Die Macht des Rechts durch verflochtene Erwartungen

Ram Singh*

Einleitung von Hans-Bernd Schäfer1

Die Humboldt-Stiftung hat dem an der Cornell University in den USA lehrenden Wirtschaftswissenschaftler Kaushik Basu den hochangesehenen Alexander-von-Humboldt-Forschungspreis als Auszeichnung für seine wissenschaftlichen Verdienste zuerkannt. Die Preisverleihung fand im März 2022 in Bamberg statt. Im Jahr 2018 veröffentlichte Basu ein grundlegendes Werk zur Theorie des Rechts, das die Bucerius Law School bewog, ihn für zwei Monate als Forschungsprofessor einzuladen und ihn für den Humboldt-Forschungspreis vorzuschlagen. Durch die Preisverleihung ist jetzt ein mehrmonatiger Forschungsaufenthalt ab Juli 2022 an der Bucerius Law School möglich geworden, durch den die interdisziplinäre rechtswissenschaftliche Forschung und der Dialog zwischen Disziplinen gestärkt werden soll. Geplant sind Diskussionsrunden, Vorträge und Workshops, an denen insbesondere auch Studierende und Doktoranden der Bucerius Law School teilnehmen können.

Kaushik Basu, der seine ph.d. Arbeit bei dem ebenfalls aus Indien stammenden Nobelpreisträger Amartya Sen schrieb, hat sich über Jahrzehnte mit Problemen der ökonomischen Entwicklung, Armut, Kinderarbeit, Korruption sowie mit ökonomischen Grundsatzfragen der Spieltheorie beschäftigt. Seine Schriften haben die Wirtschaftswissenschaft und die Praxis nationaler und internationaler Organisationen stark beeinflusst. Basu war Chefberater des indischen Finanzministers und Senior Vice-president sowie Chefvolkswirt der Weltbank (2014-17). Zurzeit ist er Präsident der International Economic Association.

Zur Einführung unseres Gasts ist der nachfolgende Besprechungsaufsatz zu Basu’s Buch „The Republic of Beliefs“ über die Voraussetzungen von Rechtsstaatlichkeit besonders geeignet. Er stammt von dem Ökonomen Ram Singh, der „Law and Economics“ an der Delhi School of Economics lehrt. Rechtsstaatlichkeit hat viele Voraussetzungen koordinierten Verhaltens von Staatsorganen, die Basu mit spieltheoretischen Methoden analysiert und deren Erfüllung erst die Macht des Rechts bewirkt. Basu’s Forschungsergebnisse weisen Parallelen zum Böckenförde Diktum auf. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Die Nähe von Basu’s spieltheoretischer Rechtstheorie zu einer in Deutschland entwickelten und breit diskutierten Grundlagentheorie des Rechts machen den Autor zu einem hochinteressanten und besonders willkommenen Gast, der insbesondere mit dem Lehrstuhl für die Grundlagen des Rechts von Christian Bumke zusammenarbeiten wird.

A. Die ungeklärten Grundlagen der ökonomischen Analyse des Rechts2

Dem ange­sehenen, an der Harvard Law School lehrenden amerikanischen Rechtswissenschaftler Cass Sunstein zufolge hat die Ökonomische Analyse des Rechts (ÖAR) das juristische Denken revolu­tio­niert. Diese Disziplin nahm großen Einfluss darauf, wie Industrie­nationen wichtige Rechtsprobleme analysieren und lösen. Dies gilt gleichermaßen für Fragen des Eigentumsrechts, des Vertrags- und des Deliktsrecht, des Strafrechts und des Regulierungsrechts. Gleichwohl hat die Disziplin bislang keine zufriedenstellenden Antworten auf einige zen­trale Grundlagenprobleme liefern können: Warum befolgen die Menschen einige Gesetze, andere aber nicht? Warum sind einige Gesellschaften gesetzestreuer als andere? Warum ist Korruption in einigen Ländern allgegenwärtig, in anderen aber nicht? Diese Fragen haben viel theoretische und empirische Literatur sowohl in den Rechts- als auch in den Wirtschafts­wis­sen­schaften angeregt – doch brauchbare Antworten blieben bislang aus.

Kaushik Basus Buch The Republic of Beliefs unterzieht die Grundannahmen der ÖAR einer neuerlichen Untersuchung. Basu argumentiert, dass die Disziplin wie wir sie heute


*Ram Singh ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Ökonomische Analyse des Rechts an der Delhi School of Economics.

