Der „binäre Code“ von Völkerrecht und nationalem Recht am Beispiel des Alien Tort Statute

Thore Inselmann*

A. Problemaufriss

I. Dysfunktionen der Globalisierung – Das Dilemma um Unternehmen und Menschenrechte

Multinationale Konzerne sind die Gewinner der Globalisierung.1 Nicht selten konkurrieren ihre Haushalte nicht nur mit dem BIP von Staaten, sie übertreffen sie sogar.2 Ihr wirtschaftlicher Einfluss nahm dabei weltweit in einem solchen Maße zu,3 dass sie – obwohl offiziell nicht Träger von Staatsgewalt – teilweise unmittelbar und in erheblicher Weise Macht über das Leben und Wohlbefinden der Bewohner ganzer Länder ausüben.4

Dabei entziehen sich die Tätigkeiten multinationaler Konzerne noch immer häufig einer effektiven rechtlichen Kontrolle.5 Just einer der großen Fortschritte der Globalisierung – die globale Arbeitsteilung6 – ist ein Katalysator hierfür.7 Global agierende Unternehmen strukturieren ihre Produktion und Distribution so, dass jeweils diejenige Rechtsordnung berufen ist, die für die jeweilige Tätigkeit den günstigsten rechtlichen Rahmen schafft.8 Gepaart mit dem kapitalistischen Dogma der Gewinnmaximierung sowie einer gerade im 20. Jahrhundert noch sehr laxen Vorstellung von „corporate governance“ war die Verletzung von Menschenrechten vorprogrammiert.9 Dies geht auf Kosten von Mensch und Umwelt. Schmerzlich stellten dies etwa die Bewohner des Ogonilandes in Nigeria fest, als der Shell-Konzern mit der Militärregierung Nigerias kollaborierte, um ihre dortige Ölexploration nicht durch Proteste gefährdet zu sehen.10 Kurzum: „One of the most outrageous consequences of the so-called global economy is you have companies that are doing business with the most brutal regimes you can imagine and they are making money at it.“11

Einseitig die Geschäftsaktivitäten von Unternehmen anzuprangern, stellt das Problem allerdings unterkomplex dar. Vielmehr findet man sich in einem Dilemma wieder. Unternehmen sollen gerade dazu motiviert werden, in wirtschafts- und entwicklungsschwachen Ländern zu investieren;12 denn sie haben ein großes Potential, sich positiv auszuwirken, zuvörderst durch die Schaffung von Arbeitsplätzen.13 Gehen Staaten allerdings bei der Setzung von Investitionsanreizen so weit, dass sie Unternehmen davon entbinden, Menschenrechte der eigenen Bevölkerung zu beachten,14 wird dies ad absurdum geführt.

II. Das Alien Tort Statute als Retter der Menschenrechte

Gegen die eben beschriebene Entwicklung mehrte sich der Widerstand, der sich u.a. in der Beschreitung des Rechtswegs niederschlug. Als Forum nutzten die Kläger vorwiegend die USA, die mit dem Alien Tort Statute (ATS) eine einzigartige Grundlage für derartige Klagen bieten und damit lange Zeit eine Vorreiterrolle bei der nationalen Durchsetzung von Ansprüchen aus Menschenrechtsverletzungen innehatten.15

Progressive Richter reanimierten das fast schon in Vergessenheit geratene ATS, und es entwickelte sich eine Rechtspraxis, in der zivilrechtliche Klagen angestrengt wurden, um für völkerrechtliche Verbrechen vor innerstaatlichen Gerichten Schadensersatz zu verlangen.16 Fortan bildete das ATS das Kernstück von Klagen, die sich auf die Verletzung von Menschenrechten stützten.17 Denn nach über längere Zeit praktizierter Auslegung des ATS erforderten Menschenrechtsklagen von ausländischen Betroffenen nur einen minimalen Bezug zu den USA, um vor US-amerikanischen Gerichten gehört zu werden.18 Obgleich die meisten dieser Klagen erfolglos blieben oder in einem außergerichtlichen Vergleich endeten,19 war ihre Symbolwirkung enorm.20 Die oft sehr medienwirksamen Prozesse sensibilisierten die Öffentlichkeit für den Menschenrechtsschutz und verliehen ihm durch ihre zivilprozessuale Ausgestaltung ein bis dahin unbekanntes Gewand.21 Ferner haben sie einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Völkerrechts jedenfalls in den


*Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 Felz, Das Alien Tort Statute, S. 168.

2 Felz, Das Alien Tort Statute, S. 168.

3 Weschka, ZaöRV 2006, 625 f.

4 Joseph, NILR 1999, 171, 172; Weilert, ZaöRV 2009, 883 f.; Felz, Das Alien Tort Statute, S. 168; vgl. auch Seibert-Fohr, ZaöRV 2003, 195.

5 Felz, Das Alien Tort Statute, S. 168; zu den Tendenzen zur zunehmenden Regulierung von Unternehmenstätigkeiten durch soft law Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717,

6 Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717, 718.

7 Weilert, ZaöRV, 2009, 883, 885.

8 Weschka, ZaöRV 2006, 625, 626; Weilert, ZaöRV, 2009, 883, 885.

9 Pars pro toto für ein konservatives Verständnis der sozialen Verpflichtungen von Unternehmen: Milton Friedman, Capitalism and Freedom, S. 133: „[…] there is one and only one social responsibility of business – to use its resources and engage in activities designed to increase its profits […]”.

10 Haider, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, S. 105.

11 Terry Collingsworth, Direktor des International Labor Rights Fund in 2003, siehe Lisa Girion, 1789 Law Acquires Human Rights Role, L.A. Times, June 16, 2003.

12 Weschka, ZaöRV 2006, 625, 626.

13 Weilert, ZaöRV 2009, 883, 884.

14 Felz, Das Alien Tort Statute S. 169.

15 Haider, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, S. 465;

Reimann, IPRax 2013, 455; Stürner, JZ 2014, 13;

Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717, 721, 782.

16 Hailer, Menschenrechte vor Zivilgerichten, S. 22.

17 Hailer, AVR 44 (2006), 76.

18 Haider, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, S. 465. Diese Auslegung wurde mit dem Urteil des Supreme Courts in Kiobel v. Royal Dutch Petroleum, 569 U.S. (2013) aufgegeben. Nach Auffassung des Gerichtes ist die Reichweite des ATS territorial beschränkt und erfasst daher grundsätzlich keine Sachverhalte, die sich außerhalb der USA zugetragen haben. Dieser Frage soll hier allderdings nicht weiter nachgegangen werden.

19 Haider, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, S. 465;

Stürner, JZ 2014, 13.

