Auf dem Wege zur europäischen Juristenausbildung

Prof. Dr. Hein Kötz*

Wer sich aus der Sicht des deutschen Juristen mit dem Thema „Europa” beschäftigt, wird ziemlich schnell auf Gesetzestexte zu sprechen kommen, durch die in Europa auf die eine oder andere Weise Rechtseinheit geschaffen worden ist. Solche Gesetzestexte gibt es in der Tat in großer Zahl. Sie sind, wenn man sich auf das Privatrecht beschränkt, in einem über 1.000 Seiten starken Band zusammengefasst, der seit vielen Jahren von Reiner Schulze und Reinhard Zimmermann unter dem Titel „Europäisches Privatrecht” herausgegeben wird1 und inzwischen auch in Englisch unter dem Titel „Fundamental Texts on European Private Law” erschienen ist. Dort finden wir nicht nur die Verträge über die Europäische Union und über ihre Arbeitsweise sowie die Grundrechtecharta. Dort finden wir auch die europäischen Verordnungen zur Vereinheitlichung wesentlicher Teile des Internationalen Privat- und Prozessrechts der Mitgliedstaaten sowie eine schier endlose Zahl europäischer Richtlinien, die dafür sorgen wollen, dass im Recht der Mitgliedstaaten ein im wesentliches einheitliches Mindestniveau des Verbraucherschutzes eingehalten wird. Und natürlich finden wir dort auch Gesetzestexte, die auf der Ratifikation internationaler, auf Rechtsvereinheitlichung abzielender Staatsverträge beruhen und deshalb — wie z.B. das Einheitliche Gesetz über den internationalen Warenkauf (CISG) — in den europäischen Ländern in gleicher Form gelten.

Es hat also den Anschein, als sei die europäische Rechtseinheit nur durch einheitlich geltende gesetzliche Vorschriften zu erzielen. In der Tat lässt sich gar nicht bestreiten, dass die europäische Rechtsvereinheitlichung und Rechtsangleichung auch künftig auf den Gesetzgeber angewiesen bleiben wird. Aber dass die Einheitsgesetzgebung den einzigen oder auch nur den Königsweg zur europäischen Rechtseinheit bildet — dies ist eine Vorstellung, die allmählich mehr und mehr ins Wanken gerät. Kritisiert wird z.B., dass es bisher stets nur zur Vereinheitlichung punktueller Einzelfragen gekommen ist und infolgedessen dem Einheitsrecht ein höchst fragmentarischer und pointillistischer Charakter anhaftet. Diese Kritik soll uns hier nicht näher interessieren.2 Behauptet wird aber auch, dass es neben der Einheitsgesetzgebung noch andere, in weniger prächtigem Gewand daherkommende, stiller wirkende, aber deshalb nicht weniger nachhaltige Kräfte gibt, die die europäische Rechtseinheit fördern können: Damit sind eine europäische Rechtswissenschaft und — das ist unser eigentliches Thema — vor allem eine europäische Juristenausbildung gemeint.3 Unter besonderen Voraussetzungen kann man nämlich davon sprechen, dass in einem Gebiet Rechtseinheit besteht, selbst wenn in diesem Gebiet unterschiedliches Gesetzesrecht gilt, also Rechtsverschiedenheit gegeben ist. Zu diesen besonderen Voraussetzungen zählt es, dass es in diesem Gebiet eine einheitliche Juristenausbildung gibt, die die gemeinsamen Wurzeln jener Gesetze betont, dem Studenten zeigt, welche allgemeinen Rechtsbegriffe und Rechtsprinzipien ihnen zugrunde liegen und sie so dazu instand setzt, sich in diesem Gebiet frei zu bewegen und mit anderen Juristen leicht zu verständigen. Dass unter dieser Voraussetzung „Rechtseinheit — in einem anderen Sinne verstanden — auch dort bestehen kann, wo gesetztes Recht divergiert”,4 hat man dadurch plausibel zu machen versucht, dass man sich zum einen auf die historische Erfahrung des lus Commune, zum anderen auf das heutige US-amerikanische Recht berufen hat.

Vom US-amerikanischen Recht ist bekannt, dass es — wenn man genau hinschaut — nicht wirklich einheitlich ist. Vielmehr gibt es in weiten Bereichen des Privatrechts wesentliche Divergenzen zwischen den Rechten der 50 Einzelstaaten. Dennoch zweifelt niemand ernstlich daran, dass in den Vereinigten Staaten Rechtseinheit besteht. Freilich ist das keine Rechtseinheit, die allein auf einheitlicher Gesetzgebung beruht. Vielmehr beruht sie auf einem Fundament überall akzeptierter Grundbegriffe und Prinzipien, auf einheitlichen Formen der Behandlung und Darstellung des juristischen Stoffs, auf einer einheitlichen Rechtsliteratur und — darauf kommt es hier an — auf einheitlichen Methoden des juristischen Unterrichts an den tonangebenden „national


* Der Verfasser war bis zu seiner Emeritierung Professor an der Universität Hamburg und Direktor am Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht. Er war von 2000-2004 der erste Präsident der Bucerius Law School. Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den er am 10.12.2020 im Rahmen des Albrecht Mendelssohn Bartholdy Forums gehalten hat.