1 Affiliate Professor (Law and Economics), Bucerius Law School.

2 Der folgende Text ist die deutsche Übersetzung eines Aufsatzes von Ram Singh (2020), Kaushik Basu: The republic of beliefs: A new approach to law and economics, Indian Economic Review 54 (2), 371-380

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kennen außerstande ist, die oben genannten und weitere dringliche an sie gerichtete Fragen zu beant­wor­ten. Dieses Versagen findet man in allen Standardmodellen der ÖAR, sagt der Autor. Auf eindringliche Weise fordert das Buch dazu auf, die Bandbreite der ÖAR zu überdenken. Der im Buch entworfene neue Analyserahmen hat das Potenzial zu paradigma­tischen Veränderungen in der ÖAR, insofern vergleichbar mit dem Effekt, den die Konzepte des Nash-Gleichgewichts (Nash, 1951) oder des Coase-Theorems (Coase, 1960) auf die Volks­wirt­schaftslehre hatten. Darüber hinaus bietet das Buch zahlreiche interessante Einblicke in Themen wie Führung von Organisationen, Macht und soziale Normen. Insgesamt eröffnet das Buch neue Per­spek­tiven nicht nur auf das Recht und die Wirtschaftswissenschaften, sondern auch auf Politik­wissenschaft, Philosophie und Soziologie, neben weiteren Disziplinen. Während das Buch einige der genannten Rätsel löst, an denen der Mainstream der ÖAR bislang gescheitert ist, wirft es auch neue Fragen auf, die zentral für unser Verständ­nis des Rechts und seiner Wirkweise sind. Zur Vereinfachung der Dar­stellung sollen nachfolgend einige Szenarien dienen, die in der Rechtspraxis typisch sind:

Szenario 1: Ein Handelsunternehmen hat seinen Sitz in einer Wohngegend. Das Geschäft ist montags bis freitags für Kunden geöffnet. Die Eigentümerin überlegt, auch am Sonnabend zu öffnen, um den Umsatz zu steigern. Der erwartete Gewinn dieser Maßnahme beträgt G>0 pro Woche. Jedoch würde der zusätzliche Kundenverkehr eine wöchentliche Belastung in Höhe von B>G für die Anwohner bedeuten: mehr Verkehr und Lärm am Wochenende. Die Aus­wei­tung der Öffnungszeiten würde also die soziale Gesamtwohlfahrt aller Betroffener redu­zieren. Allerdings liegt die Entscheidung darüber allein bei der Geschäftsinhaberin, und als rationale Person, die ihr Vermögen zu maximieren sucht, wird sie auch sonnabends öffnen.

Die Frage ist nun: Kann das Recht den erwarteten Gewinn der Unternehmerin so ändern, dass sie die Öffnungszeiten nicht ausdehnt? Gemäß dem Mainstream-Modell der ÖAR: Ja. Im Standardmodell3 gelten Menschen als rationale, gewinnmaximierende Ak­teure, was dem Gesetzgeber die Möglichkeit gibt, über die Veränderung der Auszahlungen („Payoffs“) Verhaltensänderungen zu erzielen (siehe insbesondere Becker, 1968). Zur Illustra­tion erweitern wir nun das Szenario.

Szenario 2: Nehmen wir zusätzlich zu der in Szenario 1 geschilderten Situation an, dass der zuständige Normgeber eine neue Vorschrift erlässt, die zum Schutz der Anwohner in Wohngebieten ge­werbliche Aktivitäten am Wochenende verbietet. Unser Handelsbetrieb müsste eine Strafe in Höhe von S zahlen, wenn er entgegen der Vorschrift am Sonnabend öffnete. Die Straf­zah­lung wird mit einer Wahrscheinlichkeit w fällig, also beträgt der Erwartungswert der Strafe wS.

Nach Becker (1968)4 läuft das Standardargument der ÖAR wie folgt: Ohne die Vorschrift gewinnt die Unternehmerin den Betrag G, wenn sie am Sonnabend öffnet. Die neue Vorschrift stellt diesem Gewinn den Erwartungswert der Strafe, wS, entgegen. Wenn 0 gilt, dann wird ohne die Vorschrift am Sonnabend geöffnet, mit der Vorschrift jedoch nicht.5 Die Vorschrift kann über ihren Einfluss auf die insgesamt erwarteten Gewinne eine Ver­hal­tensänderung bewirken. Die Sichtweise, dass das Recht durch Haftung und Strafen die Gewinne und somit das Handeln der rechtsunterworfenen Akteure beeinflusst, spiegelt sich in vielen grundlegenden Arbeiten zum Recht wider. Kaushik Basu stellt diese von John Austin begründete Imperativentheorie, nach der das Recht nur wirkt, weil und wenn seine Verletzung eine Sanktion nach sich zieht in „The Republic of Beliefs“ infrage. Er argumentiert, dass das Recht allein das Verhalten Einzelner eben nicht ändern kann, indem es deren Payoffs beeinflusst. Dies ist die Kernaussage des Buches – subtil und dennoch weitreichend. Zur Illustration ihrer Bedeutung dient ein weiteres Szenario.