20 Stürner, JZ 2014, 13.; siehe auch Reimann, IPRax 2013, 455, 462 der das „bleibende Vermächtnis“ des ATS betont; Weinberg, 99 Cornell L. Rev. 1471, 1472 (2014): „prideful feature of American justice“.

21 Reimann, IPRax 2013, 455, 462.

Inselmann, Der „binäre Code“ von Völkerrecht und nationalem Recht am Beispiel des Alien Tort Statute111

USA beigetragen.22

B. Forschungsfrage

Diese Untersuchung beschäftigt sich mit dem materiellen Recht, das Klagen unter dem ATS zugrunde liegt. Aufgrund der Transnationalität der Sachverhalte, drängt sich die Frage auf, welcher Rechtsordnung die materiellrechtlichen Normen zu entnehmen sind, die eine Schadensersatzpflicht für Völkerrechtsverstöße statuieren. Diese Fragestellung birgt besondere kollisionsrechtliche Implikationen, die das Spannungsverhältnis zwischen ATS und federal common law als Teil des nationalen Rechts auf der einen Seite und dem Völkerrecht als internationalem Recht auf der anderen Seite betreffen. Aber auch auf unmittelbar materiell-rechtlicher Ebene gilt es das Zusammenspiel von ATS und federal common law auszuloten. Zunächst sollen die Anspruchsgrundlagen der ATS-Klagen identifiziert und ihre Herkunft erläutert werden. Sodann wird sich der Frage der Haftung von Unternehmen bei eigenhändiger Begehung von Völkerrechtsverletzungen sowie bei Beteiligung an solchen zugewandt.

Für alle diese Fragen ist das Verhältnis von Völkerrecht und federal common law entscheidend, welches vor dem Hintergrund des gewandelten Verständnisses des federal common law besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Aufgezeigt werden soll der „binäre Code“23, der zwischen dem Völkerrecht als Rechtsquelle der verhaltensregulierenden Normen und dem federal common law als Grundlage für Anspruchsgrundlagen unterscheidet. Anhand dieses Befundes soll abschließend geklärt werden, ob es teilweise sogar zu einer hybriden Anwendung von Völkerrecht und federal common law kommt.

C. Das Alien Tort Statute

I. Gesetzeshistorie und Rechtspraxis

Das ATS wurde bereits 1789 durch den Judiciary Act24 eingeführt und lautet wie folgt: „The district courts shall have original jurisdiction of any civil action by an alien for a tort only, committed in violation of the law of nations or a treaty of the United States.”25. Übersetzt bedeutet dies, dass die Bundesbezirksgerichte für solche Zivilklagen von Ausländern zuständig sind, die sich auf deliktische Verstöße gegen das allgemeine Völkerrecht oder gegen völkerrechtliche Verträge der Vereinigten Staaten stützen.

In mehrlei Hinsicht ist das ATS außergewöhnlich.26 Pointiert wurde es als „a jurisdictional provision unlike any other in American law and of a kind apparently unknown to any other legal system in the world“ beschrieben.27 Da Gesetzgebungsmaterialien für diesen Teil des Judiciary Act fehlen,28 erweist sich die Ermittlung der gesetzgeberischen Intention als schwierig und führte zu regen Kontroversen.29 Die Meinungen divergieren hier stark.30

In der Rechtspraxis fristete das ATS fast 200 Jahre lang ein Schattendasein31 bis es mit der Entscheidung Filartiga v. Pena-Irala32 von großer Bedeutung für den weltweiten Menschenrechtsschutz wurde.33 Die Besonderheit des ATS besteht dabei darin, dass Klagen wegen Völker- und Menschenrechtsverletzungen in einem grenzüberschreitenden Zivilprozess vor einem US-Bundesgericht gehört werden können. Der Ort der Verletzungshandlung spielt hierbei kaum eine Rolle.34 Rechtsdogmatisch weist die Norm eine nahezu einzigartige Verbindung von völkerrechtlichen Wertungen und solchen des nationalen Rechts auf.35 Dies macht sie zwar dogmatisch besonders interessant, der Umgang mit ihr bereitete den US-amerikanischen Richtern aber auch erhebliche Schwierigkeiten.36

II. Rechtsnatur und Anspruchsgrundlage – Das Spannungsverhältnis zwischen ATS, Völkerrecht und federal common law

Eine dieser Schwierigkeiten besteht darin, die Anspruchsgrundlage für unter Rückgriff auf das ATS angestrengte Klagen zu identifizieren, denn die Rechtsnatur des ATS ist höchst umstritten. Ihrem Wortlaut nach „shall have [.] jurisdiction“ scheint sich die Norm auf die Begründung der Zuständigkeit zu beschränken, ist somit rein prozessrechtlicher Natur. Dennoch wurde ihr teilweise eine materiell-rechtliche Funktion – sei es als unmittelbare Anspruchsgrundlage, sei es als implizite Ermächtigung zur Schaffung von Anspruchsgrundlagen – beigemessen. Berufen wird sich mangels Aussagekraft des Wortlauts zumeist auf die gesetzgeberische Intention. Aufgrund der Mannigfaltigkeit der Argumente und ihrer unterschiedlichen Instrumentalisierung durch die Vertreter der verschiedenen


22 Reimann, IPRax 2013, 455, 462.

23 Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 178 fn. 702; siehe auch Wuerth, 85 Notre Dame L. Rev. 1931, 1932 (2010).

24 The Judiciary Act of 1789, ch. 20, § 9, 1 Stat. 73.

25 28 U.S.C. § 1350. Der Begriff „law of nations“ entspricht aus heutiger Sicht dem Begriff „international law“, also Völkerrecht. Siehe Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 42.

26 Reimann, IPRax 2013, 455.

27 Kiobel v. Royal Dutch Petroleum Co., 621 f.3d 111, 115 (2nd Cir. 2010), Cabranes, J.

28 Die grundlegende Abhandlung zum Erlass des Judiciary Act 1789 von Warren, 37 Harv. L. Rev. 49 (1923) erwähnt Section 9 – den Vorläufer des heutigen ATS – an keiner Stelle. Siehe auch das Zitat von Henry Friendly: „This old but little used section is a kind of legal Lohengrin; although it has been with us since the first Judiciary Act, § 9, 1 Stat. 73, 77 (1789), no one seems to know whence it came.“ Zitat aus: IIT v. Vencap Ltd., 519 f.2d 1001, 1015 (2nd Cir. 1975).

29 Weinberg, 99 Cornell L. Rev. 1471, 1472 (2014): „an ancient and mysterious jurisdictional grant.”; Casto, 18 Conn. L. Rev. 467 (1986); Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 48.

