Franziska Mauritz*
A. Einleitung
Während sowohl auf internationaler1 als auch auf nationaler Ebene2 über die passende Haltung gegenüber Russland aufgrund der Annexion der Krim diskutiert wurde und wird, geht das Leben auf der Halbinsel für ihre Bewohner seit dem Frühjahr 2014 weiter. Ehen werden geschlossen, Kinder geboren, Häuser gebaut und gekauft.
Aus Sicht des Internationalen Privatrechts stellt sich die Frage, nach welchem Recht deutsche Gerichte diese Rechtsverhältnisse beurteilen sollten. Es wird im Folgenden untersucht, wie gewaltsame Gebietsänderungen sich auf die Zuordnung okkupierter oder annektierter Gebiete im Internationalen Privatrecht auswirken. Es geht dabei nicht um die politische Bewertung einer möglicherweise völkerrechtswidrigen Gebietsänderung, sondern um die Auswirkung auf die Rechtsbeziehungen der Privatpersonen,3 die dort leben.
Zunächst werden die völkerrechtlichen Grundlagen der Thematik kurz erläutert und die Krim als Beispiel angeführt (B). Im nächsten Schritt wird dargestellt, an welchen Stellen es im IPR relevant wird, dass ein Gebiet okkupiert oder annektiert wird (C). Der Hauptteil beantwortet die Frage, wie okkupierte oder annektierte Gebiete im IPR zugeordnet werden (D). Es folgen Ausführungen zur autonomen Begriffsbestimmung im Kollisionsrecht (E) und ein kurzes Fazit (F).
B. Völkerrechtliche Grundlagen
I. Okkupation im Sinne des Völkerrechts
Der Begriff Okkupation bezeichnet eine Vielzahl verschiedener Konstellationen, in denen ein Staat zeitlich begrenzt die Herrschaftsgewalt über ein bewohntes Gebiet ausübt, das außerhalb der akzeptierten internationalen Grenzen seines Staatsgebiets liegt.4 Gem. Art. 42 Haager Landkriegsordnung (HLKO) gilt ein Gebiet als okkupiert, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt eines feindlichen Heeres befindet. Es ist dabei zu prüfen, ob die Streitkräfte die bestehenden Herrschaftsstrukturen durch eigene ersetzt haben oder gezeigt haben, dass sie dazu in der Lage sind.5
II. Annexion im Sinne des Völkerrechts
1. Völkerrechtlicher Begriff der Annexion
Der Begriff Annexion meint den gewaltsamen Erwerb eines Gebiets durch einen Staat auf Kosten eines anderen Staates bzw. gegen dessen Willen.6 Eine Annexion setzt die effektive Besetzung des fremden Gebiets und den klaren Willen, es sich permanent anzueignen, voraus.7 Der Usurpator erklärt in der Regel ausdrücklich, dass er das Gebiet fortan als Teil seines Staates betrachtet.8
Eine Okkupation geht in eine Annexion über, wenn der besetzende Staat einen permanenten Anspruch auf das Gebiet erhebt, seine Herrschaft effektiv auf das Gebiet ausdehnt und dafür bleibende Herrschaftsstrukturen schafft.9 Annexionen sind eine völkerrechtswidrige Form des Gebietserwerbs, da sie gegen das in Art. 2 (4) UN-Charta (UNCh) normierte Gewaltverbot verstoßen.10
2. Folgen einer Annexion – Nichtanerkennung
Aufgrund der Völkerrechtswidrigkeit kann durch eine Annexion nicht rechtmäßig Gebiet erworben werden.11 Andere Staaten sind daher nach einem auch als Stimson Doctrine12 bezeichneten Prinzip völkerrechtlich verpflichtet, die Gebietsänderung durch Annexion nicht als rechtmäßig anzuerkennen.13
Zwar gibt es keine ausdrückliche Regelung zur Nichtanerkennungspflicht in der UNCh, allerdings kann die Pflicht als eine logische Folge des Gewaltverbots aus Art. 2 (4) UNCh angesehen werden.14 Zudem entspricht die
* Die Autorin ist Studentin der Bucerius Law School, Hamburg.
1 Vgl. ZEIT Online, Kritik an Russland-Sanktionen aus Moskau, Brüssel und Berlin, 26.07.2017, abrufbar unter http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-07/usa-russland-sanktionen-sergej-rjabkow (zuletzt abgerufen am 24.04.2017).
2 Vgl. ZEIT Online, Bundesregierung kritisiert Krim-Besuch von AfD-Politikern, 05.02.2018, abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-02/afd-landtagsabgeordnete-krim-reise-bundesregierung-distanzierung (zuletzt abgerufen am 24.04.2018).
3 Soweit das IPR und IZVR durch hoheitliche Rechtsverhältnisse berührt werden, bleibt dies ausgeklammert.
4 Roberts, in: Max Planck Insitute for Comparative Public Law and International Law (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Online Ressource, seit 2008, Occupation, Military, Termination of, Rn. 3; vgl. auch Crawford, Brownlie’s Principles of Public International Law8, 2012, S. 222.
5 Vgl. IGH, Democratic Republic of the Congo v. Uganda, Ents. vom 19.12.2005, S. 65, Rn. 172-178; vgl. auch Arnauld, Völkerrecht3, 2016, Rn. 1282; Gasser, in: FS Fleck, 2004, S. 139, 141.
6 Schätzel, Das Recht des völkerrechtlichen Gebietserwerbs, 1959, S. 103-165.
7 Hofmann, in: Max Planck Insitute for Comparative Public Law and International Law (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Online Ressource, Oxford seit 2008, Annexation, Rn. 1; Scupin, in: FS Küchenhoff, 1967, S. 215, 217; Bindschelder, in: Schlochauer, Hans-Jürgen (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 1. Band2, 1960, Annexion, S. 68.
8 Willershausen, Zerfall der Sowjetunion – Staatennachfolge oder Identität der Russländischen Förderation, 2002, S. 96.
9 Roberts (Fn. 4), Occupation, Military, Termination of, Rn. 36 f.
10 Arnauld, Völkerrecht (Fn. 5), Rn. 79; Hofmann (Fn. 7), Annexation, Rn. 1, 14 f.; Scupin (Fn. 7), S. 215, 221.
11 Parameswaran, Besatzungsrecht im Wandel, 2008, S. 35.
12 Vgl. dazu ausführlich Sharma, Territorial Acquisition, Disputes and International Law, 1997, S. 148-158; Talmon, Kollektive Nichtanerkennung illegaler Staaten, 2006, S. 90-95.
13 Hofmann (Fn. 7), Annexation, Rn. 15; Raic, Statehood and the Law of Self-Determination, 2002, S. 90 f., 107; Willershausen (Fn. 8), S. 96.
14 Sharma (Fn. 12), S. 151.
Nichtanerkennungspflicht im Hinblick auf gewaltsame Gebietsveränderungen der gängigen Praxis der Staatengemeinschaft und der Vereinten Nationen, wie auch verschiedene Regelungen, die von Unterorganisationen der Vereinten Nationen erlassen wurden15, und Art. 41 (2) der Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts der International Law Commission von 2001, die als Völkergewohnheitsrecht16 anerkannt werden17, zeigen.