Szenario 3: Wir befinden uns wieder in Szenario 1, also ohne Verbot des Gewerbebetriebs am Wochenende. Allerdings gibt es einen Herrn X, die sich oft in der Nachbarschaft aufhält. Wenn X den Betrieb an einem Sonnabend geöffnet vorfindet, verlangt er den Betrag S – und er verfügt über private Machtmittel, um diese Forderung durchzusetzen. Da X aber nicht immer in der Stadt ist, wird die Zahlung für eine Öffnung am Sonnabend nur mit Wahr­scheinlichkeit w fällig. Unter diesen Umständen wird die Eigentümerin nur dann sonn­abends öffnen, wenn G>wS. Die Gewinnaussichten werden also durch die Anwesenheit von X beeinträchtigt, und somit hängt das Verhalten der Eigentümerin von den Entscheidungen des X ab.

Kann das Recht die gleiche Wirkung erzielen? Nein. Zur Erklärung gehen wir zurück zu Szenario 2, mit der geltenden Vorschrift. Damit die Vorschrift die Payoffs und das Verhalten der Unternehmerin ändern kann, muss Folgendes gelten: Sobald die Vorschrift erlassen wird, erscheint auf dem Spielfeld ein durchsetzungsstarker Akteur, z.B. ein Inspekteur oder Polizist, der die Strafe S einzutreiben vermag, genau wie Herr X in Szenario 3. Dieser Akteur wird (mit Wahrscheinlichkeit w) die Strafe auferlegen, wenn das Geschäft am Sonnabend geöffnet ist.

Genau dies ist die Annahme, die der ÖAR-Mainstream macht, wenn er argumentiert, dass das Recht die Gewinnerwartungen und das Verhalten Einzelner verändern kann. In anderen Worten ging die ÖAR bislang weitgehend davon aus, dass der Erlass einer Vorschrift per se einhergeht mit der Existenz einer Institution, die Haftung oder Strafe im Sinne der Vorschrift durchsetzen kann. Diese Institution kann aus einer einzelnen Person (z.B. dem Inspekteur) oder einer Gruppe von Personen (z.B. dem Inspekteur und seinen Vorgesetzten) bestehen. Die neoklassische ÖAR geht weiterhin davon aus, dass alle Akteure in dieser Institution die Präferenzen eines Roboters haben: Sie wollen nur den Willen des Rechts umsetzen; ein eigenes,


3 Die Begriffe ‘neoklassisch’, ‘Standardmodell’ und ‘Mainstream’ werden hier austauschbar verwendet. Im Ge­gen­­­satz zu dieser mit der University of Chicago assoziierten Herangehensweise steht jene, die auf Guido Calabresi von der Yale Law School zurückgeht und weniger streng ist bezüglich der Annahme der individuellen Rationalität.

4 Der Richter und ÖAR-Pionier Richard Posner hat Beckers Arbeit als Urquelle der ökonomischen Literatur zu Verbrechen, seiner Eindämmung und Ahndung bezeichnet.

5 Angenommen wird weiterhin, dass die Unternehmerin risikoneutral ist und das Geschäft bei einem Gewinn von null geschlossen bleibt.

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etwa davon abweichendes Interesse kennen sie nicht.6 The Republic of Beliefs argumentiert hingegen, dass diese An­nahmen die Quelle einer Widersprüchlichkeit sind, die sich durch die wichtigsten Modelle dieser Disziplin zieht.

