrundsätze heranzieht. Oftmals unterscheidet sich die Reichweite der Rechtskraftwirkungen in den in Betracht kommenden Rechtsordnungen. Die Bestimmung des auf die Rechtskraft anwendbaren Rechts ist mithin für das mit dem Schiedsspruch befasste Folgegericht regelmäßig von Relevanz.

B. Qualifikation und anwendbares Recht

Die Bestimmung des anwendbaren Rechts beginnt nach der kollisionsrechtlichen Methode mit der Qualifikation.11 Die Funktion12 der Rechtskraft liegt darin, das rechtliche Gehör einer Partei in einem nachfolgenden Verfahren einzuschränken (Regelung ad ordinem litis).13 Die Entscheidung, einem Schiedsspruch die Rechtskraft zuzuerkennen oder zu versagen, ist daher eine prozessuale.14 Die Rechtskraft ist mithin verfahrensrechtlich zu qualifizieren und damit dem Verfahrensstatut zu entnehmen. Ein deutsches Gericht wendet nach dem lex fori-Prinzip stets sein eigenes Verfahrensrecht an.15

C. Anwendung der lex fori

I. Regelung der Rechtskraft von Schiedssprüchen durch die ZPO?

Gemäß § 1025 Abs. 4 ZPO gelten für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche die §§ 1061-1065 ZPO. Als einschlägige Vorschrift für Rechtskraftwirkungen kommt nur § 1061 Abs. 1 S. 1 ZPO in Betracht, in dem das UNÜ für entsprechend anwendbar erklärt wird. Dem UNÜ sind nach allgemeiner Auffassung allerdings keine Regelungen zu Rechtskraftwirkungen


*Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 So für Urteile Velden, Finality in Litigation, 2017, S. 2; Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 1; R. Stürner, in: FS Schütze, 1999, S. 913; für Schiedssprüche Born, International Commercial Arbitration3, 2021, S. 4107 f. m.w.N.

2 Hanotiau, Complex Arbitrations: Multi-party, Multi-contract, Multi-issue2, 2020, Rn. 1010.

3 Gottwald, in: Rauscher/Krüger (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 16, 2020, § 322 Rn. 40.

4 Gottwald, in: MüKoZPO (Fn. 3), § 322 Rn. 52.

5 Born (Fn. 1), S. 4107.

6 Vgl. Buchwitz, Schiedsverfahrensrecht, 2019, S. 213; Andrews, Andrews on Civil Processes, Court Proceedings, Arbitration & Mediation2, 2019, S. 1093.

7 I.S.v. § 1043 Abs. 1 Alt. 1 ZPO.

8 Ein Schiedsspruch ist aus deutscher Sicht ausländisch, wenn der Schiedsort außerhalb Deutschlands liegt, vgl. § 1025 Abs. 1, 2 ZPO.

9 Nach h.M. ist die Rechtskraft eines Schiedsspruches nur auf Parteieinrede hin vom Gericht zu beachten, Schlosser, in: Bork/H. Roth (Hrsg.), Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1023, 2014, § 1055 Rn. 8 m.w.N.; BT-Drs. 13/5274, S. 57; a.A. etwa Geimer, in: Zöller (Begr.), Zivilprozessordnung, Kommentar34, 2022, § 1055 Rn. 8.

10 Bermann, Recueil des Cours 381 (2015), 40, 358.

11 Vgl. Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht9, 2007, § 4 Rn. 5.

12 Zur funktionellen Qualifikation Hoffmann/Thorn (Fn. 11), § 6 Rn. 27-30.

13 Vgl. Pika, Third-Party Effects of Arbitral Awards, 2019, Rn. 175; Hoffmann/Thorn (Fn. 11), § 3 Rn. 9.

14 Bermann, Recueil des Cours 381 (2015), 40, 360.

15 Hoffmann/Thorn (Fn. 11), § 3 Rn. 5.

Timm, Die Rechtskraft ausländischer Schiedssprüche – Analyse des kollisionsrechtlichen Status quo10

zu entnehmen.16 Vielmehr überlässt es das UNÜ seinen Vertragsstaaten, wie ihre Gerichte mit der Rechtskraft eines ausländischen Schiedsspruchs umzugehen haben. § 1055 ZPO ist aufgrund seiner systematischen Stellung ausschließlich auf die Rechtskraftwirkungen inländischer Schiedssprüche anwendbar, vgl. § 1025 Abs. 1, 2, 4 ZPO.17

In der ZPO finden sich mithin keine ausdrücklichen Regelungen zu den Rechtskraftwirkungen ausländischer Schiedssprüche. Die deutsche Lehre behilft sich, indem sie die für ausländische Urteile geltenden Rechtskraftgrundsätze auf Schiedssprüche anwendet.18 Vorbehaltlich etwaig vorrangiger Vorschriften19 wären die Rechtskraftwirkungen ausländischer Schiedssprüche demnach grundsätzlich in Anlehnung an § 328 ZPO zu beurteilen.20 Doch im Rahmen von § 328 ZPO herrscht Uneinigkeit hinsichtlich der Rechtskraftwirkungen ausländischer Urteile.21 Das hat dazu geführt, dass sich der bei der Urteilsanerkennung bestehende Meinungsstreit auf Schiedssprüche übertragen22 hat: Einige Autoren wollen die Rechtskraft von Schiedssprüchen nach der Wirkungserstreckungslehre bestimmen, andere ziehen die Gleichstellungslehre vor.

II. Wirkungserstreckungslehre

Nach der herrschenden23 Wirkungserstreckungslehre sollen sich die Rechtskraftwirkungen ausländischer Schiedssprüche nach dem Recht des Staates, in dem das Schiedsgericht seinen Sitz hatte (Recht des Schiedsortes bzw. lex loci arbitri), bestimmen. Dazu seien die Wirkungen, die ein Schiedsspruch nach dem (ausländischen) Recht des Schiedsortes entfaltet, im Zuge der Anerkennung auf das Inland zu erstrecken.