30 Siehe nur Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 713 (2004) mit Verweis auf die zahlreichen amicus curiae-Schriftsätze.

31 Casto, 18 Conn. L. Rev. 467 (1986); Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 47.

32 Filártiga v. Peña-Irala, 630 F.2d 876 (2nd Cir. 1980).

33 Hailer, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, S. 35, S. 44; Reynolds/Zimmer, RIW 2012, 139, 140; Stürner in: JZ 2014, 13, 14; Weschka, ZaöRV, 2006, 625, 635.

34 Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 36.; Hailer, Menschenrechte vor Zivilgerichten, S. 21.

35 Siehe etwa Wuerth, 85 Notre Dame L. Rev. 931 ff. (2010); Hailer, Menschenrechte vor Zivilgerichten, S. 26.

36 Sarei v. Rio Tinto PLC, 671 f.3d 736, 780 (9th Cir. 2011), McKeown, J., concurring: „The Alien Tort Statute („ATS“), albeit short on words, is a perplexing statute. Giving the ink spilled in many judicial opinions, concurrences, and dissents as well as scholarly articles, this brevity has not netted clarity.“

Inselmann, Der „binäre Code“ von Völkerrecht und nationalem Recht am Beispiel des Alien Tort Statute112

Meinungen37 können hier nur die Leitlinien erörtert werden. Untersucht werden soll ferner nur die völkergewohnheitsrechtliche Alternative „in violation of the law of nations“.38

1. Völkerrecht als Anspruchsgrundlage

Da die Verletzung von Völkerrecht Tatbestandsmerkmal des ATS ist, läge es nahe, die Anspruchsgrundlage in selbigem zu suchen. Insbesondere würde eine völkerrechtliche Anspruchsgrundlage die Schwere der unter dem ATS verhandelten Taten hinreichend zum Ausdruck bringen.39 Dies erweist sich indes deshalb als problematisch, weil das Völkergewohnheitsrecht nur verhaltensregelnde Normen (Primärnormen) enthält.40 Primärnormen begründen zwar eine Verhaltenspflicht, sie stellen aber nicht zugleich Sanktionsmöglichkeiten bereit, falls diese Verhaltenspflicht nicht beachtet wird.41 Das Völkerrecht überlässt es den einzelnen Staaten, zu bestimmen, ob völkerrechtlichen Primärnormen Anspruchsgrundlagen im nationalen Recht korrespondieren.42 Aus dem Völkerrecht ergibt sich somit keine Anspruchsgrundlage, für unter dem ATS justiziable Ansprüche.

2. Die Entscheidung des Supreme Court in Sosa v. Alvarez-Machain

Die Frage nach der Rechtsnatur des ATS bzw. ihm zugrundeliegender Anspruchsgrundlagen adressierte der Supreme Court in Sosa v. Alvarez-Machain43 umfassend. Da das Gericht auf alle relevanten Ansichten hierzu einging, sollen diese hier anhand der Ausführungen des Gerichts erläutert werden.

a) ATS als Anspruchsgrundlage

In den unteren Instanzen gingen Gerichte teilweise davon aus, dass dem ATS selbst eine Anspruchsgrundlage zu entnehmen sei,44 wobei sich auf den Wortlaut des ATS „committed in violation of the law of nations“ gestützt wurde.45 In der Literatur stieß diese Ansicht auf harsche Kritik,46 der sich der Supreme Court anschloss.47 Zum einen unterscheide sich der Wortlaut des ATS gravierend von demjenigen einer Anspruchsgrundlage.48 Ferner sprächen systematische Argumente gegen eines Auslegung als Anspruchsgrundlage; das ATS sei als Teil des Judiciary Act ergangen und dieser befasse sich ausschließlich mit Zuständigkeitsfragen.49 Folglich sei die Norm rein prozessrechtlicher Natur.50

b) ATS als implizite Ermächtigung zur Schaffung von Anspruchsgrundlagen

Ein anderer Ansatz versteht das ATS zwar nicht als Anspruchsgrundlage, erkennt ihm aber doch eine materiellrechtliche Funktion zu. Dem ATS sei die implizite Ermächtigung der Bundesrichter zur Schaffung von federal common law-Anspruchsgrundlagen zu entnehmen.51 Dieser Ansatz bewegt sich in der Tradition des in Textile Workers Union v. Lincoln Mills52 aufgestellten Grundsatzes, dass ein Zuständigkeitsgesetz Richter implizit zur Schaffung von Anspruchsgrundlagen ermächtigen kann, wenn dies dem Willen des Gesetzgebers entspricht.53

Bevor sich mit der Stellungnahme des Supreme Courts zu dieser Ansicht auseinandergesetzt wird, soll – der besseren Verständlichkeit halber – zunächst ein weiterer Ansatz dargestellt werden, der für die Argumentation des Supreme Courts wesentlich ist.

c) ATS als leere prozessuale Hülle

Kritiker der ATS-Klagen sind davon überzeugt, dass es für die Schaffung einer federal common law Anspruchsgrundlage einer expliziten legislativen Ermächtigung bedürfe.54 Mit dem ATS sollte zunächst nur eine Kompetenznorm zu Gunsten der Bundesgerichte geschaffen werden, die der Gesetzgeber in einem weiteren Schritt mit einer expliziten Anspruchsgrundlage versehen wollte.55 Das ATS sei deshalb


37 Vgl. Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 58; Bradley/Goldsmith, 66 fordham L. Rev., 319, 358 (1997); Reynolds/Zimmer in: RIW 2012, 139, 140.

38 Die völkervertragliche Variante „treaty of the United States“ spielt in der Rechtspraxis praktisch keine Rolle. Siehe Hailer, AVR 44 (2006), 76, 77 fn. 8.

39 Anfängliche Ansätze, nach denen die Anspruchsgrundlage über eine kollisionsrechtliche Analyse zu ermitteln sei (Filártiga v. Peña-Irala, 630 F.2d 876, 889 (2nd Cir. 1980)) oder Deliktsrecht der Einzelstaaten der USA Anwendung finden sollte (so etwa Tel-Oren v. Libyan Arab Republic, 726 f.2d 774, 782 (D.C. Cir. 1984), Edwards, J., concurring), sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Tragweite der Verbrechen nicht hinreichend zum Ausdruck zu bringen. Siehe Xuncax v. Gramajo, 886 f. Supp. 162, 183 (D. Mass. 1995): „[L]ooking to domestic tort law to provide the cause of action mutes the grave international law aspect of the tort, reducing it to no more (or less) than a garden-variety municipal tort.“

40 Filártiga v. Peña-Irala, 577 f. Supp. 860, 863 (E.D.N.Y. 1984): „[I]nternational law does not ordain detailed remedies but sets forth norms.“; Hailer, AVR 44 (2006), 76, 78; Schaub, AVR 49 (2011), 124, 130 f.