3. Beispiel der Annexion der Krim
Im Frühjahr 2014 wurden die Parlaments- und Regierungsgebäude in Semferopol durch pro-russische Separatisten besetzt und verstärkt russische Truppen auf der Halbinsel eingesetzt. Am 16. März wurde ein Referendum auf der Halbinsel über die Zugehörigkeit zu Russland oder der Ukraine abgehalten. Russland zufolge stimmten 96,77 % für eine Wiedervereinigung mit Russland, die Beteiligung lag bei 83,1 %.18 Trotz Protestes der Vereinten Nationen wurde zwei Tage nach dem Referendum ein Eingliederungsvertrag geschlossen.19
Der Einmarsch russischer Truppen war nicht durch einen Vertrag gedeckt und verletzte daher das Gewaltverbot aus Art. 2 (4) UNCh. Das abgehaltene Referendum verstieß schon deshalb gegen Völkerrecht, da es auf der Ausnutzung einer Situation beruhte, die entgegen dem Gewaltverbot geschaffen wurde. Zudem wurden internationale Standards bezüglich Referenden nicht eingehalten.20 Auch stand der Krim kein Sezessionsrecht zu.21 Dementsprechend konnte die Inkorporation der Krim in den russischen Staatsverband nicht rechtmäßig sein.22
Die Vorgänge im Frühjahr 2014 auf der Krim stellen somit eine völkerrechtswidrige Annexion im oben aufgeführten Sinne dar.23
C. Relevanz von Okkupationen und Annexionen für das Internationale Privatrecht
Okkupationen und Annexionen können im Rahmen des IPR an verschiedenen Stellen relevant werden. Zunächst kann man sich die Frage stellen, ob internationale völkerrechtliche Übereinkommen24 anwendbar sind, die die legitime Regierung ratifiziert hat, oder solche, die für die Besatzungsmacht gelten.
Der Anknüpfungsmoment der Staatsangehörigkeit (vgl. etwa Art. 5 EGBGB) hat neben seiner Funktion im IPR auch völkerrechtlichen Gehalt.25 Fraglich ist, ob eine Okkupation oder Annexion etwas an der kollisionsrechtlichen Zuordnung einer Person aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit ändert.
Wenn als Statut auf die in einem okkupierten oder annektierten Gebiet geltende Rechtsordnung verwiesen wird, ist zu klären, ob dies als Verweis auf die faktisch dort geltende Rechtsordnung oder auf die durch den legitimen Gesetzgeber geschaffene Rechtsordnung zu verstehen ist.26
D. Zuordnung okkupierter oder annektierter Gebiete im Internationalen Privatrecht
Im Folgenden soll die Zuordnung okkupierter oder annektierter Gebiete im Hinblick auf alle oben aufgeführten Konstellationen untersucht werden. Dabei wird das in Deutschland geltende Internationale Privatrecht zugrunde gelegt.
I. Anwendbare Rechtsordnung
Eine militärische Besetzung als solche ändert nichts an dem Privatrecht, das in dem besetzten Gebiet gilt.27 Dies kann sich ändern, wenn der Besatzer tatsächlich die Herrschaft übernimmt und die Herrschaftsstrukturen ändert, und etwa Gesetze verabschiedet und anwendet. Grundsätzlich gilt völkerrechtlich gesehen die nationale Rechtsordnung des besetzten Gebiets weiter.28
Gesetze, die der Okkupant für das besetzte Gebiet erlässt, sind im Hinblick auf die völkerrechtliche und kollisionsrechtliche Wirksamkeit danach zu unterscheiden, ob sie innerhalb der völkerrechtlich zulässigen Grenzen für den Erlass von Rechtsakten während einer Besetzung erlassen
15 Sharma (Fn. 12), S. 151-154; Talmon (Fn. 12), S. 337-361.
16 Gem. Art. 38 Abs. 1 lit. b) des IGH Statuts wendet der IGH auch internationales Gewohnheitsrecht an. Dieses stellt grundsätzlich eine wichtige Rechtsquelle des Völkerrechts dar und ist bindend. Vgl. dazu ausführlich: Crawford (Fn. 4), S. 23 f.
17 Krumbiegel, Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung völkerrechtswidriger Gebietsänderungen, 2016, S. 38; Marxsen, 74 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) (2014), S. 367, 390 f.; vgl. auch Crawford (Fn. 4), S. 155; krit.: Talmon (Fn. 12), S. 361. AA: Mankowski, IPRax 2017, S. 347, 350.
18 Vgl. Sputnik News, Krim Referendum: 96,77 Prozent stimmen für Wiedervereinigung mit Russland, 17.03.2014, abrufbar unter https://de.sputniknews.com/poli-tik/20140317268050290-Krim-Referendum-9677-Prozent-stimmen-fr-Wiedervereinigung-mit/ (zuletzt abgerufen am 24.04.2018).
19 Vgl. zu den Ereignissen im Frühjahr: Krumbiegel (Fn. 17), S. 118 f.; Luchterhandt, AVR 2014, S. 137, 140 f.; zu den von Russland erlassenen Rechtsakten: Pritskow, Osteuropa-Recht 2014, S. 426 ff.
20 Brunner, ZRP 2014, S. 250; Krumbiegel (Fn. 17), S. 134-136; Luchterhandt, AVR 2014, S. 137, 155 ff.
21 Vgl. dazu ausführlich: Luchterhandt, AVR 2014, S. 137, 151 ff.; differenzierend: Marxsen, 74 ZaöRV (2014), S. 367, 384 ff.
22 Krumbiegel (Fn. 17), S. 137 f.; Luchterhandt, AVR 2014, S. 137, 169 ff. AA: Geistlinger, AVR 2014, S. 175, 202 f.
23 Brunner, ZRP 2014, S. 250, 251; Luchterhandt, AVR 2014, S. 137, 173; Kontorovich, 53 Colum. J. Transn. L. (2014), S. 584, 592, 627. AA: Geistlinger, AVR 2014, S. 175, 202 f.
24 Bühler in: FS Wolff, 1952, S. 177, 200; Mansel in: Leible/Ruffert (Hrsg.), IPR und Völkerrecht, 2006, S. 89, 103 ff.; Neuhaus, 21 German Yearbook of International Law (GYBIL) (1978), S. 60, 70.
25 Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, Band 1 Allgemeine Lehren2, 2003, § 3 Rn. 25.
26 Engel in: FS Rothoeft, 1994, S. 87, 88 f.; Wengler, in: Mitglieder des BGH (Hrsg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs, Band VI/1 Internationales Privatrecht12, 1981, § 12 a) (S. 282); Leitsätze Stoll, 4 BerGesVR (1961), S. 151.
27 Vgl. RG, JW 1925, S. 1639 f.; RG, JW 1922 S. 1324 f.; Bar/Mankowski (Rn. 25), § 3 Rn. 29.
28 Gasser, in: Fleck, Dieter (Hrsg.), Handbuch des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten, 1994, S. 205; Parameswaran (Fn. 11), S. 56.
wurden.29
1. Geltung der HLKO
Die HLKO regelt die Verwaltung und Gesetzgebung in besetzten Gebieten,30 sie ist weitgehend gewohnheitsrechtlich anerkannt31 und bindet als Völkergewohnheitsrecht über die Vertragsparteien hinaus weitere Staaten.32 Für die Gesetzgebung ist insbesondere Art. 43 HLKO relevant, der lautet: „Nachdem die gesetzmäßige Gewalt tatsächlich in die Hände des Besetzenden übergegangen ist, hat dieser alle von ihm abhängigen Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze.“
2. Gesetzgebung im Rahmen der HLKO
Aufgrund der Völkerrechtswidrigkeit der Okkupation oder Annexion sind nur Gesetze zulässig, die die provisorische Verwaltung betreffen und tiefergreifende Änderungen vermeiden.33
Maßnahmen, die nach Art. 43 HLKO zulässig sind, sind von dritten Staaten anzuerkennen.34 Wenn sich das erlassene Gesetz innerhalb der dem Okkupant zustehenden Gesetzgebungsbefugnis bewegt, ist die Qualität als Recht unproblematisch.35
Entgegen der völkerrechtlichen Qualifikation36 sollte das vom Besatzer im Einklang mit der HLKO geschaffene Recht für die Zwecke des IPR als Bestandteil des örtlichen Rechts gelten und nicht nur als Recht der Besatzungsmacht. Sie handelt aus Sicht des IPR diesbezüglich anstelle der verdrängten Regierung, die die Gesetze ändern kann, wenn sie zurückkehrt.37
3. Gesetzgebung außerhalb der HLKO
a) Unzulässigkeit von Gesetzen nach der HLKO
Gesetze, die über das zur provisorischen Verwaltung erforderliche Maß hinausgehen, sind nach der HLKO unzulässig. Insbesondere darf die Besatzungsmacht nicht ihr eigenes Herrschaftssystem in das besetzte Gebiet übertragen38 oder die Gerichtsbarkeit und Verwaltung ohne Grund ersetzen39. Gesetze, die eine völkerrechtswidrige Annexion dahingehend einleiten, dass die Herrschaftsstrukturen effektiv und dauerhaft ersetzt werden, sind daher unzulässig.40
b) Kollisionsrechtliche Einordnung
Wenn Gesetze erlassen werden, die über die Grenzen der HLKO hinausgehen, ist die kollisionsrechtliche Einordnung schwierig. Es stellt sich die Frage, ob für die Zwecke des IPR auf das faktisch geltende, völkerrechtswidrige Recht des Besatzers verwiesen wird oder auf das Recht der legitimen Regierung, welches derzeit nicht durchgesetzt wird.
