Die Objektivitätskritik der Legal Gender Studies

Florian Bode*

A. Einleitung

Justitia, altrömische Göttin der Gerechtigkeit, wird klassisch mit Schwert und Waage1, ab ca. 1500 oft auch mit Augenbinde2 dargestellt. Die verbundenen Augen sollen Justitias Anspruch und damit den des Rechts symbolisieren, ohne Ansehen der konkreten Person,3 das heißt: objektiv zu urteilen. Die Legal Gender Studies (LGS) hinterfragen diesen Anspruch:4 Ist Justitia, ist das Recht wirklich blind für das Geschlecht und die sexuelle Identität einer Person?5 Und kann Justitia, kann das Recht das überhaupt sein?

Der Beitrag sucht diese Überlegungen der LGS in zwei Schritten zu erkunden und zu ordnen. Zunächst wird das generelle Forschungsanliegen der hierzulande weithin unbekannten LGS vorgestellt (B.). Dem fügt sich die Analyse ihrer Objektivitätskritik an (C.), bei der wiederum zweigeteilt nach den von den LGS ausgemachten Urhebern von Objektivitätsansprüchen (C. I.) und den dahinter stehenden Herangehensweisen an Objektivität (C. II.) verfahren wird.

B. Forschungsanliegen der LGS

I. Von der feministischen Rechtswissenschaft zu den LGS

Die feministische Rechtskritik als selbständige rechtswissenschaftliche Strömung ist Ende der 1970er Jahre in den USA als feminist jurisprudence entstanden, nachdem Frauen dort in den 50er und 60er Jahren erstmals hatten Rechtswissenschaft studieren dürfen.6 In der Bundesrepublik kam der Ausdruck ‚feministische Rechtswissenschaft‘ erst Ende der 1980er Jahre auf.7 Sie und ihr amerikanisches Äquivalent gelten, wie die Frauenforschung insgesamt, als Produkt der zweiten Welle der Frauenbewegung.8 Der gemeinsame Forschungsgegenstand war die Lebenssituation von Frauen im und mit dem Recht.9 Deren Erforschung setzte aber voraus, dass „die Frauen“ sinnvoll definiert werden konnten.10 Der in den 1990er Jahren folgenden dritten Welle wird zugerechnet, das erfolgreich bestritten zu haben.11 Sie warf der feministischen Bewegung vor, den Standpunkt einiger weniger Frauen absolut zu setzen, wie das sonst Männer gegenüber Frauen täten.12 Unterdrückung aufgrund anderer Merkmale wie Religion, Klasse, sexueller Orientierung und Ethnie werde nicht wahrgenommen.13 Dass solche Diskriminierungen sich mit der wegen des Geschlechts überlappen, soll das damals von Kimberley Crenshaw entwickelte14 und heute gängige Konzept intersectionality erfassen.15 Der Blick wurde daher auf die Produktion hierarchischer Strukturen durch das Recht ausgeweitet, fokussiert auf das gender als Bündelung verschiedener Erwartungen, die das Recht erzeuge.16 Dementsprechend vollzog sich auch eine terminologische Verschiebung von der Frauen- hin zu der Geschlechterforschung, englischsprachig: Gender Studies.17 In die Rechtswissenschaft übersetzt: von der feministischen Rechtswissenschaft hin zu den LGS.18


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 Kissel, Die Justitia – Reflexionen über ein Symbol und seine Darstellung in der bildenden Kunst, 1984, S. 40 ff.

2 Erstmals wohl von Albrecht Dürer im Holzschnitt „Narrenschiff“ von 1494, ebd., S. 85, 88.

3 Ebd., S. 84; Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 1996, S. 339; dies., ZRP 2001, 412, 416. Vgl. auch Baer, Justitia, in: Ko\-reuber/Mager (Hrsg.), Recht und Geschlecht – Zwischen Gleichberechtigung, Gleichstellung und Differenz, 2004, S. 19, 20.

4 Einzelne feministische Untersuchungen zu Objektivität im Recht gab es bereits, als diese noch keine eigene wissenschaftliche Strömung ausmachten. Emma Oekinghaus beispielsweise kritisierte 1925 „die Tatsache, daß [im Recht] ‚das Männliche zu dem schlechthin Objektiven und sachlich Maßgebenden verabsolutiert wird‘“, s. Oekinghaus, Die gesellschaftliche und rechtliche Stellung der deutschen Frau, 1925, S. 22.

5 Ähnlich bereits, wenn auch nicht unter der Bezeichnung LGS, Limbach, Wie männlich ist die Rechtswissenschaft?, in: Hausen/Nowotny (Hrsg.), Wie männlich ist die Wissenschaft?, 1986, S. 87, 96; dies., Engagement und Distanz als Probleme einer feministischen Rechtswissenschaft, in: Gerhard/Limbach (Hrsg.), Rechtsalltag von Frauen, 1988, S. 169, 173; Baer, KritV 1994, 154, 156.

6 Bartlett/Kennedy, Introduction, in: Bartlett/Kennedy (Hrsg.), Feminist Legal Theory – Readings in Law and Gender, 1991, S. 1. Den Ausdruck feminist jurisprudence entwickelte Ann C. Scales 1977 zum Anlass einer ausdrücklich als esoterisch reservierten Podiumsdiskussion, die im Zuge des 25-jährigen Jubiläums des ersten für Frauen offenen Jahrgangs an der Harvard Law School stattfand. Die Diskutantinnen kamen damals zu keinem enthusiastischen Fazit: Eine feminist jurisprudence gebe es nicht und müsse es wohl auch nicht geben, s. Scales, Legal Feminism — Activism, Lawyering & Legal Theory, 2006, S. 153 note 2; dies., Indiana L. Rev. 1981, 375, 375, dortige Fn. 2. Tempora mutantur, nos et mutamur in illis.

7 Jedenfalls als eine der ersten verwendet ihn Limbach (Fn. 5), S. 169, 169, im Jahre 1988.

8 Vgl. Künzel, Feministische Theorien und Debatten, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft: ein Studienbuch2, 2012, § 2 Rn. 2. Der westliche Feminismus kann in drei Wellen eingeteilt werden. Danach beginnt die erste Welle Mitte des 19. Jahrhunderts und führt in den meisten westlichen Ländern Anfang des 20. Jahrhunderts zur Öffnung elementarer politischer Rechte, v.a. des Wahlrechts, für Frauen. Die zweite Welle ist in den 1960er und 70er Jahren zu verorten; sie kämpfte für gesellschaftliche Gleichberechtigung in der Bildung, am Arbeitsplatz und zu Hause, s. ebd., § 2 Rn. 1-3. Zur dritten Welle sogleich im Text.

9 Autor/innenkollektiv, Einleitung, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft: ein Studienbuch2, 2012, § 1 Rn. 2.

10 Ebd., § 1 Rn. 5.

11 Künzel (Fn. 8), § 2 Rn. 3.

12 Bartlett/Kennedy (Fn. 6), S. 1, 10 f.

13 Ebd.

14 Crenshaw, U. Chi. Legal F. 1989, 139, 141 ff.

15 Baer/Elsuni, Feministische Rechtstheorien, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie1, 2017, S. 270, 273.

16 Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 8-10; Baer/Elsuni (Fn. 15), S. 270, 274. Die Erwartungen werden mit dem Stichwort heteronormative Zweigeschlechtlichkeit beschrieben. Damit ist die Vorstellung gemeint, dass alle Menschen einem von zwei angeborenen, unveränderbaren Geschlechtern entsprechen und sich diese Geschlechter gegenseitig sexuell begehren, Lembke, Zwischen Herrschaft und Emanzipation: Legal Gender Studies als Rechtskritik, in: Hof/Olenhusen (Hrsg.), Rechtsgestaltung – Rechtskritik – Konkurrenz von Rechtsordnungen … – Neue Akzente für die Juristenausbildung, S. 242, 243.

17 Künzel (Fn. 8), § 2 Rn. 3.

18 S. Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 6 (die zwar selber den Ausdruck ‚feministische Rechtswissenschaft‘ nutzen, aber extensiv begründen, dass sie ihn weit verstehen und auch andere Formen der Unterdrückung durch Recht als nur die von Frauen in den Blick nehmen, ebd., Rn. 6-10).

