Auslauf- oder Zukunftsmodell?
Biljana Vrhovac*
A. Effizienzanforderungen im Spannungsverhältnis zur Amtsermittlung
Die deutschen Verwaltungsgerichte urteilen über immer komplexere Verwaltungsvorgänge. Komplexe Fallstrukturen entstehen durch eine Vielzahl von Beteiligten und erfordern ein stetig größeres Maß an Kenntnissen außerjuristischer Wissenschaften.1 Während die verwaltungsrechtliche Dogmatik von neuartigen europäischen Rechtsinstituten, wie der Verbandsklage,2 vor herausfordernde Aufgaben gestellt wird, führen internationale Verpflichtungen zu Beschleunigungsanforderungen,3 denen die Verwaltungsgerichtsbarkeit gerecht werden muss. Gleichzeitig nehmen die innerdeutschen Effizienzerwartungen aufgrund von wiederkehrenden Qualitätsdiskussionen zu.
Auf Rechtsseite, das heißt bei der Auslegung und Anwendung des geltenden Rechts, werden diese Herausforderungen mithilfe der Reduzierung der Kontrolldichte angegangen, indem der Behörde verstärkt Letztentscheidungsrechte eingeräumt werden.4 Auf Tatsachenseite steht in diesem Spannungsverhältnis der in § 86 I VwGO normierte Amtsermittlungsrundsatz. Ob in dem Amtsermittlungsgrundsatz der Schlüssel zur Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu finden ist, ist Gegenstand dieser Untersuchung. Die Leitfrage ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass § 86 VwGO mit der ursprünglichen Fassung von 1960 fast identisch ist.5 Die Frage, ob der Amtsermittlungsgrundsatz Entlastungspotenziale birgt, steht mit der Frage nach seiner Zukunftsfähigkeit in direkter Verbindung und ist damit ebenfalls Gegenstand der Untersuchung.
B. Status Quo auf dem Prüfstand
Der Amtsermittlungsgrundsatz betrifft in erster Linie die Tatsachenseite.6 Tatsachen sind in Abgrenzung zu Rechtsfragen, sinnlich wahrnehmbare oder feststellbare Zustände oder Umstände.7 Zu erforschen sind nur entscheidungserhebliche Tatsachen. Entscheidungserheblich sind solche Tatsachen, die unmittelbar oder mittelbar Auswirkung auf die Entscheidung haben.8
I. Inhalt und Reichweite der Aufklärungspflicht
Der zugrundegelegte Tatsachenstoff ist Ausgangspunkt für die richterliche Überzeugung nach § 108 I 2 VwGO.9 Dem Tatsachengericht wird deswegen eine umfassende Aufklärungspflicht bis zur „Grenze des Zumutbaren“10 abverlangt. Ziel ist es, im Wege der Amtsermittlung die Sache spruchreif zu machen.11 Hierfür ist jedoch keine anlasslose Fehlersuche notwendig. Der Amtsermittlungsgrundsatz begründet somit keine Nachforschungspflicht, ob ein verborgener Umstand auf die Rechtmäßigkeit des zu beurteilenden Verwaltungshandelns Einfluss haben könnte.12 Im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung kann die Überprüfungsintensität daher gesteuert werden.13
II. Grenzen der Aufklärungspflicht
Zu Recht sei darauf hingewiesen, dass sich die Amtsermittlung auch zulasten des Bürgers auswirken kann, denn sie ist keineswegs auf für den Bürger günstige Tatsachen beschränkt.14 Noch weniger folgt aus Art. 19 IV GG eine Pflicht zu richterlichen Rechtsfürsorge im Wege der Amtsermittlung.15 Die Amtsermittlung kennt mithin Grenzen.
