„Gun Jumping“ – Grundlagen und aktuelle Rechtsentwicklung

A. Einleitung

Die allgemein gebräuchliche englische Redensart „To jump the gun“ lässt sich mit „einen Frühstart machen“ oder „voreilig sein“ übersetzen.1 Im Bereich der kartellrechtlichen Fusionskontrolle bezeichnet die Formulierung „Gun Jumping“ als international gebräuchlicher terminus technicus hingegen die Gesamtheit der Fallstricke, die es zu vermeiden gilt, wenn Unternehmen einen bei einer nationalen Kartellbehörde oder der Europäischen Kommission (Kommission) anmeldepflichtigen Zusammenschluss planen und vorbereiten. Für Unternehmen stellt sich nämlich im Stadium vor Anmeldung eines Zusammenschlussvorhabens bis zur endgültigen Freigabe durch die zuständige Kartellbehörde die sehr dringliche Frage, inwiefern und zu welchem Zeitpunkt sie bestimmte Maßnahmen treffen dürfen, ohne dabei gegen das Verbot des Vollzugs des Zusammenschlussvorhabens vor dessen Freigabe zu verstoßen. Die Beurteilung einzelner „Vorfeldmaßnahmen“ gestaltet sich dabei schwierig, da nicht nur verschiedene mitgliedstaatliche Rechtsordnungen oder europäische Vorgaben relevant sein können, sondern auch sich zuweilen widersprechende Rechtsprechung beachtet werden muss. Darüber hinaus drohen hohe Bußgelder. Auf der anderen Seite unterliegen die zuständigen Behörden relativ kurzen Prüffristen. Dies mildert zwar die Auswirkungen für die betroffenen Unternehmen, lässt das Bedürfnis aber nicht unberührt, möglichst schnell Klarheit bezüglich des Vorhabens zu erlangen.

Für die Situation vor der Freigabe eines Zusammenschlusses haben sich mittlerweile spezielle Stillhaltepflichten herauskristallisiert (dazu unter B.). Diese sind im europäischen (B. I.) und deutschen (B. II.) Recht zwar ähnlich, weisen aber auch in entscheidenden Punkten Unterschiede auf. Da die Normen und insbesondere der Begriff des Vollzugs weit und offen formuliert sind, um den zuständigen Behörden den notwendigen präventiven Handlungsspielraum zu gewährleisten, den diese benötigen, kommt es vor allem auf die Präzisierung durch die Rechtsprechung an. In jüngster Vergangenheit kamen hier zwei grundlegende Entscheidungen hinzu, die einer genaueren Betrachtung bedürfen (dazu unter C.). Insbesondere scheinen sich zwischen europäischer und deutscher Auslegung des Vollzugsverbots Divergenzen zu ergeben, deren Konsequenzen kritisch hinterfragt werden müssen (C. III.).

B. Europäische und deutsche Rechtslage

Bevor die aktuelle Rechtsentwicklung anhand zweier neuerer Urteile des BGH und des EuGH dargelegt werden kann, sollen die rechtlichen Grundlagen der europäischen und deutschen Fusionskontrolle dargestellt werden. Dabei wird sich zeigen, dass auf den beiden Ebenen zwar grundsätzlich ein ähnliches Modell des Vollzugsverbotes gewählt wurde, es aber beachtliche Unterschiede bei den Zusammenschlusstatbeständen gibt. Hält man sich diesen Befund vor Augen, wird anschließend auch die unterschiedliche Auslegung der europäischen und deutschen Gerichte besser verständlich.

I. Europäische Rechtslage: Fusionskontrollverordnung

Die Zusammenschlusskontrolle innerhalb der Europäischen Union richtet sich nach der Fusionskontrollverordnung (FKVO).2 Wenn ein Zusammenschluss gemeinschaftsweite Bedeutung hat, findet allein die FKVO Anwendung; das nationale Recht der Mitgliedsstaaten wird insofern verdrängt (Art. 21 Abs. 3). Ein Zusammenschluss liegt nach Art. 3 vor, wenn eine „dauerhafte Veränderung der Kontrolle“ über das Zielunternehmen stattfindet. Dies geschieht entweder in Form einer Fusion (Art. 3 Abs. 1 lit. a) oder im Wege des Kontrollerwerbs (Art. 3 Abs. 1 lit. b). Wann ein solcher Kontrollerwerb vorliegt, wird in Art. 3 Abs. 2 näher erläutert. Ausnahmetatbestände finden sich in Art. 3 Abs. 5 wieder. „Gemeinschaftsweite Bedeutung“ hat nach Art. 1 Abs. 2 ein Zusammenschluss, wenn gewisse Umsatzschwellen überschritten werden, die in Art. 1 Abs. 2 und 3 festgelegt sind.