Bode, Die Objektivitätskritik der Legal Gender Studies40

II. Erkenntnisgegenstände und Erkenntnisziele

Die LGS untersuchen den Zusammenhang von Recht und Wirklichkeit19 in Bezug auf die Kategorie Geschlecht.20 Sie versuchen insbesondere, Einsichten darüber zu gewinnen, ob und inwiefern Recht und Geschlecht sich gegenseitig konstituieren, also aufgrund des jeweils anderen überhaupt erst Wirklichkeit werden.21 Trotz der geschlechtsneutralen Formulierung ‚LGS‘ stehen Frauen als das traditionell benachteiligte Geschlecht im Mittelpunkt ihrer Analyse.22 Dabei wird geprüft, wie das Recht patriarchalische23 Gesellschaftsstrukturen begünstigt oder sogar hervorbringt.24 Die LGS plädieren für eine gleichberechtigte Gesellschaft, lehnen das Patriarchat als Gesellschaftsform also ab.25 Daraus ergibt sich für sie stets auch eine rechtspolitische Zielsetzung.26 So erforschen die LGS das Recht zugleich als destruktive und als produktive Kraft: Einerseits wird es als Konstrukteur einer gesellschaftlichen Ordnung begriffen, wie die LGS sie ablehnen. Andererseits können die LGS mithilfe des Rechts selbst zum Konstrukteur einer von ihnen bevorzugten Ordnung werden.27

III. Annahmen über Recht und Wirklichkeit

Der Erforschung des Rechts als destruktive Kraft sind einige Grundannahmen der LGS darüber entsprungen, wie Recht Wirklichkeit prägt.

1. Diskurse erzeugen Wirklichkeit

Wirklichkeit wird für die LGS nicht bloß vorgefunden, sondern (auch) diskursiv erzeugt.28 Diese Annahme entstammt dem französischen Poststrukturalismus und wird häufig mit der Diskurstheorie von Michel Foucault verbunden.29 Für Foucault ist ein Diskurs eine Menge von Aussagen, die einem geregelten wissenschaftlichen Formationssystem angehören.30 Solche Diskurse beobachteten ihren Gegenstand nicht nur — sie konstituierten ihn auch erst.31 Dabei legten sie die Regeln des Sagbaren fest sowie, wer überhaupt erst etwas sagen dürfe.32 Sie grenzten also stets auch aus.33 Da den ausgeschlossenen Personen bereits die Sprechfähigkeit fehle, falle ihre Abwesenheit im Diskurs nicht auf. Der Ausschlussmechanismus des Diskurses bleibe unsichtbar.34 Dieses Prinzip diskursiver Erzeugung haben die Gender Studies auf die Konzepte „Geschlecht, Begehren […] [und] Körper“ angewandt und dort weiterentwickelt.35 Daraus entstand zunächst die These, dass das gender – als das soziale Geschlecht36 – eine diskursive Konstruktion sei.37 Später hat Judith Butler, erneut unter Rückgriff auf Foucault,38 auch das sex als nur vermeintlich biologisches Geschlecht zu entlarven versucht.39 Das übergeordnete Anliegen der Gender Studies, die diskursive Erzeugung der Kategorie „Geschlecht“ zu analysieren, verfolgen die LGS für das Recht.

2. Recht ist Diskurs

Für die LGS ist Recht ein solcher Diskurs.40 Teils wird auch der Plural genutzt und Recht in einzelne Diskurse zergliedert.41 Dafür wird regelmäßig noch einmal ausdrücklich auf Foucault zurückgegriffen.42 Wird Recht als Diskurs, also als eine Menge von Aussagen begriffen, impliziert das ein


19 MacKinnon, Toward a Feminist Theory of the State, 1989, S. 237: „A jurisprudence is a theory of the relation of life and law.”. Susanne Baer übersetzt „life“ hier freilich wörtlich mit „Leben“, s. MacKinnon, STREIT 1993, 4, 4.

20 Baer/Elsuni (Fn. 15), S. 270, 270; Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts3, 2020, S. 225, 227, dortige Fn. 11.

21 Baer/Elsuni (Fn. 15), S. 270, 270 f.

22 Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 9.

23 ‚Patriarchat‘ verstanden als die systematische Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen in der Gesellschaft, vgl. Elsuni (Fn. 20), S. 225, 226, dortige Fn. 5.

24 Ebd., S. 227 f.

25 Ebd., S. 225 f.

26 Baer/Elsuni (Fn. 15), S. 270, 271.

27 Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 1.

28 Exemplarisch Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 159. In schematischen Darstellungen der LGS wird dieser Gedanke häufig als eine bestimmte Strömung der Forschungsrichtung ausgemacht, so etwa bei Elsuni (Fn. 20), S. 225, 233 (postmoderne Strömung) und bei Büchler/Cottier, Legal Gender Studies – Rechtliche Geschlechterstudien – eine kommentierte Quellensammlung, 2012, S. 304 (diskursive Konstruktion). Diese Schemata scheinen aber weniger einen echten Theorienstreit abzubilden, als vielmehr einzelne Stoßrichtungen der LGS kenntlich zu machen. Büchler/Cottier, ebd. grenzen den Gedanken der diskursiven Konstruktion beispielsweise von der „Doing Gender-Perspektive“ ab, die im Ergebnis aber die These teilt, das Geschlecht sei konstruiert.

29 Babka/Posselt, Gender und Dekonstruktion – Begriffe und kommentierte Grundlagentexte der Gender- und Queer-Theorie, 2016, S. 51, 119; Keller, Diskursforschung: eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen4, 2011, S. 57. Beide Titel beziehen sich auf die feministische Theorie im Allgemeinen. Auf diese greifen die LGS zurück, vgl. Sacksofsky, JöR 2019, 377, 381 f. Von Foucault stammt die Idee der diskursiven Erzeugung. Die daran anknüpfende Anwendung auf den rechtlichen Diskurs und überhaupt die Relevanz dessen finden sich nicht zwangsläufig in seinen Werken, dazu Smart, Feminism and the Power of Law, 1989, S. 6 ff.; aus jüngerer Zeit Elsuni, Zur ReProduktion von Machtverhältnissen durch juridische Kategorisierungen am Beispiel „Geschlecht“, in: Behmenburget al. (Hrsg.), Wissenschaf(f)t Geschlecht – Machtverhältnisse und feministische Wissensproduktion, S. 133, 135 f. Ein weiterer geläufiger Rückgriff auf den französischen Poststrukturalismus ist der auf Jacques Derrida und die Dekonstruktion. Mit ihrer Hilfe wird ebenfalls versucht darzulegen, dass das Geschlecht eine soziale Konstruktion ist, s. Babka/Posselt (diese Fn.), S. 47 f.

30 Babka/Posselt (Fn. 29), S. 51.

31 Ebd.

32 Ebd.

33 Bublitz, Diskurs, 2003, S. 58-60.

34 Ebd.

35 Babka/Posselt (Fn. 29), S. 51, 119. Ebenso Keller (Fn. 29), S. 57.

36 Die englische Sprache kennt einen Unterschied zwischen ‚sex‘ und ‚gender‘, für den es im Deutschen so kein Äquivalent gibt. Mit ‚sex‘ wird vereinfacht gesprochen das biologische und mit ‚gender‘ das sozial konstruierte Geschlecht gekennzeichnet, s. statt vieler Heidorn, Bucerius Law Journal (BLJ), 2014, 23, 23 f. m.w.N. Heutzutage ist diese Differenzierung jedenfalls nicht mehr unstrittig, s. dazu den Text zu Fn. 41.

37 Sacksofsky, JöR 2019, 377, 381.

38 Butler, Gender Trouble – Feminism and the Subversion of Identity2, 1999, S. 117 ff. Dazu Babka/Posselt (Fn. 29), S. 119; Keller (Fn. 29), S. 57.

39 Vgl. Butler (Fn. 38), S. 14. Dazu Elsuni (Fn. 20), S. 225, 232, dortige Fn. 28. Ob Butlers Versuch von Erfolg gekrönt war, wird unterschiedlich beurteilt, s. Sacksofsky, JöR 2019, 377, 382 m.w.N.

40 Smart (Fn. 29), S. 4. Darauf Bezug nimmt Baer (Fn. 28), S. 159; dies., „Der Bürger“ im Verwaltungsrecht: Subjektkonstruktion durch Leitbilder vom Staat, 2006, S. 28. Nennung der Diskurseigenschaft bei Elsuni (Fn. 29), S. 133, 133; Hark, Durchquerung des Rechts – Paradoxien einer Politik der Rechte, in: Beger et al. (Hrsg.), Queering Demokratie (sexuelle Politiken), 2000, S. 28, 39; Holzleithner, Recht Macht Geschlecht: Legal Gender Studies – Eine Einführung, 2000, S. 14; Sacksofsky, JöR 2019, 377, 382.