Schafft das die Existenz einer Rechtsnorm nicht automatisch eine Durchsetzungsinstanz? Nein. Zunächst scheint es, als könnte der Gesetzgeber für die Durchsetzung der Vorschriften einfach eine Organisation schaffen und für ihre personelle und finanzielle Ausstattung sorgen. Die Wirk­sam­keit dieser Organisation würde dann aber in erster Linie aus der geeigneten Kombination perso­neller und anderer Ressourcen erwachsen. Diese Organisation könnten die gleiche Wirkung jedoch auch ohne die Rechtsnorm entfalten, wenn es zu ihrem Nutzen und sie mächtig genug ist. Die Vorschrift an sich kann weder die Ressourcen erschaffen noch die Organisation, die die Ressourcen wirksam einsetzt. Selbst wenn wir annehmen, dass aufgrund der Vorschrift eine Durchsetzungsinstanz geschaffen werden und finanziell gut ausgestattet werden kann – warum sollte diese Organisation die Vorschrift dann auch durchsetzen wollen? Nur weil die Vorschrift das so vorsieht? Im echten Leben – in manchen Ländern mehr als in anderen, und nicht zuletzt im Heimatland des Buchautors – sehen wir eher ein kollektives Wegsehen seitens der Polizei, der Gerichte und der Bürger. In Indien ist das Erbrecht von Frauen nur ein prominentes Beispiel von vielen. Das jahrelange Hinwegsehen der Behörden über cum-ex Geschäfte und Dieselabgasmanipulationen in Deutschland sind weitere Beispiele.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Verabschiedung einer Vorschrift an sich weder eine effektive Durchsetzungsinstitution schaffen kann, noch kann sie eine bereits bestehende Institution verschwinden lassen. Gäbe es eine solche effektive Institution, könnte sie die Strafe auch ohne jegliche Rechtsgrundlage verhängen– genau wie Herr X in Szenario 3. Somit ist die Inkraftsetzung einer Rechtsnorm ohne das Vorliegen weiterer Voraussetzungen laut Basu nichts als „Tinte auf Papier“. Das Buch lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Denk­fehler, welche die Modelle der Mainstream-ÖAR aufgrund dieser widersprüchlichen Annahmen plagen. Diese Modelle sehen die rechtsunterworfenen Bürger als rationale, egoistische Individuen, die jeweils ihre eigenen Gewinne zu maximieren suchen. Im Gegensatz dazu werden jene Individuen, die das Recht durchsetzen sollen, als Roboter modelliert, die nichts anderes im Sinn haben, als das Recht zu vollziehen.7 Dies ist einer der schwerwiegenden inhärenten Fehler des Standard­ana­ly­se­rahmens der ÖAR.

B. Ein alternativer Analyserahmen für das Recht

Das Buch präsentiert einen alternativen Analyserahmen, der alle Beteiligten (Spieler) gemäß einheitlicher Annahmen modelliert. Alle Spieler einschließlich der Gesetzeshüter werden verstanden als rationale Individuen, die ihre exogen gegebenen Payoff-Funktionen maximieren wollen. Das Zusammenspiel aller Individuen ergibt das, was der Autor das „Spiel des Lebens“ nennt. Er argumentiert überzeugend, dass das Recht keine Komponente dieses Spiels ändern kann – weder die Anzahl der Spieler noch deren Wahlmöglichkeiten oder Payoff-Funktionen. Diese Behauptung könnte formuliert werden als:

I. Basus Erstes Theorem: Das Recht kann das Spiel des Lebens nicht ändern.

Im Beispiel der Ladenschlußzeiten haben wir gesehen, dass wenn sich alle Akteure ein­schließ­lich der Gesetzeshüter unter der Vorschrift genau so verhalten, wie sie es ohne die Vor­schrift taten, alle den gleichen Payoff erhalten. Allgemeiner: Die gleichen Handlungen aller beteiligten Akteure führen zu den gleichen Payoffs, unabhängig davon, was das Recht sagt oder nicht sagt. „Daran ändert das Recht oder die Tinte auf dem Papier nichts“, schreibt Basu.

Wie passt dies zu dem sprichwörtlichen „langen Arm des Gesetzes“? Im echten Leben ist das Recht nicht bedeutungslos. Wir sehen, wie es wirkt, mitunter sogar mit großer Macht. Basu argumentiert jedoch, dass die Macht des Rechts letztlich auf der Koordination der Erwartungen (beliefs) aller Beteiligten beruht. Beispielsweise mussten in Szenario 2 die folgenden beiden Bedin­gun­gen erfüllt sein, damit die Vorschrift den beabsichtigten Effekt haben konnte: a) Wenn die Unternehmerin am Sonnabend öffnet, muss sie mit Wahrscheinlichkeit w mit einer Strafe rechnen; b) der Inspekteur wird die Strafe auch tatsächlich mit derselben Wahr­scheinlich­keit verhängen – weil er davon ausgeht, seinerseits bestraft zu werden oder Nachteile zu erleiden, wenn er die Strafe nicht verhängt.

In formaler Hinsicht kann das Recht ein gewünschtes Ergebnis nur dann erzielen, wenn dieses Ergebnis auch ein Gleichgewicht im Spiel des Lebens ist. Dazu einige Beispiele aus dem Buch. Das erste Beispiel ist ein Spiel mit drei Spielern. In den untenstehenden Matrizen wählt Spieler 1 zwischen den Zeilen und Spieler 2 wählt zwischen den Spalten, wobei sie jeweils die Handlungen A und B zur Auswahl haben. Spieler 3 wählt ent­weder die linke oder die rechte Matrix aus. Die Zahlen in den Zellen der Matrizen stehen für die Payoffs der Spieler 1, 2 und 3. Wir nennen dies das „Spiel des Lebens I“.