Erstreckt werden damit insbesondere auch Rechtskraftwirkungen, die über das deutsche Rechtskraftverständnis hinaus gehen. Vereinzelte Anhänger der Wirkungserstreckungslehre wollen diesen Umstand indes vermeiden. Ihnen zufolge dürfen die Rechtskraftwirkungen ausländischer Schiedssprüche nicht weiter reichen als das deutsche Rechtskraftverständnis zulässt (sog. Kumulationstheorie).24

III. Gleichstellungslehre

Der Wirkungserstreckungslehre widersprechen die Vertreter der Gleichstellungslehre.25 Nach ihnen seien die Rechtskraftwirkungen ausländischer Schiedssprüche durch die Gleichstellung mit inländischen (deutschen) Schiedssprüchen zu bestimmen. In Anlehnung an § 1055 ZPO habe demnach auch ein ausländischer Schiedsspruch die Wirkungen eines rechtskräftigen Urteils.26 Die Rechtskraftwirkungen sollen mithin nicht vom Recht des Schiedsortes auf das Inland erstreckt, sondern originär nach der lex fori bestimmt werden.

D. Dogmatische Analyse der Wirkungserstreckungslehre

I. Schiedsgerichtsbarkeit und staatliche Gerichtsbarkeit: Vergleichbare Einbettung in Rechtsordnung?

1. Jurisdiktionelles Verständnis von der Schiedsgerichtsbarkeit

Genauso wie sich Urteile einem Ursprungsstaat zuordnen lassen, werden größtenteils auch Schiedssprüche mithilfe des Schiedsortes einem bestimmten Staat (dem „Ursprungsstaat“27) zugeordnet. Dieser territorialen Lokalisierung des Ursprungs von Schiedssprüchen liegt ein jurisdiktionelles Verständnis der Schiedsgerichtsbarkeit zu Grunde.

Das jurisdiktionelle Verständnis nimmt an, dass Schiedssprüche als Rechtsprechungsakt in das Recht und Gerichtssystem des Staates integriert sind, in dem das Schiedsgericht seinen Sitz hat (Schiedsort).28 Daher sei die Schiedsgerichtsbarkeit genauso wie die staatliche Gerichtsbarkeit in die nationale Rechtsordnung eingebettet; der ausländische Schiedsspruch sei genauso wie das ausländische Urteil ein Rechtsprechungsakt seines „Ursprungsstaates“.29 Diese Gleichsetzung von Schiedsgerichtsbarkeit und staatlicher Gerichtsbarkeit hat zur Folge, dass die herrschende Meinung ausländische Schiedssprüche im Hinblick auf die Anerkennung genauso wie ausländische Urteile behandelt und die tradierten Grundsätze schlicht überträgt: Die Rechtskraftwirkungen seien in beiden Fällen nach dem Recht des Ursprungsstaates (Recht des Schiedsortes bzw. Urteilsstaates) zu beurteilen und auf das Inland zu erstrecken.30 Notwendige Voraussetzung für die Integration des Schiedsspruchs in das Gerichtssystem eines Staates und die daraus gefolgerte Gleichbehandlung mit staatlichen Urteilen ist aber in jedem Fall, dass der Schiedsspruch einem bestimmten Staat (dem „Ursprungsstaat“) zugeordnet werden kann.31


16 Siehe nur Scherer, in: Wolff (Hrsg.), New York Convention, Article-by-Article Commentary2, 2019, Art. III Rn. 9.

17 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht8, 2020, Rn. 3890.; Münch, in: Rauscher/Krüger (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 36, 2022, § 1055 Rn. 18; Voit, in: Musielak/Voit (Hrsg.), Zivilprozessordnung, Kommentar19, 2022, § 1055 Rn. 2; a.A. Klement, Rechtskraft des Schiedsspruchs, 2018, S. 207; Bosch, Rechtskraft und Rechtshängigkeit im Schiedsverfahren, 1991, S. 161.

18 Ausdrücklich die Parallele zu Urteilen ziehen Geimer, in: Zöller (Fn. 9), § 1061 Rn. 16; ders. (Fn. 17), Rn. 3879; Adolphsen, in: MüKoZPO (Fn. 17), Anh. § 1061 Art. 3 UNÜ Rn. 2; Schlosser, Das Recht der internationalen privaten Schiedsgerichtsbarkeit2, 1989, Rn. 904; M. Stürner, in: FS Schütze, 2015, S. 579, 581; Haas, Die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer und internationaler Schiedssprüche, 1991, S. 128.

19 Insb. Art. 36 Brüssel Ia-VO, bei dem nach h.M. von der Wirkungserstreckungslehre auszugehen ist, Gottwald, in: MüKoZPO (Fn. 17), Art. 36 Brüssel Ia-VO Rn. 12 f. m.w.N.

20 Klement (Fn. 17), S. 200; Geimer (Fn. 17), Rn. 3879.

21 Herrschend ist im Rahmen von § 328 ZPO die Wirkungserstreckungslehre, Gottwald, in: MüKoZPO (Fn. 3), § 328 Rn. 3-6 m.w.N.

22 Klement (Fn. 17), S. 201; Schlosser (Fn. 18), Rn. 904. Die schlichte Übertragung wird auch besonders durch die im Grunde unveränderte Terminologie deutlich, vgl. Solomon, Die Verbindlichkeit von Schiedssprüchen in der internationalen privaten Schiedsgerichtsbarkeit, 2007, S. 315.

23 Münch, in: MüKoZPO (Fn. 17), § 1055 Rn. 18 m.w.N.

24 Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht8, 2021, Rn. 1534;Geimer (Fn. 17), Rn. 3890.

25 Bosch (Fn. 17), S. 155; Klement (Fn. 17), S. 207; M. Stürner (Fn. 18), S. 579, 590; Loritz, ZZP 105 (1992), 1, 11.

26 Vgl. Münch, in: MüKoZPO (Fn. 17), § 1055 Rn. 18 m.w.N.

27 Mit dem Ursprungsstaat eines Schiedsspruchs ist gemeinhin und auch hier immer der Staat gemeint, in dem der Schiedsort liegt. Die Anführungszeichen sollen betonen, dass ein Schiedsspruch – wie zu zeigen ist – tatsächlich keinem Staat entspringt.

28 Solomon (Fn. 22), S. 312; vgl. auch Hoffmann, Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, 1970, S. 36 f.

29 Vgl. Solomon (Fn. 22), S. 315.

30 Die Wirkungserstreckungslehre ist sowohl bei der Anerkennung ausländischer Urteile als auch Schiedssprüche herrschend, vgl. Nachweise in Fn. 21, 23.