Damit die Kommission ihrer Prüfungskompetenz hinsichtlich der Vereinbarkeit des Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt nachkommen kann, bedarf es einer Anmeldung durch die beteiligten Unternehmen, Art. 4. Danach beginnt die Kommission mit einem Vorverfahren, dass zu drei Ergebnissen führen kann: Erstens kann festgestellt werden, dass der Zusammenschluss nicht unter die Verordnung fällt (Art. 6 Abs. 1 lit. a), zweitens kann die Kommission beschließen, keine Einwände gegen den Zusammenschluss zu erheben, da keine ernsthaften Bedenken bestehen (Art. 6 Abs. 1 lit. b) und drittens kann sie bei ernsthaften Bedenken das sog. Hauptverfahren einleiten (Art. 6 Abs. 1 lit. c). In einem solchen Hauptverfahren kann die Kommission den Zusammenschluss insbesondere für unvereinbar mit dem Binnenmarkt erklären, Art. 8 Abs. 3. Es kommt allerdings selten vor, dass die Kommission ein solches Verfahren überhaupt einleitet – die meisten Zusammenschlüsse werden bereits im Vorverfahren abschließend bearbeitet.

Das Vorverfahren darf maximal 25, das Hauptverfahren 90 Arbeitstage in Anspruch nehmen. Während dieser Zeit greift das Vollzugsverbot der europäischen Fusionskontrolle


* Der Autor Valdini ist Rechtsanwalt, der Autor Klatt Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei White & Case LLP, Hamburg.

1 Langenscheidt Collins, Großwörterbuch Englisch, Neubearbeitung 2008, S. 362.

2 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EG 2004, Nr. L 24, S. 1. Alle Artikel im Folgenden ohne Gesetzesangabe sind solche der FKVO.

„Valdini/Klatt, Gun Jumping“ – Grundlagen und aktuelle Rechtsentwicklung88

aus Art. 7 Abs. 1: Bis zu einer Vereinbarkeitserklärung mit dem Binnenmarkt durch die EU-Kommission darf der Zusammenschluss nicht vollzogen werden.3 Sollte ein Vollzug dennoch stattfinden, hat dies zunächst die schwebende Unwirksamkeit eines abgeschlossenen Rechtsgeschäfts zur Folge, vgl. Art. 7 Abs. IV. Darüber hinaus kann die Kommission Geldbußen verhängen, die nach Art. 14 Abs. 2 lit. b) iVm Art. 5 bis zu zehn Prozent des von den beteiligten Unternehmen erzielten Gesamtumsatzes betragen können. Schlussendlich können vorzeitig vollzogene Zusammenschlüsse, die mit dem Binnenmarkt unvereinbar sind, wieder aufgelöst werden, vgl. Art. 8 Abs. 4 (sog. Entflechtung). An einen Verstoß gegen das Vollzugsverbot sind also schwerwiegende Rechtsfolgen geknüpft.

II. Nationale Rechtslage: Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)

Das System der nationalen Fusionskontrolle nach dem GWB ist dem europäischen sehr ähnlich: Auch hier muss eine Anmeldung des Zusammenschlusses erfolgen (§ 39 Abs. 1 S. 1 GWB4 ), wenn gewisse Voraussetzungen, insbesondere Umsatzschwellen, erfüllt sind (§ 35). Nach einer ersten Phase der vorläufigen Einschätzung, die vier Wochen dauert, entscheidet das Bundeskartellamt, ob ein Hauptprüfverfahren eingeleitet werden soll (§ 40 Abs. 1). Dies geschieht nur in Ausnahmefällen.5 Während der gesamten Prüfphase besteht das Vollzugsverbot nach § 41. Der Wortlaut dieser Norm verrät – genauso wie im europäischen Recht – wenig darüber, welche Reichweite diese Stillhaltepflicht eigentlich hat.