41 Hailer, Menschenrechte vor Zivilgerichten, S. 48; Casto, 18 Conn. L. Rev. 469, 475 f. (1986)

42 Tel-Oren v. Libyan Arab Republic, 726 f.2d 774, 777, Fn. 2 (D.C. Cir. 1984) Edwards, J., concurring.

43 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692 (2004).

44 Kadic v. Karadzic, 70 F.3d 232, 242 (2d Cir. 1995); In re Estate of Ferdinand E. Marcos Human Rights Litigation, 25 f.3d, 1467, 1475 (9th Cir. 1994): „It is unnecessary that international law provide a specific right to sue.” „We thus join the Second Circuit in concluding that the [ATS] creates a cause of action [..]“; das ATS als Anspruchsgrundlage verstehend auch Seibert-Fohr in: ZaöRV 2003, 195, 196.

45 Handel v. Artukovic, 601 f. Supp. 1421, 1427 (C.D. Cal. 1985): „[T]he ‘violation’ language of section 1350 may be interpreted as explicitly granting a cause of action […]“; Stephens et al., S. 32. Teilweise wurde die Annahme einer Anspruchsgrundlage aber auch nicht begründet. Siehe Hailer, Menschenrechte vor Zivilgerichten, S 48.

46 Casto, 18 Conn. L. Rev. 467, 479 f. (1986): „Any suggestion that the statute creates a federal statutory cause of action is simply frivolous.”.

47 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 713 (2004).

48 Casto, 18 Conn. L. Rev. 467, 479 (1986); ders., 89 Notre Dame L. Rev. 1545, 1554 (2014).

49 Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 58.

50 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 694 (2004); siehe auch Casto, 18 Conn. L. Rev. 467, 479 (1986).

51 Abebe-Jira v. Negewo, 72 f.3d 844, 848 (11th Cir. 1996); Stephens et al., S. 33; Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 56 f.

52 Textile Workers Union v. Lincoln Mills, 353 U.S. 448 (1957).

53 Bradley/Goldsmith, 66 fordham L. Rev. 319, 360 (1997).

54 Bradley/Goldsmith, 66 fordham L. Rev. 319, 360 (1997); Stephens et al. S. 34.

55 Bradley/Goldsmith, 66 fordham L. Rev. 319, 360 (1997).

Inselmann, Der „binäre Code“ von Völkerrecht und nationalem Recht am Beispiel des Alien Tort Statute113

derzeit bedeutungslos.56

Diese Auffassung vertritt auch Justice Scalia in seiner concurring opinion in Sosa v. Alvarez-Machain.57 Er stützt sich maßgeblich auf die Entscheidung des Supreme Courts in Erie v. Tompkins.58 Dieser Fall markierte eine Zäsur für das Verständnis des common law.

aa) Exkurs: Vom general zum federal common law

Das Richterrecht existierte zur Zeit des Erlasses des ATS als sogenanntes general common law, das als naturrechtsähnlicher präexistenter Rechtskörper verstanden wurde.59 Richter brauchten das Recht lediglich zu entdecken, wofür es keiner legislativen Ermächtigung bedurfte.60 Der so entstandene Rechtskörper war weder Bundes- noch Staatenrecht, sondern schwebte zwischen den Polen des föderalen Kompetenzmodells.61 Dieser naturrrechtliche Ansatz wurde durch Erie v. Tompkins endgültig durch ein positivistisches Verständnis ersetzt. Zum einen wurde fortan zwischen dem Richterrecht des Bundes und dem der Staaten unterschieden, ferner sollte das Richterrecht des Bundes (federal common law) nur in speziellen Ausnahmefällen Anspruchsgrundlagen bereitstellen.62 Während die Schaffung von Richterrecht primär den Staaten überlassen wurde, sollte federal common law nur noch dann geschaffen werden können, wenn dies entweder verfassungsrechtlich zu rechtfertigen war oder eine Autorisierung seitens des Bundesgesetzgebers vorlag.63

bb) Stellungnahme des Supreme Courts

Die Mehrheit des Supreme Courts überzeugten diese Argumente nicht. Zwar widersprachen die Richter nicht den in der Erie-Entscheidung festgelegten Grundsätzen, doch sie interpretierten ihre Anwendbarkeit anders.

Erie hätte nicht vorgesehen, dass – ungeachtet der Umstände – keine neuen Anspruchsgrundlagen mehr geschaffen werden könnten.64 Vielmehr gäbe es Enklaven, in denen Bundesrichter weiterhin federal common law schaffen könnten.65 Anders als Scalia beruft sich die Mehrheitsmeinung hier auf die langbestehende Rechtsprechung, nach der das Völkerrecht im nationalen Recht anerkannt ist66 und dieser Bereich eine solche Enklave darstelle, in der federal common law weiterhin zur Anwendung kommen könne.67

Dieses Verständnis wiederum sei durch die gesetzgeberische Intention bei Erlass des ATS gedeckt. Es sei abwegig, dass der Gesetzgeber rein vorsorglich Zuständigkeitsnormen schuf, um sie später mit einer entsprechenden Anspruchsgrundlage zu versehen.68 Ferner unterstellen die Richter dem historischen Gesetzgeber, dass er – hätte er die Erie-Rechtsprechung vorausgesehen – trotzdem gewollt hätte, dass bestimmte Völkerrechtsnormen als Grundlage zur Schaffung von Anspruchsgrundlagen dienen.69

d) Autorisationslose Schaffung von federal common law-Anspruchsgrundlagen

Die Position des Supreme Court lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wird eine Norm des heutigen Völkerrechts verletzt, die genauso universal anerkannt ist, wie die für den Gesetzgeber paradigmatischen Völkerrechtssdelikte des 18. Jahrhunderts,70 können hierfür federal common law-Anspruchsgrundlagen geschaffen werden, ohne dass es einer legislativen Ermächtigung bedürfe.71 Das ATS sei eine Zuständigkeitsvorschrift, die unter der Prämisse erlassen wurde, dass sich aus dem damaligen general common law unmittelbar Anspruchsgrundlagen für bestimmte Völkerrechtsverletzugen ergeben, die zu einer persönlichen Haftung führen können.72 Den Standard, den die verletzten Normen erfüllen müssen, beschreibt der Supreme Court mit „specific, universal and obligatory”73. Zur Zeit des Erlasses des ATS erfüllten violation of safe conducts, infringement of the rights of ambassadors und piracy diese Anforderungen.74

Folgt man diesen Annahmen, so funktioniert das ATS auf dieselbe Art, wie vom historischen Gesetzgeber angedacht.75 Erie sei nur insofern zu berücksichtigen, als große Zurückhaltung bei der Schaffung neuer Anspruchsgrundlagen geübt


56 Hailer, AVR 44 (2006), 76, 83.

57 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 739 ff. (2004), Scalia, J., concurring.