31 Vgl. Solomon (Fn. 22), S. 316.

Timm, Die Rechtskraft ausländischer Schiedssprüche – Analyse des kollisionsrechtlichen Status quo11

Das jurisdiktionelle Verständnis vernachlässigt indes die vertragliche Grundlage der Schiedsgerichtsbarkeit. Die Funktion der Schiedsgerichtsbarkeit liegt in der endgültigen Entscheidung eines Rechtsstreits. Ein nationaler Gesetzgeber kann einem Schiedsspruch daher die aus der endgültigen Entscheidung eines Rechtsstreits fließenden Wirkungen zuerkennen, wie sie das Urteil eines staatlichen Gerichts entfaltet (insbesondere Rechtskraftwirkungen).32 Insofern mag man die Schiedsgerichtsbarkeit als jurisdiktionelles Institut ansehen.

Aus der Funktion der Schiedsgerichtsbarkeit folgt aber nicht, dass sie in einer der staatlichen Gerichtsbarkeit vergleichbaren Weise in eine bestimmte nationale Rechtsordnung eingebettet ist. Die Schiedsgerichtsbarkeit tritt vielmehr als System privater Streitentscheidung33 neben die staatliche Gerichtsbarkeit. Entscheidender Unterschied ist dabei, dass das Schiedsgericht keine hoheitliche Tätigkeit ausübt.34 Anders als bei Urteilen beruhen die Legitimation des Schiedsgerichts zur Streitentscheidung und die Verbindlichkeit des Schiedsspruchs nicht auf der Hoheitsgewalt eines bestimmten Staates, sondern auf der privaten Schiedsvereinbarung der Parteien.35

Erkennt ein Staat eine Streitentscheidung durch ein dort ansässiges Schiedsgericht an, so tut er dies nicht, weil die Schiedsgerichtsbarkeit in derselben Weise wie die staatliche Gerichtsbarkeit in seine nationale Rechtsordnung eingebettet und mit entsprechenden hoheitlichen Befugnissen ausgestattet ist. Er erkennt den inländischen Schiedsspruch an, weil er den Parteien zuvor per Gesetz die Möglichkeit eingeräumt hat, einen alternativen Streitentscheidungsmechanismus privat zu vereinbaren.36

2. Zuordnung von Schiedssprüchen zu einem „Ursprungsstaat“

Aus dem Vorgesagten wird deutlich, dass ein Schiedsspruch keinem bestimmten Staat zugeordnet werden kann. Denn wenn die Schiedsgerichtsbarkeit nicht in einer der staatlichen Gerichtsbarkeit vergleichbaren Weise in eine bestimmte nationale Rechtsordnung eingebettet und mit entsprechenden hoheitlichen Befugnissen ausgestattet ist, lässt sich – anders als bei staatlichen Gerichten – auch kein bestimmter Staat ermitteln, dessen hoheitliche Befugnisse durch das Schiedsgericht ausgeübt worden sein könnten.37 Konsequenterweise lassen sich Schiedssprüche – anders als Urteile – keinem bestimmten Staat zuordnen.38

Es ist daher erst recht verfehlt, den Staat, in dem der Schiedsort liegt, als Ursprungsstaat des Schiedsspruchs zu deklarieren. Auch für den angeblichen Ursprungsstaat ist der Schiedsspruch eine fremde Entscheidung.39 Denn mangels hoheitlicher Befugnisse des Schiedsgerichts fehlt einem Schiedsspruch als privatem Rechtsprechungsakt – anders als einem Urteil – auch in seinem „Ursprungsstaat“ die hoheitliche Verbindlichkeit. Ein Schiedsspruch bedarf sowohl in seinem „Ursprungsstaat“ als auch in jedem anderen Staat zunächst der Anerkennung, um Entscheidungswirkungen zu entfalten.40

Im Gegensatz zu Urteilen gibt es bei Schiedssprüchen mithin keinen Ursprungsstaat im eigentlichen Sinne. Ein Schiedsspruch entspringt keinem Staat; er bedarf vielmehr in jedem Staat gleichermaßen einer Überführung in die nationale Rechtsordnung.41

3. Schlussfolgerung

Nach alledem fehlt es der Übertragung der Wirkungserstreckungslehre von Urteilen auf Schiedssprüche schon an dogmatischem Substrat: Ein Schiedsspruch lässt sich keinem Staat zuordnen. Er ist nicht in derselben Weise wie ein staatliches Urteil in das Gerichtssystem eines bestimmten (Ursprungs-)Staates integriert, auf dessen Recht im Rahmen der Wirkungserstreckungslehre abgestellt werden könnte.

II. Verbindung zwischen Schiedsspruch und Recht des Schiedsortes

1. Delokalisierung von Schiedssprüchen

Obschon es dem herrschenden Ansatz, die Wirkungserstreckungslehre von Urteilen auf Schiedssprüche zu übertragen an dogmatischem Substrat fehlt, könnten andere dogmatische Erwägungen für die Wirkungserstreckungstheorie streiten. Wesentlicher Inhalt der Wirkungserstreckungslehre ist, dass sich die Rechtskraftwirkungen ausländischer Schiedssprüche stets nach dem Recht des Schiedsortes bestimmen sollen. Die Maßgeblichkeit des Rechts des Schiedsortes wäre – im Anschluss an die klassische kollisionsrechtliche Dogmatik – zu begrüßen, wenn Schiedssprüche regelmäßig die engste Verbindung zum Recht des Schiedsortes aufwiesen.42

Antworten auf die Frage, ob Schiedssprüche regelmäßig die engste Verbindung zum Recht des Schiedsortes aufweisen, liefert die Lehre zur Delokalisierung von Schiedsverfahren (Delokalisierungslehre). Ihr geht es im Wesentlichen um die Bedeutung des Schiedsortes und des dort geltenden Rechts in internationalen Schiedsverfahren.43


32 Solomon (Fn. 22), S. 329; Hellwig, System des deutschen Zivilprozeßrechts, Teil 2, 1912, S. 123. Einige Rechtsordnungen messen dem Schiedsspruch lediglich schuldrechtliche Wirkung bei; bekanntestes Beispiel ist der italienische lodo di arbitrato irrituale.

