Clemens Alexander Jungfer*
A. Hintergrund
Am Abend des 04. November 1981 wird die 17-jährige Frederike von Möhlmann auf dem Heimweg vergewaltigt und ermordet. Der Hauptverdächtige wird zunächst wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, dann aber nach Aufhebung des Urteils durch den BGH aus Mangel an Beweisen freigesprochen.1 Die mit diesem Urteil eingetretene Rechtskraft verhindert schließlich 30 Jahre später die Neueröffnung des Verfahrens, obwohl die DNA des Freigesprochenen in der Unterwäsche der Getöteten anhand von Spermaspuren nachgewiesen werden kann. Der Fall und der darauffolgende Unmut der Bevölkerung stoßen die Gesetzesinitiative für das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit an. Ziel des Gesetzes ist, solche „schlechterdings unerträglichen Ergebnisse“2 zu verhindern. Mit ihm hält die seit Jahrzehnten diskutierte Wiederaufnahme wegen neuer Beweise (propter nova) schließlich Einzug in das deutsche Recht.3 Ein neuer Wiederaufnahmegrund wird in den Katalog des § 362 StPO eingefügt, der es ermöglicht, rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren gegen einen freigesprochenen Angeklagten zu seinen Ungunsten wieder aufzunehmen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe für eine Verurteilung wegen Mordes (§ 211 StGB), Völkermordes (§ 6 I VStGB), Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 I Nr. 1 und 2 VStGB) oder Kriegsverbrechen gegen eine Person (§ 8 I Nr. 1 VStGB) bilden. Nur zwei Monate nach der Verkündung des Gesetzes wird gegen den bereits freigesprochenen Hauptverdächtigen Haftbefehl erlassen, woraufhin dieser das Bundesverfassungsgericht anruft.
Anlässlich der ausstehenden Entscheidung lohnt sich ein Blick auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieses Gesetzes. Diese bemisst sich hauptsächlich an dem Mehrfachverfolgungsverbot ne bis in idem aus Art. 103 III GG sowie dem Rückwirkungsverbot aus Art. 20 III GG in Fällen der Anwendung auf Altfälle. Insbesondere wird zu klären sein, ob Art. 103 III GG der Abwägung mit dem Rechtsgut der materiellen Gerechtigkeit offensteht. Außerdem sollen einige rechtspolitische Argumente Erwähnung finden.
B. Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem aus Art. 103 III GG
I. Schutzbereich und Schranken
Art. 103 III GG verankert den Grundsatz ne bis in idem im Grundgesetz. Er schützt nicht nur vor doppelter Bestrafung, sondern über seinen Wortlaut hinaus auch vor jeder weiteren Strafverfolgung nach sachlicher Aburteilung, also auch nach einem Freispruch oder einer gerichtlichen Einstellung des Strafverfahrens.4 Als grundrechtsgleiches Recht bzw. Prozessgrundrecht begrenzt dieses Doppelbestrafungs- oder Mehrfachverfolgungsverbot den staatlichen Strafanspruch auf einen Versuch und stellt sicher, dass Freigesprochene und Bestrafte nicht ständig damit rechnen müssen erneut belangt zu werden.5
Da Art. 103 III GG vorbehaltlos gewährleistet ist, kann das Grundrecht lediglich durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden.6 Die Reichweite und Rechtfertigung einer solchen Einschränkung sind umstritten; dass Einschränkungen grundsätzlich möglich sind, zeigt aber schon die Existenz des § 362 StPO. Der Verfassungsgeber wollte vor dem Hintergrund der Unrechtserfahrung des Nationalsozialismus mit der Normierung von ne bis in idem im Grundgesetz dessen Aufhebung ausschließen, jedoch nicht die bereits in § 402 RStPO bestehenden Beschränkungen dieses Grundsatzes, dem der § 362 StPO a.F. nachgebildet wurde, beseitigen.7 Die bestehenden Normen des Strafprozessrechts und deren Auslegung sind deshalb als verfassungsimmanente Schranken anzusehen, so auch der § 362 StPO.8 Weitestgehend unumstritten ist auch, dass eine „beliebige Durchbrechung der Rechtskraft zuungunsten Beschuldigter neben den engen sowie tradierten Regelungen des § 362 StPO unzulässig ist, weil andernfalls die Garantie des Art. 103 III GG leer liefe.“9 Das bedeutet aber nicht, dass jede materielle Erweiterung der Wiederaufnahmegründe selbst grundsätzlich unzulässig wäre.10 Das Bundesverfassungsgericht stellte 1981 klar, dass Art. 103 III GG „Grenzkorrekturen“ nicht entgegen steht und lediglich „den Kern dessen [garantiert], was als
* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.
1 Maxwill, Spiegel.de v. 20.09.2016, online abrufbar unter https://t1p.de/tlg0u.
2 BT-Drs. 19/30399, S. 1.
3 Vergleichbare Gesetzesentwürfe wurden im Bundestag schon 1993 (BT-Drs. 12/6219), 1996 (BT-Drs. 13/3594) und 2007 (BT-Drs. 16/7957) diskutiert.