1 R. Schulze/R. Zimmermann, Europäisches Privatrecht, Basistexte (6. Auflage 2020).

2 Vgl. dazu z.B. H. Kötz, Rechtsvereinheitlichung — Nutzen, Kosten, Methoden, Ziele, RabelsZ 50 (1986) 1.

3 Vgl. zu diesem Thema schon A. Flessner, Rechtsvereinheitlichung durch Rechtswissenschaft und Juristenausbildung, RabelsZ 56 (1992) 243 und H. Kötz, Europäische Juristenausbildung, ZEuP 1993, 268; ders., A Common Private Law for Europe, in: DeWitte/Forder (Hg.), The Common Law of Europe and the Future of Legal Education (1992)

4 H. Kötz (oben Fn. 2) 13.

Kötz, Auf dem Wege zu einer europäischen Juristenausbildung2

law schools”? die sich an den „national general principles of common law” orientieren und das US-amerikanische Recht als virtuelle Einheit behandeln.5

Räumlich näher, wenn auch historisch weiter entfernt, ist das Beispiel des lus Commune. Es stellte ein einheitliches Fundament von Regeln, Begriffen, Prinzipien und Denktraditionen dar, das auf der Grundlage des römischen Rechts entwickelt worden ist. Es bildete überall in Kontinentaleuropa bis in das 19. Jahrhundert hinein an den Universitäten den einheitlichen Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Bearbeitung und des juristischen Unterrichts.6 Freilich galt das lus Commune immer nur subsidiär, trat also überall hinter das örtliche Land oder Stadtrecht oder das lokal geltende Gewohnheitsrecht zurück. Gleichwohl herrschte Rechtseinheit in dem Sinne, dass die Juristen überall in der Rechtssprache des lus Commune dachten, mit seinen juristischen Begriffen hantierten und seine Regeln anwandten, sofern es vorrangiges Ortsrecht nicht gab oder es zwar vorhanden, aber lückenhaft oder unklar war. Es gab damals in Europa eine einheitliche juristische Literatur in lateinischer Sprache, die überall gelesen und überall in der juristischen Ausbildung verwendet wurde, so dass wenig darauf ankam, ob der junge Jurist in Heidelberg oder an der Sorbonne studiert oder ob er seine Ausbildung in Prag begonnen und dann in Salamanca oder Montpellier fortgesetzt hatte.

Was sind die praktischen Lehren, die wir aus der historischen Erfahrung des lus Commune ziehen könnten? Sie liegen — in den Worten von Helmut Coing —

in der gewaltigen Bedeutung, die die juristische Universitätsausbildung sowohl im Mittelalter wie in der Aufklärungszeit für unser gemeinsames juristisches Erbe gehabt hat. Es war dies eine Ausbildung, die auf europäischen Ideen beruhte und eine Gruppe von Juristen schuf, die von diesen Ideen beherrscht waren; diese europäischen Juristen waren es, die dem europäischen Recht vorangingen. Dies ist der Punkt, an dem nach meiner Meinung unsere akademische Verantwortung beginnt. Wir sollten die juristische Ausbildung an den europäischen Juristenfakultäten so umgestalten, dass sie, statt die europäischen Juristen voneinander zu trennen, ihr gegenseitiges Verständnis zu fördern sucht. Wir müssen von der Idee Abschied nehmen, die die Juristenausbildung im 19. Jahrhundert beherrscht hat, von der Idee nämlich, dass die Grundlage der Ausbildung die nationale Gesetzgebung sei. Die Lehrpläne unserer Juristenfakultäten dürfen nicht auf das Studium des nationalen Rechts beschränkt sein, und ebenso wenig reicht es aus, den Unterricht im nationalen Recht hier und da mit vergleichenden Hinweisen zu garnieren. Was notwendig ist und worauf wir hinarbeiten müssen, ist ein Lehrplan, dessen wesentliche Lehrveranstaltungen das nationale Recht und die in anderen Rechtsordnungen geltenden Regeln im Kontext, das heißt, vor dem Hintergrund der juristischen Prinzipien und Institutionen präsentieren, die den europäischen Nationen gemeinsam sind”.7

Allerdings muss man fragen, ob diese Forderung Helmut Coings nicht allzu ambitioniert ist. Liegen die Verhältnisse nicht heute ganz anders als zur Zeit der Geltung des lus Commune? Können wir aus den alten Erfahrungen wirklich herleiten, dass die juristischen Fakultäten in Europa heute ihre Lehrpläne in dem Sinne „europäisieren” sollten, dass in den wesentlichen Lehrveranstaltungen die nationalen Regeln stets unter rechtsvergleichenden Gesichtspunkten behandelt, stets also den funktionsverwandten Regeln anderer europäischer Rechtsordnungen gegenübergestellt werden? Gab es nicht im lus Commune eine gemeinsame Basis von anerkannten Rechtstexten? Gab es dort nicht das Corpus Iuris Civilis und — soweit es um das kanonische Recht ging– das Decretum Gratiani, nämlich die Sammlung der geschriebenen Texte des Rechts der katholischen Kirche? Wo wäre heute eine solche Basis gemeinsam anerkannter Rechtstexte, die als Fundament einer Lehre des europäischen Privatrechts dienen könnte? Wo wäre heute die lateinische Sprache, in der früher alle Lehrbücher über das lus Commune verfasst und in der alle Lehrveranstaltungen über das lus Commune abgehalten wurden?