41 So bei Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 15.

42 So bei Smart (Fn. 29), S. 6 ff.; Hark (Fn. 40), S. 28, 39; Holzleithner (Fn. 40), S. 14, dortige Fn. 7; Baer (Fn. 40), S. 28, dortige Fn. 131; Greif/Schobesberger, Einführung in die feministische Rechtswissenschaft: Ziele, Methoden, Theorien2, 2007, S. 107; Elsuni (Fn. 29), S. 133, 133.

Bode, Die Objektivitätskritik der Legal Gender Studies41

weites Verständnis von Recht: ‚Recht‘ im Sinne der LGS bezeichnet neben der Summe der Rechtsnormen43 auch seine Anwendungspraxis.44 Zu dieser Anwendungspraxis zählt nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch die Rechtswissenschaft mitsamt Rechtsdogmatik.45 Mitunter werden sogar „Rechtsverhältnisse[…]“ sowie „Alltagsverständnisse[…] von Recht“ unter den Ausdruck gefasst.46

Unter den vielen Diskursen, die Wirklichkeit erzeugen, wird Recht als ein besonders mächtiger eingeordnet.47 Im rechtlichen Diskurs getätigte Aussagen könnten notfalls auch mit Zwang durchgesetzt werden.48 Das unterscheide ihn von anderen Diskursen.49

3. Recht erzeugt Wirklichkeit

Erzeugen Diskurse Wirklichkeit und insbesondere das Geschlecht, und ist Recht ein solcher Diskurs, so erzeugt Recht Wirklichkeit50 und insbesondere das Geschlecht51. Dieser Schluss ist der Ausgangspunkt der Unternehmung LGS. Ihr weiterer Forschungspfad lässt sich entlang zweier Charakteristika des Rechts beschreiben, die ebenfalls schon aus dem Diskursbegriff folgen: erstens die Eigenschaft, die sprechenden Personen zu definieren und damit zugleich andere als nicht sprechfähig auszuschließen. Zweitens die Eigenschaft, diesen Ausschlussmechanismus zu verschleiern.

Erstere Eigenschaft besagt, dass das Recht strukturiere und selektiere, wenn es auf die soziale Wirklichkeit Bezug nehme.52 Es fänden nicht alle Perspektiven, die in der Wirklichkeit existierten, Eingang in das Recht.53 So entstünden eine Wirklichkeit, wie das Recht sie abbilde, und eine „unterdrückte Realität“.54 Die vom Recht abgebildete Perspektive sei die dominante, die ausgeblendete Perspektive die unterdrückte.55 Auf die Analysekategorie Geschlecht bezogen bedeute das, die dominante Wahrnehmung56 sei maskulin und die diskriminierte Wahrnehmung feminin.57 In jüngerer Zeit rückt – dem terminologischen Wandel von der feministischen Rechtswissenschaft zu den LGS entsprechend – zudem die heteronormative Zweigeschlechtlichkeit in den Fokus.58 Auch sie sei die dominante Perspektive des Rechts, abweichende Vorstellungen würden ausgeblendet.59

Mit der zweiten Eigenschaft wird verknüpft, dass das Recht den dominanten Standpunkt nicht offenlege: „That standpoint which, because it dominates the world, does not appear to function as a standpoint at all.“60 Recht erhebe den Anspruch, neutral, standpunktlos zu sein.61 In Wahrheit sei es aber auch dort, wo es nicht ausdrücklich auf die Kategorie Geschlecht zurückgreife, stets Ausdruck eines männlichen Vorverständnisses.62

Anhand dieser zwei Eigenschaften lassen sich zwei zentrale Vorwürfe der LGS benennen. Ausgehend vom politischen Ideal der Gleichberechtigung lehnen sie den als solchen identifizierten patriarchalischen Standpunkt des Rechts ab.63 Dem vorgeschaltet ist ihre Kritik daran, dass das Recht diesen Standpunkt nicht zu erkennen gebe, sondern Standpunktlosigkeit für sich reklamiere.64

C. Objektivitätskritik der LGS

Wird Standpunktlosigkeit nun durch Objektivität ersetzt, ist ein Zugang zum Gegenstand des Beitrags gewonnen. Die Objektivitätskritik der LGS meint den zweiten Vorwurf, wonach der rechtliche Diskurs seinen Standpunkt verschleiere. Vor dem Hintergrund des sehr weiten Rechtsbegriffes der LGS schließen sich dem jedoch einige Fragen an: Wer erhebt im rechtlichen Diskurs einen Objektivitätsanspruch? Was bedeutet bei den jeweiligen Akteuren ein solcher Anspruch? Und lässt sich dabei ein einziges Konzept von Objektivität für den gesamten rechtlichen Diskurs gewinnen?

Objektivität für sich ist im Recht – und wohl nicht ausschließlich hier – ein schillernder Begriff: Zivilrechtler mögen mit ihm den objekten Empfängerhorizont assoziieren, Öffentlichrechtler die Dichotomie von objektivem/subjektiven Recht und Strafrechtler den objektiven Tatbestand, ja Rechtstheoretiker mögen mit ihm die Debatte über richtige Antworten im Recht65 assoziieren und insbesondere Kelsianer ein rechtswissenschaftliches Ideal66. Abstrakt lässt sich über Objektivität kaum mehr sagen, als dass sie meistens ex negativo definiert wird: Sie ist dann die Freiheit vom Subjektiven (Meinungen, Wertungen), und damit kann sie Intersubjektivität für sich beanspruchen (Wahrheit, Richtigkeit).67 Soll Objektivität im Recht aber spezifischer ergründet werden, so muss das zwangsläufig von den LGS selbst aus geschehen.


43 Greif/Schobesberger (Fn. 42), S. 107.

44 Baer/Elsuni (Fn. 15), S. 270, 270.

45 Holzleithner (Fn. 40), S. 14.

46 Ebd.; Greif/Schobesberger (Fn. 42), S. 107. Beide greifen zurück auf Maihofer, Geschlecht als Existenzweise, 1995, S. 80, die sich an Foucault orientiert. Tendenziell ähnlich weit Baer/Elsuni (Fn. 15), S. 270, 270, die auf die „rechtssprachliche[…]“ Praxis abstellen.

47 Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 15; Baer (Fn. 40), S. 28; dies., Rechtswissenschaft, in: Braun/Stephan (Hrsg.), Gender-Studien – Eine Einführung2, 2006, S. 149, 155; Greif/Schobesberger (Fn. 42), S. 107.

48 Baer (Fn. 28), S. 160. Vgl. auch MacKinnon (Fn. 19), S. 237.

49 Baer (Fn. 47), S. 149, 155.

50 Ebd.; dies. (Fn. 28), S. 159. Vgl. auch Hark (Fn. 40), S. 28, 39.

51 Sacksofsky, JöR 2019, 377, 382.

52 Baer (Fn. 28), S. 159 f.; Hark (Fn. 40), S. 28, 40.

53 Vgl. MacKinnon (Fn. 19), S. 248.

54 Baer (Fn. 28), S. 160.

55 Ebd., S. 159-162.

56 Der Ausdruck ‚dominante Wahrnehmung‘ stammt von ebd., S. 162.

57 MacKinnon (Fn. 19), S. 237.

58 Lembke (Fn. 16), S. 242, 243 f. Zur Erklärung des Begriffs ‚heteronormative Zweigeschlechtlichkeit‘ s. ebenfalls Fn. 16.

59 Ebd.

60 MacKinnon (Fn. 19), S. 237.

61 Exemplarisch nur ebd., S. 237, 248.

62 Baer/Elsuni (Fn. 15), S. 270, 271 f.

63 Vgl. Elsuni (Fn. 20), S. 225, 225 f.

64 MacKinnon (Fn. 19), S. 240 postuliert, zuerst müsse der Standpunkt offengelegt werden.

65 So insbesondere im englischsprachigen Raum, exemplarisch Stavropoulos, Objectivity, in: Golding/Edmundson (Hrsg.), The Blackwell Guide to the Philosophy of Law and Legal Theory, 2005, S. 315, 317. Für einen solchen Zugriff in der deutschen Debatte s. Bäcker, ARSP, Beiheft 103 (2005), 11-14 sowie die übrigen Beiträge im ARSP-Beiheft 103.