1. Mitwirkung der Beteiligten
Nach dem Wortlaut des § 86 I 1 2. HS VwGO sind die Beteiligten bei der Sachverhaltserforschung heranzuziehen. Ob dies auf ein Recht der Beteiligten, eine Obliegenheit oder gar eine Pflicht schließen lässt, ist ebenso wie die Reichweite der Mitwirkungslast,16 nicht geklärt. Gegen eine Rechtspflicht spricht, dass die Mitwirkung nicht zwangsweise durchsetzbar ist.17 Die Mitwirkung ist vielmehr Ausfluss des richterlichen Gehörs und somit vornehmlich als Recht der Beteiligten zu sehen.18 Auch wenn bei fehlender Mitwirkung nur mittelbar-faktische Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, so ist anzuerkennen, dass die Beteiligten primäre Wissensträger19 im Prozess sind. Die Amtsermittlung wird deshalb von der Intensität der Mitwirkung gelenkt.20 Gemäß § 86 II VwGO können die Beteiligten Beweisanträge stellen. Das Gericht ist an diese zwar nicht gebunden, kann die Beweisanträge aber nur begründet ablehnen (§ 86 I 2 VwGO). Diese Möglichkeit
* Die Autorin ist Studentin der Rheinische Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn.
1 Schmidt-Aßmann, Aufgaben und Perspektiven verwaltungsrechtlicher Forschung, S. 289.
2 Hierzu Seibert, NVwZ 2013, S. 1040ff.
3 Gemeint ist die Rechtsprechung des EGMR zur überlangen Verfahrensdauer. Siehe hierzu: EGMR NJW 2006, S. 2389, 2390. Inzwischen wurde die Verzögerungsrüge (§ 173 S. 2 VwGO i.V.m §§ 198ff. GVG) eingeführt, um die Rechtsprechung des EGMR umzusetzen.
4 Meßerschmidt, EurUP 2014, S. 11, 12.
5 Rixen, in: NK-VwGO, § 86 Rn. 1.
6 Strömer, in: HK-VerwR, § 86 VwGO Rn. 3.
7 Geiger, in: Eyermann, § 86 Rn. 7.
8 Störmer, JuS 1994, S. 238, 239.
9 Rothkegel, NVwZ 1990, S. 717, 718.
10 BVerwGE 71, 38, 41.
11 Siehe etwa BVerwGE 69, 198, 201.
12 BVerwGE 66, 237, 238.
13 Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 46.
14 Rixen, in: NK-VwGO, § 86 Rn. 9.
15 Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz und Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 445.
16 Zur Reichweite Köhler-Rott, Der Untersuchungsgrundsatz im Verwaltungsprozeß und die Mitwirkungslast der Beteiligten, S. 27ff.
17 Wimmer, in: Gärditz, § 86 Rn. 42.
18 Schenke sieht die Mitwirkung vor allem als Recht zur Durchsetzung und Verteidigung individueller Rechte, aber auch als Pflicht, Schenke, in: Kopp/Schenke, § 86 Rn. 11.
19 Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz und Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 382.
20 Seibert, NWVBl 2015, S. 272, 272.
legt es nahe, die Mitwirkung als Obliegenheit zu qualifizieren. Auch der Wortlaut spricht gegen die Annahme einer Pflicht der Beteiligten. Die Beteiligten sind danach nicht Adressaten der Norm.21 Vielmehr wird dem Gericht die Aufgabe, die Beteiligten heranzuziehen, auferlegt. Die Rechtsprechung, die zur Mitwirkung der Beteiligten entwickelt wurde, geht aber weit über dieses an dem Wortlaut ausgerichtete Verständnis hinaus.22 Die Obliegenheit kann sich aber zur Mitwirkungspflicht verdichten, wenn es sich um Umstände handelt, die (ausschließlich) in der Sphäre der Beteiligten liegen.23
2. Exekutiver Beurteilungsspielraum