4 Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 3: Art. 83-1467, 2018, Art. 103 Rn. 174; Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar9, 2021, Art. 103 Rn. 79.
5 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 3 Art. 83-1463, 2018, Art. 103 III Rn. 12-14; Kment, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar17, 2022, Art. 103 Rn. 95; Slogsnat, ZStW 133 (2021), 741, 760.
6 Brüning, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar3, 2019, Art. 103 Rn. 115; Kment, in: Jarass/Pieroth (Fn. 5), Art. 103 Rn. 106.
7 BVerfGE 3, 248, 252.
8 Frister, in: Systematischer Kommentar zur StPO – Mit GVG und EMRK, Bd. 75, 2018, §362 Rn. 3; Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 4), Art. 103 Rn. 223; Degenhart, in: Sachs (Fn. 4), Art. 103 Rn. 84.
9 Gärditz, Stellungnahme im Rechtsausschuss des Bundestages, S. 4, online abrufbar unter \https://t1p.de/qgij3.
10 A.A. Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte3, 2017, Art. 103 Rn. 30 f.
Inhalt des Grundsatzes \ne bis in idem in Rechtsprechung und Literatur herausgearbeitet wurde“.11 Art. 103 III GG steht also der Weiterentwicklung offen.12
Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten, wie der § 362 Nr. 5 StPO mit dem Mehrfachverfolgungsverbot vereinbar sein könnte: Zum einen, wenn der Wiederaufnahmegrund propter nova lediglich eine Grenzkorrektur der bestehenden Wiederaufnahmegründe darstellen würde (B.II.), und zum anderen, wenn eine Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht bestünde (B.III.).
II. § 362 Nr. 5 StPO ist keine Fortentwicklung des § 362 StPO a.F.
Art. 103 III GG nimmt auf das Prozessrecht von 1949 Bezug, womit auch die Verfassungsmäßigkeit des § 362 StPO gerechtfertigt wird. Gleichzeitig sollte aber dieses Prozessrecht nicht in allen Einzelheiten festgelegt werden. Indem auf das einfache Recht verwiesen wird besteht die Möglichkeit, dieses weiterzuentwickeln, soweit es um eine „sinnhafte Fortentwicklung der vorkonstitutionellen Rechtslage“ geht.13 Auch der BGH stellte bereits 1953 klar, dass eine Ausweitung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Angeklagten nicht grundsätzlich ausgeschlossen sei.14 Auf diese Aussage beruft sich der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung und versucht die neueingeführte Nr. 5 als Fortentwicklung des § 362 StPO a.F. zu legitimieren.15
Der § 362 StPO erlaubte in seiner bisherigen Fassung die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des \Angeklagten aus vier Gründen: Die Nr. 1-3 betreffen rechtswidrige Eingriffe in das Verfahren und dessen Ergebnis, es geht also um die Wiederaufnahme propter falsa.16 Nr. 4 erlaubt die Wiederaufnahme des Verfahrens auch dann, wenn der Freigesprochene ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat ablegt und stellt einen Fall der Wiederaufnahme propter nova dar.17
Der Gesetzgeber beruft sich für die grundsätzliche Zulässigkeit von Wiederaufnahmegründen propter nova auf den § 362 Nr. 4 StPO.18 Die Neuregelung, alle Beweismittel für eine Wiederaufnahme zuzulassen, schreibe „Gedanken fort, die bereits jetzt im geltenden Recht, namentlich in § 362 Nummer 4 StPO, angelegt sind.“19 Das glaubwürdige Geständnis besitze einen „hohen Beweiswert und wurde auch deshalb als Wiederaufnahmegrund aufgenommen.“20 Auch in der Literatur wird die Wiederaufnahme aufgrund eines glaubwürdigen Geständnisses teilweise mit dessen besonders hoher Beweiskraft erklärt.21 Somit sei die Wiederaufnahme aufgrund neuer Beweise schon im Wiederaufnahmerecht angelegt gewesen. Die Tatsache, dass nun alle Arten von Beweisen und nicht nur das Geständnis für eine Wiederaufnahme ausreichen, schaffe demzufolge nicht einen ganz neuen Gedanken, sondern führe lediglich einen im Strafprozessrecht bereits angelegten fort. Kubiciel formuliert dazu: „Wird die Wiederaufnahme an eine besonders hohe Beweisqualität geknüpft, kann von einem unangemessenen Eingriff in das Prozessgrundrecht des Art. 103 Abs. 3 GG keine Rede sein.