66 Kelsen, Reine Rechtslehre2, 1960, S. III (entspricht S. 3 der Studienausgabe von 2017), forderte bekanntlich schon (und gerade) im Vorwort zur ersten Auflage 1934, die „Ergebnisse“ der Jurisprudenz „dem Ideal aller Wissenschaft, Objektivität und Exaktheit soweit als irgend möglich anzunähern“.

67 Vgl. auch Dudenredaktion, Die deutsche Rechtschreibung28, 2020, Suchwort ‚Objektivität‘, die zur Definition „Sachlichkeit“ und „Vorurteilslosigkeit“ heranzieht.

Bode, Die Objektivitätskritik der Legal Gender Studies42

I. Objektivitätsansprüche des Rechts aus Sicht der LGS – Problemkreise

Gleichwohl steht eine Systematisierung der Objektivität im Recht bzw. ihrer Kritik durch die LGS noch am Anfang.68 Untersuchungen verweisen häufig unspezifisch auf den Objektivitätsanspruch des Rechts69 oder bearbeiten – für das hiesige Anliegen überspezifisch – einen ganz bestimmten Ausschnitt des rechtlichen Diskurses70. Im Folgenden soll die Kritik der LGS mit Gesetzgeber (1.), Justiz (2.) und Rechtswissenschaft (3.) anhand dreier Urheber von Objektivitätsansprüchen, welche die LGS ausgemacht haben, geordnet werden.71 Die Objektivitätskritik an dem jeweiligen Urheber wird bei dem jeweiligen Urheber dargestellt. Der Beitrag beschränkt sich an dieser Stelle auf die deutschsprachige Debatte.

1. Gesetzgeber

Ein Zugriff auf den beim Gesetzgeber verorteten Objektivitätsanspruch findet sich bei Susanne Baer. Sie geht davon aus, dass der Gesetzgeber Objektivität für die von ihm geschaffenen Gesetze reklamiert.72 Objektivität sei hier die „Angemessenheit einer Regelung an die Sachstrukturen des Normbereichs“.73 Sie nähert sich dem gesetzgeberischen Anspruch an Objektivität zudem über den universalen Geltungsanspruch74 und die Allgemeinheit des Rechts75 an.76 Auch die Bedeutung dieser Ausdrücke ist vielschichtig.77 In diesem Kontext definiert Baer Universalismus mit dem Universalisierungsgrundsatz von Jürgen Habermas.78 Das ist einer der beiden Grundsätze von Habermas‘ Diskursethik79 und lautet:

„So muß jede gültige Norm der Bedingung genügen, […] daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können.“80

Offen bleiben die konkreten Folgerungen aus diesem Grundsatz für das Anliegen der LGS. Baer scheint daraus abzuleiten, dass Gesetze den Anspruch erheben, einen fairen Interessenausgleich für die Allgemeinheit erzielt und alle Betroffenen angehört zu haben.81 An anderer Stelle schreibt sie, Recht habe sich „indifferent gegenüber Partikularinteressen“ zu verhalten.82 Es müsse „zwischen Bürgerinteressen vermittelnd aus[…]gleichen, ohne einen eigenen Standpunkt einzunehmen“.83 Der von Baer in Bezug auf den Gesetzgeber vertretene Objektivitätsbegriff lässt sich mit dem Begriffspaar allgemein/partikular fassen.

Hieran anknüpfend entwickelt Baer eine feministische Objektivitätskritik. Objektivität habe sich vom Blickwinkel der Frauen als „scheinheilig erwiesen“.84 Recht bringe „per definitionem niemanden, realistisch aber Minderheiten zum Schweigen“.85 Sie fänden nicht hinreichend Platz im Recht.86 Feministische Objektivität wolle die „Lebensrealitäten aller Menschen konkret erfahren, ohne unter dem Label Objektivität einige auszuschließen“.87 Dann wäre der Anspruch des Universalisierungsgrundsatzes mit Baer wohl erfüllt.

Auf konkrete Normen bezogen bedeutet dieser Zugang, eine geschlechtsunspezifische Formulierung88 dennoch von der Kategorie Geschlecht aus zu untersuchen. So lässt sich beispielsweise fragen, welche Eigenschaften dem Rechtssubjekt zugeschrieben werden und ob diese Eigenschaften nicht doch geschlechtsspezifisch sind.89 Ein häufig gewähltes Beispiel hierfür ist die Orientierung des Arbeitsrechts am


68 Limbach (Fn. 5), S. 169, 173 unterscheidet zwischen Rechtspolitik- und Rechtswissenschaft. Baer, KritV 1994, 154, 156; dies. (Fn. 28), S. 161 unterscheidet zwischen Rechtssetzung und Justiz. Baer/Elsuni (Fn. 15), S. 270, 272 setzen Objektivität die „Erfahrungen und Interessen der agierenden (rechtsetzenden, rechtsauslegenden, rechtsuntersuchenden) Personen“ entgegen (Kursivierung durch d. Verf.). Ein ähnlicher Ansatz findet sich bei Kocher, JöR 2019, 403, 420, 422, die zwischen Objektivität in Rechtspraxis, Rechtswissenschaft und Analysen des Rechtssubjekts zu unterscheiden scheint. Eine Systematisierung der Objektivitätsansprüche ist indes in keinem der Fälle das Ziel der Untersuchung: Sie geschieht stets beiläufig.

69 MacKinnon (Fn. 19), S. 239: „[L]aw is objective.“ Ähnlich generell Lembke, JURA 2005, 236, 241. Greif/Schobesberger (Fn. 42), S. 115-118 vermengen Objektivitätskritik an der Rechtswissenschaft und an den Rechtsnormen.

70 Eine ausführliche Auflistung solcher Einzeluntersuchungen findet sich bei Baer, KritV 1994, 154, 157 f.

71 Ein sozusagen urheberübergreifender Vorwurf ist der Mangel an Objektivität infolge der zahlenmäßigen Unterrepräsentation von Frauen in den Gremien der Urheber. Ursula Nelles hat, um das – primär für den Gesetzgeber – zu fassen, das Konzept der strukturellen Befangenheit entwickelt. Hiernach ist ein ganzes System befangen, wenn es mehrheitlich aus Personen besteht, welche sie begünstigende Strukturen erhalten möchten, s. Nelles, Der Gesetzgeber und die Interessen der Frauen, in: Koreuber/Mager (Hrsg.), Recht und Geschlecht – Zwischen Gleichberechtigung, Gleichstellung und Differenz, 2004, S. 81, 95 f. Diesem Konzept geht der Beitrag im Folgenden nicht näher nach. Der empirische Befund hinter der Kritik trifft jedenfalls in Bezug auf den Gesetzgeber und die Rechtswissenschaft noch immer zu. S. für die Rechtswissenschaft jüngst die ausführliche Studie von Schultz et aliae, De jure und de facto: Professorinnen in der Rechtswissenschaft, 2018, insbesondere die Daten auf den S. 151-188.

72 Baer, KritV 1994, 154, 155 f.

73 Baer (Fn. 28), S. 161. Offen bleibt das Verhältnis zur Angemessenheit i.S.d. letzten Prüfungsstufe der Verhältnismäßigkeit (i.w.S.).

74 Ebd., S. 163.

75 Ebd., S. 162, 163, dortige Fn. 24.

76 Baer trennt zwar zwischen den Ausdrücken ‚Objektivität‘ und ‚Universalismus‘, ebd., S. 161-164. M.E. lassen sie sich zu diesem Zwecke aber gemeinsam unter das Konzept Objektivität fassen.

77 Art. 5 II GG normiert etwa die „Vorschriften der allgemeinen Gesetze“ als Schranke. Art. 19 I 1 GG fordert als Ermächtigungsgrundlage für Grundrechtseingriffe allgemeine Gesetze.

78 Baer (Fn. 28), S. 163, dortige Fn. 24.

79 Er bildet die Grundlage für den diskursethischen Grundsatz, vgl. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln11, 2014, S. 76, 103.