Eindeutige Unterschiede zur europäischen Rechtslage bestehen allerdings bei den Zusammenschlusstatbeständen. Während das europäische Recht lediglich die Fusion und den Kontrollerwerb kennt (s.o.), erfasst § 37 weitere Zusammenschlusstatbestände: Insbesondere liegt ein solcher auch dann vor, wenn ein Unternehmen „unmittelbar oder mittelbar einen wettbewerblich erheblichen Einfluss auf ein anderes Unternehmen“ ausüben kann, § 37 Abs. 1 Nr. 4. Allein durch diesen Auffangtatbestand wird die Reichweite der Zusammenschlusskontrolle im Vergleich zum europäischen Recht erweitert.6 Darüber hinaus besteht bereits bei einem Anteilserwerb von 25 % eine Anmeldepflicht, § 37 Abs. I Nr. 3 lit. b), was die deutsche Fusionskontrolle im Vergleich zur europäischen zusätzlich ausweitet. Da das Vollzugsverbot an den Zusammenschlusstatbestand anknüpft, hat dieses umfassende Verständnis einer Fusionskontrolle auch Auswirkungen auf dessen Auslegung.7 Eine weitere Besonderheit des deutschen Kartellrechts ist die Ministererlaubnis nach § 42, mittels derer der/die BundesministerIn für Wirtschaft und Energie unter anderem die durch das Bundeskartellamt angeordnete Entflechtung eines vor Freigabe vollzogenen, anmeldepflichtigen Zusammenschlusses verhindern kann (§ 41 Abs. 3 S. 1).

III. Zwischenergebnis

Die europäische und deutsche Fusionskontrolle sind insbesondere hinsichtlich des Verfahrens vergleichbar. Es gibt jeweils ein Vor- und ein Hauptverfahren, während derer das Vollzugsverbot für die beteiligten Unternehmen greift. Im Falle eines Verstoßes bestehen für die zuständigen Kartellbehörden umfassende Sanktionsbefugnisse. Signifikante Unterschiede ergeben sich allerdings bei der Reichweite des Zusammenschlusstatbestands. Hier ist die deutsche Fusionskontrolle weitergehend, da sie nicht lediglich die Fusion und den Kontrollerwerb erfasst.

C. Aktuelle Entwicklungen

Sowohl im europäischen, als auch im nationalen Kontext stellt sich die Frage, wie der Begriff des Vollzugs und damit auch die Reichweite des entsprechenden Verbots zu verstehen ist. Der weit formulierte Wortlaut der jeweiligen gesetzlichen Grundlagen ist dabei wenig hilfreich, weshalb es vor allem auf die Rechtsauslegung durch die obersten Gerichte ankommt. Diese unterscheidet sich zuweilen deutlich voneinander. Seinen Ursprung hat dies vor allem in der (bereits dargestellten) divergierenden Definition der erfassten Zusammenschlusstatbestände in der europäischen und deutschen Rechtsordnung.

I. Die Auslegung des Vollzugsverbots durch die europäischen Gerichte

Für die europäische Rechtslage bildet die Praxis der EU-Kommission als oberste Wettbewerbsbehörde den Ausgangspunkt der Betrachtung. Wie bereits erläutert knüpft die europäische Fusionskontrolle daran an, ob ein Erwerb der Kontrolle über das Zielunternehmen stattfindet. Die Kommission nimmt dies unter bestimmten Voraussetzungen auch in Fällen an, in denen lediglich Minderheitsbeteiligungen erworben werden.8 Durch diese Auffassung erweitert die Behörde den grundsätzlich engen Zusammenschlusstatbestand auf europäischer Ebene, was letztlich auch den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Vollzugsverbots erweitert. Eine klarstellende Entscheidung durch den EuGH zur Reichweite des Vollzugsverbots fehlte aber bislang.9 Dies änderte sich mit der Entscheidung Ernst & Young, in der sich der Gerichtshof erstmals grundlegend mit der Fusionskontrolle und dem Vollzugsverbot beschäftigt hat.10

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im November 2013 schlossen die dänischen Ableger der Beratungsgesellschaften KPMG und Ernst & Young einen Fusionsvertrag. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses waren


3 Unter gewissen Umständen ist eine Freistellung von diesem Verbot möglich, vgl. Art. 7 Abs. 3 FKVO. Dies sind jedoch Ausnahmefälle.