“22 Vor diesem Hintergrund ließe sich der § 362 Nr. 5 StPO durchaus als Fortentwicklung des dem geltenden Wiederaufnahmerecht bereits zugrunde liegenden Systems deuten und würde mithin den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts genügen. Wirft man jedoch einen Blick auf die Gesetzesmaterialien zu den Wiederaufnahmegründen der RStPO, ergibt sich ein anderes Motiv für die Einführung dieses Wiederaufnahmegrundes. Dort heißt es wörtlich: „Außerdem hat der Entwurf einer Wiederaufnahme des Verfahrens zu Ungunsten des Angeklagten nur noch für den Fall eines von dem Freigesprochenen nachträglich abgelegten Geständnisses zugelassen. […] [D]as Rechtsbewusstsein im Volke [kann] leicht irre geführt werden, wenn ein Verbrecher, nachdem er wegen mangelnden Beweises freigesprochen worden, sich ungestraft des Verbrechens selbst bezichtigen, oder gar rühmen darf.“23
Das Motiv für den § 362 Nr. 4 StPO war also nicht die besondere Beweiskraft des Geständnisses, sondern es sollte lediglich verhindert werden, dass der Freigesprochene das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat untergraben kann.24 Mit der Aussage, der Gesetzgeber habe das \Geständnis „gerade deshalb“25 als Wiederaufnahmegrund qualifiziert, weil ihm traditionell ein besonders großer Beweiswert zukommt, liest Kubiciel einen Gedanken in den Wiederaufnahmegrund der Nr. 4 hinein, der keine Stütze in den Gesetzesmaterialien zur RStPO findet.26 Dabei handelt es sich nicht um eine weite Auslegung, sondern vielmehr um die Unterstellung eines Wertungsgedankens, für den sich in der damaligen Gesetzesbegründung keine Anhaltspunkte finden.27
Da die besondere Beweiskraft des Geständnisses nicht der Gedanke des § 362 Nr. 4 StPO ist, kann dieser die Wiederaufnahme propter nova auch nicht rechtfertigen. Vielmehr hat es der historische Gesetzgeber hingenommen, dass sich die Beweislage nach einem rechtskräftigen Freispruch derart verändern kann, dass eine Verurteilung sicher erscheint. Die Rechtskraft sollte nur deshalb durchbrochen werden dürfen, weil es dem Gesetzgeber unerträglich schien, dass der freigesprochene Schuldige seine Schuld ohne
11 BVerfGE 56, 22, 34 f.
12 Kunig/Saliger, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, Art. 70-1467, 2021, Art. 103 Rn. 65.
13 Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 4), Art. 103 Rn. 187; Slogsnat, ZStW 133 (2021), 741, 761.
14 BGHSt 5, 323, 331.
15 BT-Drs. 19/30339, S. 8.
16 Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1984, S. 275; Bohn, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des \Angeklagten vor dem Hintergrund neuer Beweise, 2016, S. 35.
17 Engländer/Zimmermann, in: Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Band 3/1, 2019, § 362 Rn. 2.
18 BT-Drs. 19/30339, S. 10.
19 BT-Drs. 19/30339, S. 6.
20 BT-Drs. 19/30339, S. 10.
21 Kubiciel, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (GA) 2021, 380, 392.
22 Kubiciel, GA 2021, 380, 392.
23 Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen Bd. 3: Die gesammten Materialien zur Strafprozeßordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben vom 1. Februar 1877, Abtheilung 12, 1885, S. 264.
24 Bohn (Fn. 16), S. 49; Engländer/Zimmermann, in: MüKoStPO (Fn. 17), § 362 Rn. 2; Roggon, Bucerius Law Journal (BLJ) 2011, 50, 55; A.A. Kubiciel, GA 2021, 380, 392.