80 Ebd., S. 75 f., in leicht abgewandelter Fassung S. 103.

81 Vgl. Baer (Fn. 28), S. 162.

82 Baer, KritV 1994, 154, 159. Sie bezieht sich dort zwar auf den Ausdruck ‚Neutralität‘ und trennt ihn von ‚Objektivität‘. M.E. lassen sich beide Ausdrücke aber erneut unter das Konzept Objektivität fassen.

83 Ebd.

84 Baer (Fn. 28), S. 161.

85 Ebd., S. 162. Gemeint sind auch hier Frauen, die zwar nicht zahlenmäßig, aber machttheoretisch eine Minderheit darstellten, ebd., S. 160, dortige Fn. 8.

86 Ebd., S. 162.

87 Baer, KritV 1994, 154, 158.

88 In Deutschland knüpfen heute kaum noch Normen unterschiedliche Konsequenzen an das Geschlecht, Heidorn, BLJ 2014, 23, 23. Ausnahmen sind etwa Exhibitionismus i.S.d. § 183 I StGB, der nur durch Männer begangen werden kann, und die Genitalverstümmelung, welche nur an Frauen (gesondert) strafbar ist (§ 226a I StGB). Zudem differenziert Art. 12a GG nach Männern (Wehrpflicht, Abs. 1, nur ausgesetzt) und Frauen (Zivildienst im Verteidigungsfall, Abs. 4).

89 So etwa Limbach (Fn. 5), S. 169, 173 f.; Baer, Komplizierte Subjekte zwischen Recht und Geschlecht – Eine Einführung in feministische Ansätze in der Rechtswissenschaft, in: Kreuzer (Hrsg.), Frauen im Recht – Entwicklung und Perspektiven, 2001, S. 9, 14 ff.

Bode, Die Objektivitätskritik der Legal Gender Studies43

Vollzeitarbeitnehmer, der vom Berufseinstieg bis zum Renteneintrittsalter ohne Unterbrechung durch sein Berufsleben schreitet.90 Vollzeitarbeitnehmer könne ebenso gut eine Frau sein, faktisch seien das aber vor allem Männer.91

Es wird jedoch nicht ausschließlich gefragt, welches Bild Normen dort von der Realität zeichnen, wo sie regelnd eingreifen. Vielmehr analysieren die LGS auch, in welchen Lebensbereichen sich der Gesetzgeber einer Regelung gänzlich enthält. Der Gedanke scheint zu sein, dass auch die Entscheidung dafür, einen Bereich nicht zu regeln, einen Objektivitäts- und Allgemeinheitsanspruch erhebe. Während das Recht also vorgebe, sich gegenüber dem nicht geregelten Bereich indifferent zu verhalten, gehen die LGS davon aus, dass es auch hier parteiisch sei.92 Insbesondere wenn sich das Recht aus der Privatsphäre93 heraushalte, billige es in Wahrheit die dort vorhandenen Herrschaftsstrukturen.94

2. Justiz

Ein weiterer Urheber eines Objektivitätsanspruchs ist laut den LGS die Justiz. Objektivität bedeute hier „Unparteilichkeit“ und „Uninteressiertheit“95 (Baer) oder eine „Betrachtung allein nach Maßstäben des Rechts und der Sache“96 (Eva Kocher). Nicht gemeint ist die persönliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit97 des jeweiligen Richters.98 Den LGS geht es darum, dass die Rechtsprechung ihre Arbeit als reine Rechtsanwendung darstelle.99 Sie erwecke so den Eindruck, frei von jeglicher Wertung zu sein.100 Das betreffe einerseits ihre Argumentationstechnik als solche.101 Andererseits erhebe die Justiz ausdrücklich einen Objektivitätsanspruch, wenn sie Generalklauseln auslege.102 Ein Beispiel sei die Herleitung des objektiven Empfängerhorizonts (auch) aus § 157 BGB, der die Vertragsauslegung nach den Maßstäben von Treu und Glauben statuiert.103 Der bei der Rechtsprechung identifizierte Objektivitätsanspruch lässt sich mit den Begriffspaaren wertfrei/wertend und methodenehrlich/-unehrlich kennzeichnen.

Die LGS teilen dieses als herrschend wahrgenommene Verständnis nicht. „Bei der Konkretisierung der Rechtsbegriffe und erst recht bei der Beurteilung der Fakten fließen immer wieder subjektive Deutungen, Orientierungen an Vorgedachtem, an Vor-Urteilen ein, die weder […] allgemeingültig noch […] objektiv […] sind.“104 Die Justiz wende Recht nicht bloß an, sie gewinnees erst.105 Zu fragen sei daher etwa, ob ihre subjektiven Vorverständnisse traditionell männlich seien.106 Das kann mit Blick auf Judikate geschehen, die Rechtsnormen konkretisieren, welche für die Gleichstellung von Frauen besonders wichtig sind – beispielsweise Art. 3 II GG.107 Oder die Argumentationsfiguren, die wie der objektive Dritte Objektivität bereits im Namen tragen, werden kritisch auf ihren tatsächlichen Standpunkt hinterfragt.108

3. Rechtswissenschaft

Ein Objektivitätsanspruch wird schließlich bei der Rechtswissenschaft verortet.109 Er werde zuvorderst von der Rechtsdogmatik110 vertreten.111 Die Rechtsdogmatik trete mit dem Selbstverständnis auf, unpolitisch und ideologiebefreit Normen auszulegen.112 Insofern besteht eine Parallele zu dem der Justiz attestierten Objektivitätsanspruch. Darüber hinaus setze die Rechtsdogmatik ihre teilnehmende Perspektive113 derweil absolut, behaupte also, nur sie selbst sei (objektive) Rechtswissenschaft.114 Objektivität betreffe daher auch das wissenschaftliche Selbstverständnis.115 Der hier identifizierte Objektivitätsanspruch lässt sich auf der einen Seite erneut mit den Begriffspaaren wertfrei/wertend und methodenehrlich/-unehrlich sowie auf der anderen Seite mit dem Paar wissenschaftlich/unwissenschaftlich116 kennzeichnen.

Bei der Frage nach dem politischen Gehalt der Gesetzesauslegung gehen die LGS, erneut parallel zur Kritik an der Justiz, davon aus, dass es einen solchen Gehalt gibt, und dass er traditionell männlich ist.117 Zudem vertreten sie ein weites Verständnis von Rechtswissenschaft. Diese erschöpfe sich nicht in der Dogmatik.118 Es sei unter anderem auch feministische Rechtspolitik umfasst.119

II. Herangehensweisen an Objektivität

Legt man die drei Problemkreise nebeneinander, so fallen zwei unterschiedliche Herangehensweisen der LGS an Objektivität auf. Objektivität kann entweder als Anforderung beibehalten oder schon vorgelagert als kein sinnvolles Konzept verworfen werden.120 Während der Gesetzgeber tendenziell an seinem Allgemeinheitsanspruch gemessen wird, steht der Anspruch einer wertfreien Entscheidungsfindung in Justiz und Rechtswissenschaft eher grundlegend in der Kritik. Dabei scheint Objektivität jeweils unterschiedlichen theoretischen Ursprungs zu sein: Sie wird einmal als demokratische Forderung erhoben und einmal als erkenntnistheoretisches Problem behandelt. Deutlich wird das an den unterschiedlichen Begriffspaaren, mit denen die Objektivitätskritik am Gesetzgeber (allgemein/partikular) sowie an Justiz und Rechtswissenschaft (wertfrei/wertend, methodenehrlich/-unehrlich, für letztere wissenschaftlich/unwissenschaftlich)


90 Statt vieler Baer (Fn. 89), S. 9, 15 f. m.w.N.

91 Ebd., S. 15.

92 Baer, KritV 1994, 154, 162: „Recht wirkt auf Realität, es formt sie, es spiegelt sie, es macht sie mit aus, auch in seiner Abwesenheit“ (Kursivierung durch d. Verf.). Vgl. auch dies. (Fn. 47), S. 149, 156.

93 Die LGS hinterfragen oft schon das Konzept der Privatsphäre als staatsferner Raum an sich, etwa Lembke (Fn. 16), S. 242, 250: „in der Rechtswirklichkeit barer Unsinn“.

94 Vgl. ebd., S. 249 f.; dies., JURA 2005, 236, 237. Ebenso Künzel (Fn. 8), § 2 Rn. 42-45.

95 Baer (Fn. 28), S. 161. Baer nennt dies dort ‚Neutralität‘; hier wird es unter das Konzept der Objektivität gefasst, s. schon Fn. 76, 82.