Nun stellen wir uns vor, die aus diesen drei Spielern bestehende Gesellschaft einigt sich auf ein Gesetz, das


6 Ein Großteil der Literatur nimmt weiterhin an, dass der Gesetzgeber und seine Erfüllungsgehilfen allein nach Wohlfahrtsmaximierung streben. Für eine Kritik dieser Annahme siehe Schäfer/Singh (2018).

7 Während ein Teil der Literatur zu Korruption und Bestechung durchaus den staatlichen Inspekteuren zuge­steht, ihre privaten Präferenzen zu berücksichtigen, wird dann aber wiederum angenommen, dass die Gesetzes­hüter (gewissermaßen die Inspekteure der Inspekteure) roboterhafte Präferenzen für den Vollzug des Rechts haben.

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die Polizei zur Sanktionierung unerwünschten Verhaltens verpflichtet. Spieler 1 und 2 seien normale Bürger, Spieler 3 die Polizistin – da sie im „Spiel des Lebens I“ spielt, nennen wir sie „Polizistin I“. Handlung A sei das sozial ‚wünschenswerte‘ Verhalten, Handlung B das sozial unerwünschte Verhalten. Spielt die Po­li­zistin Strategie L, legt sie gegenüber dem sozial unerwünschten Verhalten eine Laxe Haltung an den Tag – sie schaut weg. R hingegen ist die rigorose, strenge Haltung: Schlechtes Verhalten wird mit einer Strafe von 2 belegt. Allerdings reduziert ihr Diensteifer den Payoff der Polizistin um den Betrag von 1. Die Matrizen zeigen, dass L ihre dominante Strategie ist. Die Handlungs­kom­bi­nation (B,B,L) ist das einzige Nash-Gleichgewicht in reinen Strategien in diesem Spiel. Wir gehen davon aus, dass sich dieses Ergebnis auch vor der Verabschiedung des Gesetzes ein­stellte.

Die Mainstream-ÖAR nimmt an, dass die Gesetzeshüter schematisch dem Diktat des Rechts folgen, dass also im vorliegenden Fall die Polizistin Strategie R wählt, sobald das Gesetz ver­abschiedet ist. Auf diese Festlegung der Polizistin reagieren die Bürger optimal mit A. (A,A,R) ist also das erwartete Ergebnis unter dem Gesetz. Die traditionelle ÖAR sagt somit vorher, dass die Verabschiedung des Gesetzes das gesellschaftliche Gleichgewicht von (B,B,L) auf (A,A,R) verändert. Im kompletten Gegensatz dazu zeigt Basu`s Buch, dass das Gesetz das Gleichgewicht eben nicht von (B,B,L) hin zu irgendeinem anderen Ergebnis ändern kann. Denn in diesem Spiel gibt es kein Nash-Gleichgewicht, in dem eine rationale Polizistin die Strategie R wählen möchte. Da das Recht keinen Aspekt im Spiel des Lebens ändern kann, kann es auch keine neuen Gleichgewichte schaffen. Auch nach der Verabschiedung des Gesetzes ist (A,A,R) kein Gleichgewicht; (B,B,L) bleibt das einzig mögliche Ergebnis. Basu argumentiert, dass ein Gesetz, das auf ein Ergebnis außerhalb des Gleichgewichts zielt, keinerlei Chance hat, befolgt zu werden, egal was dieses Gesetz sagt. In dem besprochenen Spiel führt also kein Weg am unerwünschten Verhalten der Rechtsunterworfenen vorbei.

Dennoch ist das Recht in vielen Kontexten mitnichten wirkungslos. Gemäß Basu erzielen Gesetze ihre Wirkung, indem sie ein bestehendes Gleichgewicht zu einem Fokalen Punkt erheben, mit­hilfe dessen die betroffenen Parteien wechselseitig zutreffende Erwartung über das Ver­halten jeweils aller anderen Parteien aufbauen können. Aus diesem Prozess erwächst auch der Ab­schreckungs­effekt des Rechts. Dies ist eine der grundlegenden Lehren des Buches.

Zur Erklärung verändern wir das Spiel von oben ein wenig und nennen es jetzt „Spiel des Lebens II“. Die Änderung betrifft allein die Payoffs des Strategie­tupels (A,A,R). Die Gesetzes­hüterin nennen wir zwecks Unterscheidung nun allerdings „Polizistin II“. Das Spiel hat jetzt zwei Nash-Gleichgewichte, (B,B,L) und (A,A,R).