Diese Einwände haben Gewicht. Sicherlich trifft es zu, dass wir heute einen gemeinsamen, überall in Europa anerkannten Rechtstext nicht haben, jedenfalls nicht im Privatrecht. Ein europäisches Zivilgesetzbuch und ein europäisches Vertragsgesetzbuch gibt es nicht, und auch der Entwurf eines europäischen Kaufvertragsgesetzes ist schließlich von den Regierungen wichtiger Mitgliedstaaten als derzeit politisch nicht opportun angesehen und daher von der EU-Kommission zurückgezogen worden. Immerhin haben wir den acquis communautaire, also die rechtlich verbindlichen Texte der Europäischen Union und die sich darauf beziehende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Diese Texte stammen überwiegend aus den Richtlinien der Europäischen Union, etwa über die Produkthaftung, die Haustürgeschäfte, die Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen oder den Verbrauchsgüterkauf. Sie regeln deshalb meist nur ganz bestimmte Einzelfragen, verfolgen das Regulierungsziel des Verbraucherschutzes, sind deshalb zwingender Natur und daher auch in systematisierter Form8 als Basistext einer Lehrveranstaltung über das europäische Vertragsrecht wenig geeignet.9 Dafür sehr wohl geeignet sind aber die Principles of European Contract Law. Sie sind von einer Gruppe von Rechtswissenschaftlern ausgearbeitet worden, die von dem dänischen Professor Ole Lando gegründet und geleitet worden ist. Sie geben für das Gebiet des Vertragsrechts den acquis commun


5 Vgl. dazu z.B. W. Gray, E pluribus unum: A Bicentennial Report on Unification of Law in the U.S., RabelsZ 50 (1986) 111, 155; M. Reimann, Amerikanisches Privatrecht und europäische Rechtseinheit — Können die USA als Vorbild dienen?, in: R. Zimmermann (Hg.), Amerikanisches Privatrecht und europäisches Privatrecht (1995) 132; H. Kötz, Contract Law in Europe and the United States: Legal Unification in the Civil Law and Common Law, Tulane European and Civil Law Forum 27 (2012) 1.

6 Vgl. dazu den Überblick bei N. Jansen, lus commune (Gemeines Recht), in: J. Basedow/K.J. Hopt/R. Zimmermann (Hg.), Handwörterbuch des europäischen Privatrechts (2009) 916.

7 H. Coing, European Common Law: Historical Foundations, in: M. Cappelletti (Hg.), New Perspectives for a Common Law of Europe (1978) 44 (Übersetzung vom Verf.).

8 Der acquis communautaire ist in systematischer Form gesammelt worden. Vgl. Research Group on the Existing EC Private Law (Acquis Group) (Hg.), Principles of the Existing EC Contract Law (Acquis Principles): Contract I (2007); Contract II (2009).

9 In der Wissenschaft wird der acquis communautaire sehr wohl als ein mehr oder weniger geschlossenes Rechtssystem begriffen und dargestellt. Vgl. K Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013); B. Heiderhoff, Europäisches Privatrecht (3. Aufl. 2012).

Kötz, Auf dem Wege zu einer europäischen Juristenausbildung3

wieder, enthalten also diejenigen Regeln, von denen man bei rechtsvergleichend-kritischer Betrachtung sagen kann, dass sie den nationalen Vertragsrechten der europäischen Länder gemeinsam sind. Natürlich sind die Principles of European Contract Law kein geltendes Recht, und sie werden von keinem Gericht in Europa angewandt. Aber sie werden in allen europäischen Ländern als eine wissenschaftliche Pionierleistung anerkannt und strahlen eine so erhebliche persuasive authority aus, dass sie überall als Basis für den Rechtsunterricht über „Europäisches Vertragsrecht” in Betracht kommen.10 Grundregeln wie die Principles of European Contract Law gibt es inzwischen auch für andere Gebiete des Privatrechts, wie z.B. für das Versicherungsvertragsrecht, das Deliktsrecht und sogar für wichtige Bereiche des Familienrechts,11 auch sie könnten als Textgrundlage einer entsprechenden Lehrveranstaltung benutzt werden.

Man kann sich freilich fragen, ob Lehrveranstaltungen über das europäische Privatrecht überhaupt einer einheitlichen und europaweit als bindend angesehenen Textgrundlage bedürfen. Immerhin besteht heute ein allgemeines Einverständnis über die Methode, die in solchen Lehrveranstaltungen anzuwenden ist. Es ist dies die Methode der Rechtsvergleichung, die sich nicht an die Autorität nationaler Gesetzestexte und Dogmatiken bindet, sondern allein nach der Funktion der Rechtsregeln fragt, also nach den sozialen Interessen, denen sie dienen sollen.12 Von einer solchen Betrachtungsweise erhoffe ich mir, dass sie die dogmatischen Verkrustungen auflösen kann, mit denen sich manche nationalen Rechte — ganz besonders das deutsche Recht — immer noch präsentieren. Denn die Rechtsvergleichung zeigt, dass das geltende Recht nur eine von mehreren Regelungsmöglichkeiten verwirklicht. Sie verabreicht ein wirksames Gegengift gegen blinde Dogmengläubigkeit. Sie vermittelt immer wieder die Erfahrung, dass eine Regel, die geradezu die Gültigkeit von Naturrecht zu haben scheint, praktisch nicht mehr viel hergibt, wenn eine Staatsgrenze überschritten ist und das gleiche Sachproblem unter der Geltung einer anderen Rechtsordnung entschieden werden muss. Wer rechtsvergleichend arbeitet, immer wieder sieht, wie es im Ausland zugeht und immer wieder mit ausländischen Kollegen spricht, kommt gar nicht um die Feststellung herum, dass es in Deutschland nicht selten rechtswissenschaftliche Arbeiten gibt, die wegen ihres hochgetriebenen dogmatischen Aufwands im Ausland einfach nicht verstanden und daher auch nicht rezipiert werden und auf die im besten Fall der Ausdruck passt, mit dem Organist Pfühl in den „Buddenbrooks” die Musik Richard Wagners kennzeichnete: „Parfümierter Qualm, in dem es blitzt.13 Tatsächlich würde die deutsche Rechtswissenschaft, wenn sie sich in die Suche nach dem europäischen Privatrecht einbinden ließe, das Gespräch mit den Juristen anderer europäischer Länder aufnehmen und sich problemnah und unprätentiös ausdrücken müssen, dies mit der Folge, dass ein guter Teil des dogmatischen Schutts, der sich in 100 Jahren aufs BGB fixierter Nabelschau angesammelt hat, geräuschlos zu Boden sinken könnte.