33 Bruns, ZZP 70 (1957), 7, 20: „Schiedsgerichtsbarkeit […] ist Handeln von Privaten für Private“.

34 Hoffmann (Fn. 28), S. 37; Neuner, RabelsZ 3 (1929), 37, 55.

35 Geimer (Fn. 17), Rn. 3700; Hoffmann (Fn. 28), S. 37; Schlosser (Fn. 18), Rn. 787.

36 Solomon (Fn. 22), S. 328. Vgl. auch Geimer (Fn. 17), Rn. 3700; Neuner, RabelsZ 3 (1929), 37, 39.

37 Solomon (Fn. 22), S. 324; Neuner, RabelsZ 3 (1929), 37, 45.

38 Herrmann, in: Berg (Hrsg.), Improving the Efficiency of Arbitration Agreements and Awards: 40 Years of Application of the New York Convention, 1999, S. 15, 19: „while judgments […] emanate from State power, arbitral awards are the products ofprivate hotel room justice‘“.

39 Klement (Fn. 17), S. 128 f.; Lühmann, Die Rechtskraft des Schiedsspruchs im deutschen und US-amerikanischen Recht, 2014, S. 280.

40 Solomon (Fn. 22), S. 326; G. Roth, Der Vorbehalt des Orde Public gegenüber fremden gerichtlichen Entscheidungen, 1967, S. 133.

41 Das sticht in der deutschen Literatur bisweilen nicht klar genug hervor, was daran liegen könnte, dass die Anerkennung inländischer Schiedssprüche gem. § 1055 ZPO ohne Weiteres ipso iure erfolgt („antizipiertes Legalanerkenntnis“), vgl. Münch, in: MüKoZPO (Fn. 17), § 1055 Rn. 8, 18.

42 Zum kollisionsrechtlichen Prinzip der engsten Verbindung Kropholler, Internationales Privatrecht6, 2006, S. 25 f.

43 Böckstiegel, in: FS Oppenhoff, 1985, S. 1, 2.

Timm, Die Rechtskraft ausländischer Schiedssprüche – Analyse des kollisionsrechtlichen Status quo12

Der Delokalisierungslehre liegt die grundsätzliche Auffassung zu Grunde, dass die zwischen Schiedsspruch und Schiedsort bestehende Verbindung die Anwendung des Rechts des Schiedsortes oftmals nicht rechtfertigen könne.44 Denn in der Praxis seien Praktikabilitätserwägungen bei der Wahl des Schiedsortes prädominant.45 Der Schiedsort werde weniger wegen des dort geltenden Schiedsverfahrensrechts gewählt, sondern eher, weil es sich z.B. um einen Ort handelt, der für alle Beteiligten leicht zu erreichen ist oder um einen Ort, an dem die gemeinsame Sprache der Parteien gesprochen wird.46 Umgekehrt ist denkbar, dass ein rein fiktiver Schiedsort gewählt wird, der keinen Bezug zu dem Ort hat, an dem das Schiedsverfahren tatsächlich durchgeführt wird.47

Das Entscheidende für die weitere Untersuchung ist, dass die Delokalisierungslehre verdeutlicht, wann der Schiedsspruch nicht am engsten mit dem Recht des Schiedsortes verbunden ist. Denn ein delokalisierter Schiedsspruch ist dadurch charakterisiert, dass für sein Zustandekommen ein anderes als das am Schiedsort geltende Recht maßgeblich war. Daraus lässt sich folgender Zusammenhang schließen: Liegt ein delokalisierter Schiedsspruch vor, so besteht die engste Verbindung nicht zum Recht des Schiedsortes, weil für sein Zustandekommen ein anderes als das am Schiedsort geltende Recht maßgeblich ist.

Im Folgenden soll zunächst näher untersucht werden, wann und in welcher Form delokalisierte Schiedssprüche auftreten, um anschließend Schlüsse für die dogmatische Analyse der Wirkungserstreckungslehre zu ziehen.

2. Bestimmung des Schiedsverfahrensrechts durch die Parteien

Die Parteien können das Zustandekommen von Schiedssprüchen über die Bestimmung des Schiedsverfahrensrechts48 maßgeblich beeinflussen. Dabei können sie insbesondere ein vom Recht des Schiedsort abweichendes Schiedsverfahrensrecht vereinbaren. Dies lässt sich am deutschen Recht veranschaulichen:

Die Parteien können, wenn der Schiedsort in Deutschland liegt, das Schiedsverfahrensrecht vorbehaltlich zwingender Vorschriften49 abweichend vom deutschen Recht bestimmen (§ 1042 Abs. 3 ZPO). Sie können die Geltung eines ausländischen Verfahrensrechts im Ganzen festlegen50 oder auf eine institutionelle Schiedsordnung verweisen.51 Nur in den vereinzelten zwingenden Vorschriften des deutschen Schiedsrechts findet die Parteiautonomie ihre Grenzen.52 Das deutsche Recht des Schiedsortes behält zwar kraft seiner vereinzelten zwingenden Regeln eine (untergeordnete) Bedeutung beim Zustandekommen des Schiedsspruchs. Es tritt aber im Vergleich zum vereinbarten Schiedsverfahrensrecht, das sämtliche dispositive Regeln ersetzt, in den Hintergrund.53 Im Ergebnis ist der Schiedsspruch dann als delokalisiert zu betrachten: Er entspringt einem Schiedsverfahren, dessen Regeln sich maßgeblich nach einem anderen als dem am Schiedsort geltenden Recht richten.

Da das deutsche Schiedsrecht auf dem UNCITRAL Model Law on International Commercial Arbitration (UNCITRAL-MG) beruht, gelten die vorstehenden Ausführungen entsprechend für die Staaten, die das UNCITRAL-MG in vergleichbarer Weise in nationales Recht umgesetzt haben.54

3. „Anationale“ Schiedssprüche

Ein besonderes Phänomen, das in der Delokalisierungslehre auftaucht, sind die sog. anationalen Schiedssprüche. Als „anational“ werden gemeinhin Schiedssprüche bezeichnet, die allein im Parteiwillen oder einer überstaatlichen Rechtsordnung wurzeln sollen.55 Der Begriff der „Anationalität“ wird antonym zur „Nationalität“ des Schiedsspruchs verwendet, um die fehlende kollisionsrechtliche Verknüpfung des Schiedsspruchs mit nationalem Recht zu betonen.56

Bei „anationalen“ Schiedssprüchen geht es also nicht mehr bloß um die Frage nach der Bestimmung des Schiedsverfahrensrechts durch die Parteien, die zwar vom Recht des Schiedsorts abweicht, aber innerhalb der Gestaltungsspielräume nationaler Rechtsordnungen erfolgt. Es geht um die darüberhinausgehende Entbindung des Schiedsverfahrens von jeglichem nationalen Recht.57 Ein „anationaler“ Schiedsspruch ist mithin eine weiter reichende Spezialform des delokalisierten Schiedsspruches.