Letztentscheidungsbefugnisse sind auf Rechtsanwendungsseite angesiedelt und wegen Art. 19 IV GG regelmäßig gerichtlich voll überprüfbar.24 Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung kann jedoch nur soweit reichen, wie die materielle Rechtsbindung besteht.25 Dasselbe gilt für die Tatsachenkontrolle.26 Die materielle Kontrolldichte betreffend, haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen27 herausgebildet, die aufgrund ihrer Eigenart von der Überprüfbarkeit ausgenommen sind.28 Auf Sachverhaltsebene hat die Verwaltung ebenfalls keine Freiheit in Bezug auf die Ermittlung entscheidungserheblicher Tatsachen.29 Nur ausnahmsweise muss der Verwaltung auch auf Tatsachenseite durch die Einräumung von Letztentscheidungsbefugnissen ein gerichtlich nicht überprüfbarer Einschätzungsspielraum zukommen. Dies ist aber nur dort geboten, wo fachwissenschaftliche Einschätzungen den Sachverhalt determinieren und normkonkretisierende Maßstäbe oder entgegenstehende gesicherte Erkenntnisse fehlen,30 die „gerichtliche Kontrolle also an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung stößt.“31 Es wird bei Beurteilungsermächtigungen schon länger eine begrenzte Sachprüfung in Form der Vertretbarkeitskontrolle gefordert.32 Die Rechtsprechung darf mit der Zuerkennung von tatsächlichen Einschätzungsprärogativen jedoch nicht großzügig umgehen, um sich Sachverhaltsermittlungen zu ersparen.33 Die Funktionsgrenzen können nicht an den Entscheidungskapazitäten des Gerichts definiert werden, sondern müssen im Diskurs funktionsgerechter Aufgabenverteilung aller drei Gewalten ausbalanciert werden.34 Im Übrigen muss gerichtlich nachgeprüft werden, ob die Behörde einen vertretbaren Sachverhalt ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat und ob die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse noch aktuell sind.35
3. Ermessen des Gerichts
Art und Umfang der Beweiserhebung stehen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.36 Dies gilt insbesondere dann, wenn keine Beweisanträge gestellt wurden. Die Ermessensgrenzen werden überschritten, wenn Ermittlungen nicht angestellt werden, die sich nach Lage des Falls aufdrängen mussten.37 Aufklärungsmaßnahmen müssen sich in diesem Zusammenhang bereits dann aufdrängen, wenn die ernstliche Möglichkeit eines andersgearteten rechtserheblichen Geschehensablaufs besteht.38 Darin ist eine Reduzierung des richterlichen Aufklärungsermessens zu sehen.39 Setzt die Beweiswürdigung besondere Sachkunde voraus, kann das Gericht ohne Hinzuziehung von Sachverständigen nur entscheiden, wenn es belegt hat, dass es selbst über die besondere Sachkunde verfügt.40
III. Parallelentwicklung zur behördlichen Amtsermittlung als Gefahr
Die behördliche Amtsermittlung (§ 24 VwVfG) ist von Art und Umfang mit der verwaltungsgerichtlichen vergleichbar.41 Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verlangt, dass die von der Behörde zugrundegelegten Tatsachen vorliegen und nicht nur in vertretbarer Weise von ihr angenommen werden.42 Der Unterschied liegt in der Perspektive. Während im Rahmen des behördlichen Verfahrens die Sachverhaltsermittlung dem Abschluss des Verwaltungsverfahrens dient, hat das Verwaltungsgericht diesen Sachverhalt als abgeschlossenen zu überprüfen.43 Die Amtsermittlung steht gemäß § 24 I 2 VwVfG ausdrücklich im Ermessen der Behörde, welches ihre Position als Herrin des Verwaltungsverfahrens bestätigt.44 Bei § 86 I VwGO ist das Ermessen nicht ausdrücklich normiert. Es ist vielmehr Ergebnis richterrechtlicher Auslegung und daher restriktiv anzuwenden. Der Vorschlag, die Erforschung des Sachverhalts ins pflichtgemäße Ermessen des Verwaltungsgerichts zu stellen,45 ist demgemäß die Empfehlung die Tendenzen der Rechtsprechung zu kodifizieren. Unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation ist dieser Vorstoß begrüßenswert, könnte aber, weil der Bürger sowohl im verwaltungs- wie auch im gerichtlichen Verfahren letztlich dem Ermessen des Staates ausgesetzt ist, zu Rechtsschutzlücken führen. Das Ermessen ist zwar pflichtgemäß auszuüben, lässt aber trotzdem Freiräume entstehen, die sich auch zulasten des Rechtsschutzsuchenden