aa) Illegitimität der erlassenen Gesetze
(1) Völkerrechtliche Pflicht der Nichtanerkennung
Wenn man auf das faktisch geltende, aber völkerrechtlich illegitime Recht des Besatzers abstellt, steht dies in einem Spannungsverhältnis zur völkerrechtlichen Pflicht der Nichtanerkennung von völkerrechtswidrig erlangtem Territorium.
(2) Konkludente Anerkennung durch Anwendung des Privatrechts
Man könnte in der Anwendung des Privatrechts durch Gerichte eine Anerkennung der Besatzungsmacht sehen, die der völkerrechtlichen Pflicht der Nichtanerkennung zuwiderläuft. Der genaue Inhalt dieser Pflicht ist im Gegensatz zu ihrem Bestehen noch sehr unklar.41
Grundsätzlich ist eine implizite oder konkludente Anerkennung einer Regierung oder Gebietsänderung möglich.42 Allerdings ist nicht geklärt, wann genau ein hoheitlicher Akt als konkludente Anerkennung gewertet wird. Auch wenn die völkerrechtliche Anerkennung einer Gebietsänderung in der Regel durch die Exekutive erfolgt,43 ist eine Anerkennung durch Gerichte möglich.44 Staaten sind die Handlungen ihrer nationalen Gerichte als eigene zuzurechnen,45 daher wäre der Staat für eine Verletzung der Nichtanerkennungspflicht durch sie verantwortlich.46
Allerdings erklären die Gerichte im Rahmen ihrer Entscheidung in der Regel, dass die Anwendung des Rechts unabhängig von der völkerrechtlichen Anerkennung erfolgt. Darin kann keine konkludente Anerkennung gesehen werden, da diese eben ausdrücklich ausgeschlossen wird.47
Zudem handelt es sich völkerrechtlich gesehen bei der Frage nach der in einem Gebiet geltenden Rechtsordnung um eine Tatsachenfrage und bei der Frage nach der Souveränität eines staatlichen Gebildes oder der Völkerrechtsmäßigkeit einer Okkupation oder Annexion um eine Rechtsfrage.
29 Bar/Mankowski (Rn. 25), § 3 Rn. 29.
30 Greenwood, in: Fleck (Hrsg.), Handbuch des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten, 1994, S. 21.
31 Gasser (Fn. 5), S. 139 ff.; Greenwood (Fn. 30), S. 21; Parameswaran (Fn. 11), S. 49.
32 Vgl. dazu Fn. 16.
33 Gasser (Fn. 28), S. 195; Parameswaran (Fn. 11), S. 56, 65; Sauveplanne, 7 Netherlands International Law Review (NILR) (1960), S. 17, 40.
34 Stoll, 4 BerGesVR (1961), S. 131, 141.
35 Bar/Mankowski (Rn. 25), § 3 Rn. 30.
36 Vgl. Kraus, in: FS Laun, 1953, S. 223, 236.
37 Wengler, in: FS Lewald, 1953, S. 615, 618 f.
38 Gasser (Fn. 28), S. 197 f.
39 Gasser (Fn. 28), S. 206.
40 Sauveplanne, 7 NILR (1960), S. 17, 41.
41 Kontorovich, 53 Colum. J. Transn. L. (2014), S. 584, 589; Krumbiegel (Fn. 17), S. 151; Talmon (Fn. 12), S. 362 f.
42 Bindschedler, 4 BerGesVR (1961), S. 1, 6; Crawford (Fn. 4), S. 149; Warbrick, 30 International and Comparative Law Quarterly (IntCompLQ) (1981), S. 568, 583.
43 Sauveplanne, 7 NILR (1960), S. 17, 18.
44 Talmon (Fn. 12), S. 467.
45 Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 145.
46 Talmon (Fn. 12), S. 468.
47 Engel (Fn. 26), S. 87, 90; vgl. beispielsweise BGH, NJW 1967, S. 36; OLG Schleswig, IPRspr. 1956-57, Nr. 202.
Daher kann die Anwendung des Rechts des Okkupanten die Anerkennung der Gebietsänderung als rechtmäßig nicht implizieren.48 Eine völkerrechtswidrige Okkupation oder Annexion wird daher nicht durch Anwendung des Rechts völkerrechtlich konkludent anerkannt.49
Auch wenn in der Anwendung des Rechts keine konkludente Anerkennung der Gebietsänderung zu sehen ist, steht sie in einem Spannungsverhältnis zu der Pflicht der Nichtanerkennung, da sie auch mögliche Sanktionen der Völkergemeinschaft als weniger effektiv erscheinen lassen kann.
bb) Faktische Geltung des illegitimen Rechts
Trotz der Völkerrechtswidrigkeit der Gesetzgebung gilt das Recht des Besatzers faktisch für die Bewohner des besetzten Gebiets. Der Okkupant wird sein Recht unter Umständen sogar mit besonderem Geltungsanspruch und besonderer Geltungshärte durchsetzen, um seine Macht über das besetzte Gebiet deutlich zu machen.50
Die Bewohner können dem faktisch geltenden Recht nicht ausweichen, sondern sind gezwungen, ihr Leben und ihre privaten Angelegenheiten an diesem Recht zu orientieren.51 Das Recht der Exilregierung existiert in der Regel nur noch auf dem Papier und ist für die Menschen in ihrem täglichen Leben nicht relevant.52
Die Zivilbevölkerung hat ein starkes Interesse daran, dass auch vor ausländischen Gerichten nach dem Recht entschieden wird, an dem sie ihr Verhalten ausrichten (muss) und auf das sie vertraut.53
cc) Divergenz zwischen Legitimität und Faktizität
Aus den beiden vorherigen Punkten folgt, dass bezüglich des Rechts in besetzten Gebieten eine Divergenz zwischen Legitimität und Faktizität besteht. Das IPR geht grundsätzlich davon aus, dass die Rechtsbeziehungen von Privatpersonen durch faktisch geltendes, staatliches Recht geregelt werden, das ein legitimer Gesetzgeber erlassen hat.54 Diese Grundannahme trifft im Hinblick auf völkerrechtswidrige Okkupationen und Annexionen nicht zu. Das in dem besetzten Gebiet faktisch geltende Recht wird von einem Gesetzgeber erlassen und angewandt, der vom Völkerrecht als illegitim qualifiziert wird; das von dem legitimen Gesetzgeber erlassene Recht kann sich nicht durchsetzen.55
dd) Zuordnung
Fraglich ist, wie diese Divergenz sich auswirkt, wie also das Spannungsverhältnis zwischen der völkerrechtlichen Pflicht der Nichtanerkennung und der effektiven Durchsetzung dieser sowie den Interessen der Zivilbevölkerung an der Anwendung des effektiven Rechts aufzulösen ist.