25 Kubiciel, GA 2021, 380, 392.
26 Kubiciel, GA 2021, 380, 392.
27 Vgl. insb. Kubiciel, GA 2021, 380, 392 (dortige Fn. 81).
Konsequenzen offenbaren kann.28
Aus den damaligen Motiven ergibt sich zudem ein weiterer Grund, weshalb der § 362 Nr. 5 StPO nicht als Fortentwicklung der Nr. 4 zu bewerten ist: Die Wiederaufnahmegründe der Nr. 1-4 haben gemein, dass sie die Durchbrechung der Rechtskraft zuungunsten des Freigesprochenen nur dann erlauben, wenn diese keinen Vertrauensschutz verdient.29 In den Motiven für den Entwurf des § 402 RStPO findet sich zur Wiederaufnahme aufgrund eines nachträglichen Geständnisses Folgendes: „Es steht in dem freien Willen des Angeklagten, ob er nach erfolgter Freisprechung ein Geständnis der Tat ablegen will; eine Gefährdung der Interessen des Angeklagten ist also mit jener Vorschrift nicht verbunden;“30
In den Fällen des nachträglichen Geständnisses verdient die Rechtskraft also nur deshalb keinen Vertrauensschutz, weil der Freigesprochene diesen selbst und freiwillig aufgibt.31 Der Freigesprochene, der durch seine Aussagen eine derartige Gefahr für den Rechtsfrieden schafft, muss sich die daraus resultierende Unsicherheit über die Richtigkeit des Verfahrens zurechnen lassen.32 Der Grund für die Durchbrechung der Rechtskraft liegt im Einflussbereich des Freigesprochenen selbst.33 Während die Rechtskraft hier nur durch ein dem Freigesprochenen zurechenbares Verhalten durchbrochen werden kann, verlagert die neueingeführte Nr. 5 dagegen diesen Grund aus dessen Einflussbereich hinaus. In solchen Fällen ist gerade kein dem Freigesprochenen zurechenbares Verhalten erforderlich. Dieser hat keinen Einfluss darauf, ob neue Zeugen auftauchen oder neue technische Untersuchungsmöglichkeiten aufkommen.34 Er kann nicht mehr voraussehen, ob weitere staatliche Eingriffe auf ihn zukommen, und ist im Ergebnis der Unsicherheit darüber auf ewig ausgesetzt.35 Mithin ist die Eingriffsintensität deutlich höher als bei der Nr. 4, wobei spiegelbildlich die den Eingriff rechtfertigenden Gründe weniger gewichtig sind: Es ist anzunehmen, dass der Rechtsfrieden und das Rechtsbewusstsein des Volkes durch ein öffentliches Geständnis der Tat deutlich stärker beeinträchtigt werden als durch das Aufkommen neuer Beweise. Folglich weist der Wiederaufnahmegrund aus § 362 Nr. 5 StPO eine ganz neue Qualität auf und kann nicht als Fortentwicklung des § 362 Nr. 4 StPO angesehen werden.
III. Art. 103 III GG als Ergebnis der Abwägung zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit
Eine Rechtfertigung ergibt sich auch nicht aus kollidierendem Verfassungsrecht, insbesondere nicht aus einer Abwägung mit der materiellen Gerechtigkeit. Die Gesetzesbegründung und Teile der Literatur sehen diesen im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsatz als Rechtfertigung für die Einschränkung des Art. 103 III GG an.36 Die materielle Gerechtigkeit sei das kollidierende Verfassungsrecht, welches die Einschränkung des vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts rechtfertige.37 Die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten sei dann zulässig, wenn das Festhalten an der Rechtskraft des Urteils zu schlechthin unerträglichen Ergebnissen führen würde, die materielle Gerechtigkeit also unerträglich beeinträchtigt wäre.38 Der Art. 103 III GG enthalte demnach eine „Unerträglichkeitsschranke“39. Da sowohl die Rechtssicherheit als auch die materielle Gerechtigkeit Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips sind, seien beide Interessen der Abwägung zugänglich und auch derer bedürftig. Diese Abwägung sei grundsätzlich vom Gesetzgeber durchzuführen.40
Die Ansicht missachtet jedoch die Wertungen, die sich aus der systematischen Stellung des Art. 103 III GG im Grundgesetz ergeben. Sowohl das Streben des Rechtsstaats nach bestmöglicher Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit als auch das Eintreten von Rechtssicherheit sind Ausprägungen des in Art. 19 III GG verankerten Rechtsstaatsprinzips. Richtigerweise kann aus diesem Grund keines der beiden Ziele absolute Geltung beanspruchen.41 Das bedeutet jedoch nicht, dass sie deshalb zwei „gleichberechtigte Teilmomente der Rechtsstaatlichkeit“42 darstellen, wie Kubiciel formuliert. Der zusätzlichen Normierung des Grundsatzes \ne bis in idem in Art. 103 III GG würde die eigenständige Bedeutung genommen, wenn man in ihr nicht den grundsätzlichen Vorrang der Rechtssicherheit im Verhältnis zur materiellen Gerechtigkeit für die Fälle des bereits durchgeführten Verfahrens sieht. Kurz gesagt steht Art. 103 III GG deshalb keiner Abwägung mit der materiellen Gerechtigkeit offen, weil er schon das Ergebnis dieser Abwägung darstellt.43 Die Wiederaufnahmegründe unter Berufung auf die materielle Gerechtigkeit zu erweitern, würde den ausdrücklichen Willen des Grundgesetzgebers unterlaufen.44 Sie stehen zwar der Veränderung offen, jedoch nur, soweit diese Veränderungen den Kern des Grundsatzes ne bis in idem nicht berühren.45 Das durch Art. 103 III GG begründete Regel-Ausnahme-Verhältnis stellt jedoch eben diesen Kern dar.46 Der § 362 Nr. 5 StPO verkehrt für die umfassten Delikte dieses Verhältnis in sein Gegenteil und degradiert den Freispruch zu einem „Freispruch unter Vorbehalt“47.