Basu zufolge wirkt das Recht in einem solchen Kontext mit multiplen Gleichgewichten durch seine suggestive Macht, indem es nämlich das erwünsche Gleichgewicht zu einem Fokalen Punkt macht. Angenommen, wir befinden uns anfangs im Gleichgewicht (B,B,L), dann aber wird das Gesetz zur Verhaltensverbesserung verabschiedet. Das Gesetz lenkt die Aufmerksamkeit aller Spieler auf das gewünschte Ergebnis (A,A,R) und macht es so zu einem Fokalen Punkt. Da auch (A,A,R) ein Nash-Gleichgewicht ist, kann das Gesetz kraft seiner suggestiven Macht erreichen, dass alle eine Verschiebung des Gleichgewichts erwarten – und ihr Verhalten entsprechend anpassen. Die Bürger gehen davon aus, dass die Polizistin nunmehr R spielen wird, woraufhin sie optimal mit A antworten. Umgekehrt ist R die beste Strategie für die Polizistin, wenn sie davon ausgeht, dass die Bürger A spielen. Der Übergang von einem gesellschaftlichen Verhaltensmuster zu einem anderen setzt also eine wechselseitig stimmige Änderung der Erwartungen aller Spieler bezüglich des Verhaltens aller anderen Spieler voraus.

Da allerdings (A,A,R) ein Nash-Gleichgewicht des Spiels ist, hätte es sich auch ohne das Gesetz als Ergebnis einstellen können. Darüber hinaus bleibt (B,B,L) auch nach der Einführung des Gesetzes ein mögliches Ergebnis. Dies ist die zweite große Behauptung des Buches. Sie könnte wie folgt formuliert werden:

II. Basus Zweites Theorem: Jede Kombination der Entscheidungen von Individuen, die ein Gesetz bewirken kann, kann auch ohne das Gesetz bewirkt werden.

Professor Basu schreibt hierzu: „Obgleich sie mit Handschellen, Gefängnissen und Dienstwaffen untermauert wird, beruht die Macht des Rechts letztlich auf einer Konstellation von Erwartungen der Gesellschaftsmitglieder – Bürger, Polizei, Politiker, Richter. Diese Erwartungen sind miteinander verflochten und verwoben, teils verstärken sie sich gegenseitig, teils stehen sie sich im Weg; sie formen gewaltige Macht­struk­tu­ren, die mitunter so stark sind, dass sie den Einzelnen transzendieren; sie führen zu der Illusion eines mysteriösen, oktroyierten Diktats.“ Diese Sicht des Rechts bedeutet, dass Basu die berühmte These von Hobbes ablehnt, gemäß der ein Gesetz nur dann wirken kann, wenn die Macht eines Souveräns dahintersteht. Der Autor ergänzt: „Millionen von Menschen erledigen ihre täglichen Aufgaben in der Erwartung, was anderen Menschen tun werden und was diese anderen von ihnen selbst erwarten. […] In diesem Sinne sind wir die Bürger der Republic of Beliefs.“

Die obige Logik zur Macht der Erwartungen trifft auch auf den Begriff der Macht selbst zu. Jegliche Macht erwächst aus kollektiven Erwartungen. Deshalb haben die Lehren des Buches nicht nur für die Rechts- und die Wirtschaftswissenschaften eine große Bedeutung, sondern eben auch für die Politikwissenschaft, die Philosophie, die Soziologie und die Untersuchung von Markt- und Nicht-Marktorganisationen, neben zahlreichen weiteren Forschungsfeldern. Beispielsweise ist der im Buch entwickelte Analyserahmen gleichermaßen auf soziale Normen anzuwenden. Basu argumentiert, dass Gesetze und soziale


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Normen auf ähnliche Weise wirken – insofern sie denn wirken –, nämlich indem sie unsere Erwartungen formen.8 Entgegen der verbreiteten Meinung zeigt das Buch, dass es gar keinen so großen Unterschied gibt zwischen der durch Gesetze gestifteten Ordnung und derjenigen, die allein auf Grundlage sozialer Normen entsteht. Beide Ordnungsmechanismen funktionieren dadurch, dass sie neue Fokale Punkte entstehen und alte verschwinden lassen.

Weiterhin zeigt das Buch, dass die Verhaltensaspekte des Rechts in einigen Situationen das Spiel zwischen den Menschen verändern können: Die Strategie R bringt der Polizistin II einen mindestens ebenso hohen Payoff ein wie der Polizistin I, unabhängig von den Entscheidungen der anderen Spieler, und einen eindeutig höheren Payoff, wenn die Bürger A wählen. Stellen wir uns nun die folgenden Neuinterpretationen der beiden Versionen des Spiels des Lebens vor: Polizistin I trifft ihre Auswahl ohne ein Gesetz, Polizistin II hingegen mit dem Gesetz. Der höhere Payoff von Polizistin II kann dann darauf zurückgeführt werden, dass sie, wenn das Gesetz in Kraft ist, ihre strenge Haltung als legitim erachtet. Dann hat es das Gesetz oder die Tinte auf Papier geschafft, Spiel I in Spiel II zu verwandeln, wobei ein neues Gleichgewicht und neue Möglichkeiten für die Gesellschaft geschaffen wurden.