21 Kriterium nach Spilker, Behördliche Amtsermittlung, S. 17.
22 Arntz, DVBl 2008, S. 78, 79.
23 BVerwGE 129, 251, 256.
24 Rixen, in: NK-VwGO, § 86 Rn. 42.
25 BVerfGE 88, 41, 56, 61; BVerfGE 103, 142, 156f.
26 Gärditz, AöR 139, S. 329, 359.
27 Gemeint sind beispielsweise Entscheidungen eines besonders besetzen Gremiums, Prüfungsleistungen, insbesondere mündlicher oder praktischer Art, Eignungs- und Leistungsbeurteilungen in öffentlich- rechtlichen Dienstverhältnissen und Bewertungen mit planerischem Einschlag. Exemplarisch BVerwG DVBl 1986, S. 565; VGH Mannheim DVBl 1984, S. 276; BVerwGE 80, 113, 120.
28 Wimmer, in: Gärditz, § 86 Rn. 33.
29 Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 46.
30 Seibert, NWVBl 2015, S. 272, 273.
31 BVerfGE 84, 34, 50; 129, 1, 23.
32 Redeker, NJW 1994, S. 1707, 1707.
33 Die Befürchtung äußert berechtigterweise Meßerschmidt, EurUP 2014, S. 11, 17.
34 Ossenbühl, FS Redeker 1993, S. 55, 65.
35 Wimmer, in: Gärditz, § 86 Rn. 9.
36 Für das „Wie“, d.h. welche konkreten Maßnahmen das Gericht zur Sachverhaltsaufklärung ergreift: BVerwG NVwZ-RR 1992, S. 227; BVerwG NVwZ 1988, S. 1019, 1020; vgl. auch Kutscheidt, NWVBl 1995, S. 121, 123.
37 BVerwG DÖV 2008, S. 336, 336.
38 Sinngemäß BVerwG NVwZ 2000, S. 81, 82f.
39 Arntz, DVBl 2008, S. 78, 79.
40 BVerwG NVwZ 1987, S. 47.
41 Kopp/Ramsauer, § 24 Rn. 6; Heßhaus, in: Bader/Ronellenfitsch, § 24 Rn. 1.
42 Im Kontext der Sachverhaltsüberprüfung von Ermessen und Beurteilungsspielräumen Papier, HStR VIII, § 177 Rn. 69.
43 Heßhaus, in: Bader/Ronellenfitsch, § 24 Rn. 1
44 Die Behörde ist handelnde Partei, wenn auch im öffentlichen Interesse, so Ritgen, in: Knack/Henneke, § 24 Rn. 10.
45 Gärditz, DJT-Gutachten, S. 103 (These 13).
wenden könnten. Dabei genießt der Richter im Rahmen der Sachverhaltserforschung gegenwärtig viele Freiheiten.46 Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich parallel zum Verwaltungsverfahren die problematische Frage stellen wird, ob das Verwaltungsgericht seine Anstrengungen unter Berufung auf Verhältnismäßigkeitserwägungen begrenzen darf.47 Die Sachverhaltsermittlung ins pflichtgemäße Ermessen des Verwaltungsgerichts zu stellen, kann also Einfallstor für Folgeüberlegungen sein, die den Rechtsschutz verengen. Bisweilen ist unbestritten, dass der Untersuchungsgrundsatz des § 86 VwGO eine Bindung des Gerichts an die Feststellungen der Behörde ausschließt.48 Dieses begründet jedoch die Gefahr, dass die Gerichte nicht nur die Erfüllung der Ermittlungspflicht durch die Verwaltung überprüfen, sondern diese anstelle der Verwaltung wahrnehmen.49 Eine unzureichende behördliche Sachverhaltsermittlung kann deswegen zulasten der Behörde gehen.50
C. Verfassungsrechtliche Verankerung und Geltungsgrund
Die verfassungsrechtliche Verankerung des Untersuchungsgrundsatzes kann entweder aus dem Rechtsstaatsprinzip Art. 20 III GG51 oder aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG hergeleitet werden. Das Rechtstaatlichkeitsprinzip des Art. 20 III GG muss in zwei Richtungen gedacht werden. Zum einen erfordert Art. 20 III GG die Bindung an das materielle Recht. Zum anderen muss die materielle Rechtsbindung durch Verfahrensregelungen, welche die kontrollierende Instanz mit Sanktionsmöglichkeiten ausstatten, sichergestellt werden.52 Dieses Verständnis ist Folge der verfassungsrechtlich gebotenen Gewaltenteilung (Art. 20 II 2 GG).53 Die Zugrundelegung unvollständiger oder unrichtiger Tatsachen