Es wird im Folgenden kein Unterschied zwischen dem Recht nicht anerkannter Staaten und dem im Rahmen einer völkerrechtswidrigen Okkupation eingeführten Recht gemacht, da Fehlen oder Überschreiten der Rechtmäßigkeit zu den gleichen Ergebnissen führen.56 Zudem existiert im Hinblick auf völkerrechtswidrige Okkupationen und Annexionen die oben dargestellte völkerrechtliche Pflicht der Nichtanerkennung.
(1) Widersprüche zwischen Justiz und Verwaltung sowie Regierung
Teilweise wird angeführt, dass ohne eine Anerkennung der rechtssetzenden Gewalt die Gesetze dieses Gesetzgebers trotz faktischer Geltung grundsätzlich nicht angewandt werden dürfen, da es ansonsten zu Widersprüchen zwischen den Entscheidungen der Justiz und der Verwaltung sowie Regierung kommen könnte.57
Auch Gerichtsentscheidungen können einen Staat außenpolitisch positionieren, insbesondere, wenn entscheidungserheblich implizit über den Inhalt der Völkerrechtsordnung entschieden wird.58
Nach dem deutschen Verfassungsrechtsverständnis obliegt das Handeln im Bereich der auswärtigen Beziehung in erster Linie den darauf spezialisierten Ressorts innerhalb der Exekutive.59 Allerdings ist die Ausübung auswärtiger Gewalt nicht nur der Exekutive zugeordnet, sondern ist eine übergreifende, im Hinblick auf die Zuständigkeit nicht exklusiv zugeordnete Staatsfunktion mit Bindung an die Verfassung.60
Nach dem kontinentaleuropäischen Gewaltenteilungsverständnis sind Gerichte zwar dem geltenden Recht, nicht aber der Exekutive unterworfen.61 Gerade auch im Hinblick auf Entscheidungen, die das Verfassungsrecht betreffen, darf dieses Prinzip nicht vernachlässigt werden.62 Gerichte müssen sich nicht vom Auswärtigen Amt oder einer anderen
48 Talmon (Fn. 12), S. 477.
49 Bogdan, 348 Recueil des Cours (RdC) (2010), S. 9, 215; Bolewski, Zur Bindung deutscher Gerichte an Äußerungen und Maßnahmen ihrer Regierung auf völkerrechtlicher Ebene, 1971, S. 207; Mankowski, IPRax 2017, S. 347, 350.
50 Mankowski, IPRax 2017, S. 347, 348.
51 Wengler, in: RGRK-BGB (Fn. 26), § 12 c) (S. 288); Bar/Mankowski (Rn. 25), § 3 Rn. 32; Knittel, Geltendes und nicht geltendes Auslandsrecht im Internationalen Privatrecht, 1963, S. 88; Mankowski, IPRax 2017, S. 347, 348.
52 Bar/Mankowski (Rn. 25), § 3 Rn. 34.
53 Busse, IPRax 1998, S. 155, 156; Talmon (Fn. 12), S. 477; Engel (Fn. 26), S. 87, 94 f.
54 Wengler (Fn. 37), S. 615; vgl. ausführlich zum Begriff der Geltung: Knittel (Fn. 52), S. 13 ff.
55 Dies wird vorausgesetzt; wenn die Exilregierung noch Durchsetzungskraft besitzt, kann danach unterschieden werden, ob die Gesetzgebung in ihre Zuständigkeit oder in die des Okkupanten fällt, vgl. Sauveplanne, 7 NILR (1960), S. 17, 42.
56 Sonnenberger, 29 BerGesVR (1988), S. 9, 23.
57 Wengler (Fn. 37), S. 615, 623; vgl. zu möglichen Konstellationen bezüglich des Verhältnisses von Exekutive und Judikative im Hinblick auf völkerrechtliche Fragen: Boleweski (Fn. 50), S. 41 ff.
58 Knöfel, in: FS Schütze, 2014, S. 243, 249 f.; Mankowski, IPRax 2017, S. 347; vgl. auch: Röben (Fn. 46), S. 145-159.
59 Knöfel (Fn. 59), S. 243, 248; Röben (Fn. 46), S. 74-82.
60 Vgl. BVerfGE 1, S. 372, 394 f.; BVerfGE 63, S. 343, 373; Knöfel (Fn. 59), S. 243, 249; Röben (Fn. 46), S. 1 f.
61 Boleweski (Fn. 50), S. 159 f.
62 Vgl. Mann, Süddeutsche JZ (SJZ) 1950, Sp. 545 f.
Stelle der Exekutive überwachen lassen und deren Sichtweise nicht ohne eigene Bewertung übernehmen.63
Daher sind in Deutschland die Gerichte nicht daran gebunden, wenn die Bundesregierung eine Regierung nicht anerkennt.64 Die Gerichte können selbst in freier Beweiswürdigung entscheiden, ob eine Gewalt eine de facto- oder de jure-Regierung ist.65 Gänzlich anders wird dies im anglo-amerikanischen Raum gehandhabt.66
Gegen die Unabhängigkeit der Richter in ihrer Entscheidung wird angeführt, dass es zu diplomatischen Problemen kommen könnte, wenn die legitime Regierung Einspruch gegen die Anerkennung des Besatzers und das damit einhergehende Ignorieren ihrer Rechte erhebt.67 Es besteht aber gerade kein allgemeiner Rechtssatz, dass Gerichte darauf achten müssen, die außenpolitische Handlungsfreiheit der Bundesregierung nicht zu beschränken.68
Die Anwendung des faktisch geltenden, illegitimen Rechts im okkupierten Gebiet kann unbestritten zu Widersprüchen zwischen Gerichten und der Regierung führen. Aber jedenfalls nach dem deutschen Gewaltenteilungsverständnis gibt es keine Pflicht der Judikative, das Recht einer aufgrund einer völkerrechtswidrigen Okkupation oder Annexion nicht anerkannter Regierungen nicht anzuwenden.
(2) Zwecksetzung und Wertneutralität des IPR
Das IPR dient der Gerechtigkeit zwischen Einzelnen. Ihm liegt der Gedanke der Anknüpfungsgerechtigkeit69 zugrunde; das Ziel des IPR ist es, das Rechtsverhältnis der Rechtsordnung zu unterstellen, zu der es die engste Verbindung hat.70 Es wird nach internationalprivatrechtlicher Gerechtigkeit71 im Rahmen von privaten Rechtsverhältnissen gestrebt, daher orientiert sich das IPR an den Bedürfnissen Privater.72
Aufgrund der privatrechtlichen Orientierung wird die Anwendung fremden Rechts nicht dem fremden Staat geschuldet oder soll seinen Interessen dienen.73 Außenpolitik gehört nicht zu den anerkannten Interessen und Zielen des Kollisions- und Verfahrensrechts. Dessen Funktion ist gleichbleibend, während Machthaber und die völkerrechtliche Bewertung sich ändern können.74
Daher ist das IPR vom Grundsatz her unpolitisch und wertneutral bezüglich des Inhalts verschiedener Rechtsordnungen und verschiedenen Regierungen bzw. sollte es idealerweise sein.75 Überspitzt formuliert ist das IPR jeglicher Politik gegenüber blind, kollisionsrechtliche Anknüpfungen dienen nicht dem Schutz außenpolitischer Interessen.76
Durch Anknüpfungspunkte im IPR sollen vielmehr die Realität abgebildet und Fakten richtig dargestellt werden.77 Die Anerkennung von Fakten bedeutet nicht die Anerkennung der Motive, die hinter ihrer Schaffung stehen.78 Fakten unterliegen gerade keiner Inhaltskontrolle, die faktische Wirkung von etwas ist eine Tatsache.79 Man kann diesbezüglich eine Parallele zur umstrittenen Machttheorie80 erwägen.81 Danach wird im Rahmen Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO die Anwendung von Eingriffsnormen zugelassen, wenn ein Staat die Macht hat, die Normen durchzusetzen. Dabei spielen keine kollisionsrechtlichen Erwägungen eine Rolle, sondern die Anerkennung der bestehenden Machtverhältnisse.82 Die reale Durchsetzung schafft Fakten, die man kaum ignorieren kann.83 Auch hier zeigt sich die Wertneutralität des IPR in Bezug auf Fakten, die bestehen und als solche anerkannt werden.