In der Tat gibt es inzwischen eine wachsende Zahl von Büchern, die sich – gestützt auf die rechtsvergleichende Methode — mit dem europäischen Privatrecht beschäftigen und als Ausbildungsliteratur geeignet sind. So gibt es unter dem bezeichnenden Titel „lus Commune Casebooks for the Common Law of Europe” mehrere kommentierte Fallsammlungen, in denen gezeigt wird, wie bestimmte Fragen des Vertrags- oder Deliktsrechts von den Gerichten europäischer Länder entschieden werden.14 Für das Vertragsrecht gibt es die „Commentaries on European Contract Laws,15 ferner die beiden Lehrbücher von Jan M. Smits16 und mir selbst.17 Es gibt das „Europäische Obligationenrecht” von Filippo Ranieri,18 das „Gemeineuropäische Deliktsrecht” von Christian von Bar19 und das „European Tort Law” von Cees van Dam.20 Noch viele ähnliche Bücher über das europäische Privatrecht könnten hier zitiert werden. Sie sind natürlich nicht — wie im lus Commune — in lateinischer Sprache, sondern gewöhnlich in der jeweiligen Landessprache ihrer Autoren verfasst, und es ist klar, dass auch der Unterricht in diesen Fächern in derjenigen Sprache abgehalten würde, die am Sitz der jeweiligen Universität gesprochen wird. Axel Flessner hat in der Tat behauptet, dass sich „die Vielfalt der Sprachen bei nüchterner Betrachtung als das ernsteste Hindernis für eine europäische Rechtswissenschaft und Juristenausbildung” darstellt.21 Aber er hat selbst mit einiger Gelassenheit hinzugefügt, dass wir uns auf die bleibende Vielfalt der Sprachen werden einrichten müssen und dass sie — besonders im Vergleich zum Octroi des Englischen — einen großen Vorzug hat, weil nur die freie Wahl der Sprache jedem Autor die volle Ausschöpfung seiner Kräfte erlaubt. Er schreibt:

Möge jede Autorin, jeder Autor die Sprache wählen, die ihr oder ihm für den Ausdruck der Gedanken oder für ihre Verbreitung opportun erscheint. Im Wettbewerb der wissenschaftlichen Leistungen werden die wirklich interessanten Produkte ihre Abnehmerschaft finden. Dabei wird der Wunsch der Autoren, möglichst auch außerhalb des Landes der gewählten Sprache verstanden zu werden, vielleicht zu einer wohltuenden Reinigung der Sprache und der Gedanken von dogmatischen Verkrustungen und Übersteigerungen führen, die in der Abgeschlossenheit des rein nationalen Diskurses entstanden sind.22.


10 Neben den Principles of European Contract Law und den Acquis Principles (oben Fn. 8) gibt es noch zahlreiche andere Texte, die auf eine Harmonisierung oder Vereinheitlichung des europäischen Vertragsrechts abzielen. Sie sind — geordnet nach der inneren Struktur der Principles of European Contract Law — als „Textstufen” des europäischen Vertragsrechts gesammelt und erläutert in: N. Jansen/R. Zimmermann, Commentaries on European Contract Laws (2018).

11 Diese Grundregeln sind abgedruckt in Schulze/Zimmermann (oben Fn. 12).

12 Ebenso schon Flessner (oben Fn. 3) 256.

13 Dieser Text folgt H. Kötz, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik, RabelsZ 54 (1990) 203, 209-211.

14 Vgl. z.B. H. Beale/B. Fauvarque-Cosson/J. Rutgers, Materials and Texts on Contract Law (3. Aufl. 2019). Ähnliche Sammlungen dieser Reihe sind zum Deliktsrecht, Bereicherungsrecht und Verbraucherschutzrecht erschienen.

15 Vgl. oben Fn. 10.

16 Contract Law, A Comparative Introduction (2. Aufl. 2020).

17 Europäisches Vertragsrecht (2. Aufl. 2012).

18 Europäisches Obligationenrecht (3. Aufl. 2019).

19 Vgl. auch G. Wagner, Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts, in: R. Zimmermann (Hg.), Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts (2003) 189. Dort findet sich auch ein Überblick über die Arbeiten, die von verschiedenen Gruppen von Wissenschaftlern mit dem Ziel einer Harmonisierung des europäischen Deliktsrechts vorgelegt worden sind (S. 196 f.).