Das hervorgebrachte Argument der Unerträglichkeit vermag dieses Ergebnis nicht zu ändern. Es ist zu berücksichtigen, dass von der Erweiterung der Wiederaufnahmegründe auch
28 So auch Marxen/Tiemann, ZIS 2008, 188, 189.
29 Conen, Stellungnahme im Rechtsausschuss des Bundestages, S. 10, online abrufbar unter https://t1p.de/qgij3.
30 Hahn (Fn. 23), S. 264.
31 Conen, Stellungnahme (Fn. 29), S. 10.
32 Grünewald, ZStW 120 (2008), 545, 577.
33 Marxen/Tiemann, ZIS 2008, 188, 189; Roggon, BLJ 2011, 50, 55.
34 Grünewald, ZStW 120 (2008), 545, 578.
35 Grünewald, ZStW 120 (2008), 545, 578.
36 BT-Drs. 19/30399, S. 8; Kment, in: Jarass/Pieroth (Fn. 5), Art. 103 Rn. 106; Slogsnat, ZStW 133 (2021), 741, 761.
37 Engländer/Zimmermann, in: MüKoStPO (Fn. 17), Vor § 359 Rn. 3.
38 BT-Drs. 19/30399, S. 9; Brüning, in: Stern/Becker (Fn. 6), Art. 103 Rn. 116.
39 Eisenberg, JR 2007, 360, 361; Slogsnat, ZStW 133 (2021), 741, 761.
40 Kubiciel, GA 2021, 380, 386.
41 Kubiciel, GA 2021, 380, 382 f.
42 Kubiciel, GA 2021, 380, 382.
43 Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 4), Art. 103 Rn. 181; Slogsnat, ZStW 133 (2021), 741, 761.
44 Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, WD 7 – 3000 – 121/16, S. 10.
45 BVerfGE 56, 22, 34 f.
46 Aust/Schmidt, ZRP 2020, 251, 252.
47 Formulierung von Suliak, online abrufbar unter \https://t1p.de/96bix.
solche Freigesprochenen betroffen sind, deren Freispruch materiell gerecht ist, die also tatsächlich unschuldig sind. Gerade für den tatsächlich unschuldigen und bereits freigesprochenen Angeklagten ist es unerträglich, sich einem weiteren gerichtlichen Verfahren aussetzen zu müssen.48 Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages fasst dies treffend zusammen: „[M]it dem Begriff der Unerträglichkeit [wird] im Grunde kein neues Argument geliefert, sondern lediglich die Abwägung Rechtssicherheit gegenüber materieller Gerechtigkeit auf die Abwägung ‚Unerträglichkeit eines weiteren Verfahrens für einen Freigesprochenen‘ gegenüber ‚Unerträglichkeit eines in tatsächlicher Hinsicht falschen Freispruchs‘ verlagert.“49 Die die Wiederaufnahme begründende unerträgliche Einschränkung der materiellen Gerechtigkeit, also die Fehlerhaftigkeit des vorherigen Verfahrens, kann erst im späteren strafrechtlichen Prozess festgestellt werden. Deshalb sind von der Wiederaufnahme zwingendermaßen auch solche Fälle umfasst, in denen der Freispruch materiell gerecht war, die Unerträglichkeit als ursprüngliche Begründung für die Wiederaufnahme des Verfahrens also gar nicht gegeben war.
IV. Zwischenergebnis
Es wurde dargelegt, dass die Wiederaufnahme des Strafverfahrens propter nova zuungunsten des Freigesprochenen keine Grenzkorrektur der bereits bestehenden Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO darstellt. Die Begründung des Gesetzgebers, sie wäre eine Fortentwicklung der Wiederaufnahme wegen eines nachträglichen Geständnisses, vermag nicht zu überzeugen. Außerdem ergibt sich keine Rechtfertigung aus kollidierendem Verfassungsrecht, da Art. 103 III GG aufgrund seiner systematischen Stellung im Grundgesetz keiner Abwägung mit der materiellen Gerechtigkeit offensteht. Folglich verstößt § 362 Nr. 5 StPO gegen das Mehrfachverfolgungsverbot aus Art. 103 III GG.