Im Hinblick auf die Zwecksetzung des IPR ist festzuhalten, dass das IPR grundsätzlich blind bzw. neutral bezüglich politischer Erwägungen ist und auf gegebene Fakten abstellt. Dies deutet darauf hin, dass nach der Zwecksetzung des IPR die Völkerrechtswidrigkeit einer Okkupation oder Annexion und die damit zusammenhängende Illegitimität der faktisch geltenden Gesetze für das IPR nicht beachtlich sein sollten.
(3) Weitere Argumente / Entscheidung
Im Folgenden werden weitere Argumente bezüglich der Auflösung des Spannungsverhältnisses untersucht und versucht, eine sachgerechte Entscheidung zu finden.
63 Knöfel (Fn. 59), S. 243, 255; Menzel, Internationales Öffentliches Recht, 2011, S. 705 f.; Stein, Amtshilfe in auswärtigen Angelegenheiten, 1975, S. 179.
64 Vgl. OLG Hamm, NJW 1973, S. 2156; KG, FamRZ 1966, S. 210; LG Bremen, FamRZ 1960, S. 154; Hofmann, 49 ZaöRV (1989), S. 41, 52; Kraus (Fn. 36), S. 223, 235.
65 Talmon (Fn. 12), S. 463.
66 Talmon (Fn. 12), S. 461; vgl. etwa Carl Zeiss Stiftung v. Rayner & Keeler Ldt. And Others (No 2) (1966) [1967] 1 AC 858, 901 (HL); aus NZ: Bilang v. Rigg (1971) [1972] N.Z.L.R. 954 (HCW).
67 Wengler (Fn. 37), S. 615, 623.
68 Knöfel (Fn. 59), S. 243, 255.
69 Vgl. Wendehorst, in: v. Hein (Redakteur), Münchener Kommentar zum BGB, Band 127, 2018, Vorbemerkung zu Art. 43 EGBGB, Rn 11.
70 Lorenz, in: Bamberger/Roth, Herbert (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 33, 2012, Einl IPR Rn. 4; Thorn, in: Palandt, Otto (Begr.) Beck`sche Kurzkommentare Bürgerliches Gesetzbuch76, 2017, Einl vor Art. 3 EGBGB Rn. 1; Sonnenberger, 29 BerGesVR (1988), S. 9, 23.
71 Vgl. dazu ausführlich Flessner, Interessenjurisprudenz im internationalen Privatrecht, 1990, S. 78-97; siehe auch Neuhaus, Die Grundbegriffe des Internationalen Privatrechts2, 1976, § 5.
72 Vgl. Bolewski (Fn. 50), S. 195; Knittel (Fn. 52), S. 89; Mankowski, IPrax 2017, S. 347, 349.
73 Bogdan, 348 RdC (2010), S. 9, 215; Chen, The International Law of Recognition, 1951, S. 167; vgl. auch Bar/Mankowski (Fn. 25), § 3 Rn. 2.
74 Knöfel (Fn. 59), S. 243, 245.
75 Differenzierend: Bogdan, 348 RdC (2010), S. 9, 77 ff.
76 Knöfel, in: FS Magnus, 2014, S. 459, 471.
77 Mankowski, IPrax 2017, S. 347, 350; siehe auch Chen (Fn. 73), S. 7, 167.
78 Mankowski, IPRax 2017, S. 347, 350; im Hinblick auf die Berücksichtigung faktisch geltender Eingriffsnormen: Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 2002, S. 57, 61; Kuckein, Die „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen im deutschen und englischen internationalen Vertragsrecht, 2008, S. 88; Mankowski, IPRax 2016, S. 485, 489 f.
79 Vgl. Kuckein (Fn. 78), S. 286; Mankowski, IPRax 2016, S. 485, 490.
80 Vgl. v. Hoffmann, in: Soergel, Hans Theodor (Begr.), Kohlhammer-Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, Band 1012, 1996, Art. 34 EGBGB Rn. 85, 90; Drobnig, in: FS Neumayer, 1985, S. 159, 172; Kegel, in: FS Seidl-Hohenveldern, 1988, S. 243, 260; Kegel/Seidl-Hohenveldern, in: FS Ferid, 1978, S. 233, 241 ff.
81 Mankowski, IPRax 2017, S. 347, 350.
82 Fetsch (Fn. 78), S. 33 f.; krit.: Magnus, in: v. Staudinger, Julius (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Internationales Vertragsrecht 1, Neubearbeitung 2016, Art. 9 Rom I-VO Rn. 95.
83 Mankowski, IPRax 2016, S. 485, 489.
(a) IPR als Ergebnis einer völkerrechtlich begründeten Pflicht
Wenn man das IPR als Ergebnis einer völkerrechtlich begründeten Pflicht zur Respektierung der Privatrechtsordnungen anderer Staaten versteht, kann keine Verweisung auf das in einem okkupierten oder annektierten Gebiet völkerrechtswidrig eingeführte Recht akzeptiert werden.84 Ansonsten könnten die Belange des legitimen Gesetzgebers beeinträchtigt werden, da seine völkerrechtsmäßig erlassene Privatrechtsordnung ignoriert wird.85
Allerdings widerspricht diese Sichtweise der Zwecksetzung des IPR. Die Anwendung von Privatrecht dient, wie oben aufgeführt, der Gerechtigkeit zwischen Privatpersonen und fördert daher nicht die Belange des illegitimen Gesetzgebers.86 Die Anwendung enthält nicht zwingend eine politische Aussage neben der, dass in dem besetzten Gebiet effektiv die Rechtsordnung des Besatzers gilt – was ein Fakt und keine Wertungsfrage ist. Keinesfalls muss die Anwendung des Privatrechts dazu führen, dass die Anerkennung von Staaten sich grundsätzlich an der Effektivität orientiert.87
(b) Effektivität von Sanktionen
Gegen die Anwendung des faktisch geltenden Rechts kann man zudem anführen, dass Sanktionen, die die Völkergemeinschaft verhängt, nicht mehr so effektiv wirken. Allerdings gibt es bessere Wege, Sanktionen effektiv zu gestalten, als sie zu Lasten von Privatpersonen wirken zu lassen. Die Anwendbarkeit der Rechtsordnung hat im Hinblick auf Privatrechtsverhältnisse nicht direkt etwas mit etwaigen Sanktionen zu tun, die gegen den Aggressor wirken sollen.
(c) Internationale Entscheidungsharmonie und Rechtssicherheit
Die Anwendung des faktisch geltenden Rechts entspricht dem wichtigen Prinzip der internationalen Entscheidungsharmonie88, da in jedem Fall in dem okkupierten oder annektierten Gebiet die Gerichte nach diesem Recht entscheiden.89
Zudem kann nur so Rechtssicherheit für die Betroffenen erreicht werden. Auch das BVerfG misst der Rechtssicherheit einen hohen Stellenwert bei, beispielsweise kann die Nichtigkeitserklärung von Gesetzen nicht auf abgeschlossene Tatbestände zurückwirken.90 Das IPR hat keinen Anspruch, in der ähnlichen Situation der Völkerrechtswidrigkeit anders zu verfahren91 und deswegen faktisch für die Bevölkerung geltende Gesetze nicht anzuwenden.