4 Alle §§ ohne Gesetzesbezeichnung sind im Folgenden solche des GWB.

5 In 2017 wurden vom Bundeskartellamt insgesamt nur zehn Hauptprüfverfahren durchgeführt. Dagegen wurden in der ersten Phase der Fusionskontrolle 1239 Freigaben erteilt, s. Jahresbericht 2017, S. 10, abrufbar unter: https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Jahresbericht/Jahresbericht_2017.pdf?__blob=publicationFile&v=5.

6 Vgl. Bechtold/Bosch, in: GWB Kommentar8, 2015, § 37, Rn. 1; Thomas, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht5, 2014, § 37, Rn. 3.

7 Dazu sogleich unter C. II.

8 Entsch. v. 22.12.1997, M. 1058 – UniChem/Alliance Santé; Entsch. v. 30.08.2008, M. 5250 – Porsche/Volkswagen; Entsch. v. 23.07.2014, M. 7184 – Marine Harvest/Morpol.Vgl. ausführlich zur Praxis der EU-Kommission Hoffer/Lehr, NZKart 2018, S. 300, 302 ff.

9 Darauf weist auch noch einmal Generalanwalt Wahl in seinem Schlussantrag, 18.01.2018, C-633/16, Rn. 3, hin.

10 EuGH, Urt. v. 31.05.2018 – C-633/16.

„Valdini/Klatt, Gun Jumping“ – Grundlagen und aktuelle Rechtsentwicklung89

die KPMG-Gesellschaften Mitglieder eines internationalen Netzwerks von unabhängigen Wirtschaftsprüfungsunternehmen (KPMG-International). Der Fusionsvertrag mit Ernst & Young verpflichtete die KPMG-Gesellschaften in Dänemark dazu, den bestehenden Kooperationsvertrag zu kündigen. Der Zusammenschluss wurde im Mai 2014 unter Vorbehalt einiger Auflagen von den dänischen Kartellbehörden genehmigt. Anschließend wurde mit Wirkung zu Ende September 2014 der Kooperationsvertrag gekündigt. Im Dezember 2014 befand die dänische Kartellbehörde, dass die KPMG-Gesellschaften in Dänemark gegen das Verbot des Vollzugs eines Zusammenschlusses verstoßen hatten, indem sie den Kooperationsvertrag mit KPMG-International kündigten, bevor der Zusammenschluss durch die Kartellbehörde freigegeben worden war. Gegen diese Entscheidung erhob Ernst & Young Klage vor dem zuständigen dänischen Gericht, welches dem EuGH anschließend insbesondere zu der Frage ersuchte, inwiefern eine solche Kündigung eines Kooperationsvertrages dem Vollzugsverbot unterfalle.

Zunächst setzte sich der Generalanwalt Wahl intensiv mit den Rechtsfragen auseinander. Er kam zu dem Ergebnis, dass solche Maßnahmen nicht vom Vollzugsverbot umfasst seien, „die zwar im Zusammenhang mit dem zu einem Zusammenschluss führenden Prozess getroffen wurden, jedoch den Maßnahmen, die tatsächlich zum Erwerb der Möglichkeit führen, einen bestimmenden Einfluss auf ein Zielunternehmen auszuüben, vorausgehen und sich von diesen trennen lassen.“11 Für den Fall Ernst & Young kam er angesichts dessen zu dem Ergebnis, dass die Kündigung des Kooperationsvertrages nicht vom Vollzugsverbot umfasst gewesen sei, da sie „in keiner Weise zum Wechsel der Kontrolle“ beigetragen habe.12 Es handele sich lediglich um eine „vorbereitende Maßnahme“.13

Der EuGH setzt für seine Argumentation beim Wortlaut des Vollzugsverbots in Art. 7 Abs. 1 an und kommt zu dem Ergebnis, dass sich aus dem offenen Wortlaut die Reichweite des Vollzugsverbotes nicht konkret bestimmen lasse.14 Daher greift er ergänzend auf Sinn und Zweck des Vollzugsverbots zurück.15 Telos der Fusionskontrolle sei es, dass „Umstrukturierungen von Unternehmen keine dauerhafte Schädigung des Wettbewerbs verursachen.“16 Dazu sei eine „wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse“ durch europäische Organe notwendig.17 Um sich einer konkreteren Bestimmung des Vollzugsverbotes weiter zu nähern, setzt der EuGH anschließend bei dem Begriff des Zusammenschlusses aus Art. 3 an, wonach dieser bewirkt wird, wenn eine dauerhafte Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen stattfindet.18 Anschließend springt der Gerichtshof wieder zur Reichweite des Vollzugs zurück:

„Der Vollzug eines Zusammenschlusses im Sinne von Art. 7 der Verordnung Nr. 139/2004 tritt somit ein, sobald die an einem Zusammenschluss Beteiligten Handlungen vornehmen, die zu einer dauerhaften Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen beitragen.“19

Der EuGH nähert sich dem Vollzugsverbot also über den fusionskontrollrechtlichen Begriff des Zusammenschlusses: Zusammenschlüsse finden durch Kontrollerwerb statt, Vollzug liegt vor, wenn ein Beitrag zur Kontrolländerung stattfinde. Unter das Vollzugsverbot fallen demgegenüber keine Maßnahmen, die „nicht erforderlich sind, um eine Veränderung der Kontrolle (…) herbeizuführen“, weil diese „keinen unmittelbaren funktionellen Zusammenhang mit dem Vollzug des Zusammenschlusses“ aufwiesen.20 Die potentiellen „Auswirkungen auf den Markt“ seien dagegen kein zu berücksichtigender Aspekt in diesem Zusammenhang.21

Auf den Fall bezogen subsumiert der EuGH dann abschließend, dass die Kündigung eines Kooperationsvertrags allgemein nicht unter das Vollzugsverbot falle. Zwar sei diese mit dem Zusammenschluss verbunden und könne diesen „begleiten und vorbereiten“, trage aber nicht zu einer „dauerhaften Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen“ bei.22 Die Ernst & Young-Gesellschaften hätten dadurch nämlich „keinerlei Möglichkeit zur Einflussnahme“ auf die dänischen KPMG-Gesellschaften erhalten.23

Während der Generalanwalt eine negative Abgrenzung anstellt, also feststellt, was nicht vom Vollzugsverbot umfasst, ist, formuliert der EuGH eine Formel, die positiv festhalten soll, wie das Vollzugsverbot auszulegen ist. Letztlich ist die Grundausrichtung einer eher restriktiven Auslegung der Stillhaltepflicht aber die gleiche.

II. Die Auslegung des Vollzugsverbots durch den BGH

Im Kontext des deutschen Rechts ist, wie bereits dargestellt, § 41 Abs. 1 die für das Vollzugsverbot maßgebliche Norm. An der geplanten Übernahme von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA und den damit einhergehenden Entscheidung(en) des BGH lassen sich sowohl dessen bisherige Praxis als auch dessen neue Auslegungstendenzen darstellen.

Zum Sachverhalt: Das Bundeskartellamt hatte die Übernahme von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA untersagt und weitere Regelungen getroffen, die das Vollzugsverbot absichern sollten. Dabei wurde auch die Durchführung sog. Rahmenverträge für die Warenbeschaffung verboten. Diese Verträge verpflichteten Kaiser’s Tengelmann dazu, Waren bestimmter Kategorien bei EDEKA einzukaufen. Bezüglich aller anderen Warenkategorien wurde Kaiser’s Tengelmann außerdem die Möglichkeit gegeben, diese zu den gleichen Konditionen zu beziehen, wie sie dem EDEKA-Großhandel zugutekommen. Aufgrund der besseren Konditionen im Vergleich zum restlichen Markt, war damit zu rechnen, dass Kaiser’s Tengelmann nunmehr seinen Bedarf weitgehend