Das Phänomen des „anationalen“ Schiedsspruchs bleibt indes ein theoretisches. Der Ansatz, dass sich die Verbindlichkeit eines Schiedsspruches ausschließlich aus dem Parteiwillen oder einer überstaatlichen Rechtsordnung ergeben soll, wird im Ergebnis durchweg abgelehnt.58 Der zentrale Einwand gegen die Existenz „anationaler“ Schiedssprüche ist, dass sich die rechtliche Durchsetzbarkeit eines Schiedsspruchs allein aus einer bestimmten Rechtsordnung ergeben kann.59 Denn spätestens, wenn die Vollstreckung eines Schiedsspruchs begehrt wird oder er in einem Prozess vor Gericht eingewendet wird, kommen die jeweiligen nationalen Anerkennungs- bzw. Vollstreckungsvorschriften zum Tragen.


44 Vgl. dazu grundlegend Paulsson, 32 Int’l & Comp. L.Q. 53 (1983), 53 ff.; Park, 32 Int’l & Comp. L.Q. 21 (1983), 24 ff.

45 Read, 10 Am. Rev. Int’l Arb. 177 (1999), 185.

46 Böckstiegel (Fn. 43), S. 1, 2.

47 Zur Vereinbarung eines fiktiven Schiedsortes Voit, in: Musielak/Voit (Fn. 17), § 1043 Rn. 4; Solomon (Fn. 22), S. 425 f.

48 Mit dem Schiedsverfahrensrecht sind hier nicht die gesamten Regeln eines nationalen Schiedsrechts (etwa das gesamte 10. Buch der ZPO), sondern immer nur diejenigen nationalen Vorschriften, die das Verfahren vor dem Schiedsgericht regeln (vgl. § 1042 ZPO), gemeint.

49 Die Parteien treffen daher keine kollisionsrechtliche, sondern nur eine materiellrechtliche Verweisung, Geimer, in: Zöller (Fn. 9), § 1025 Rn. 5.

50 Geimer, in: Zöller (Fn. 9), § 1025 Rn. 4; BT-Drs. 13/5274, S. 47.

51 Ein in Deutschland ansässiges Schiedsgericht kann etwa zur Anwendung englischen Verfahrensrechts und damit z.B. zur Beweisaufnahme nach englischem Recht, einschließlich cross examination, verpflichtet werden, Geimer, in: Zöller (Fn. 9), § 1025 Rn. 5.

52 Münch, in: MüKoZPO (Fn. 17), § 1042 Rn. 88.

53 Böckstiegel (Fn. 43), 1, 5.

54 Siehe insb. Art. 19 Abs. 1 UNCITRAL-MG.

55 Solomon (Fn. 22), S. 449, 453 m.w.N.

56 Rensmann, Anationale Schiedssprüche, 1997, S. 33.

57 Solomon (Fn. 22), S. 450.

58 Solomon (Fn. 22), S. 451 m.w.N.

59 Solomon (Fn. 22), S. 451-468; Rensmann (Fn. 56), S. 88-92.

Timm, Die Rechtskraft ausländischer Schiedssprüche – Analyse des kollisionsrechtlichen Status quo13

Gleichwohl liefert die Theorie zu „anationalen“ Schiedssprüchen einen Beitrag zur Untersuchung von delokalisierten Schiedssprüchen. Die Diskussion um „anationale“ Schiedssprüche taucht insbesondere mit Blick auf das französische Recht auf.60 Das französische Recht gewährt nämlich im Gegensatz zum deutschen Recht (und auch zum UNCITRAL-MG) besonders umfangreiche Parteiautonomie: Liegt der Schiedsort in Frankreich, können die Parteien das Schiedsverfahrensrecht losgelöst von jeglicher nationalen Rechtsordnung bestimmen; sie sind nicht einmal zwingenden Regeln des französischen Rechts unterworfen.61

Das französische Recht eröffnet den Parteien mithin die Möglichkeit, das Schiedsverfahrensrecht gänzlich von nationalem Recht und seinen zwingenden Regeln zu entbinden. Im Ergebnis liegt in einem solchen Fall eine umfassende Delokalisierung des Schiedsspruchs vor: Der Schiedsspruch entspringt einem Schiedsverfahren, dessen Regeln „anational ausgestaltet“ sind, also keinerlei Bezug zum Recht des Schiedsortes aufweisen.

4. Schlussfolgerung

Festzuhalten ist, dass zahlreiche nationale Rechtsordnungen – insbesondere die, die das UNCITRAL-MG umgesetzt haben – den Parteien in verschiedenem Ausmaß ermöglichen, das Schiedsverfahren vom Recht des Schiedsortes zu lösen. Dadurch können delokalisierte Schiedssprüche entstehen, denen stets gemein ist, dass ihr Zustandekommen maßgeblich nach einem anderem als dem am Schiedsort geltenden Recht beurteilt wurde. Delokalisierte Schiedssprüche sind keine Seltenheit. Denn in praxi richtet sich das Schiedsverfahrensrecht häufig62 nach institutionellen Schiedsordnungen, die zumeist alle wesentlichen Verfahrensfragen ausführlich regeln und – soweit möglich – nicht dem Recht des Schiedsortes überlassen.63

Nun wird auch deutlich, dass die Wirkungserstreckungslehre dem kollisionsrechtlichen Prinzip der engsten Verbindung64 zuwider läuft: Denn wenn delokalisierte Schiedssprüche häufig auftreten, dann ist auch häufig die Verbindung zwischen Schiedssprüchen und dem Recht des Schiedsortes nicht „am engsten“. Daraus folgt umgekehrt, dass schwerlich begründet werden kann, dass Schiedssprüche regelmäßig die engste Verbindung zum Recht des Schiedsortes aufweisen. Jedenfalls ist keine solche Regelmäßigkeit zu konstatieren, die es rechtfertigen würde, die Bestimmung der Rechtskraftwirkungen von Schiedssprüchen stets dem Recht des Schiedsortes zu unterwerfen. Genau dies verlangt aber die Wirkungserstreckungslehre bei ausländischen Schiedssprüchen. Sie vermag mithin vor dem Hintergrund des Prinzips der engsten Verbindung nicht zu überzeugen.