(d) Menschenrechtliche Verpflichtung
Für die in einem annektierten Gebiet lebenden Menschen kann es neben den Unannehmlichkeiten, denen sie im Alltag begegnen, zu einem weiteren Unrecht durch Gerichtsentscheidungen kommen, die auf ein für sie faktisch nicht geltendes Recht abstellen.92 Daher ist von einer Pflicht zur Anwendung des faktisch geltenden Rechts aus menschenrechtlichen Überlegungen auszugehen. Verschiedene Menschenrechte wie der Anspruch auf Anerkennung als Rechtsperson, das Recht zur Eheschließung und Auflösung der Ehe sowie das Recht auf Eigentum können betroffen sein. Ihre Durchsetzung bzw. Wirksamkeit kann nicht davon abhängig gemacht werden, ob zum Beispiel eine Ehe nach dem Recht eines legitimen Gesetzgebers geschlossen wurde.93
Der IGH und der EGMR haben in Entscheidungen klargestellt, dass die Nichtanerkennung nicht zu schwerwiegenden Nachteilen für die Bevölkerung führen darf.94
Es ist daher unbillig, die Nichtanwendung des Privatrechts als Sanktion gegen die völkerrechtswidrige Besatzung zu handhaben.95 Auf diese Weise würde die Nichtanerkennung der Okkupation oder Annexion auf dem Rücken der betroffenen Privatrechtsubjekte ausgetragen.96 Einzelne Privatpersonen, die der Rechtsordnung des Besatzers unterworfen sind, dürfen außerhalb dieses Ordnungssystems nicht rechtlos gestellt werden.97
(e) Ergebnis
Aufgrund seiner Wertneutralität kann das IPR die Existenz einer tatsächlich wirksamen Privatrechtsordnung nicht ignorieren, es zählt konkrete Effektivität und nicht abstrakte Effektivität oder Legitimität.98 Es wird auch dann auf die durch die Gesetzgebung effektiv ausgeübte Gebietshoheit abgestellt, wenn die Macht zur Rechtssetzung auf völkerrechtswidrige Weise erlangt wurde. Die völkerrechtliche Legitimität der Rechtsetzung ist eben nicht erforderlich.99 Es erscheint unnötig und problematisch, die Anwendung fremden Rechts in nationalen Gerichten von der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit abhängig zu machen.100
Die Anwendung des ausländischen Rechts ist eine reine internationalprivatrechtliche und dadurch nationalrechtliche Frage. Sie ist nicht völkerrechtlicher Natur, daher sollte sie unabhängig von der völkerrechtlichen Anerkennung oder Nichtanerkennung beurteilt werden.101 Die Durchbrechung
84 Sonnenberger, 29 BerGesVR (1988), S. 9, 22.
85 Wortley, 85 RdC (1954), S. 239, 286.
86 Stoll, 4 BerGesVR (1961), S. 131, 135.
87 Entgegen Warbrick, 30 IntCompLQ (1981), S. 568, 587.
88 Vgl. Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht8, 2005, § 3 Rn. 140; Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht9, 2004, § 2 II 3 a); Kropholler, Internationales Privatrecht6, 2006, § 6.
89 Busse, IPRax 1998, S. 155, 156; Talmon (Fn. 12), S. 477.
90 Vgl. BVerfGE 32, S. 387, 390.
91 Bar/Mankowski (Fn. 25), § 3 Rn. 33.
92 Engel (Fn. 26), S. 87, 94 f.; Mankowski, IPRax 2017, S. 347, 348.
93 Vgl. Talmon (Fn. 12), S. 478; in Bezug auf de facto-Regime: Frowein, Das de facto-Regime im Völkerrecht, 1968, S. 191.
94 IGH, ICJ Reports 1971, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia Notwithstanding Security Council Resolution 276, 29.01.1971, abrufbar unter http://www.icj-cij.org/files/case-related/53/053-19710129-ORD-01-00-EN.pdf (zuletzt abgerufen am 24.04.2018), S. 16, 56, Rn. 125; Cyprus v. Turkey (Application no. 25781/94), EGMR Entscheidung vom 10.05.2001, Rn. 86.
95 Knittel (Fn. 52), S. 89.
96 Vgl. Sir Jocelyn Simon P. in Adams v. Adams [1970] 3 W.L.R. 934, S. 188, 216 (PDAD.); Collins, 6 KCLJ 20 (1995), S. 20, 23; Talmon (Fn. 12), S. 478.
97 Bolewski (Fn. 50), S. 195.
98 Mankowski, IPRax 2017, S. 347, 349.
99 Thorn, in: Palandt (Fn. 70) Einl vor Art. 3 EGBGB Rn. 1; Sturm/Sturm, in: v. Staudinger, Julius (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Einleitung zum IPR, Neubearbeitung 2012, Einl zum IPR Rn. 532 f.; Jayme, Internationales Privatrecht und Völkerrecht, 2003, S. 27 f.; Stoll, 4 BerGesVR (1961), S. 131, 136.
100 Vgl. Bar/Mankowski (Fn. 25), § 3 Rn. 32; Lipstein, 35 Transactions of the Grotius Society (1949), S. 157, 187.
101 Boleweski (Fn. 50), S. 196; Knittel (Fn. 52), S. 85; Raape, MDR 1948, S. 363.
der Grundregeln des IPR durch Nichtanwendung des faktisch geltenden Rechts ginge anderenfalls zu Lasten der Gerechtigkeit im Einzelfall.102
Es sind aber Grenzen dahingehend zu beachten, dass Menschen unter Umständen nicht von der Geltung des Rechts des Okkupanten ausgehen. Wenn Personen in dem okkupierten oder annektierten Gebiet das Recht der legitimen, verdrängten Regierung auf ihre Rechtsverhältnisse angewandt haben, sollte man die Wirksamkeit nicht versagen.103 Die verdrängte Rechtsordnung sollte angewandt werden, wenn der Sachverhalt ihr effektiv unterlag.104 Das Problem, dass dadurch unter Umständen Rechtsunsicherheit für andere, nicht direkt Beteiligte entsteht, ist an dieser Stelle zu vernachlässigen, da die Anwendung des Rechts in diesem Fall den Grundsätzen der Humanität entspricht.
4. Ausnahmen über den ordre public – Vorbehalt
Wie bereits oben angedeutet, kann es in einigen Fällen entgegen der grundsätzlichen Lösung geboten sein, nicht auf das Recht des Okkupanten abzustellen. Dafür ist eine Ausnahme über den eng auszulegenden105 ordre public-Vorbehalt gem. Art. 6 EGBGB106 der gangbare Weg. Der Vorbehalt kann gerade auch bei der Anwendung des Rechts des Okkupanten greifen.107
Im Interesse des Betroffenen sollten hieran aber strenge Maßstäbe gesetzt werden, eine abstrakte Völkerrechtswidrigkeit der Okkupation oder Annexion reicht für den ordre public-Vorbehalt nicht aus.108 Es geht nicht um die Völkerrechtswidrigkeit der Normen, sondern um ihren materiellen Inhalt, der gegen wesentliche Grundsätze verstößt. Teilweise kann aber ein Zusammenhang zwischen dem Grund der Nichtanerkennung und der Beschaffenheit der unvereinbaren Gesetze bestehen,109 wenn sie beispielsweise eine übermäßige Durchsetzungshärte erlauben. Zudem ist der ordre public-Vorbehalt passend, wenn der Okkupant die Bevölkerung des Gebiets diskriminiert oder entrechtet.110
II. Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit
Staatsangehörigkeitsrechtlich erfolgt bei einer völkerrechtswidrigen Annexion niemals ein automatischer Wechsel der Staatsangehörigkeit.111 Die Zwangseinbürgerung durch annektierende Staaten wird als völkerrechtswidrig und daher nicht wirksam erachtet.112
Fraglich ist, ob die vom Okkupanten verliehene Staatsangehörigkeit im IPR dennoch beachtlich sein kann. Die Beantwortung dieser Frage hängt eng mit der oben gewonnen Erkenntnis zusammen, dass für die Zwecke des IPR grundsätzlich auf das faktisch geltende Recht abzustellen ist.113
Einige sehen eine Anerkennung des Staates und der Rechtsordnung als Voraussetzung für die Anwendung des Staatsangehörigkeitsrechts an.114 Völkerrechtswidriges Staatsangehörigkeitsrecht sollte nicht angewandt und beachtet werden.115 Ausländisches Staatsangehörigkeitsrecht müsse dementsprechend außer Betracht bleiben, wenn als Folge einer Annexion den Bewohnern des Gebiets die Staatsangehörigkeit der Besatzungsmacht verliehen wird.116 Eine unter Verletzung des Völkerrechts verliehene Staatsangehörigkeit sei nicht wirksam als kollisionsrechtlicher Anknüpfungsmoment.117
Allerdings bedeutet die Anerkennung der Staatsangehörigkeit als kollisionsrechtlicher Anknüpfungsmoment nicht die Anerkennung der Gebietsänderung aus völkerrechtlicher Sicht.118 Die privatrechtliche Bewertung hat keinen Einfluss auf den öffentlich-rechtlichen Status.119
Gegen die Unwirksamkeit der völkerrechtswidrig verliehenen Staatsangehörigkeit als Anknüpfungsmoment spricht der Zweck der Anknüpfung im IPR.120 Der Anknüpfungsmoment steht in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Anwendung des im Gebiet eines Staates geltenden Rechts. Die Grundlage der kollisionsrechtlichen Anknüpfung ist nicht die Souveränität des Staates, sondern dessen Gebietskontrolle und Rechtsetzungsfähigkeit.121 Wenn man die Anwendung des effektiv geltenden Rechts bejaht, kann man die Wirksamkeit der vom Besatzer verliehenen Staatsangehörigkeit als Anknüpfungsmoment nicht pauschal verneinen. Sonst liefe die Verweisung auf das effektiv geltende Recht leer, was zu schwerwiegenden Nachteilen für