11 Schlussantrag (Fn. 9), Rn. 98.

12 Schlussantrag (Fn. 9), Rn. 85.

13 Schlussantrag (Fn. 9), Rn. 88.

14 EuGH (Fn. 10), Rn. 37 ff.

15 EuGH (Fn. 10), Rn. 40 ff.

16 EuGH (Fn. 10), Rn. 41.

17 EuGH (Fn. 10), Rn. 41.

18 EuGH (Fn. 10), Rn. 44 ff.

19 EuGH (Fn. 10), Rn. 46.

20 EuGH (Fn. 10), Rn. 49.

21 EuGH (Fn. 10), Rn. 50.

22 EuGH (Fn. 10), Rn. 60.

23 EuGH (Fn. 10), Rn. 61.

„Valdini/Klatt, Gun Jumping“ – Grundlagen und aktuelle Rechtsentwicklung90

bei EDEKA gedeckt hätte. Damit wäre es laut Bundeskartellamt auf den Beschaffungsmärkten24 zu erheblichen Veränderungen gekommen. Die Fusion war durch eine Ministererlaubnis (unter Auflagen) letztlich erlaubt worden, weshalb für EDEKA nunmehr noch eine Fortsetzungsfeststellungsbeschwerde verblieb, um die Rechtswidrigkeit der Maßnahmen des Bundeskartellamtes feststellen zu lassen.25

Bei seiner Untersagungsentscheidung ging das Bundeskartellamt hinsichtlich des deutschen Vollzugsverbotes von einer denkbar weiten Auslegung aus. Die Behörde vertrat die Auffassung, dass „das Vollzugsverbot auch Vorbereitungshandlungen erfasse, wenn sie als Teil eines Gesamtplans auf die Verwirklichung eines formellen Zusammenschlusstatbestandes zusteuern und bereits im Vorfeld des Zusammenschlusses nachteilige wettbewerbliche Wirkungen auslösen würden, die sich nachträglich nicht wieder vollständig aus der Welt schaffen ließen.“26 Das OLG Düsseldorf hatte als Rechtsmittelinstanz diese Auslegung zurückgewiesen: Ein Verstoß gegen das Vollzugsverbot sei erst anzunehmen, wenn „der Zusammenschluss rechtlich oder tatsächlich zumindest zu einem Teil vollzogen ist, ohne dass der Teilakt selbst einen Zusammenschlusstatbestand erfüllen muss.“27 Der BGH hat es nun etwas anders formuliert, geht mit seiner Auslegung des Vollzugsverbots aber in die gleiche Richtung:

„Unter das Vollzugsverbot können auch solche Maßnahmen oder Verhaltensweisen fallen, die, ohne selbst einen Zusammenschlusstatbestand auszufüllen, im Zusammenhang mit dem beabsichtigten Zusammenschluss erfolgen und geeignet sind, dessen Wirkungen zumindest teilweise vorwegzunehmen.“28

Dabei dürfen diese Maßnahmen „nicht auf die bloße Vorbereitung“ beschränkt sein.29 Bisher hatte der BGH diese Frage offengelassen, worauf er in der aktuellen Entscheidung selbst hinweist.30 Nun schließt er sich nach einer schulmäßigen Auslegung der gesetzlichen Vorschriften der eher weiten Auslegung des Vollzugsverbotes an:31 Der Wortlaut sei derart offen, dass jede der bisher vertretenen Auslegungstendenzen möglich sei. Die Gesetzessystematik stehe einer weiten Auslegung des Vollzugsverbots jedenfalls nicht entgegen. Dazu setzt der BGH bei § 39 Abs. 6 an: Nach dieser Vorschrift müssen die Unternehmen eines Zusammenschlusses dessen Vollzug unverzüglich anzeigen. Wenn dieser Zusammenschluss in mehreren Schritten ablaufe, greife die Anzeigepflicht erst für den letzten erforderlichen Schritt. Damit solle sichergestellt werden, dass die Unternehmen ihr geplantes Vorhaben auch tatsächlich umgesetzt haben. Das Vollzugsverbot habe demgegenüber die Zielrichtung, einen geplanten Zusammenschluss solange zu verhindern, bis dessen Auswirkungen für den Wettbewerb abschließend geprüft und geklärt seien. Die verschiedenen Normen verfolgten demnach also unterschiedliche Ziele und deshalb laufe der Begriff des Vollzuges auch nicht parallel. Der Telos des Vollzugsverbotes spreche allerdings gegen ein allzu enges Verständnis: Ziel sei es, „Veränderungen der Marktstruktur entgegenzuwirken, die zu einer erheblichen Behinderung des Wettbewerbs führen“. Die präventive Fusionskontrolle soll dazu beitragen, dass später „schwer oder überhaupt nicht mehr zu korrigierende Verschlechterungen der strukturellen Wettbewerbsbedingungen“ verhindert werden können. Damit eine weite Auslegung des Vollzugsverbotes zu begründen, ist somit letztlich ein Effektivitätsargument: Um eine möglichst umfassende und frühzeitige behördliche Aufsicht der Fusionen zu gewährleisten, müssen bereits den Zusammenschluss teilweise vorwegnehmende Maßnahmen erfasst werden.