20 C. van Dam, European Tort Law (2006).

21 Flessner (oben Fn. 3) 258.

22 Flessner (oben Fn. 3) 258

Kötz, Auf dem Wege zu einer europäischen Juristenausbildung4

Auch bestreitet heute niemand, dass für junge Juristen Kenntnisse ausländischer Sprachen nicht bloß sinnvoll, sondern unerlässlich sind und dass deshalb der Erwerb solcher Kenntnisse auch von den juristischen Fakultäten vermittelt und geprüft werden muss. Das Problem der Verschiedenheut der Landessprachen kann auch durch Übersetzungen gemildert werden. So ist das oben in Fn. 17 genannte Buch über „Europäisches Vertragsrecht” inzwischen auch in englischer, italienischer und französischer Übersetzung erschienen. Ein anderes Beispiel ist das rechtsvergleichende Buch von T. Kadner Graziano, La responsabilité délictuelle en droit comparé (2019), das gleichzeitig in englischer Sprache erschienen ist und demnächst in deutscher Sprache erscheinen wird.

Wir kehren also zu der Ausgangsfrage zurück: Ist die Zeit gekommen, zu der man fordern muss, dass die Juristenausbildung in Europa in dem Sinne vereinheitlicht werden sollte, dass in jedem Lande an mindestens einer Fakultät den Studenten die Möglichkeit gegeben wird, sich für eine „europäische” Ausbildung zu entscheiden, die durch und durch rechtsvergleichend angelegt ist, sich nämlich durchweg von dem Prinzip leiten lässt, dass die nationalen Regeln auf Schritt und Tritt den funktionsverwandten Regeln der anderen europäischen Rechtsordnungen gegenübergestellt werden müssen? Darin läge ein Schritt, dessen Bedeutung man nicht unterschätzen darf. Denn jeder weiß, dass heute an den europäischen Juristenfakultäten grundsätzlich nur das Recht desjenigen Landes gelehrt wird, in dem sie ihren Sitz haben. Jeder weiß auch, dass rechtsvergleichende Lehrveranstaltungen oft nur auf dem Niveau von Einführungskursen abgehalten werden und im Übrigen in der Form von Seminaren für einige wenige besonders interessierte Studenten stattfinden. Gewiss gibt es hier und da Ansätze, die auf Besseres hoffen lassen. Das von der Europäischen Union inaugurierte ERASMUS-Programm bietet den Studenten aller Fachrichtungen — auch den Jurastudenten — einen Anreiz zum Studium im Ausland. Juristische Fakultäten aus verschiedenen europäischen Ländern haben Verträge miteinander geschlossen, die es ihren Studenten erlauben, nacheinander in diesen Ländern Lehrveranstaltungen zu besuchen und Prüfungen abzulegen, die ihnen den Weg zur Anwaltszulassung ebnen.23 Auch finden überall Sommerkurse statt, die zwar in der Landessprache abgehalten werden, die für ausländische Teilnehmer gedacht sind und sie in die Rechtsvergleichung, in das Europa- oder Völkerrecht oder in das Rechtssystem eines bestimmten Landes einführen wollen. Manche deutschen juristischen Fakultäten haben besondere Programme für junge Ausländer entwickelt, die ihre juristische Ausbildung in ihren Heimatländern abgeschlossen haben und nunmehr in Deutschland den juristischen Master- oder Doktorgrad erwerben wollen.

Ich brauche nicht zu sagen, dass alle diese verschiedenen Formen der Einfügung internationaler und vergleichender Elemente in die Juristenausbildung lobenswert sind und vermehrt und verstärkt werden sollten. Aber man muss die Frage stellen, ob das genügt. Sicherlich sind Sommerkurse und Studienaufenthalte im Ausland eine gute Sache. Aber es bleibt dabei, dass der juristische Unterricht nach wie vor auf das nationale Recht konzentriert ist, dies mit der Folge, dass der Student, er mag Ausländer sein oder nicht, an einer französischen, englischen oder deutschen Universität nur französisches, englisches oder deutsches Recht studieren kann und dass rechtsvergleichende Lehrveranstaltungen, die auf das europäische Recht abzielen, überall nur eine Randbedeutung haben. Bedenken muss man auch, dass für denjenigen, der in Deutschland als Rechtsanwalt zugelassen werden will, kein Weg am der deutschen juristischen Staatsexamen vorbeiführt und dass die gesetzlichen Vorschriften, die dieses Examen bis ins Detail hinein regulieren,24 ganz und gar auf das deutsche Recht fixiert sind und im Ausland erbrachte Studienleistungen nicht anerkennen.25

Man wird einwenden, dass eine Neuorientierung der Lehrpläne, wie sie hier vorgeschlagen wird, verfrüht, zu ehrgeizig und unpraktikabel sei. Im Rechtsleben der europäischen Länder — so wird man sagen — werde die entscheidende Rolle noch auf lange Zeit von den nationalen Rechtsordnungen gespielt werden. Was die große Mehrheit unserer jungen Juristen brauche, seien solide Kenntnisse im nationalen Recht, und die juristischen Fakultäten würden ihren Studenten einen schlechten Dienst erweisen, wenn man sie sämtlich dazu auffordern würde, alle dafür geeigneten Lehrveranstaltungen unter einem europäisch-rechtsvergleichenden Gesichtswinkel zu unterrichten.