102 Stoll, 4 BerGesVR (1961), S. 131, 135.
103 Wengler, in: RGRK-BGB (Fn. 26), § 12 c) (S. 288 f.); Engel (Fn. 26), S. 87, 95.
104 Engel (Fn. 26), S. 87, 95.
105 Thorn, in: Palandt (Fn. 70), Art. 6 EGBGB Rn. 4.
106 Vgl. Art. 21 Rom I-VO und Art. 26 Rom II-VO, die eine Nichtanwendung einer Vorschrift billigen, „wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung („ordre public“) des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist“.
107 Raape/Sturm, Internationales Privatrecht, Band I6, 1977, § 3 II 3; Sonnenberger, 29 BerGesVR (1988), S. 9, 24.
108 v. Hein, in: v. Hein (Redakteur), Münchener Kommentar zum BGB, Band 106, 2015, Art. 5 EGBGB Rn. 17.
109 Raape/Sturm (Fn. 107), § 3 II 3.
110 Langer, Seizure of Territory, 1947, S. 108; Mankowski, IPRax 2017, S. 347, 350.
111 Sonnenberger, in: Sonnenberger (Redakteur), Münchener Kommentar zum BGB, Band 105, 2010, IPR Einl Rn. 709; Ferid, Der Neubürger im Internationalen Privatrecht, 1. Teil, 1949, S. 100; Grewe, SJZ 1946, Sp. 152, 154; Sonnenberger, 29 BerGesVR (1988), S. 9, 24.
112 Bausback, in: v. Staudinger, Julius (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Einleitung zum IPR, Art. 3-6 EGBGB, Neubearbeitung 2013, Anhang I zu Art. 5 EGBGB Rn. 43; Mann, 48 British Year Book of International Law (BrYBIL) (1978), S. 1, 40 ff.; Stoll, 4 BerGesVR (1961), S. 131, 147.
113 Sonnenberger, in: MüKoBGB (Fn. 111), IPR Einl Rn. 708; Sonnenberger, 29 BerGesVR (1988), S. 9, 22; Stoll, 4 BerGesVR (1961), S. 131, 148.
114 Bausback, in: Staudinger (Fn. 112), Anhang I zu Art. 5 EGBGB Rn. 41; Makarov, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrecht2, 1962, S. 177 ff.; entspricht auch der grundsätzlichen Praxis der englischen Gerichte, vgl. In re Al-Fin Corporation`s Patent [1970] 1 Ch. 160 (CD); Talmon (Fn. 12), S. 491-495.
115 Kegel, in: Soergel, Hans Theodor (Begr.), Kohlhammer-Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, Band 1012, 1996, Art. 5 EGBGB Rn. 4; Kegel/Schurig (Fn. 88), § 3 II 4; Raape/Sturm (Fn. 107), § 7 III 3.
116 Kegel, in: Soergel (Fn. 115), Art. 5 EGBGB Rn. 4; Langer (Fn. 110), S. 107; Sturm, in: FS Jahr, 1993, S. 497, 501.
117 Wengler, in: RGRK-BGB (Fn. 26), § 10 g) 1 (S. 250).
118 Talmon (Fn. 12), S. 494; im Hinblick auf de facto-Regime krit.: v. Mangoldt, 29 BerGesVR (1988), S. 37, 79 f.
119 Sonnenberger, 29 BerGesVR (1988), S. 9, 14.
120 Siehe E.I.3.b)dd)(2), S. 20.
121 Talmon (Fn. 12), S. 494.
den Einzelnen führen könnte.122 Der Sinn der Anknüpfung ist, auf die Rechtsordnung zu verweisen, mit der die Person eng verbunden ist. Daher muss auch bei der Auslegung des Anknüpfungsmoments Faktizität vorherrschen.123
Wenn der Heimatstaat fortbesteht, wird er die von dem Besatzerstaat verliehene Staatsangehörigkeit in der Regel nicht als Grund für den Verlust seiner Staatsangehörigkeit ansehen. Daher liegt dann ein Fall von Doppelstaatsangehörigkeit vor.124
Gem. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EGBGB ist bei ausländischer Doppelstaatsangehörigkeit auf die effektive Staatsangehörigkeit abzustellen. Die kann grundsätzlich auch die des annektierenden Staates sein.125 Neben dem gewöhnlichen Aufenthaltsort der Person können weitere Umstände wie der erklärte Wille des Betroffenen relevant sein.126
Anderes gilt, wenn sich die ursprünglichen Bewohner nicht mehr in dem besetzten Gebiet aufhalten und nicht dem dort geltenden Recht unterworfen sind.127 Dann ist nicht auf Staatsangehörigkeit abzustellen, die die Besatzungsmacht unter Umständen auch außerhalb des Gebiets geflohenen Bürgern verliehen hat, sondern auf die Staatsangehörigkeit des Staates, von dem das Gebiet abgetrennt wurde.128
III. Geltung internationaler Übereinkommen
Im Hinblick auf die Anwendung internationaler Übereinkommen kann auf die Ausführungen zu der Anwendbarkeit des Privatrechts verwiesen werden.129 Es wäre unlogisch, würde man aufgrund der faktischen Geltung auf das Recht des Okkupanten abstellen, aber Übereinkommen, die für den Besatzerstaat gelten, nicht anwenden. Daher ist für die Bestimmung der Anwendbarkeit internationaler Übereinkommen darauf abzustellen, ob der Staat, der die faktische Herrschaftsgewalt in dem besetzten Staat ausübt, Partei des Übereinkommens ist oder nicht.
IV. Anwendung auf die Annexion der Krim
Die Krim wurde völkerrechtswidrig von Russland annektiert, die ukrainische Regierung ist der legitime Gesetzgeber. Allerdings gilt auf der Krim derzeit faktisch russisches Recht, die Ukraine kann ihre Hoheitsrechte über die Krim nicht mehr effektiv ausüben.130 Es handelt sich somit um ein Gebiet, in dem das legitime Recht sich nicht durchsetzen kann und faktisch das völkerrechtswidrige Recht des Okkupanten – also russisches Recht – gilt.