96 Kocher, JöR 2019, 403, 405. Offen bleibt, was sich hinter „der Sache“ verbirgt. Kocher selbst sieht jedenfalls die „Natur der Sache“ als „naturrechtliche[…] Leerformel[…]“ an, ebd., 418.

97 In diesem Sinne grenzt Kocher, JöR 2019, 403, 405 ‚Unabhängigkeit‘ und ‚Objektivität‘ voneinander ab.

98 Sie ist geregelt in Art. 97 GG und den jeweiligen Prozessordnungen, unter anderem in den §§ 41 ff. ZPO, 22 ff. StPO, 54 VwGO. Ein Versuch, Objektivität über Befangenheitsregelungen herzuleiten, findet sich zwar bei Nelles (Fn. 71), S. 81, 95 (Erläuterung bei Fn. 71). Dieser ist m.E. aber de lege ferenda zu verstehen, denn er möchte Befangenheit über die Gruppenangehörigkeit und -betroffenheit definieren. Wenigstens die punktuelle Regelung in § 20 I 3 (L)VwVfG(e) folgt dem nicht, auch dazu bereits ebd.

99 Lembke (Fn. 16), S. 242, 246.

100 Für den ‚objektiven Dritten‘ im Zivilrecht, aber verallgemeinerbar Kocher, JöR 2019, 403, 409.

101 Limbach (Fn. 5), S. 169, 174-177.

102 Kocher, JöR 2019, 403, 407.

103 Ebd.

104 Gerhard-Teuscher, Die Frau als Rechtsperson – Über die Voreingenommenheit der Jurisprudenz als dogmatische Wissenschaft, in: Hausen/Nowotny (Hrsg.), Wie männlich ist die Wissenschaft?, 1986, S. 108, 114. Zustimmend Baer, KritV 1994, 154, 162, dortige Fn. 48.

105 Limbach (Fn. 5), S. 87, 94; Lembke (Fn. 16), S. 242, 246.

106 Gerhard-Teuscher (Fn. 104), S. 108, 115-122.

107 Ebd., S. 108, 120.

108 Im Ansatz bei Kocher, JöR 2019, 403, 420-426.

109 Limbach (Fn. 5), S. 87, 96.

110 Mit Sacksofsky, Rechtswissenschaft: Geschlechterforschung im Recht – Ambivalenzen zwischen Herrschafts- und Emanzipationsinstrument, in: Kortendiek/Riegraf/Sabisch (Hrsg.), Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung, Wiesbaden 2019, S. 631, 633 f. meint ‚Rechtsdogmatik‘ hier den Teil der Rechtswissenschaft, der aus einer Teilnehmerperspektive normative Aussagen über das Recht trifft, also entscheidungsorientiert arbeitet und dabei das geltende Recht als Prämisse setzt. Zumindest ähnlich auch der sog. teilnehmende Beobachter bei Bumke, Einführung in das Forschungsgespräch über die richterliche Rechtsarbeit, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 1, 19.

111 Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 17; Gerhard-Teuscher (Fn. 104), S. 108 (114); Sacksofsky (Fn. 110), S. 631, 633.

112 Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 17.

113 S. Fn. 110.

114 Gerhard-Teuscher (Fn. 104), S. 108, 114; Sacksofsky (Fn. 110), S. 631, 634.

115 Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 19.

116 Dieses Begriffspaar ist insofern von den anderen verschieden, als dass die LGS deskriptiv nicht zwangsläufig das zweite Attribut verwenden würden. Sie bestreiten nicht unbedingt den Wissenschaftscharakter der Rechtsdogmatik, lehnen aber ihre Gleichsetzung mit der Rechtswissenschaft ab.

117 Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 17.

118 Ebd., § 1 Rn. 19; Sacksofsky (Fn. 110), S. 631, 634.

119 Sacksofsky (Fn. 110), S. 631, 634.

120 Die Idee einer solchen Unterteilung stammt von Olsen, KJ 1990, 303, 310 ff. Olsen bezieht sich allerdings auf den anglo-amerikanischen Diskurs und unterscheidet drei Positionen. Die bei ihr zuerst genannte Position ähnelt in ihrem Umgang mit Objektivität der hier zuerst genannten (C. II. 1.).

Bode, Die Objektivitätskritik der Legal Gender Studies44

beschrieben wurde.

1. Objektivität als demokratische Forderung

Die erste Herangehensweise geht davon aus, dass der rechtliche Diskurs objektiv sein kann. Sie nimmt außerdem an, dass er objektiv sein sollte.121 Jedoch bestreitet sie, dass er bereits objektiv ist.122 Nur in diesem letzten Punkt besteht ein Unterschied zu der von den LGS als herrschend eingeordneten Auffassung, wonach Recht objektiv sein kann, sein sollte und es bereits ist. Diese Auffassung wird also an ihrem eigenen Maßstab, Objektivität, gemessen. Der Vorwurf an sie leitet sich daraus ab, dass sie ihr eigenes Versprechen nicht einzuhalten vermöge. Jutta Limbach formuliertein Bezug auf das von ihr synonym verwendete Konzept Neutralität protagonistisch123 :

„Man mag eine Rechtskritik parteilich nennen, die unermüdlich denunziert, daß formal geschlechtsunspezifische Vorschriften und Richtersprüche Frauen benachteiligen, wenn deren gesellschaftliche Lage nicht reflektiert wird. Aber im Grunde schafft jenes einseitige Bemühen, verzerrt wahrgenommene Sachverhalte mit empirischem Blickwinkel zurechtzurücken, erst ein ausbilanziertes Bild der gesellschaftlichen Situation und stellt damit Neutralität erst her.“124

Fordern die LGS eine solche Erweiterung des Rechts um den weiblichen Blick, so ist das vor allem ein demokratisches Anliegen.125 Zeigen lässt sich das exemplarisch an Baers Ausführungen zum Gesetzgeber. Sie schreibt, wer „an rechtsetzenden […] Diskursen nicht oder nicht ausreichend als Sprechende oder Gehörte teilnimmt, kann durch Recht das eigene Er-Leben nicht durch Legalität legitimieren“.126 Darauf sei aber die „demokratische Hoffnung“ gerichtet.127 Ziel sei ein „demokratischer Zustand der gleichberechtigten Wahrnehmungen“.128 Einem ähnlichen Muster folgt die Kritik an den Modellen eines Gesellschaftsvertrags, welcher keineswegs ein Vertrag zwischen „Freien und Gleichen“, sondern einer zwischen Männern sei.129 Das Anliegen ist demnach erneut, dem Anspruch des herrschenden Modells (Freie und Gleiche schließen einen Vertrag) die so wahrgenommene Realität gegenüberzustellen (Männer schließen einen Vertrag).

Dieses Kritikmuster passt auf den Gesetzgeber und die Justiz als staatliche Gewalten. Denn nach Art. 20 II 1 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus, also nicht bloß von den Männern. Und auch der Gesellschaftsvertrag als theoretische Begründung dessen sieht vor, dass das gesamte Volk das staatliche Gewaltmonopol konstituiert.130 Wird jene Gewalt ausgeübt, soll es sich darin wiederfinden.131 Mit dieser Herangehensweise an Objektivität lässt sich darüber hinaus – wenigstens teilweise – die Kritik an der Rechtsdogmatik erklären. Sie übt als Teil der Rechtswissenschaft zwar selbst keine staatliche Gewalt aus. Doch steht sie vor allem deshalb in der Kritik der LGS, weil sie in Deutschland einen erheblichen Einfluss auf die Entscheidungspraxis der Gerichte ausübe.132 Die Kritik an ihr ist so betrachtet akzessorisch zu der an der Justiz.

Dieser Herangehensweise an Objektivität geht es also um eine umfassende demokratische Repräsentation. Jene wird als derzeit nicht erfüllt angesehen, weil das Recht tatsächlich männlich und heterosexuell sei.133 Das Ideal sei Allgemeinheit, der jetzige Zustand Partikularität.134


121 Ebd.

122 Vgl. ebd.

123 S. recht knapp auch Lembke, JURA 2005, 236, 241 mit der Unterüberschrift „Auf dem Weg zu mehr Objektivität“. Sie fordert, die Rechtswissenschaft müsse sich von dem „männlichen Subjekt“ lösen, wolle sie „objektiver, neutraler und universeller“ werden.