C. Erfassung von Altfällen als unzulässige Rückwirkung
Da dies in der politischen Diskussion immer wieder thematisiert wurde, stellt sich unweigerlich die Frage, ob der neue Wiederaufnahmegrund auch auf in der Vergangenheit liegende, bereits abgeschlossene Verfahren (sog. Altfälle) anwendbar ist. Da das strafrechtliche Rückwirkungsverbot aus Art. 103 II GG nur das materielle Strafrecht und keine verfahrensrechtlichen Änderungen umfasst, ist es nach einhelliger Ansicht nicht einschlägig; es gilt das allgemeine Rückwirkungsverbot aus Art. 20 III GG.50
Die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf ebendiese Altfälle würde nach einhelliger Ansicht eine echte Rückwirkung darstellen.51 Eine solche echte Rückwirkung wird durch das Rechtsstaatsprinzip grundsätzlich verboten.52 Zu ihrer Legitimierung bedarf es einer „besonderen Rechtfertigung“53. Eine Durchbrechung des Verbots ist unter anderem möglich, wenn „zwingende Belange des Gemeinwohls“54 diese rechtfertigen. In diesem Kontext wird erneut das Institut der materiellen Gerechtigkeit angeführt.55 Dem gegenüber steht das schutzwürdige Vertrauen des erneut Angeklagten darauf, nach einem erfolgten Freispruch keiner weiteren Strafverfolgung mehr ausgesetzt zu sein. Dieses Vertrauen leitet er aus Art. 103 III GG ab, sodass es im Ergebnis zu derselben Abwägung von Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit kommt, wie sie bereits oben thematisiert wurde.56 Wieder ist zu entscheiden ob die materielle Gerechtigkeit, dieses Mal in Form eines zwingenden Belangs des Allgemeinwohls, geeignet ist, die Rechtssicherheit einzuschränken. Kommt man zu dem Schluss, der Art. 103 III GG entfalte Sperrwirkung für eine Abwägung von Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit, so gilt dies auch im Kontext der Rechtfertigung einer echten Rückwirkung. Folglich könnte die materielle Gerechtigkeit die (rückwirkende) Einschränkung nicht rechtfertigen, da der Gesetzgeber das Ergebnis dieser Abwägung zugunsten der Rechtssicherheit bereits mit Art. 103 III GG festgelegt hat.57 Hält man jedoch eine Abwägung für zulässig, so wird man auch hier zu dem Ergebnis kommen, dass die materielle Gerechtigkeit grundsätzlich geeignet ist, die echte Rückwirkung des § 362 Nr. 5 StPO zu rechtfertigen.58
D. Kein Verstoß gegen Art. 3 I GG
Der § 362 Nr. 5 StPO verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG. In der Beschränkung der Wiederaufnahme wegen neuer Beweise auf bestimmte Straftaten liegt keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung.
Art. 3 I GG bestimmt, dass wesentlich Gleiches gleich, und wesentlich Ungleiches ungleich behandelt werden muss.59 Aufgrund der durch Art. 103 III GG vermittelten Grundrechtsbezogenheit, ist für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung der strengere Maßstab der neuen Formel zu wählen.60 Eine Ungleichbehandlung verstößt hiernach dann gegen Art. 3 I GG, „wenn eine Gruppe […] im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und von solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können.“61 Im Ergebnis muss eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen.62
48 Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages (Fn. 44), S. 10.
49 Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages (Fn. 44), S. 10.
50 BVerfGE 25, 269, 285; BVerfGE 81, 132, 135; Aust/Schmidt, ZRP 2020, 251, 254; Kubiciel, GA 2021, 380, 393.
51 Aust/Schmidt, ZRP 2020, 251, 252 f.; Bohn (Fn. 16), S. 269 f.;
Pabst, ZIS 2010, 126, 130; Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages (Fn. 44), S. 13; wohl auch Kubiciel, GA 2021, S. 393 f. der von „strengeren Maßstäben“ ausgeht.
52 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Fn. 5), Art. 20 Rn. 99.
53 BVerfGE 72, 200, 257.
54 BVerfGE 131, 20, 39.
55 Eisele, Stellungnahme im Rechtsausschuss des Bundestages, S. 6, online abrufbar unter https://t1p.de/qgij3.
56 Eisele, Stellungnahme (Fn. 55), S. 6; Aust, Stellungnahme im Rechtsausschuss des Bundestages, S. 6, online abrufbar unter \https://t1p.de/qgij3.
57 Aust, Stellungnahme (Fn. 56), S. 6; Slogsnat, ZStW 133 (2021), 741, 774; i.E. auch Bohn (Fn. 16), S. 270.
58 Eisele, Stellungnahme (Fn. 55), S. 6; Kubiciel, Stellungnahme im Rechtsausschuss des Bundestages, S. 9, online abrufbar unter https://t1p.de/qgij3; Gärditz, Stellungnahme (Fn. 9), S. 7 f.
59 BVerfGE 129, 49, 68 m.w.N.; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1 Präambel, Art. 1-193, 2013, Art. 3 Rn. 20.
60 Bohn (Fn. 16), S. 245.
61 BVerfGE 129, 49, 69.
62 Bohn (Fn. 16), S. 244 m.w.N.
Die Ungleichbehandlung könnte in der Beschränkung der Wiederaufnahme propter nova auf die Straftatbestände Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen von dem Wiederaufnahmegrund liegen. „Am Maßstab der Unerträglichkeit gemessen, müssten eingeschlossene Fälle ausgeschlossen, und nicht erfasste Fälle einbezogen werden.“63 So gäbe es z.B. im Rahmen des § 211 StGB Fälle, in denen von vorneherein feststeht, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe, die als Indiz für die Unerträglichkeit angeführt wird, nicht in Betracht kommt. So etwa in Fällen der verminderten Schuldfähigkeit oder der Anwendung der Rechtsfolgenlösung des BGH. Aufgrund des Legalitätsprinzips müsste die Staatsanwaltschaft dennoch das Verfahren betreiben.64 Spiegelbildlich kann es vom § 362 Nr. 5 StPO nicht umfasste Fälle geben, welche dem Kriterium der Unerträglichkeit wohl mehr entsprechen. Zu denken ist an besonders schwere Fälle des Totschlags (§ 212 II StGB) oder an den sexuellen Missbrauch von Kindern mit Todesfolge (§ 176d StGB). Beide Delikte haben eine lebenslange Freiheitsstrafe zur Folge oder lassen sie zumindest zu.