58 Erie Railroad Co. v. Tompkins, 304 U.S. 64 (1938).

59 Sosa v. Alvarez-Machain 542 U.S. 692, 725; Hailer, AVR 44 (2006), 76, 84.

60 Hailer, AVR 44 (2006), 76, 84.

61 Hailer, AVR 44 (2006), 76, 84 f.

62 Hailer, AVR 44 (2006), 76, 85; siehe hierzu auch Hay, US-amerikanisches Recht, Rn. 113, 235 ff.

63 Sosa v. Alvarez-Machain 542 U.S. 692, 741 (2004), Scalia, J., concurring: „Because post-Erie federal common law ist made, not discovered, federal courts must possess some federal-common-law-making authority before untertaking to craft it.”.

64 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 729 (2004).

65 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 729 (2004).

66 Siehe etwa The Paquete Habana, U.S. 667, 700 (1900): „International law is part of our law.“.

67 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 724 f. (2004): „[N]o development in the two centuries from the enactment of § 1350 to the birth of the modern line of cases beginning with Filartiga v. Pena-Irala, 630 F.2d 876 (2nd Cir. 1980), has categorically precluded federal courts from recognizing a claim under the law of nations as an element of common law.“

68 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 719 (2004): „[T]here is every reason to suppose that the First Congress did not pass the ATS as a jurisdictional convenience to be placed on the shelf for use by a future Congress or state legislature that might, some day, authorize the creation of causes of action or itself decide to make some element of the law of nations actionable for the benefit of foreigners.”.

69 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 730 (2004): „We think it would be unreasonable to assume that the first congress would have expected federal courts to lose all capacity to recognize enforceable international norms simply because the common law might lose some metaphysical cachet on the road to modern realism.“.

70 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 725 (2004): „[W]e think courts should require any claim based on the present-day law of nations to rest on a norm of international character accepted by the civilized world and defined with a specificity comparable to the features of the 18th-century paradigms we have recognized.”.

71 Hailer, AVR 44 (2006), 76, 83.

72 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 742 (2004): „In sum, although the ATS is a jurisdictional statute creating no new causes of action, the reasonable inference from the historical materials is that the statute was intended to have practical effect the moment it became law. The jurisdictional grant is best read as having enacted on the understanding that the common law would provide a cause of action for the modest number of international law violations with a potential for personal liability at the time.”.

73 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 732 (2004). Der Supreme Court verweist insoweit bejahend auf: In re Estate of Marcos Human Rights Litigation, 25 f.3d 1467, 1475 (C.A.9 1994).

74 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 715 (2004).

75 Stephens et al., S. 34.

Inselmann, Der „binäre Code“ von Völkerrecht und nationalem Recht am Beispiel des Alien Tort Statute114

werden sollte.76

Der Unterschied zur vorgenannten Auffassung, die eine implizite Ermächtigung zur Schaffung von Anspruchsgrundlagen vorsieht, besteht darin, dass der Supreme Court davon ausgeht, dass das materielle Recht eines Falles von Richtern auch ohne eine Zuständigkeitsnorm als spezifische legislative Autorisierung dem federal common law entnommen werden kann.77

Der Supreme Court erkannte somit grundsätzlich die Möglichkeit zur richterlichen Rechtsfortbildung im Bereich des ATS an. Gleichzeitig schränkte er diese aber im Vergleich zur Entscheidungspraxis der Instanzgerichte ein und forderte zu Zurückhaltung bei der Ausübung dieser Tätigkeit auf.78

e) Zwischenergebnis

Die Argumentation des Supreme Courts, dass dem ATS unmittelbar ab Verabschiedung praktische Wirkungen zukommen sollte, ist nachvollziehbar. Warum sollte der First Congress rein vorsorglich eine Zuständigkeitsvorschrift schaffen, für die noch keine Anspruchsgrundlage besteht? Ferner überzeugen die grammatikalischen, systematischen und genetischen Argumente, die gegen eine Auslegung des ATS als Anspruchsgrundlage sprechen. Ob die Unterscheidung zwischen der impliziten Ermächtigung zur Schaffung von Anspruchsgrundlagen und der autorisationslosen Entnahme von Anspruchsgrundlagen überzeugt, wurde in der Literatur teilweise kritisch hinterfragt.79

Folgt man der Auffassung des Supreme Courts, dahingehend, dass das federal common law bestimmte völkerrechtliche Normen dynamisch inkorporiere und bei bestimmten Verletzungen federal common law-Anspruchsgrundlagen geschaffen werden können, so ergibt sich in Bezug auf den „binären Code“ folgendes Bild:

Die Norm, die der Beklagte verletzt haben soll, entstammt dem Völkergewohnheitsrecht. Die Anspruchsgrundlage entstammt dem federal common law, mithin dem nationalen Recht.

III. Haftung Privater bei eigenhändiger Begehung

1. Ursprünglich nur Haftung staatlicher Akteure

Der überkommenen Auffassung folgend, dass Völkerrecht nur durch staatliches Verhalten verletzt werden kann,80 ging man anfangs noch davon aus, dass ein unter dem ATS justiziabler federal common law-Anspruch sich nur gegen solche Akteure richten kann, die in staatlicher Funktion gehandelt gehandelt haben.81 Maßstab ist insofern das color of law-Kriterium, das in 42 U.S.C. § 1938 kodifiziert ist und durch richterrechtliche Grundsätze fortentwickelt wurde.82 Ein Handeln „under color of law“ soll dann vorliegen, wenn es dem Staat „fairly attributable“ ist.83 Hierzu zählt etwa das Handeln staatlicher Bediensteter, soweit dieses in Amtsausübung erfolgte.84 Für Fälle, in denen Privatleute, ohne vom Staat angestellt oder zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben vertraglich verpflichtet zu sein, in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat stehen, hat der Supreme Court weitere konkretisierende Fallgruppen herausgearbeitet.85