III. Widerspruch zum UNÜ

1. Erstreckung bestehender Rechtskraftwirkungen

Die Wirkungserstreckungslehre postuliert die Erstreckung von Entscheidungswirkungen aus dem Ursprungsstaat auf das Inland. Die Wirkungserstreckung gelingt aber nur dann, wenn bereits Entscheidungswirkungen im Ursprungsstaat vorliegen, die in einem zweiten Schritt auf das Inland erstreckt werden können. Eine Wirkung kann logischerweise immer nur dann auf Etwas erstreckt werden, wenn sie bereits existiert.65 Bei ausländischen Urteilen ist dies unproblematisch; jedenfalls nach Eintritt der formellen Rechtskraft entfaltet das Urteil unmittelbar Rechtskraftwirkungen im Ursprungsstaat.66 Ein Schiedsspruch bedarf dagegen zunächst der Anerkennung in seinem „Ursprungsstaat“, damit er dort Rechtskraftwirkungen zeitigen kann.67

2. „Doppelanerkennung“

Hinter der Wirkungserstreckungslehre bei Schiedssprüchen verbirgt sich mithin ein Mechanismus der „Doppelanerkennung“68: Zuerst muss der Schiedsspruch in seinem „Ursprungsstaat“ anerkannt werden, damit er überhaupt Rechtskraftwirkungen entfaltet. Erst dann kann die Erstreckung der Rechtskraftwirkungen auf das Inland erfolgen.69 Die vorgelagerte Anerkennung im „Ursprungsstaat“ ist selbst dann notwendig, wenn die Parteien von vornherein kein Interesse an der Wirksamkeit des Schiedsspruches am Schiedsort haben. Die Anerkennung ist dann reine Formalie und dient einzig dem Zweck, die Wirkungserstreckung zu ermöglichen.70

3. Schlussfolgerung

Nach Art. V Abs. 1 lit. e) UNÜ kann die Anerkennung eines ausländischen Schiedsspruches versagt werden, wenn er noch nicht verbindlich geworden ist. Mit der Verbindlichkeit im Sinne von Art. V Abs. 1 lit. e) UNÜ ist aber lediglich der Eintritt des Zeitpunkts gemeint, an dem der Schiedsspruch erlassen wird und die Parteien aufgrund ihrer Schiedsvereinbarung schuldrechtlich an ihn gebunden werden.71 Mithin ist nicht erforderlich, dass der Schiedsspruch in seinem „Ursprungsstaat“ anerkannt wurde und dort Rechtskraftwirkungen zeitigt.72 Anders gewendet: Die Pflicht zur Anerkennung eines ausländischen Schiedsspruchs kann nach Art. III i.V.m. Art. V Abs. 1 lit. e) UNÜ schon eintreten, bevor der Schiedsspruch in seinem „Ursprungsstaat“ anerkannt wurde und dort Rechtskraftwirkungen zeitigt. Die Wirkungserstreckungslehre hingegen setzt eine vorausgehende Anerkennung im „Ursprungsstaat“ denklogisch voraus, denn Rechtskraftwirkungen können nur dann erstreckt werden, wenn sie bereits im „Ursprungsstaat“ bestehen. Die


60 Vgl. dazu Solomon (Fn. 22), S. 449 m.w.N.

61 Lörcher, Das internationale Handelsschiedsverfahren in Frankreich, 1997, S. 12-14.

62 Buchwitz (Fn. 6), S. 213.

63 Böckstiegel (Fn. 43), 1, 2; Cordero-Moss, Recueil des Cours 372 (2014), 129, 153.

64 Vgl. Fn. 42.

65 Zurecht krit. daher Solomon (Fn. 22), S. 327 f.; Bosch (Fn. 17), S. 155.

66 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht18, 2018, § 150 Rn. 2 f.

67 Vgl. oben D. I. 2.

68 Klement (Fn. 17), S. 204 f.

69 Vgl. Adolphsen, in: MüKoZPO (Fn. 17), Anh. § 1061 Art. 3 UNÜ Rn. 2.

70 Klement (Fn. 17), S. 204.

71 Schlosser (Fn. 18), Rn. 787; Klement (Fn. 17), S. 193-195, 206; ähnlich Solomon (Fn. 22), S. 371 f., 374.

72 Solomon (Fn. 22), S. 371, 374; Klement (Fn. 17), S. 193; Lühmann (Fn. 39), S. 320.

Timm, Die Rechtskraft ausländischer Schiedssprüche – Analyse des kollisionsrechtlichen Status quo14

Wirkungserstreckungslehre steht mithin im dogmatischen Widerspruch zum UNÜ.

IV. Fazit

Durch die Analyse der Wirkungserstreckungslehre konnten drei dogmatische Mängel herausgearbeitet werden: Erstens beruht die Wirkungserstreckungslehre auf einem abzulehnenden jurisdiktionellen Verständnis der Schiedsgerichtsbarkeit, wodurch unberechtigterweise eine Zuordnung von Schiedssprüchen zu einem „Ursprungsstaat“ vorgenommen wird. Zweitens sind Schiedssprüche häufig nicht eng mit dem Recht des Schiedsortes, das die Wirkungserstreckungslehre für maßgeblich erklärt, verbunden. Drittens steht die Wirkungserstreckungslehre im Widerspruch zum UNÜ.