Der neue Blick des Buchs auf die ÖAR liefert einen Erklärungsrahmen dafür, wie soziale und wirtschaftliche Phänomene wie Diskriminierung oder Kinderarbeit ohne leicht zuzuschreibende Ursachen entstehen können. Diese Perspektive bietet kontraintuitive Begründungen, warum einige Gesetze wirken, während andere kollektiv ignoriert werden. Sie begründet auch, warum aus anderen Rechtssystemen transplantierte Gesetze oftmals nicht funktionieren. Solche Erkenntnisse sind nicht zuletzt für Entwicklungsländer extrem wichtig.

Es kommt also einerseits auf die Erwartungen der Akteure untereinander an, aber auch auf ihre Erwartungen bezüglich des Rechts. Wenn zu viele Gesetze unstimmig oder uneindeutig sind, kann das die Effektivität des Rechts insgesamt beschädigen. Miteinander unvereinbare Ge­setzes­bestimmungen senden widersprüchliche Botschaften darüber, wie sich die Menschen verhalten sollen. Nehmen wir beispielsweise an, im Spiel des Lebens II gebe es zwei Gesetze, von denen eines nahelegt, dass (B,B,L) das gewünschte Ergebnis ist, das andere hingegen auf (A,A,R) weist. Da sie in unterschiedliche Richtungen zu wirken versuchen, können solche Gesetze die Erwartungen der Bürger nicht auf ein einzelnes Gleichgewicht lenken. Sie schaffen keinen Fokalen Punkt und stiften somit Chaos statt Ordnung. Das Buch benennt ein noch tiefergehendes Problem bei der Umsetzung des Rechts. Ein Gesetz kann nur dann einen Fokalen Punkt schaffen, wenn die Menschen den Eindruck haben, dass das Gesetz auch befolgt werden soll. Fehlt einer Gesellschaft dieser Glaube, kann das Gesetz schwerlich auch nur ein Signal bezüglich des vom Gesetzgeber erwünschten Ergebnisses zu senden, und es wird letztlich vielleicht nicht einmal wahrgenommen.

C. Eine Kritik

Kommen wir nun zur Kritik dieses richtungsweisenden Werkes. Der neue Analyserahmen hilft maßgeblich, einige der wichtigsten bislang bestehenden Herausforderungen der ÖAR zu überwinden. Gleichzeitig wirft das Buch aber auch einige nicht weniger herausfordernde Probleme auf. Beispielsweise könnte die Effektivität des Rechts entscheidend von der Person abhängen, die die Staatsmacht vertritt. Um dies zu verdeutlichen, vergegenwärtigen wir uns wieder das Spiels des Lebens. Der einzige Unterschied zwischen seinen beiden Varianten ist die Payoff-Struktur der Polizistin. Wenn wir die Präferenzen als exogen gegeben nehmen, können wir die beiden Varianten als Beschreibungen zweier Welten mit unterschiedlichen Gesetzeshütern verstehen. Die Polizistin ist also jeweils eine andere Person, während die Bürger in beiden Spielvarianten die gleichen sind. Wir haben oben gesehen, dass das Recht das erwünschte Verhalten der Bürger nur mit Polizistin II erzielen kann, nicht aber mit Polizistin I. Demzufolge hängen Wohl und Wehe des funktionierenden Rechtsstaates an der Person des Gesetzeshüters – eine beunruhigende Vorstellung.

Ein zweites Problem betrifft den Effekt, den die Einstellung Einzelner bezüglich eines Gesetzes auf die Effektivität eben jedes Gesetzes hat. Im echten Leben haben die Menschen ganz unter­schiedliche Meinungen zur Legitimität eines jeden Gesetzes. Wir erinnern uns an das Spiel des Lebens: Im Vergleich zu Polizistin I bringt Strategie R der Polizistin II bedingt höhere Payoffs bei jedweder Wahl der Bürger und unbedingt höhere Payoffs, wenn sich die Bürger für die gesetzeskonforme Handlung A entscheiden. Wir können uns die unterschiedlichen Versionen vorstellen als zwei Situationen, die sich nur darin unterscheiden, was die Polizistin von dem Gesetz hält: Polizistin II hat demnach einen positiveren Blick auf das Gesetz oder auf die legale Handlung A als Polizistin I. Wir sehen also, dass die persönliche Einstellung der Gesetzes­hüter zum Recht einen erheb­lichen Einfluss auf dessen Effektivität haben kann.