Die Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung könnte darin liegen, dass die erfassten Straftaten der absoluten Strafandrohung der verpflichtenden lebenslangen Freiheitsstrafe unterliegen und nicht verjähren. Dies ist bei keinen anderen Delikten der Fall. Damit verleiht der Staat seinem absoluten Sanktionswillen für diese Straftaten Ausdruck.65 Die Anknüpfung des Wiederaufnahmegrundes propter nova an solche Straftaten, welche eine verpflichtende lebenslange Freiheitsstrafe als Rechtsfolge haben und nicht der Verjährung unterliegen, vermag mithin die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.66
E. Rechtspolitische Argumente
Abschließend soll der durch das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit eingeführte Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO im Lichte von rechtspolitischen Argumenten betrachtet werden.
Die Motive des Gesetzgebers, die Wiederaufnahme zuungunsten auch für den Fall des Aufkommens neuer Beweise zu ermöglichen sind offensichtlich: Es geht ihm um die Schaffung von (materieller) Gerechtigkeit. Die Begrifflichkeiten der (möglichen) verfassungsrechtlichen Begründung einer Einschränkung des ne bis in idem Grundsatzes, materielle Gerechtigkeit sowie die Unerträglichkeit eines Gerechtigkeitsverstoßes, lassen sich spiegelbildlich auf die politische Begründung übertragen. Es geht darum, das subjektive Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung zu befriedigen. Maßstab dafür ist, wann die Bevölkerung ein mutmaßliches Fehlurteil als unerträglich empfindet. Die Emotionalität, mit der eine solche politische Debatte geführt wird, ist vorprogrammiert. Insbesondere, weil der politische Entscheidungsprozess der Gesetzesinitiative maßgeblich auf den Fall Frederike von Möhlmann zurückgeführt werden kann. Dieser war Auslöser für eine Petition, welche wiederum Anstoß der Gesetzesinitiative geworden ist. Der Name Frederike von Möhlmann fand als Sinnbild für die Ungerechtigkeit, die es zu bekämpfen gilt, Einzug in die politische Diskussion, in das Plenum des Deutschen Bundestages und schließlich sogar in die Gesetzesbegründung selbst.67
In dieser Emotionalisierung des Rechts in der politischen Diskussion, in dem Herunterbrechen einer juristisch komplexen Diskussion auf die Schlagworte materiell gerecht (Wiederaufnahme) und ungerecht/unerträglich (Rechtskraft), liegt eine erhebliche Gefahr. Der Einzelfall der Frederike von Möhlmann wurde zum „pars pro toto einer vermeintlich strukturell vorherrschenden Ungerechtigkeit stilisiert.“68 Der Gesetzesbegründer diskreditiert zunächst die bestehende Rechtslage als unzulänglich und ungerecht – gar unerträglich – bevor er die scheinbar einfache Lösung präsentiert. Es wird suggeriert, dass alles, was es zur Herstellung materieller Gerechtigkeit brauche, diese Erweiterung der Wiederaufnahmegründe sei. Das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit – das Gesetz, das die materielle Gerechtigkeit wiederherstellt.
Dass die breite juristische Öffentlichkeit das Gesetzesvorhaben im Vorfeld als verfassungsrechtlich problematisch bewertete, erst wenige Jahre zuvor der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einer Analyse starke Bedenken äußerte, und das Bundesjustizministerium, obwohl eine solche Änderung sogar im Koalitionsvertrag stand, nicht an dem Gesetz mitarbeiten wollte, wurde ignoriert. Zudem wurde das Risiko, dass das Bundesverfassungsgericht mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit das Gesetz im Nachhinein wieder aufheben wird, billigend in Kauf genommen. Dies würde zwar die Wirksamkeit unserer Rechtsstaatsmechanismen beweisen, birgt aber gleichzeitig die Gefahr, dass sowohl das Vertrauen in die Politik als auch das Vertrauen in die Gerichte und den Rechtsstaat als solchen als Konsequenz der emotionalisierten und vereinfachten Debatte geschwächt wird. In der Diktion des Gesetzesentwurfes würde die Aufhebung des § 362 Nr. 5 StPO gleichsam die Schaffung eines „unerträglichen Gerechtigkeitsverstoßes“69 durch das Bundesverfassungsgericht darstellen. Nimmt man hinzu, wie sehr diese Debatte und auch die Begründung seitens der politischen Entscheidungsträger auf besagten Einzelfall heruntergebrochen wurde, muss es für viele Beobachter so wirken, als stelle sich das Bundesverfassungsgericht in einer Einzelfallbetrachtung vor einen (mutmaßlichen) Vergewaltiger und Mörder. Dass es primär um die Wahrung des Rechtsstaats gehen würde, in Abgrenzung von der nationalsozialistischen Unrechtserfahrung des Dritten Reichs, wird bei vielen nicht wahrgenommen werden. Conen schreibt dazu treffend in seinem Gutachten für den Rechtsausschuss des Bundestages: „Schwer erträglich für das Rechtsbewusstsein und das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat (eines der Ziele des Entwurfs) dürfte es aber auch sein, dass es dem Bundesverfassungsgericht bei der absehbaren Prüfung der Vereinbarkeit des § 362 Nr. 5 StPO-E mit Art. 103 Abs. 3 GG vorbehalten bliebe, ggfls. eine Norm für verfassungswidrig zu erklären, die in der politischen Kommunikation zuvor emotionalisiert damit aufgeladen wurde,