2. Universelle individuelle Verantwortlichkeit

Eine Zäsur in der ATS-Rechtsprechung markierte der Fall Kadic v. Karadzic86. In ihm wurde zum ersten Mal die Frage aufgeworfen, ob neben Rechten auch unmittelbare Pflichten des Individuums aus dem Völkergewohnheitsrecht abgeleitet werden können.87 Dies ist für die Frage bedeutsam, ob auch nicht-staatliche Akteure, die nicht unter eine der vorgenannten Fallgruppen fallen, unter dem ATS haftbar gemacht werden können. Das Gericht führte aus, dass sich das Völkerrecht in bestimmten Fällen auch an Privatpersonen wende.88 Die Verletzung völkerrechtlich besonders geschützter Rechtsgüter sei – gleichgültig, ob sie von staatlicher Seite oder durch private Akteure vorgenommen werde – immer als Völkerrechtsverletzung zu qualifizieren.89 Piraterie, Sklavenhandel, Flugzeugentführung, Völkermord und Kriegsverbrechen seien deshalb auch von Privatpersonen begehbar.90

3. Verantwortlichkeit juristischer Personen

Auch juristische Personen sind nach traditioneller Auffassung keine Völkerrechtssubjekte.91 Sie sind folglich nicht an völkerrechtliche Menschenrechtsstandards gebunden.92

Wurde durch Kadic v. Karadzic zwar nur die individuelle völkerrechtliche Verantwortlichkeit natürlicher Personen festgestellt, war dies zugleich ein Türöffner für Klagen gegen multinationale Unternehmen, also juristische Personen.93


76 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 726.

77 Hailer, AVR 44 (2006), 76, 84.

78 Sosa v. Alvarez-Machain, 542 U.S. 692, 729 (2004): „[…] the judicial power should be exercised on the understanding that the door ist still ajar subject to vigilant doorkeeping, and thus open to a narrow class of international norms today.“.

79 Etwa Schulz übt hieran Kritik, hält den Ansatz der Mehrheitsmeinung im Ergebnis aber für überzeugender, als die concurring opinion Scalias. Siehe ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 62.

80 In re Estate of Ferdinand E. Marcos Human Rights Litigation, 978 f.2d 493, 501 f. (9th Cir. 1992); Schaub, AVR 49 (2011), 125, 138; zur Wandlung dieses Verständnisses etwa Weilert, ZaöRV, 2009, 883 ff.

81 Hailer, Menschenrechte vor Zivilgerichten, S. 69.

82 Hailer, Menschenrechte vor Zivilgerichten, S. 69.

83 Gallagher v. Neil Young Freedom Concert, 49 f.3d 1442, 1447 (10th Cir. 1995).

84 Hailer, Menschenrechte vor Zivilgerichten, S. 69.

85 Hailer, Menschenrechte vor Zivilgerichten, S. 70.

86 Kadic v. Karadzic, 70 F.3d 232 (2nd Cir. 1995).

87 Felz, Das Alien Tort Statute, S. 80.

88 Kadic v. Karadzic, 70 F.3d 232, 239 (2nd Cir. 1995); siehe zur sich verändernden Stellung des Individuums im Völkerrecht Peters, Jenseits der Menschenrechte.

89 Kadic v. Karadzic, 70 F.3d 232, 239: „We do not agree that the law of nations, as understood in the modern era, confines its reach to state action. Instead, we hold that certain forms of conduct violate the law of nations whether undertaken by those acting under the auspices of a state or only as private individuals.”; siehe auch Felz, Das Alien Tort Statute, S. 84.

90 Kadic v. Karadzic, 70 F.3d 232, 240 (2nd Cir. 1995).

91 Cassese, International Law, S. 71; umfassende Erläuterung bei Peters, Jenseits der Menschenrechte, S. 90 ff.

92 Herdegen, VölkerR § 13 Rn. 6; von Falkenhausen, Menschenrechtsschutz durch Deliktsrecht, S. 44; Haider, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, S. 473; Weschka, ZaöRV 2006, 625, 628.

93 Reynolds/Zimmer, RIW 2012, 139, 141; Felz, Das Alien Tort Statute, S. 80.

Inselmann, Der „binäre Code“ von Völkerrecht und nationalem Recht am Beispiel des Alien Tort Statute115

Die Haftung juristischer Personen für Völkerrechtsverstöße haben einige Gerichte jedoch nicht anerkannt.94 Der Supreme Court hat diese Frage nicht ausdrücklich entschieden.95 Die unterschiedliche Behandlung natürlicher und juristischer Personen erscheint jedoch unter mehrlei Gesichtspunkten zweifelhaft. Sollte sich etwa ein Pirat seiner Gerichtspflichtigkeit unter dem ATS dadurch entziehen können, dass er als Pirates Inc. handelt?96

a) Anwendbares Recht

Relevant für die Beantwortung der Frage ist, ob sie nach Völkerrecht oder US-Bundesrecht zu entscheiden ist.97 Vertreter beider Auffassungen versuchen insofern die Sosa-Entscheidung fruchtbar zu machen.

Der Supreme Court stellt in Sosa fest, dass sich für bestimmte Völkerrechtsverletzungen eine federal common law-Anspruchsgrundlage ergeben kann. Im Anschluss an die Bestimmung des konkreten Standards, den die völkerrechtlichen Normen hierfür erfüllen müssen,98 geht er in einer Fußnote auf die Haftung von Individuen und Unternehmen ein.99 Es sei eine mit der Bestimmung des Standards zusammenhängende Frage, ob das Völkerrecht die Haftung bei einer Verletzung auf private Akteure (natürliche oder juristische Personen) ausdehne.100 Daraus wird gefolgert, dass auch die Haftung juristischer Personen auf „specific, universal, and obligatory“ Normen zurückzuführen sein muss.101 Die Haftung juristischer Personen müsste selbst einen allgemeinen anerkannten völkerrechtlichen Grundsatz darstellen.102 Dies sei jedoch nicht der Fall.103

Die Sosa-Entscheidung lässt sich aber auch anders interpretieren. Da die Anspruchsgrundlage dem federal common law entstammt, wird geschlussfolgert, dass das Bestehen und die Durchsetzbarkeit sowie sämtliche weiteren Haftungsfragen auch dem federal common law unterliegen.104 Lediglich das anspruchsbegründende deliktische Verhalten sei am Völkerrecht zu messen,105 das Völkerrecht bestimmt somit nur über das „Ob“ der Normverletzung.106 Die Ausführungen des Supreme Courts seien dahingehend zu interpretieren, dass es lediglich darauf ankomme, ob sich die fragliche völkerrechtliche Norm auch an natürliche bzw. juristische Personen richten kann oder nur an Staaten.107 Nimmt man dies an, dann ist keine Unterscheidung zwischen natürlichen und juristischen Personen angezeigt.108 Genauso wie natürliche Personen haften juristische Personen nur dann nicht, wenn die verletzte völkerrechtliche Norm nicht dem Sosa-Standard entspricht oder sich nicht an natürliche oder juristische Personen richtet.109 Hierzu sei eine „Norm-by-Norm-Analyse“110 vorzunehmen.