E. Dogmatische Analyse der Gleichstellungslehre

I. Differenzierung zwischen inländischen und ausländischen Schiedssprüchen

Wie bereits gezeigt, lassen sich Schiedssprüche – anders als Urteile – keinem bestimmten Staat zuordnen.73 Ein Schiedsspruch ist nämlich ein privater Rechtsprechungsakt, der a priori für keinen Staat eine hoheitlich verbindliche Entscheidung darstellt. Damit entfällt auch die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen in- und ausländischen Schiedssprüchen, wie sie bei Urteilen vorgenommen wird.74 Denn sowohl in- als auch ausländischer Schiedsspruch sind ein für den staatlichen Richter gleichermaßen „fremdes gerichtliches Erkenntnis“75, das in jedem Fall der Anerkennung bedarf, um Rechtskraftwirkungen zu entfalten.76

Insofern ist es auch nicht zwingend notwendig, die Rechtskraftwirkungen in- und ausländischer Schiedssprüche auf unterschiedliche Weise zu bestimmen. Vielmehr stellt sich bei in- und ausländischen Schiedssprüchen gleichermaßen die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit dem aufgrund einer privaten Vereinbarung ergangenen Schiedsspruch Rechtskraftwirkungen beigegeben werden sollen.77

II. Schlussfolgerung

Die Frage, ob inländischen und ausländischen Schiedssprüchen dem Grunde nach Rechtskraftwirkungen beigegeben werden sollen, beantwortet die deutsche Rechtsordnung mit § 1055 ZPO und § 1061 ZPO positiv: Sowohl in- als auch ausländische Schiedssprüche können in einem späteren Prozess beachtlich werden – sie sind mithin im Hinblick auf das „ob“ bereits gleichgestellt.78

Die Frage, inwieweit inländischen und ausländischen Schiedssprüchen Rechtskraftwirkungen beigegeben werden sollen, beantwortet indes nur der § 1055 ZPO für inländische Schiedssprüche; der § 1061 ZPO liefert keine Antwort für ausländische Schiedssprüche.79 Wenn aber – wie gezeigt – keine zwingende Notwendigkeit besteht, zwischen in- und ausländischen Schiedssprüchen zu differenzieren, ist es dogmatisch schlüssig, auch im Hinblick auf das „inwieweit“ eine Gleichstellung vorzunehmen.80 Genau dies tut die Gleichstellungslehre, indem sie das „inwieweit“ bei sowohl in- als auch ausländischen Schiedssprüchen dem § 1055 ZPO entnimmt.

III. Fazit

Die Gleichstellungslehre vermag, anders als die Wirkungserstreckungslehre, in dogmatischer Hinsicht zu überzeugen. Unter der Prämisse, dass eine Differenzierung zwischen in- und ausländischen Schiedssprüchen nicht notwendig ist, kann sie dogmatisch schlüssig hergeleitet werden.

F. Praktische Beurteilung beider Lehren

I. Praktische Erwägungen im Kollisionsrecht

Praktische Erwägungen sind in kollisionsrechtlicher Hinsicht von gewichtiger81 Bedeutung, denn sie indizieren zentrale Interessen, die für oder gegen die Maßgeblichkeit eines bestimmten Rechts in der Praxis sprechen.82 Die Vorzugswürdigkeit der Wirkungserstreckungs- bzw. der Gleichstellungslehre kann sich mithin nicht allein aus den vorstehenden dogmatischen Erwägungen ergeben, sondern muss auch praktische Erwägungen mit einbeziehen. Auf Letztere wird im Folgenden eingegangen.

II. Entscheidungseinklang

1. Internationaler Entscheidungseinklang

Die Vertreter der herrschenden Wirkungserstreckungslehre berufen sich zuvörderst auf das Anerkennungsmandat des Art. III UNÜ. Das dahinterstehende Interesse am internationalen Entscheidungseinklang habe „eindeutigen Vorrang“83 und werde nur durch die Beachtung ausländischer Rechtskraftwirkungen hinreichend befriedigt.84 Der internationale Entscheidungseinklang ist das „formale Ideal“ des internationalen Privatrechts: Eine Entscheidung soll unabhängig vom Prozessort gleich ausfallen.85

Den internationalen Entscheidungseinklang fördert die Wirkungserstreckungslehre, da sie ein anerkennendes Gericht dazu anhält, die Rechtskraftwirkungen des Schiedsspruchs nach dem Recht des Schiedsortes zu bestimmen und auf das Inland zu erstrecken. Dadurch fällt die Beurteilung der Rechtskraftwirkungen durch ein Gericht am Schiedsort und ein Gericht im Anerkennungsstaat immer gleich aus.

Die Gleichstellungslehre hingegen läuft dem internationalen Entscheidungseinklang zuwider. Denn ihr zufolge sind


73 Siehe oben D. I.

74 Das befürworten auch Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kommentar7, 2005, Kap. 30 Rn. 1.

75 G. Roth (Fn. 40), S. 133.

76 Solomon (Fn. 22), S. 325 f.; Lühmann (Fn. 39), S. 280.

77 Solomon (Fn. 22), S. 326; G. Roth (Fn. 40), S. 133.

78 Klement (Fn. 17), S. 208.

79 Siehe oben C. I.

80 Zutreffend daher Klement (Fn. 17), S. 207-209.

81 Briggs, Private International Law in English Courts, 2014, Rn. 1.16: „ Pragmatism makes a powerful, if unstated, contribution to the force that drives […] private international law“.

82 Vgl. zur Bedeutung von Interessen im Kollisionsrecht Kropholler (Fn. 42), S. 31 ff.

83 Schlosser, in: Stein/Jonas (Fn. 9), Anh. § 1061 Rn. 123.

84 Adolphsen, in: MüKoZPO (Fn. 17), Anh. § 1061 Art. 3 UNÜ Rn. 2.

85 Kropholler (Fn. 42), S. 36.

Timm, Die Rechtskraft ausländischer Schiedssprüche – Analyse des kollisionsrechtlichen Status quo15

die Rechtskraftwirkungen originär nach der lex fori zu bestimmen. Dadurch kann die Beurteilung von Rechtskraftwirkungen im Prozess am Schiedsort und im Prozess im Anerkennungsstaat divergieren.