E. Schlussfolgerung: Autonome Begriffsbestimmung im Kollisionsrecht
Die Zuordnung okkupierter oder annektierter Gebiete im IPR lässt den Schluss zu, dass völkerrechtlich relevante Begriffe im Rahmen des Kollisionsrechts grundsätzlich unabhängig von der völkerrechtlichen Definition autonom bestimmt werden. Dabei sind die Wertungen des IPR zu beachten.131
I. Staat
Das IPR nutzt im Vergleich zum klassischen völkerrechtlichen Begriff132 einen eigenen, funktionellen133 Staatsbegriff.134 Es kann im Rahmen des Kollisionsrechts genügen, dass es sich bei dem infragestehenden Gebiet um eines mit einer einheitlichen Rechtsordnung handelt.135 Dafür spricht auch die Regelung über das interlokale Privatrecht in Art. 22 Abs. 1 Rom I-VO.136
Die Völkerrechtskonformität bzw. die völkerrechtliche Anerkennung eines Vorgangs, der eine faktische Änderung von Staatsgrenzen zur Folge hat, ist für das IPR nicht bedeutsam.137 Die Anerkennung dient anderen Zwecken und sagt nichts darüber aus, ob in einem Staat eine tatsächliche wirksame Rechtsordnung existiert.138
II. Recht
Im Rahmen des IPR gilt als Recht alles auf dem Gebiet faktisch geltende, also dem Normadressaten gegenüber wirksam durchgesetzte Recht.139 Es geht darum, dass die beteiligten Personen sich im maßgeblichen Zeitpunkt tatsächlich nach dem Recht richten mussten bzw. gerichtet haben, da es ansonsten zu einem Auseinanderfallen von dem durch das IPR angewandten und dem tatsächlich geltenden Recht kommen kann.140 Außenpolitische Erwägungen sagen nichts darüber aus, ob eine tatsächlich wirksame, faktisch geltende Rechtsordnung in einem Gebiet besteht.141
122 Sonnenberger, in: MüKoBGB (Fn. 111), IPR Einl Rn. 708; v. Hein, in: MüKoBGB (Fn. 108), Art. 5 EGBGB Rn. 17; Talmon (Fn. 12), S. 494.
123 Sonnenberger, in: MüKoBGB (Fn. 111), IPR Einl Rn. 710; Stoll, 4 BerGesVR (1961), S. 131, 148; Talmon (Fn. 12), S. 495.
124 Sonnenberger, 29 BerGesVR (1988), S. 9, 24.
125 Sonnenberger, in: MüKoBGB (Fn. 111), IPR Einl Rn. 710; Sonnenberger, 29 BerGesVR (1988), S. 9, 25.
126 Thorn, in: Palandt (Fn. 70), Art. 5 EGBGB Rn. 2, Bausback, in: Staudinger (Fn. 112), Art. 5 EGBGB Rn. 15.
127 Vgl. Busse, in: Shapira/Tabory (Hrsg.), New Political Entities in Public and Private International Law, 1999, S. 115, 122; Talmon (Fn. 12), S. 495.
128 Sonnenberger, in: MüKoBGB (Fn. 111), IPR Einl Rn. 711; Wengler, in: RGRK-BGB (Fn. 26), § 10 g) 1 (S. 251); Stoll, 4 BerGesVR (1961), S. 131, 148.
129 Implizit Mankowski, IPRax 2017, S. 347 ff.
130 Vgl. Brunner, ZRP 2014, S. 250, 251; Luchterhand, AVR 2014, S. 137, 140 f.; Mankowski, IPRax 2017, S. 347, 351.
131 Vgl. Sonnenberger, 29 BerGesVR (1988), S. 9, 17.
132 Ausführlich dazu: Talmon (Fn. 12), S. 222-233; Willershausen (Fn. 8), S. 49-68.
133 Talmon (Fn. 12), S. 477.
134 Busse (Fn. 127), S. 115, 117 f.; Mankowski, IPrax 2017, S. 347, 349.
135 Thorn, in: Palandt (Fn. 70), Einl vor Art. 3 EGBGB Rn. 1; Kropholler (Fn. 88), § 8 II 1; Neuhaus, 21 GYBIL (1978), S. 60, 66; Stoll, 4 BerGesVR (1961), S. 131, 146.
136 Vgl. Talmon (Fn. 12), S. 476.
137 Sturm/Sturm, in: Staudinger (Fn. 99), Einl zum IPR Rn. 532; Busse (Fn. 127), S. 115, 119.
138 Kropholler (Fn. 88), § 8 II 1.
139 Kropholler (Fn. 88), § 8 II 2; Neuhaus, 21 GYBIL (1978), S. 60, 67.
140 Busse, IPRax 1998, S. 155, 156.
141 Mankowski, IPRax 2017, S. 347, 349. AA: Lauterpacht, Recognition in International Law, 1948, S. 154.
III. Staatsangehörigkeit
Auch im Rahmen des Kollisionsrechts wird nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften geprüft, ob eine Person eine Staatsangehörigkeit erworben oder verloren hat.142 Die Funktion der Staatsangehörigkeit im IPR kann aber nicht mit Argumenten beeinflusst werden, die den durch die Staatsangehörigkeit vermittelten öffentlich-rechtlichen Status betreffen.143 Die Staatsangehörigkeit als kollisionsrechtlicher Anknüpfungsmoment muss nicht immer mit dem völkerrechtlichen Begriff zusammenfallen.144
Neben dem allgemeinen Begriff der Staatsangehörigkeit, der den Status der Zugehörigkeit einer Person zu einem Staat meint, gibt es funktionelle, eigenständige Staatsangehörigkeitsbegriffe für bestimmte Gesetze,145 so eben auch im IPR. Einer Person können daher verschiedene Staatsangehörigkeiten für verschiedene Zwecke zugeordnet werden.146
F. Zusammenfassung
Im Ergebnis ist die Zuordnung okkupierter oder annektierter Gebiete im Internationalen Privatrecht unabhängig davon, wie Deutschland sich außenpolitisch gegenüber Russland aufgrund der Annexion der Krim positioniert.
Aufgrund der Zielsetzung des IPR, Gerechtigkeit in privaten Rechtsverhältnissen zu schaffen, wird für die Zwecke dieser Rechtsgebiete grundsätzlich im Hinblick auf okkupierte oder annektierte Gebiete auf das faktisch geltende Recht abgestellt. Das Gleiche gilt für die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit und die Anwendbarkeit internationaler Übereinkommen.
Nach dem deutschen Verfassungsverständnis ist eine abweichende Position von Exekutive und Judikative möglich. Es entspricht der Zwecksetzung und Wertneutralität des IPR, auf die tatsächliche Gebietshoheit abzustellen, dafür sprechen zudem menschenrechtliche Erwägungen.
Völkerrechtliche Dispute und Außenpolitik sollten nicht auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen werden. Das Völkerrecht und das Internationale Privatrecht sind in der vorliegenden Konstellation unabhängig voneinander. Auch bei völkerrechtlich geprägten Begriffen findet eine autonome Begriffsbestimmung im Kollisionsrecht statt.
Es ist möglich und aufgrund der unterschiedlichen Zwecksetzung der Rechtsgebiete nicht inkonsistent, Okkupationen oder Annexionen völkerrechtlich zu missbilligen und dennoch im Interesse der Privatpersonen das Recht des Okkupanten anzuwenden.
142 v. Hein, in: MüKoBGB (Fn. 108), Art. 5 EGBGB Rn. 13; Wengler, in: RGRK-BGB (Fn. 26), § 10 g) 1 (S. 250).
143 Sonnenberger, 29 BerGesVR (1988), S. 9, 14; AA: Pitschas in: Jayme/Mansel (Hrsg.), Nation und Staat im Internationalen Privatrecht, 1990, S. 93, 98.
144 Kropholler (Fn. 88), § 8 II 3; Neuhaus (Fn. 71), § 27 III 3.
145 Makarov (Fn. 114), S. 12 f.
146 Grossmann, 50 IntCompLQ (2001), S. 849, 854.