Für diese Ansicht werden Wortlaut und Historie des ATS bemüht. Der Wortlaut lasse keine Differenzierung zwischen natürlichen und juristischen Personen erkennen.111 Der Gesetzgeber hätte mit dem ATS eine nationale und eben keine unmittelbar völkerrechtliche Kompensationsmöglichkeit für bestimmte Völkerrechtsverletzungen schaffen wollen.112 Diese Auffassung orientiert sich stark am Telos des ATS und entspricht den in der Sosa-Entscheidung konturierten dogmatischen Grundsätzen.

b) Zwischenergebnis

Der erste Ansatz, nach dem ein völkerrechtlicher Grundsatz der Unternehmenshaftung bestehen muss, ist unilateral. Die Frage der Unternehmenshaftung beurteilt sich hier ausschließlich nach dem Völkerrecht. Zweiterer Ansatz entspricht den Vorgaben des Völkerrechts dadurch, dass die völkerrechtliche Norm sich auch an Private wenden muss, die weiteren Haftungsfolgen werden aber am federal common law gemessen.

IV. Haftung Beteiligter

Selten wird Unternehmen vorgeworfen, Verletzungshandlungen eigenhändig begangen zu haben.113 Typischerweise geht es vielmehr darum, Unternehmen für die Handlungen Dritter haftbar zu machen.114 Die Rechtfertigung einer


94 Kiobel v. Royal Dutch Petroleum 621 f.3d 111, 115 (2nd Cir. 2010).

95 Schulz nimmt an, der Supreme Court habe sich in Kiobel inzident für eine Haftung von Unternehmen ausgesprochen, S. 179 f. Dem schließt sich Haider an, siehe Haftung für Menschenrechtsverletzungen, S. 473 f.

96 Stürner, JZ 2014, 13, 21.

97 Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 177; Stürner, JZ 2014, 13, 21 „Vorentscheidend […]“.

98 „specific, universal, and obligatory“, siehe C.III.2.d).

99 Sosa v. Alvarez-Machain U.S. 692, 732 fn. 20. Die Fußnote steht in dem Satz, der auf die Bestimmung des Standards folgt.

100 Sosa v. Alvarez-Machain, U.S. 692, 732 fn. 20: „A related consideration is whether international law extends the scope of liability for a violation of a given norm to the perpetrator being sued, if the defendant is a private actor such as a corporation or individual. Compare Tel-Oren v. Libyan Arab Republic, 726 f. 2d 774, 791–795 (CADC 1984) (Edwards, J., concurring) (insufficient consensus in 1984 that torture by private actors violates international law), with Kadic v. Karadzic, 70 F. 3d 232, 239–241 (CA2 1995) (sufficient consensus in 1995 that genocide by private actors violates international law).”.

101 Kiobel v. Royal Dutch Petroleum, 621 f.3d 111, 131 (2nd Cir. 2010); siehe auch Presbyterian Church v. Talisman Energy Inc., 582 f.3d 244, 258: „footnote 20 of Sosa, while nominally concerned with the liability of non state actors, supports the broader principle that the scope of liability for ATS violations should be derived from international law.”

102 Kiobel v. Royal Dutch Petroleum, 621 f.3d 111, 131 (2nd Cir. 2010).

103 Kiobel v. Royal Dutch Petroleum, 621 f.3d 111, 131 (2nd Cir. 2010): „Corporate Liability is not a norm of customary international law.” Das Gericht führt hierfür eine Reihe von Gründen an, deren detaillierte Erörterung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Das Gericht hat Materialien des internationalen Gerichtshofs im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und der internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda, völkerrechtliche Verträge und völkerrechtliches Schrifttum gesichtet und kam zu dem Schluss, dass die Haftung juristischer Personen kein allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts ist. Exemplifziert wird das an der juristischen Behandlung der I.G. Farben nach Zusammenbruch des N.S.-Regimes. Zustimmend etwa Schaub, AVR 49 (2011), 124, 125. Schulz bestreitet dies vehement, siehe ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 181 ff.

104 Doe v. Exxon Mobil Corp., 654 f.3d 11, 41 f. (D.C. Cir. 2011); Flomo v. Firestone Natural Rubber Co., 643 f.3d 1013, 1019 (7th Cir. 2011); Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 185.

105 Casto, 89 Notre Dame L. Rev. 1545, 1549 f. (2014); Schaub, AVR 49 (2011), 124, 131.

106 Theophila, 79 fordham L. Rev. 2859, 2901 (2011).

107 Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 181; Haider, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, S. 473.

108 Schaub, AVR 49 (2011), 125, 135; Reynolds/Zimmer, RIW 2012, 139, 145.

109 Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 185.

110 Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 184.

111 Doe v. Exxon Mobil Corp., 654 f.3d 11, 43 (D.C. Cir. 2011); Reynolds/Zimmer, RIW 2012, 139, 143; Stanisz, 5 Brook. J. Corp. Fin. & Com. L. 573 (2011).

112 Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 180.

113 Weschka in: ZaöRV, 625, 626 f.

114 Stephens et. al., S. 312 f.; Reynolds/Zimmer in: RIW 2012, 139, 143.

Inselmann, Der „binäre Code“ von Völkerrecht und nationalem Recht am Beispiel des Alien Tort Statute116

solchen Haftung besteht darin, dass diese Unternehmen zu Verletzungshandlungen angestiftet oder jedenfalls Beihilfe geleistet haben (aiding and abetting).115 In den USA wird dies unter den Stichwörtern der „secondary liability“116 oder „third party liability“117 diskutiert. Zwar nimmt die Mehrheit der unteren Bundesgerichte eine Teilnahmehaftung für Unternehmen an,118 teilweise wurde diese jedoch auch abgelehnt.119 Fraglich ist wiederum welches Recht diese Frage determiniert.

1. Generelle Haftung Beteiligter

In Betracht kommen wiederum Völkerrecht und federal common law.120 Praktisch bedeutsam wird die Frage nach dem anwendbaren Recht erst auf Tatbestandsebene, also in Bezug auf die konkreten Voraussetzungen, die vorliegen müssen, um eine Teilnahmehaftung zu begründen, denn im Grundsatz erkennen sowohl Völkerrecht als auch federal common law eine Teilnahmehaftung an.121

Einige Gerichte stützen sich auf das Völkerrecht, da die Haftung für eine Beteiligung das deliktische Primärverhalten betreffe und einen eigenen neuen Tatbestand schaffe.122 Es ginge bei dieser Frage gerade darum, welches Verhalten verboten ist, nicht um eine bloße Ausgestaltung der Haftung.123

Teilweise wird dies anders gesehen. Insofern wird argumentiert, dass es bei der Teilnahmehaftung nicht um eigenständige Delikte ginge, sondern eine spezielle Form der Haftungszurechnung.124 Dies lässt sich mit dem US-amerikanischen Verständnis der secondary liability begründen. Die secondary liability folgt dem Ansatz, dass fremdes Verschulden dem Beteiligten zugerechnet wird, der Beteiligte also nicht etwa für seine eigenen Beihilfehandlungen hafte.125

Letztlich kulminiert die Problematik um das anwendbare Recht in der Frage, ob man verlangt, dass der beteiligte Dritte selbstständig Völkerrecht verletzen muss,126 oder ob man eine Völkerrechtsverletzung des unmittelbaren Täters genügen lässt.127 Insofern lassen sich für beide Seiten triftige Argumente finden, eine zufriedenstellende „Aufschlüsselung“ des binären codes ist nicht möglich.