Damit hat der BGH zunächst eine relativ griffige Generalformel vorgelegt. Anhand von Konkretisierungen im Detail macht er sodann klar, welche Maßnahmen genau unter das Vollzugsverbot fallen können. Dies seien etwa solche, „durch die der Erwerber (…) bereits Befugnisse erhält, die er nach dem beabsichtigten Zusammenschluss nur kraft seiner Position als Inhaber der Geschäftsanteile und Gesellschafterrechte ausüben könnte, ferner Maßnahmen, die die mit dem Zusammenschluss erstrebte Integration der beteiligten Unternehmen teilweise vorwegnehmen.“32 Zusätzlich könne entscheidend sein, ob die Maßnahme „zu einem Verhalten führt, das bei einem Unternehmen, das selbstständig über sein Marktverhalten entscheidet, nicht zu erwarten wäre.“33 Im EDEKA/Kaiser’s Tengelmann-Rechtsstreit hat der BGH, ebenso wie das OLG Düsseldorf und das Bundeskartellamt zuvor, eine solche dem Vollzugsverbot unterliegende Maßnahme im sog. Rahmenverträgen für Warenbeschaffung gesehen.

III. Gemeinsamkeiten und Divergenzen

Bei der Gegenüberstellung dieser grundsätzlichen Entscheidungen zum nationalen und europäischem Vollzugsverbot lässt sich konstatieren, dass eine abweichende Auslegung durch die beiden Gerichtshöfe stattfindet.34 Die Ursachen liegen aber weniger in einer Meinungsverschiedenheit, als in einem Unterschied der gesetzlichen Grundlagen (s.o.). Der Begriff des Zusammenschlusses ist innerhalb der nationalen und europäischen Fusionskontrolle nicht identisch.35 Während Art. 3 Abs. 1 allein auf den Kontrollerwerb des Zielunternehmens abstellt, sind in § 37 Abs. 1 noch weitere Zusammenschlusstatbestände geregelt.36 So ist nach § 37 Abs. 1 Nr. 4 ein Zusammenschluss auch gegeben, wenn eine „Verbindung von Unternehmen“ vorliege, wodurch ein Unternehmen „erheblichen Einfluss auf ein anderes Unternehmen“ ausüben kann. „Erheblicher Einfluss“ ist dabei etwas völlig anderes, als der (teilweise) Erwerb der „Kontrolle“ über ein Unternehmen, wie es die FKVO


24 Der Beschaffungsmarkt ist derjenige zwischen den Herstellern von Waren und den Lebensmitteleinzelhändlern.

25 Zu alldem BGH, Beschl. v. 14.11.2017 – KVR 57/16, Rn. 73 ff.

26 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 09.12.2015 – VI-Kart 1/15 (V), Rn. 75.

27 OLG Düsseldorf (Fn. 26), Rn. 76 ff.

28 BGH (Fn. 25), Rn. 55.

29 BGH (Fn. 25), Rn. 60.

30 BGH (Fn. 25), Rn. 55 mit Verweis auf Beschl. v. 11.11.2008 – KRB 47/08, Rn. 10.

31 Zur folgenden Argumentation BGH (Fn. 25), Rn. 56 ff.

32 BGH (Fn. 25), Rn. 61.

33 BGH (Fn. 25), Rn. 61.

34 So v. Graevenitz, EUZW 2018, 606, 607; Herrlinger/Valdini, NZKart 2018, 308 ff.

35 So auch Bach, in: MüKo-Kartellrecht, Band 12, 2008, § 37 GWB, Rn. 5. S. dazu auch bereits oben.

36 Herrlinger/Valdini, NZKart 2018, 308, 309.

„Valdini/Klatt, Gun Jumping“ – Grundlagen und aktuelle Rechtsentwicklung91

verlangt.37 Die deutsche Fusionskontrolle setzt damit also bereits zu einem früheren Zeitpunkt an. Aufgrund dieses weiteren Verständnisses des Zusammenschlusses ist es auch nicht verwunderlich, dass der BGH zu einer weiten Auslegung des Vollzugsverbots gelangt. Die Divergenzen der Rechtsprechung sind also systeminhärent.