Diese Forderung ginge in der Tat zu weit. Es würde aber durchaus genügen, wenn sich in jedem Lande zunächst nur eine einzige Fakultät für die geschilderte europäische Öffnung ihrer Ausbildung entschiede. Dies zu tun hätte sie gute Gründe, weil sich in den letzten Jahren in Europa die Formen anwaltlicher Berufspraxis und der Inhalt anwaltlicher Dienstleistungen erheblich verändert haben. Das liegt vor allem daran, dass in einem Europa, das sich als einheitlichen Wirtschaftsraum, als „Binnenmarkt ohne Grenzen” versteht, der grenzüberschreitende Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital von Jahr zu Jahr zunimmt; damit steigt von Jahr zu Jahr auch die Nachfrage nach juristischen Beratungsleistungen, die sich nicht mehr allein aufgrund der Kenntnis einer nationalen Rechtsordnung erbringen lassen. Damit stimmt der Befund zusammen, dass die Zahl der Anwaltskanzleien, die sich in ihren Stellenanzeigen als auf das europäische Wirtschaftsrecht spezialisiert beschreiben, von Jahr zu Jahr zunimmt und dass die meisten dieser Kanzleien von den


23 So hat die Humboldt-Universität Berlin mit dem King’s College der Universität London und der Universität Paris II (Panthéon-Assas) ein „Netzwerk” unter dem Namen „European Law School” errichtet. Wer als deutscher Student einen Studienplatz an der „European Law School” erhalten hat, studiert zunächst drei Jahre an der Humboldt-Universität, um die Kenntnisse des deutschen Rechts zu erwerben, die er für das Bestehen der in Deutschland erforderlichen Ersten Staatsprüfung braucht (vgl. Fn. 27). Darauf folgt ein jeweils einjähriges Studium in London und Paris, für das der Student zwischen den Schwerpunkten Privatrecht, Wirtschaftsrecht, Öffentliches Recht oder Strafrecht wählen und Prüfungen ablegen kann, die ihm den Weg zur Anwaltszulassung in diesen Ländern ebnen. Vgl. dazu ausführlich und mit weiteren Beispielen einer internationalen Zusammenarbeit juristischer Fakultäten K Duden/J. Trinks, Vergleichende Perspektiven auf die Rolle der Rechtsvergleichung in der juristischen Ausbildung, in: J. Brockmann/A. Pilniok/M. Schmidt (Hg.), Rechtsvergleichung als didaktische Herausforderung (2020) 27.

24 Vgl. dazu §§ 5a und 5d Deutsches Richtergesetz und die dazu in Kraft gesetzten umfassenden landesgesetzlichen Bestimmungen.

25 Immerhin tun diese Vorschriften ein Schrittchen in die richtige Richtung, wenn sie bestimmen (§ 5a Abs. 2 Satz 2 Deutsches Richtergesetz), dass zum juristischen Staatsexamen nur zugelassen wird, wer den erfolgreichen Besuch einer „fremdsprachigen” Lehrveranstaltung oder „eines rechtswissenschaftlich ausgerichteten Sprachkurses” nachweisen kann. Zu beachten ist auch, dass die Gesamtnote des Staatsexamens zu 70 % vom Ergebnis der staatlichen Prüfung in den Pflichtfächern (vgl. unten Fn. 27) und zu 30 % von der Note abhängt, die die juristische Fakultät dem Studenten für seine Leistungen in dem von ihm gewählten „Wahlschwerpunkt” erteilt hat. Manche Fakultäten erkennen das juristische Studium an bestimmten ausländischen Universitäten als „Wahlschwerpunkt” an.

Kötz, Auf dem Wege zu einer europäischen Juristenausbildung5

Bewerbern ausdrücklich die Beherrschung mindestens einer Fremdsprache und ferner Auslandserfahrung verlangen, die entweder an einer ausländischen Universität oder in einer ausländischen Kanzlei erworben sein muss.26 Es ist deshalb offensichtlich, dass es eine steigende Nachfrage nach jungen Juristen gibt, die über besondere Qualifikationen im Umgang mit europäischem und ausländischem Recht und auch die dafür erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen. Man sollte deshalb erwarten, dass die juristischen Fakultäten der europäischen Länder oder jedenfalls in jedem Lande eine einzelne Fakultät, diesem Druck früher oder später nachgeben und ihr Lehrangebot anpassen wird. Wir werden gleichsehen, dass und warum diese Anpassungsreaktionen den deutschen juristischen Fakultäten besonders schwer fallen. Besonders leicht fallen sie hingegen den Fakultäten „kleinerer” Länder, in denen man schon immer wusste, dass ein Jurist heute nicht weit kommt, wenn er nur mit dem eigenen Recht und nur mit der eigenen Sprache vertraut ist. Besonders ist hier die Universität Maastricht hervorzuheben. In ihrer European Law School bietet sie ein juristisches Studium an, das in 3 Jahren zu einem Bachelor-Grad führt, in englischer Sprache abgehalten wird, und die juristischen Fächer nicht aus der Sicht des niederländischen oder eines anderen nationalen Rechts, sondern von vornherein nur aus europäisch-rechtsvergleichender Sicht behandelt. Wer dieses Programm erfolgreich absolviert und vielleicht auch noch einen Master-Grad im europäischen Steuerrecht, im gewerblichen Rechtsschutz, oder im Arbeitsrecht erworben hat, ist allein dadurch für viele Tätigkeiten in international tätigen Anwaltskanzleien, Unternehmen oder in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen qualifiziert. Wer diesen besonderen Bachelor-Grad erworben hat, aber in den Niederlanden als Rechtsanwalt praktizieren oder dort als Richter oder Staatsanwalt arbeiten will, muss bestimmte zusätzliche Lehrveranstaltungen erfolgreich besucht haben, die nur in niederländischer Sprache unterrichtet werden und bestimmte Bereiche des niederländischen Rechts betreffen. In diesem Fall hat der Bachelor-Grad — wie man in den Niederlanden sagt — „civiel effect”. Das bedeutet, dass, wer diesen Grad erworben hat, berechtigt ist, an der besonderen Ausbildung teilzunehmen, die in den Niederlanden eine Voraussetzung für die Zulassung als Rechtsanwalt bildet.