63 Marxen/Tiemann, ZIS 2008, 188, 193.
64 Marxen/Tiemann, ZIS 2008, 188, 193.
65 Roggon, BLJ 2011, 50, 55; Bohn (Fn. 16), S. 249.
66 Bohn (Fn. 16), S. 250 f.
67 BT-Drs. 19/30399, S. 10.
68 Schiffbauer, NJW 2021, 2097.
69 BT-Drs. 19/30399, S. 6.
einen vermeintlich rechtsstaatlich unerträglichen Zustand von Unrecht zu beenden.“70 Das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit könnte also genau das Gegenteil von dem bewirken, was es sich eigentlich zum Ziel gesetzt hat.
Zudem steht gar nicht fest, ob die Wiederaufnahme aufgrund neuer Beweise tatsächlich zu mehr Gerechtigkeit führen würde. So sind DNA-Ergebnisse, selbst wenn sie als eindeutig erscheinen, im Strafprozess nicht zwingend oder gar überwiegend der unwiderlegbare Beweis der Schuld.71 Es sollte klar sein, dass der Staat nicht jedes Verbrechen aufklären und jeden Täter seiner gerechten Strafe zuführen kann. Radtke formuliert dazu: „Eine lückenlose Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs ist faktisch nicht möglich und sollte daher auch nicht Argumentationsgrundlage für die Lösung von Rechtskraftfragen sein.“72
Darüber hinaus wird insbesondere durch die Art und Weise, durch welche das Gesetz zustande gekommen ist, die ihm inhärente Dammbruchgefahr deutlich. Die Begründung der Wiederaufnahme mit der Unerträglichkeit des Gerechtigkeitsverstoßes ist primär subjektiv. So scheint der Schritt, andere Straftaten wie etwa den sexuellen Missbrauch von Kindern mit Todesfolge (§ 176d StGB) als ebenso unerträglich einzustufen, was in der Lebenswirklichkeit mit Sicherheit auch oft zutrifft, die nächste logische Konsequenz. Es wurde gezeigt, dass durch die Einführung eines Wiederaufnahmegrundes propter nova eine neue Kategorie der Wiederaufnahmegründe in das System des § 362 StPO eingefügt wurde. Der Schritt zu einer generellen Wiederaufnahme aufgrund neuer Beweismittel ist nun lediglich noch ein gradueller und kein kategorialer.73 Mit der Übertretung dieser Schwelle fällt es (insbesondere politisch) schwerer zu argumentieren, warum andere, subjektiv ebenso unerträgliche Straftaten, nicht unter den Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO fallen.
F. Fazit
Der durch das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit neueingeführte Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig. Es wurde gezeigt, dass die Wiederaufnahme propter nova zuungunsten des Angeklagten gegen den Grundsatz ne bis in idem aus Art. 103 III GG verstößt, da er keine Fortentwicklung der bisherigen Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO darstellt. Zudem steht Art. 103 III GG schon grundsätzlich keiner Abwägung mit der materiellen Gerechtigkeit offen. Folgt man dieser Ansicht, verstößt § 362 Nr. 5 StPO zudem in der Anwendung auf Altfälle als echte Rückwirkung gegen das Rückwirkungsverbot aus Art. 20 III GG. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG liegt nicht vor.
Auch unter rechtspolitischen Gesichtspunkten ist die Wiederaufnahme propter nova zuungunsten des Angeklagten als problematisch zu bewerten. Dies liegt insbesondere an der erheblichen Dammbruchgefahr, die ihrer Einführung innewohnt.
70 Conen, Stellungnahme (Fn. 29), S. 11.
71 Aust/Schmidt, ZRP 2020, 251, 254.
72 Radtke, Zur Systematik des Strafklageverbrauchs verfahrenserledigender Entscheidungen im Strafprozeß, 1994, S. 46.
73 Roggon, BLJ 2011, 50, 56.