Damit verbunden ist das Problem, dass die Payoffs eines Einzelnen davon abhängen könnten, ob diese Person ein Bürger oder ein Gesetzeshüter ist. Insbesondere könnten wir uns vorstellen, dass wenn Spieler 2 in Version I als Polizist fungieren sollte, er einen ähnlichen Payoff be­kommen könnte wie Polizistin II. In anderen Worten: Bei jeglicher Gruppe von Personen mit exogen gegebenen Präferenzen kann es passieren, dass sich die Gesellschaft in einer Situation entweder wie Version I oder wie Version II des Spiels wiederfindet, je nachdem, wem die Rolle der Polizei zufällt. Das bedeutet wiederum, dass in der Gesellschaft entweder Ordnung oder Chaos herrschen kann – es kommt nur darauf an, wer Polizist ist und wer Bürger. Die Frage ist also: Wie sollte eine Gesellschaft ihre Gesetze wählen, und wie ihre Gesetzeshüter?

Ein weiteres Problem betrifft die Effektivität des Rechts, wenn Informations­asymmetrien zwischen den Bürgern und den Gesetzeshütern vorliegen. Wenn sie über ihre Handlungen ent­scheiden, wissen die Bürger im echten Leben


8 Das Buch unterscheidet durchaus zwischen Rechtsnormen und sozialen Normen. Letztere sorgen dafür, dass einige prinzipiell mögliche Handlungen aus der Menge der Handlungsoptionen der Akteure herausgenommen werden.

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selten, an welche Art von Gesetzeshüter sie ge­raten werden. Beispielsweise können wir die beiden Varianten des Spiels des Lebens auch als ein einziges Spiel verstehen, wobei die Polizistin entweder vom Typ I oder vom Typ II sein kann, doch diese Information hat nur die Polizei, nicht aber die Bürger. Derartige Informations­asymmetrien verändern die Struktur des Spiels und somit die Ergebnisse.

Abschließend kann man sich viele Situationen im echten Leben vorstellen, in denen die Payoffs Einzelner nicht nur von den Handlungen der beteiligten Spieler abhängen, sondern von der empfundenen Legitimität dieser Handlungen. Beispielsweise wäre es wohl in den oben disku­tier­ten Szenarien 2 und 3 den wenigsten Bürgern egal, ob sie die Strafe an einen dubiosen Herrn X oder an einen Gesetzeshüter zahlen. Obwohl der Zahlbetrag in beiden Fällen der gleiche ist, werden die allermeisten lieber an den Staat zahlen. Auch für die Gesetzeshüter selbst wird es einen großen Unterschied machen, ob sie ihre eigenen Handlungen für mit dem Gesetz vereinbar halten. In ähnlicher Weise werden Menschen, die der Person eines be­stimm­ten Politikers kritisch gegenüberstehen, seinen Entscheidungen im Amt eher folgen, wenn er dieses Amt rechtmäßig erlangt hat, eher denn durch verschobene Wahlen oder gar Gewalt – dies trifft selbst dann zu, wenn die Menschen von dem politischen Prozess der Amts­ver­gabe an sich wenig halten. Oftmals hängen die Payoffs der Spieler also nicht nur von den Hand­lungen ab, sondern insbesondere auch davon, ob diese Handlungen mit dem Gesetz ver­ein­bar sind, so wie von der Art und Weise, wie dieses Gesetz zustande gekommen ist. Insofern kann das Recht also doch die Payoffs und somit das Spiel selbst beeinflussen. Welche legis­la­tiven Prozesse genau welchen Einfluss auf das Spiel haben, bleibt dabei weiter zu untersuchen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Buch einige der Rätsel löst, die die derzeitige ÖAR plagen. Dennoch verbleiben wichtige Fragen auf dem Weg zu einem besseren Verständnis des Rechts und seiner Wirkweise. Zur Beantwortung dieser Fragen bietet das Buch Forschern und politischen Entscheidern allerdings einen wertvollen Analyserahmen.

Literatur:

Becker, Gary S. (1968) “Crime and Punishment: An Economic Approach” Journal of Political Economy, 76:169-169.

Coase, Ronald H. (1960) “The Problem of Social Cost” Journal of Law and Economics, 3:1-44.

Diamond, Peter A. (1974) “Accident Law and Resource Allocation” Bell Journal of Economics, 5(2):366-405.

Nash, John F. (1951) “Non-Cooperative Games” The Annals of Mathematics 54(2):286-295.

Schäfer HB, Singh R (2018) Takings of Land by Self-Interested Governments: Economic Analysis of Eminent Domain. The Journal of Law and Economics 61(3):427-459.