Wie verhält es sich in Deutschland? Anders als in den Niederlanden gibt es bei uns keine Fakultät, die eine rechtsvergleichend angelegte und auf das europäische Recht konzentrierte Ausbildung anbietet. Das mag verschiedene Gründe haben. Der wichtigste Grund liegt darin, dass die Juristenausbildung in Deutschland in hohem Maße gesetzlich reglementiert und dadurch die Freiheit der Fakultäten zur Ausgestaltung der Lehrpläne erheblich beschränkt wird. Denn wer bei uns Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt oder Notar werden oder sonst einen juristischen Beruf ergreifen will, für den die Qualifikation des „Volljuristen” verlangt wird, muss zwei Staatsprüfungen bestehen, von denen die erste nach dem Ende des juristischen Studiums stattfindet. Anders als sonst irgendwo auf der Welt (außer in Japan und Südkorea) ist es bei uns nicht die juristische Fakultät, sondern eine staatliche Behörde, die in dieser ersten Prüfung darüber entscheidet, ob und mit welchem Erfolg der Student seine juristische Universitätsausbildung absolviert hat. Hinzu kommt, dass gesetzlich genau geregelt ist, wie die Universitätsausbildung beschaffen sein muss, wenn ihre Absolventen an der Staatsprüfung teilnehmen wollen. Danach muss sich die Ausbildung — wie auch die Prüfung selbst — auf sämtliche „Pflichtfächer” des deutschen Rechts erstrecken, also auf alles, was sich als Gegenstand der „Kernbereiche des Bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Öffentlichen Rechts und des Verfahrensrechts” bezeichnen lässt.27 Es ist klar, dass sich alle deutschen juristischen Fakultäten diesem System fügen, also ihre Studenten auf das Staatsexamen vorbereiten müssen, und dass jede von ihnen nur wenig Spielraum hat, dasjenige zu tun, was ihr sinnvoll erscheinen mag und ihre Position im Wettbewerb verbessern könnte, nämlich ihre Lehrpläne aus der Verengung auf die Pflichtfächer des nationalen Rechts herauszuführen und sie durch gewichtige auslandsrechtliche und rechtsvergleichende Bestandteile auf die Höhe der Zeit zu bringen. Der Wissenschaftsrat– eine staatliche Kommission mit der Aufgabe, die Regierungen von Bund und Ländern in Fragen der Entwicklung von Hochschulen, Wissenschaft und Forschung zu beraten — hat vor einigen Jahren Empfehlungen zum Fach Rechtswissenschaft vorgelegt, in denen er aus guten Gründen fordert, in der juristischen Ausbildung die Grundlagenfächer — und unter ihnen ganz besonders die Rechtsvergleichung — stärker zu betonen. Dem Wissenschaftsrat war klar, dass seine Vorschläge sich nur dann würden umsetzen lassen, wenn der juristische Pflichtstoff reduziert wird; deshalb — so heißt es ausdrücklich — „müssen die Länder den Pflichtstoff kürzen und systematisch konzentrieren“.28 Niemanden wird es überraschen, dass der Pflichtstoff bisher nicht reduziert worden ist und dass dafür in der näheren Zukunft auch gar keine Aussichten bestehen. Erst recht gibt es wenig Hoffnung auf eine grundsätzliche „Deregulierung” der Juristenausbildung, die darauf hinauslaufen müsste, dass an die Stelle der ersten Staatsprüfung — wie überall sonst in Europa und der ganzen übrigen Welt — eine Universitätsabschlussprüfung träte.29 Die Justizverwaltungen der meisten Bundesländer halten nämlich am System der Staatsprüfungen eisern fest, und auch die Mehrzahl der juristischen Fakultäten und Professoren ist für eine Änderung des status quo nicht zu haben.30 Da in Deutschland die meisten Studenten Rechtsanwälte oder


26 Vgl. dazu J. Basedow, Juristen für den Binnenmarkt: Die Ausbildungsdiskussion im Lichte einer Arbeitsmarktanalyse, NJW 1990, 959.

27 Vgl. dazu oben Fn. 25 und § 5a Abs. 2 Deutsches Richtergesetz sowie die Gesetze der Länder, in denen die Einzelheiten geregelt sind. In Hamburg gilt das Juristenausbildungsgesetz vom 11.6.2003 und die „Verordnung über die Prüfungsgegenstände der staatlichen Pflichtfachprüfung” vom 24.1.2020, in der in barockem Detail geregelt ist, was zu den genannten „Kernbereichen” zählt und daher von der Behörde geprüft und benotet werden darf.

28 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland — Situation, Analysen, Empfehlungen 2012) 61.

29 Durch eine Universitätsabschlussprüfung wird natürlich nicht ausgeschlossen, dass die Zulassung zum Anwaltsberuf von einer „Anwaltsprüfung” abhängig gemacht wird, deren Zulassungsvoraussetzungen und Inhalt staatlicher Zustimmung bedürfen. Vgl. zu den Einzelheiten einer solchen Reform der Juristenausbildung H. Kötz, Juristenausbildung und Anwaltsberuf, Anwaltsblatt 1988, 320; ders., Bologna als Chance, JZ 2006, 397.