124 Limbach (Fn. 5), S. 169, 177.

125 Vgl. Baer (Fn. 28), S. 162; dies., KritV 1994, 154, 158. Auf diesen Aspekt stützt auch Volkmann, Rechtsphilosophie, 2018, § 1 Rn. 301, seine Einordnung der feministischen Rechtstheorie, welche laut ihm das „liberale Versprechen auf solche Gruppen übertragen sehen will, die davon bisher direkt oder indirekt ausgenommen waren“.

126 Baer (Fn. 28), S. 162.

127 Ebd.

128 Ebd.

129 Lembke, JURA 2005, 236, 239 f.; Schmidt, Grundannahmen des Rechts in der feministischen Kritik, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft: ein Studienbuch2, 2012, § 3 Rn. 4. Vgl. auch in Bezug auf die Rawls’sche Konzeption Baer (Fn. 28), S. 163.

130 Vgl. statt vieler Lembke, JURA 2005, 236, 240 m.w.N.

131 Die Justiz ist jeweils einfachgesetzlich dazu verpflichtet, ihre Urteile (im Fall des BVerfG auch Beschlüsse) „im Namen des Volkes“ zu verkünden.

132 Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 17.

133 Schmidt (Fn. 129), § 3 Rn. 4.

134 Vgl. Baer, KritV 1994, 154, 159.

Bode, Die Objektivitätskritik der Legal Gender Studies45

2. Objektivität als erkenntnistheoretisches


Problem

Die zweite Herangehensweise teilt schon die Annahme nicht, Recht könne objektiv sein. Die Frage, ob es objektiv sein sollte, stellt sich für diese Auffassung nicht. Objektiv ist das Recht für sie denklogisch nicht. Ihr Vorwurf ist grundlegender: Nicht der richtige Maßstab wird unzureichend eingehalten, sondern es wird von vornherein der falsche Maßstab gewählt.

Dieser Zugang lässt sich häufig bei den Problemkreisen Justiz und Rechtswissenschaft beobachten. Dort kritisieren die LGS weniger die Auslegungsergebnisse als vielmehr die von ihnen so wahrgenommene Behauptung, diese Ergebnisse seien objektiv richtig. Sie hegen also Zweifel daran, dass Auslegung und Entscheidung einem objektiv korrekten Ergebnis zugänglich sind. Ihnen gehe es nicht darum, die „politischen und ideologischen Anteile“ zu „eliminieren“, sondern sie bei ihrer eigenen Herangehensweise transparent zu machen.135 Beim Gesetzgeber ist teilweise ebenfalls eine Tendenz zu beobachten, Objektivität als Konzept zu verwerfen. Baer geht nämlich zugleich davon aus, Objektivität sei „als ideologisch und eigentlich männlich“ entlarvt worden.136 Recht könne zumindest „in einem traditionellen Sinne“ nicht „neutral und objektiv sein“.137

Wenn Objektivität insofern mit methodischen Idealen wie Wertfreiheit assoziiert wird, hat sie einen anderen theoretischen Ursprung. Jedenfalls leiten einige Autorinnen diese Überlegungen aus der generellen Debatte um Objektivität in Wissenschafts- und Erkenntnistheorie ab.138 Die Kritik an Objektivität im Recht stehe in der Tradition feministischer Wissenschaftskritik.139

Dieser Begründungsstrang kann anhand des Konzepts der sog. Positionalität verdeutlicht werden. Positionalität (positionality) wurde 1990 von Katharine T. Bartlett entwickelt, einer US-amerikanischen Vertreterin der LGS.140 Sie begreift Positionalität als vierten Weg neben drei anderen Wissenstheorien: dem rationalen Empirismus, den feministischen Standpunkttheorien und dem Postmodernismus.141 Diese drei Theorien hätten jeweils Nachteile. Sie hielten unreflektiert an Objektivität als Ideal fest (Empirismus),142 setzten fälschlicherweise ein einheitliches Subjekt voraus (Standpunkttheorien),143 oder verwürfen unbrauchbar die Möglichkeit von Wissen überhaupt (Postmodernismus)144. Positionalität gelinge die Balance dazwischen, Objektivität einerseits zu hinterfragen,145 andererseits aber die Möglichkeit von Wahrheit und Erkenntnis beizubehalten.146 Sie betone die Position des Wissenden, seinen notwendig beschränkten Horizont.147 Bartlett stützt sich hierfür auf das Konzept der situated knowledges.148 Diese situated knowledges waren zuvor von der US-amerikanischen Feministin Donna Haraway entwickelt worden, allerdings für die Erkenntnistheorie im Allgemeinen.149 Eine Prämisse, die Bartlett lediglich setzt,150 ist, dass die Wissenstheorien, insbesondere die situated knowledges, auf den rechtlichen Diskurs übertragbar sind.

Positionalität wurde vor Kurzem von den LGS im deutschsprachigen Raum aufgegriffen.151 Eva Kocher hat beispielsweise vorgeschlagen, sie als Anleitung für die Rechtspraxis zu formulieren.152 Das hat sich als voraussetzungsreich erwiesen.153 Denn Positionalität entstammt der Debatte um Wissenstheorien. Jene erforschen, inwiefern Erkenntnis aus der Beobachterperspektive möglich ist.154 Die Rechtspraxis hingegen versucht weniger, zu erkennen. Sie muss aus der Teilnehmerperspektive entscheiden.155


135 Für die Rechtswissenschaft Autor/innenkollektiv (Fn. 9), § 1 Rn. 17.

136 Baer, KritV 1994, 154, 157.

137 Baer (Fn. 28), S. 160.

138 Kocher, JöR 2019, 403, 420 ff. m.w.N.; Mangold, Repräsentation von Frauen und gesellschaftlich marginalisierten Gruppen als demokratietheoretisches Problem, in: Eckertz-Höfer/Schuler-Harms (Hrsg.), Gleichberechtigung und Demokratie – Gleichberechtigung in der Demokratie: (Rechts-)Wissenschaftliche Annäherungen, 2019, S. 109, 119. In weiten Teilen auch Greif/Schobesberger (Fn. 42), S. 115-117.

139 Greif/Schobesberger (Fn. 42), S. 115: „‘Objektivität‘ dient zur Beschreibung einer Form der Erkenntnisgewinnung, die von der forschenden Perspektive unabhängig ist. Sie geht von der Prämisse aus, dass der objektive Beobachter bei der Untersuchung der Wirklichkeit von seiner eigenen Befindlichkeit völlig getrennt sei. Dieser Auffassung setzt die feministische Wissenschaftskritik entgegen, dass Erkenntnis ohne Standpunkt nicht möglich ist. Auch so gewonnene objektive Erkenntnisse geben nur vor, standpunktlos zu sein, während sie tatsächlich männlich sind.“

140 Bartlett, Harv. L. Rev. 1990, 829, 880 ff. Fortgeführt bei dies., Ala. L. Rev. 2014, 375, 388-393.

141 Bartlett, Harv. L. Rev. 1990, 829, 867 f.; dies., Ala. L. Rev. 2014, 375, 377-383.

142 Bartlett, Harv. L. Rev. 1990, 829, 872.

143 Ebd., 873 ff.; dies., Ala. L. Rev. 2014, 375, 382.

144 Bartlett, Harv. L. Rev. 1990, 829, 879; dies., Ala. L. Rev. 2014, 375, 383.

145 Bartlett, Harv. L. Rev. 1990, 829, 880 schreibt noch: „Like the postmodern position […] positionality rejects the […] objectivity of truth as situated and partial.” Bei dies., Ala. L. Rev. 2014, 375, 383 heißt es dann jedoch: „Positionality recognizes that it is not enough to be suspicious of objectivity; we must also be commited to trying to achieve it.” Hier wird Bartletts jüngere Position zugrunde gelegt. Auch wenn diese jüngere Position Objektivität nicht mehr in Gänze abzulehnen scheint, sind ihre Zweifel daram offenbar noch immer gravierend genug, um Objektivität mit dem Konzept der Positionalität ablösen zu wollen.

146 Bartlett, Harv. L. Rev. 1990, 829, 880 f. Etwas zurückhaltender Bartlett, Ala. L. Rev. 2014, 375, 393: „Positionality tries to have it both ways […]“. Sie geht von einer Art Wahrheitsminimum aus und folgert daraus, dass Wahrheit nicht vollständig verworfen werden könne. Zu jenem Wahrheitsminimum gehören nach Bartlett die Gebote, die eigenen Kinder zu lieben und andere nicht aus Spaß umzubringen, sowie die Einsicht, die Demokratie sei besser als der Autoritarismus, Bartlett, Harv. L. Rev. 1990, 829, 883; dies., Ala. L. Rev. 2014, 375, 394.