Letztlich entsteht dadurch eine Uneinheitlichkeit der nationalen und europäischen Fusionskontrolle. Dies widerspricht nicht dem Ziel einer Harmonisierung von europäischem und nationalem Wettbewerbsrecht aus Art. 3 VO 1/200338, der nach seinem Wortlaut gerade nicht auf die Fusionskontrolle anwendbar ist (Abs. 3). Zwar mag man die Legitimation strengerer nationaler Regelungen infrage stellen, weil dadurch die wirtschaftlich unbedeutenderen Verhaltensweisen strenger behandelt würden, als grenzüberschreitende Sachverhalte mit stärker wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen.39 Für die deutsche Fusionskontrolle bedeutet dies jedoch nicht, dass eine Angleichung hinsichtlich der Zusammenschlusstatbestände und des Vollzugsverbots rechtlich geboten ist. Wenn die nationale Fusionskontrolle einschlägig ist, wird sie durch abweichende Regelungen des Europarechts inhaltlich nicht eingeschränkt.40 Hier geht es nämlich nicht um die Frage, ob Recht einheitlich angewendet wird (Rechtsanwendungsgleichheit), sondern ob einheitliche Normen bestehen (Rechtsnormgleichheit).41 Bei der Herstellung von Rechtsanwendungsgleichheit sind Gerichte als Hauptakteure am Zug.42 Die Normgleichheit kann allerdings nur vom Gesetzgeber realisiert werden. Will man eine völlige Angleichung der nationalen (das heißt: auf nationale Sachverhalte bezogene) an die europäische (das heißt: die grenzüberschreitende) Fusionskontrolle erreichen, kann dies nur durch eine Anpassung des Wortlauts, insbesondere des Zusammenschlusstatbestandes geschehen.

Letztlich ist aber wohl damit zu rechnen, dass sich der BGH oder ein anderes nationales Gericht bei nächster Gelegenheit per Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH rückversichern wird, ob das EU-Recht einer solchen (strengeren) nationalen Regelung entgegensteht. Wie gezeigt wurde, ist dies eigentlich nicht notwendig (der Fall).

D. Fazit

Der BGH konnte, da der EuGH seine Entscheidung in Sachen Ernst & Young noch nicht erlassen hatte, zurecht darauf hinweisen, dass die Rechtsprechung der europäischen Gerichte seiner Auslegung nicht entgegensteht.43 Eine solche Konfliktsituation ergibt sich aber auch nach dieser Entscheidung nicht, da die nationale Fusionskontrolle für Inlandssachverhalte nicht dem europäischen Recht, insbesondere nicht der FKVO, unterliegt. Eine vollständige Anpassung der europäischen Regelungen an das deutsche Recht der Fusionskontrolle könnte nur gelingen, wenn der Gesetzgeber den Zusammenschlusstatbestand weiter an die FKVO angleicht. Derzeit können sich aus dem Urteil Ernst & Young für die nationale Fusionskontrolle also keine Konsequenzen ableiten lassen. Damit ist eine gewisse Uneinheitlichkeit im europäischen Mehrebenensystem zu konstatieren, die diesem allerdings inhärent sind. Insofern ergibt sich auch keine Rechtsunsicherheit, da nun sowohl für die nationale, als auch die europäische Fusionskontrolle konkretisierte Auslegungen bestehen.


37 Vgl. Art. 3 Abs. 1 FKVO.

38 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl Nr. 1 L 1 S. 1.

39 Zuber, in: Loewenheim\slash Meessen\slash Riesenkampff\slash Kersting\slash Meyer-Lindemann, Kartellrecht3, 2016, Art. 4 VerfVO, Rn. 21.

40 Kallfaß, in: Lange/Bunte, Kartellrecht Kommentar, Band 113, 2018, § 35 GWB, Rn. 48.

41 Zu dieser Entscheidung vgl. Lohse, DVBl. 2018, 1120, 1121.

42 Lohse (Fn. 41), 1126 f.

43 BGH (Fn. 25), Rn. 64 ff.