30 Das wird damit begründet, dass sich für die Fakultäten eine erhebliche Belastung ergäbe, wenn sie selbst die Abschlussprüfung durchzuführen hätten. Der andere Grund wird von den Fakultäten und Professoren nicht gern in den Mund genommen: Er liegt darin, dass eine bundesweit einheitliche Benotung der Prüfungsergebnisse nur durch ein staatliches Examen gewährleistet werde und dass die Fakultäten, würde ihnen die Abschlussprüfung überlassen, nach Ablauf einer Schamfrist nur noch die allerbesten Noten vergeben würden. Diese Sorge scheint mir unbegründet, weil die „Noteninflation” sofort publik gemacht und eine Fakultät, die es dazu kommen ließe, sofort mit einem schlechten Renommee und ungeeigneten Studienanfängern bestraft würde.

Kötz, Auf dem Wege zu einer europäischen Juristenausbildung6

Richter werden wollen oder aus anderen Gründen eine „volljuristische” Qualifikation anstreben, erwarten sie von den Fakultäten die Vorbereitung auf die erste Staatsprüfung. Das bedeutet, dass es für sie derzeit wenig Anreiz und kaum eine Möglichkeit gibt, mit anderen deutschen Fakultäten dadurch in Wettbewerb zu treten, dass sie eine Ausbildung anbietet, die eigene Wege geht, den Pflichtstoff des nationalen Rechts reduziert und den Akzent auf eine „europäische Öffnung” des Faches legt.

Man wird den Schluss ziehen müssen, dass es heute eine einheitliche europäische Juristenausbildung noch nicht gibt, jedenfalls dann nicht, wenn man von ihr verlangt, dass ihr wesentlicher Kern von Lehrveranstaltungen gebildet wird, in denen die Regeln wichtiger Rechtsgebiete von vornherein in einem gemeineuropäischen Kontext erörtert, also z.B. das französische, deutsche oder. niederländische Vertrags- oder Deliktsrecht als örtliche Variationen eines im Grunde einheitlichen europäischen Themas dargestellt werden. In Schriftform ist dieser Schritt zwar schon getan worden,31 und es gibt zwar noch keine Gesetze, wohl aber gesetzesähnliche Texte, die für bestimmte Rechtsgebiete den europäischen acquis commun wiedergeben und überall dem juristischen Unterricht zugrunde gelegt werden könnten.32 Hier und da geschieht das auch schon, wenn auch oft nur in Ansätzen. Dagegen bestehen gegen eine durchgreifende Denationalisierung und Europäisierung des Rechtsunterrichts immer noch erhebliche politische und psychologische Widerstände. Immerhin spricht manches dafür, dass diese Widerstände sich künftig abschwächen werden. Wir haben gesehen, dass manche Länder auf die neue Entwicklung schneller als andere reagiert haben. In Deutschland sind zwar der Entdeckungsfreude und dem Wettbewerbsgeist der juristischen Fakultäten durch die zwingenden gesetzlichen Vorschriften des Staatsprüfungssystems enge Grenzen gesetzt. Aber auch hier haben die Jurastudenten schon heute viele Möglichkeiten, ihre Ausbildung auf eine breitere Grundlage zu stellen, als sie allein durch das nationale Recht geboten wird. Gewiss muss, wer in Deutschland als Rechtsanwalt zugelassen werden will, die erste und — nach einem zweijährigen Vorbereitungsdienst — auch noch die zweite Staatsprüfung bestehen. Richtig ist auch, dass die erste Prüfung sich auf die Pflichtfächer des deutschen Rechts konzentriert und Kenntnisse im Auslandsrecht und in der rechtsvergleichenden Methode keine Bedeutung haben. Richtig ist aber auch, dass aufgrund des Systems der Staatsprüfungen die juristische Ausbildung in Deutschland länger dauert als anderswo. Immerhin wird aber aus Maastricht gemeldet, dass viele deutsche Studenten ein Studium an der „European Law School” dieser Universität aufgenommen haben, weil ihnen die Ausbildung in Deutschland zu lange dauert und sie davon ausgehen, dass sie nach dem Erwerb der holländischen Anwaltszulassung unter erleichterten Voraussetzungen sich auch in Deutschland als Anwälte werden niederlassen oder ihre Beratungstätigkeit werden ausüben können.33 Vielleicht führt die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit der Europäischen Union zu einem versteckten Wettbewerb der Juristenausbildungen. Dies wäre ein Wettbewerb, den nach meiner festen Überzeugung Deutschland nicht gewinnen kann.


31 Vgl. oben Fn. 14-20.

32 Vgl. oben Fn. 10-11.

33 Die Europäische Union hat unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) die Richtlinien 98/5/EG vom 16. Februar 1998 und 77/249/EWG vom 22. März 1977 erlassen, die die Mitgliedstaaten zu einer erheblichen Liberalisierung der Regeln gezwungen haben, nach denen sie im EU-Ausland zugelassene Rechtsanwälte auch im Inland als Anwälte zulassen oder ihre Beratungsleistungen auch im Inland ohne Beanstandungen dulden müssen. Vgl. dazu in Deutschland das Gesetz über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland vom 9. März 2000 (BGBI. 1 182, 1349).