147 Bartlett, Harv. L. Rev. 1990, 829, 881; dies., Ala. L. Rev. 2014, 375, 393.

148 Bartlett, Harv. L. Rev. 1990, 829, 880 ff.; dies., Ala. L. Rev. 2014, 375, 390. So in Bezug auf Bartletts ersten Ansatz auch Kocher, JöR 2019, 403, 422.

149 Haraway, Feminist Studies 1988, 575, 575 ff. Haraway begreift ihr Konzept der situated knowledges als einen dritten Weg zwischen „two poles of a tempting dichotomy on the question of objectivity”, ebd., 576. Die situated knowledges sollen vermitteln zwischen einem radikal-konstruktivistischen Argument, welches jede Form des Wissens ablehnt, und Objektivität im traditionellen Sinne, ebd.

150 Bartlett, Harv. L. Rev. 1990, 829, 867 schreibt, sie werde verschiedene feministische Ansätze zu der Frage untersuchen, was Richtigkeit im Recht bedeutet. Dann springt sie auf feministische Wissenstheorien im Allgemeinen und beschränkt sich darauf, ihnen einzelne rechtliche Fragen zuzuordnen, ebd., 868 ff. Der Anspruch auf Richtigkeit ist bei ders., Ala. L. Rev. 2014, 375, 376 erneut der gemeinsame Nenner von Wissenstheorien und Recht: „The question of whether a decision or claim is objective can arise in law, morality, science, and any other area in which being ‚right‘ matters.“ Davon abgesehen wird die Prämisse der Übertragbarkeit auch hier nur gesetzt: „[D]ebates about the nature of truth and truth-seeking are not significantly different in the sciences than they are in law […]“, ebd., 389.

151 Mangold (Fn. 138), S. 109, 119; Kocher, JöR 2019, 403, 422.

152 Kocher, JöR 2019, 403, 422.

153 Benennung der Schwierigkeiten ebd.

154 Ebd.

155 Ebd.: „Wenn Positionalität allerdings im Feld der Rechtspraxis und damit der Entscheidung wirksam werden soll, muss die Reflektion aus der Rolle der Beobachterin in die der Teilnehmerin überführt werden. Dann geht es nicht mehr in erster Linie um Fragen des Wissens und der Wahrheit, sondern um Normativität […]. Während der Ansatz der Positionalität davon ausgeht, unterschiedlich situierte Wissens- (und Wollens-)Bestände ließen sich nebeneinander setzen, impliziert jede Entscheidung eine Entscheidung für eine Position.“

Bode, Die Objektivitätskritik der Legal Gender Studies46

Diese Schwierigkeiten sind exemplarisch für den erkenntnistheoretischen Begründungsstrang von Objektivität. Wird mit der Einsicht der feministischen Wissenschaftskritik begonnen, dass Objektivität zumindest im hergebrachten Sinne kein sinnvolles Konzept sei, so ist zunächst zu fragen, inwiefern diese Einsicht das Recht betrifft. Es liegt terminologisch noch nahe, sie auf die Rechtswissenschaft anzuwenden. Doch bereits hier muss differenziert werden. Namentlich die Rechtsdogmatik, die insofern im Fokus der LGS steht, arbeitet aus der Teilnehmerperspektive.156 Dasselbe gilt, wie gesehen, für die Justiz. Schwierig scheint es schließlich, mit dieser theoretischen Rückbindung die Kritik am Gesetzgeber zu fassen. Denn der Gesetzgebungsprozess ist ein anderer als der Auslegungs- und Entscheidungsprozess von Justiz und Rechtsdogmatik. Letzterer mag einem Erkenntnisprozess wenigstens sprachlich näher stehen.

Diese zweite Herangehensweise an Objektivität arbeitet also mit Konzepten aus der Wissenschaftstheorie. In der Kritik der LGS kommt sie vor allem bei Auslegung und Entscheidung zum Vorschein, wenn mit Objektivität der methodische Anspruch auf Richtigkeit und Eindeutigkeit gemeint ist. Doch schon dort erweist sich die theoretische Rückkopplung als anspruchsvoll.

3. Vermengung der zwei Maßstäbe

Die demokratietheoretische und die erkenntnistheoretische Herangehensweise werden in der Objektivitätskritik der LGS häufig vermengt. Es werden einzelne Elemente von beiden genannt, aber die Herangehensweisen nicht unterschieden.157 Gelegentlich finden sich zwar Momente, wo die Herangehensweisen angesprochen werden158 oder als solche erkennbar sind159. Diese Aussagen sind dann aber eher beiläufiger Natur.

Als Beispiel dienen kann eine weitere Untersuchung Baers.160 Sie fragt dort zunächst, ob eine Regelung objektiv sei, wenn sie die „Wahrnehmungen unterdrückter Gruppen in einen Rechtsetzungsprozeß“ nicht einbeziehe.161 Dann heißt es in unmittelbarem Zusammenhang damit, der „Objektivität des Richters, des Gesetzgebers, jeder rechtlichen Entscheidung“ habe die „feministische Wissenschaft die geschlechtsspezifischen Standpunkttheorien entgegengesetzt“.162 So sei „Objektivitätskritik […] vorrangig Kritik einer sich auf Methode und insbesondere Erkenntnis auswirkenden Prämisse: Der objektive Beobachter […] untersucht in völliger Abspaltung von seiner eigenen Befindlichkeit – eben nicht subjektiv – die Wirklichkeit“.163 „Feministische Wissenschaftskritik“ setze dagegen, „daß er das nicht könne“.164 „Erkenntnis könne es ohne Standpunkt nicht geben.“165 Später resümiert Baer, „der Begriff feministische Rechtswissenschaft“ beziehe sich „in erster Linie auf ein methodisches Postulat der erkenntnistheoretischen Situiertheit.“166

Während Baer also mit der Inklusivität der Rechtsetzung beginnt (demokratietheoretische Herangehensweise), begibt sie sich anschließend in die Wissenschaftstheorie (erkenntnistheoretische Herangehensweise). Sie fragt dort, ob es Erkenntnis vom Standpunkt eines objektiven Beobachters aus geben könne. Mit der „erkenntnistheoretischen Situiertheit“ verwendet sie ein Konzept, das eine sprachliche Nähe zu den situated knowledges aufweist.

Das Potenzial einer Verbindung der beiden Herangehensweisen mag unterschiedlich beurteilt werden. Das Urteil wird abhängig davon sein, ob und inwiefern man eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen ihnen zu erkennen vermag. Ein gewichtiger Unterschied besteht jedenfalls darin, dass Objektivität für den ersten Zugang weiterhin ein sinnvolles Konzept darstellt und für den zweiten nicht. Der Beitrag soll sich an dieser Stelle darin erschöpfen, auf die beiden Herangehensweisen hinzuweisen und ihre Explikation anzuregen. So ließe sich das Konzept der Objektivität für die Zwecke der LGS konturieren.167


156 S. Fn. 110.

157 So bei Baer/Elsuni (Fn. 15), S. 270, 272; Greif/Schobesberger (Fn. 42), S. 115-118; Lembke, JURA 2005, 236, 240 f.; Schmidt (Fn. 129), § 3  Rn. 9.

158 Baer (Fn. 28), S. 161, dortige Fn. 15 schreibt, bei der Objektivität des Rechts gehe es „weniger um erkenntnistheoretische Objektivität“.

159 So bei Baer, KritV 1994, 154, 156 f.

160 Ebd., 154 ff.

161 Ebd., 156.

162 Ebd.

163 Ebd., 157.

164 Ebd.

165 Ebd.

166 Ebd., 164.

167 Denn auch eine klare terminologische Auftrennung der zwei Herangehensweisen, etwa in ‚Objektivität‘ einerseits und ‚Neutralität‘ andererseits, existiert zurzeit nicht (daher auch die gemeinsame Diskussion unter ‚Objektivität‘ in diesem Beitrag, s. Fn. 76, 82). S. beispielsweise den Sprung in der Abgrenzung beider Ausdrücke zwischen ebd., 156-159 und dies. (Fn. 28), S. 161.