2. Nationaler Entscheidungseinklang

Der Antagonist des internationalen Entscheidungseinklangs ist der nationale Entscheidungseinklang.86 Ihm zufolge sollen Entscheidungen innerhalb desselben nationalen Gerichtssystems stets gleich ausfallen. Legt man den nationalen statt den internationalen Entscheidungseinklang als Beurteilungsmaßstab an, so kehrt sich die Beurteilung der Lehren um. Denn nur die Gleichstellungslehre kann gewährleisten, dass die Beurteilung der Rechtskraftwirkungen von Schiedssprüchen innerhalb desselben nationalen Gerichtssystems stets gleich ausfällt, indem sie die lex fori für maßgeblich erklärt.87 Demgegenüber führt die Wirkungserstreckungslehre dazu, dass Gerichte innerhalb eines Staates die Rechtskraftwirkungen von Fall zu Fall unterschiedlich beurteilen, da sie nicht auf ihre lex fori, sondern auf das jeweilige Recht des Schiedsortes zurückgreifen sollen.

3. Vorrang des internationalen Entscheidungseinklangs

Gewährte man dem nationalen Entscheidungseinklang Vorrang, würde das Ansehen der Schiedsgerichtsbarkeit und das Vertrauen in die internationale Unverbrüchlichkeit von Schiedssprüchen leiden.88 Denn wenn das zentrale prozessuale Instrument zur Sicherung der endgültigen Streitbeilegung – die Rechtskraft – der jeweils eigenständigen Beurteilung durch das anerkennende Gericht nach seiner lex fori unterläge, dann würde die praktische Geeignetheit und Attraktivität der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit als gleichwertige Alternative zum staatlichen Gerichtsverfahren erheblich beeinträchtigt werden. Würde man bei Schiedssprüchen nämlich nicht ebenfalls die ausländischen Rechtskraftwirkungen auf das Inland erstrecken, wären Schiedssprüche praktisch nicht in derselben Weise wie Urteile geeignet, eine endgültige Streitbeilegung grenzüberschreitend zu gewährleisten.

Mithin ist die Wirkungserstreckungslehre vorzuziehen. Sie fördert im Gegensatz zur Gleichstellungslehre den internationalen Entscheidungseinklang in der Praxis, der bei der Anerkennung ausländischer Schiedssprüche Vorrang gegenüber dem nationalen Entscheidungseinklang genießt.89

III. Vorhersehbarkeit

Die Parteien werden im Laufe des Schiedsverfahrens meist nicht wissen, ob sie zu einem späteren Zeitpunkt einen Folgeprozess vor einem staatlichen Gericht führen werden, in dem der Schiedsspruch relevant wird.90 Die Gleichstellungslehre hat den Nachteil, dass ihr zufolge dem Schiedsspruch in jedem Staat unterschiedliche Rechtskraftwirkungen beigelegt werden können.91 Das macht es für die Parteien kaum vorhersehbar, in welchem Umfang die streitbeendenden Rechtskraftwirkungen des Schiedsspruchs im nachfolgenden Gerichtsverfahren berücksichtigt werden.92

Die Wirkungserstreckungslehre gewährt hingegen bessere Vorhersehbarkeit für die Parteien in der Praxis, da sie bezüglich der Rechtskraftwirkungen stets auf das Recht des Schiedsortes abstellt. Die Rechtskraftwirkungen eines Schiedsspruchs unterliegen dadurch allerorts der gleichen, vorhersehbaren Beurteilung. Daher ist die Wirkungserstreckungslehre auch unter diesem Gesichtspunkt in praktischer Hinsicht vorzugswürdig.

IV. Fazit

Die praktischen Erwägungen sprechen eindeutig für die Wirkungserstreckungslehre. Sie fördert den internationalen Entscheidungseinklang in der Praxis und bietet den Parteien bei Durchführung eines Schiedsverfahrens Vorhersehbarkeit bezüglich der Rechtskraftwirkungen, die in potenziellen Folgeverfahren die Endgültigkeit des Rechtsstreits absichert.

G. Ausblick

Nach derzeitigem kollisionsrechtlichem Stand stehen einem deutschen Gericht grundsätzlich zwei Optionen offen, wie es die Rechtskraftwirkungen ausländischer Schiedssprüche bestimmen kann. Es kann entweder auf das Recht des Schiedsortes (Wirkungserstreckungslehre) oder die lex fori (Gleichstellungslehre) zurückgreifen. Wie herausgearbeitet werden konnte, führen die dogmatische und die praktische Beurteilung beider Lehren zu entgegengesetzten Ergebnissen. Der kollisionsrechtliche Status quo liefert mithin keine in sowohl praktischer als auch dogmatischer Hinsicht befriedigende Antwort auf die Frage, welches Recht für die Bestimmung der Rechtskraftwirkungen ausländischer Schiedssprüche maßgeblich sein soll.

Die praktischen Erwägungen spiegeln zentrale Interessen wider, die in der Schiedspraxis bestehen: die Vorhersehbarkeit und die internationale Einheitlichkeit der Beurteilung hinsichtlich der streitbeendigenden Rechtskraftwirkungen. Eine geeignete Alternative könnte daher darin liegen, die Rechtskraft akzessorisch an das Schiedsverfahrensstatut anzuknüpfen. Eine solche akzessorische Anknüpfung hätte den Vorzug, dass sie den sachlichen Konnex zwischen der konkreten Ausgestaltung des Schiedsverfahrens im Einzelfall und dem Schiedsspruch als Verfahrensprodukt wahrt. Dies wäre auch im Sinne der Parteien. Denn wenn sie die Regeln des Schiedsverfahrens und damit das Zustandekommen des Schiedsspruchs selbst bestimmen, werden sie auch erwarten, dass sich die streitbeendigenden Rechtskraftwirkungen nach ebendiesen Regeln richten. Greift ein später mit dem Schiedsspruch befasstes Gericht dagegen auf das Recht des Schiedsortes oder seine lex fori zurück, könnten die Parteien durch die Inkongruenzen zwischen dem von ihnen geführten Schiedsverfahren und der streitbeendigenden Wirkung des Schiedsspruchs überrascht werden.


86 Vgl. Kropholler (Fn. 42), S. 36.

87 Bermann, Recueil des Cours 381 (2015), 40, 369 f.

88 In anderem Zusammenhang Kropholler (Fn. 42), S. 37.

89 So auch Adolphsen, in: MüKoZPO (Fn. 17), Anh. § 1061 Art. 3 UNÜ Rn. 2.

90 Klement (Fn. 17), S. 293.

91 So für Urteile Kropholler (Fn. 42), S. 679.

92 Klement (Fn. 17), S. 293.