2. Voraussetzungen der Zurechnung

Das Problem setzt sich fort, wenn man sich die Voraussetzungen der Zurechnung anschaut. Will man diese nach dem Völkerrecht beurteilen, wird insofern die actus reus-Rechtsprechung der ad hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda herangezogen.128

Hält man das federal common law für einschlägig, so wird sich hinsichtlich der Voraussetzungen der Haftung auf den in Halberstam v. Welch129 entwickelten Standard berufen, der wiederum auf dem Restatement (Second) of Torts § 876 gründet.130

3. Zwischenergebnis

Bei der Frage nach der Haftung Beteiligter zeigt sich die Schwierigkeit der Aufrechterhaltung der Trennung von Primär- und Sekundärebene sehr deutlich. Die Frage, ob die Beteiligung Teil des Primärverhaltens ist, oder nur eine Frage der Haftungszurechnung ist umstritten. Teilweise wird insofern ein hybrider Ansatz vertreten, der darauf abstellt, dass das in den ATS-Fällen angewandte Völkerrecht, ohnehin federal common law verkörpere.131 Die Gerichte wendeten somit immer federal common law an, wenn sie bestimmte materiell-rechtliche Fragen der indirekten Haftung zu beurteilen haben.132 Dieses federal common law sei wiederum durch bestimmte Völkerrrechtsquellen determiniert, so dass anhand einer wertenden Gesamtbetrachtung die jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen aus Quellen des Völkerrechts als auch dem nationalen Recht ermittelt werden müssten.133

D. Fazit

Die ATS-Dogmatik beruht auf einer komplexen Verschränkung von Völkerrecht und nationalem Recht. In Bezug auf die Anspruchsgrundlage können die Ansätze, die ummittelbar aus dem Völkerrecht eine Anspruchsgrundlage ableiten wollen, bzw. das ATS als eigene Anspruchsgrundlage konstruieren nicht überzeugen. Der Ansatz des Supreme Courts verfolgt einen Mittelweg, der sich um die bundesrechtlichen Hürden herumlaviert und letztlich eine Trennung zwischen Primär- und Sekundärebene aufrechterhält. Völkergewohnheitsrecht bestimmt, ob eine Norm verletzt wurde und federal common law stellt die Anspruchsgrundlage bereit. In Bezug auf die generelle Unternehmenshaftung setzt sich dieser Ansatz fort, sofern man nicht fordert, dass die Unternehmenshaftung ein eigenständiger völkerrechtlicher


115 Stephens et al., S. 312 f.

116 Stephens et. al., S. 312 f.

117 Hailer, Menschenrechte vor Zivilgerichten, S. 72.

118 Almog v. Arab Bank, PLC, 471 f. Supp. 2d 257, 287 (E.D.N.Y. 2007); Kiobel v. Royal Dutch Petroleum Co., 456 f. Supp. 2nd 457 (S.D.N.Y. 2006); Presbyterian Church of Sudan v. Talisman Energy Inc., 453 f. Supp. 2d 633, 668 (S.D.N.Y. 2006), 582 f.3d 244 (2nd Cir. 2009).

119 Doe v. Exxon Mobil Corp., 393 f. Supp. 2d 20, 24 (D.D.C. 2005).

120 Reinhard, RIW 2008, 676, 679; Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 188.

121 Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 195 fn. 781. In Bezug auf das Völkerrecht: Reinhard, RIW 2008, 676, 679.

122 Presbyterian Church v. Talisman Energy Inc., 582 f.3d 244, 259: „Recognition of secondary liability is no less significant a decision than whether to recognize a whole new tort in the first place.”; Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 188; Schaub, AVR 49 (2011), 125, 133 f.; in diese Richtung auch Seibert-Fohr, ZaöRV 2003, 195, 201 f., die sich auf den Wortlaut des ATS stützt. Dieser setze voraus, dass die dem Beklagten vorgeworfene Deliktshandlung einen Völkerrechtsverstoß darstellt. Es sei deshalb sei eine einheitliche Prüfung am Maßstab des Völkerrechts vorzugswürdig. Zu beachten ist aber, dass Seibert-Fohr in diesem Beitrag davon ausgeht, dem ATS selbst sei eine Anspruchsgrundlage zu entnehmen.

123 Hailer, Menschenrechte vor Zivilgerichten, S. 73.

124 Schaub, AVR 49 (2011), 125, 133 f.

125 Schaub, AVR 49 (2011), 125, 133 f.

126 so etwa Seibert-Fohr, ZaöRV 2003, 195, 201 f.

127 Schaub, AVR 49 (2011), 125, 126; Schulz, Das ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 188.

128 Prosecutor v. Furundzija, IT-95-17/1-T (Dec. 10, 1998); Prosecutor v. Musema, ICTR-96-13-T (Jan. 27, 2000).

129 Halberstam v. Welch, 705 f.2d 472 (D.C. Cir. 1983).

130 Sarei v. Rio Tinto, 671 f.3d 736, 771 (9th Cir. 2011), Reinhardt, J., concurring; Khulumani, 504 f.3d 227, 288, Hall, J., concurring.

131 Wuerth, 85 Notre Dame L. Rev. 1931, 1955 (2010).

132 Schulz, ATS und transnationale Deliktsklagen, S. 196.

133 Wuerth, 85 Notre Dame L. Rev. 1931, 1952 ff.

Inselmann, Der „binäre Code“ von Völkerrecht und nationalem Recht am Beispiel des Alien Tort Statute117

Grundsatz sein muss.

In Bezug auf die Frage nach der Haftung Beteiligter stößt man bei dem Versuch diese Trennung aufrechtzuerhalten auf erhebliche Schwierigkeiten. Eine vollständige Entschlüsselung des „binären Codes“ ist nach derzeitigem Stand nicht möglich, so dass sich insofern nur mit hybrider Rechtsanwendung zu behelfen ist.