kann dazu führen, dass der Tatbestand nicht vorliegt und mithin die gewählte Rechtsfolge nicht einschlägig ist.54 Dann ist die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung berührt. Am Ende der Sachverhaltserforschung steht ein Ermittlungsergebnis, auf dessen Grundlage eine staatliche Entscheidung ergeht. Der Staat als Zurechnungssubjekt kann für die Entscheidungsgründe nur Verantwortung übernehmen, wenn er auf das Ermittlungsverfahren hinreichend Einfluss nehmen konnte.55 Würde die Ermittlungsaufgabe der Willkür der Parteien ausgesetzt, wären willkürliche Urteile letztlich die Folge.56 Dies würde die Rechtsstaatlichkeit in ihren verschiedenen Facetten tangieren. Art. 19 IV GG garantiert im Rahmen des effektiven Rechtsschutzes auch die Überprüfung des zugrundegelegten Tatsachenstoffs.57
I. Funktion der Amtsermittlung
Gemeinhin wird angenommen, dass an verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen ein gesteigertes öffentliches Interesse besteht.58 Gerade weil regelmäßig ein Beteiligter im Verwaltungsprozess mit Hoheitsgewalt ausgestattet sei, müsse das Gericht dessen Handlung kontrollieren.59 Das Verwaltungsgericht entscheidet dabei nicht über disponible Privatrechtspositionen, sondern über öffentliche Angelegenheiten, welche dementsprechend entschieden werde müssen.60 Diese Gemeinwohlaufgabe schlägt sich dann konsequenterweise auch auf Sachverhaltsermittlungsebene nieder.61 Aus dem öffentlichen Interesse an der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ergibt sich ein Wahrheitsinteresse im Sinne eines Richtigkeitsanspruchs an den zugrundeliegenden Sachverhalt, welches die Amtsermittlung legitimiert.62
Der Tatsachenstoff sollte mit der Realität korrespondieren, ist jedoch letztlich nur eine juristische Rekonstruktion der Realität.63 Häufig ist nämlich schon ein trennscharfes Auseinanderhalten von Tatsache und Bewertung unmöglich.64
Der Amtsermittlungsgrundsatz soll zwischen den Beteiligten des Verwaltungsprozesses Waffengleichheit herstellen und findet seine Funktion und seinen Rechtfertigungsgrund eben darin.65 Dabei meint Waffengleichheit verfahrensrechtliche Chancengleichheit.66 In diesem Zusammenhang spielt der Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 I GG eine entscheidende Rolle.67 Die Gleichheit der Rechtsanwendung kann nur garantiert werden, wenn der Umfang der Sachverhaltsermittlung einen gleichmäßigen Gesetzesvollzug zulässt. Zwar kann aus tatsächlichen Gründen nicht jeder Sachverhalt in gleicher Intensität aufgeklärt werden, die rechtlichen Voraussetzungen
46 Vgl. Arntz, DVBl 2008, S. 78, 81.
47 Zum behördlichen Verfahren Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, S. 45; Zur Problematik im behördlichen Verfahren auch Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, S. 268f.
48 BVerfGE 84, 34, 49; Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz und Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 445.
49 Stelkens, NVwZ 1982, S. 81, 83.
50 VG Meinigen ThürVBl 2001, S. 68, 68. In diesem Zusammenhang ist § 113 III VwGO zu beachten.
51 So Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, § 86 Rn. 16; Geiger, in: Eyermann, § 86 Rn. 5.
52 So wohl Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 49f., 53.
53 Gärditz, in: Berliner Kommentar zum GG, Art. 20 III GG Rn. 7.
54 Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, § 86 Rn. 16.
55 Im Kontext des Verwaltungsrechts wird eine Wandlung von einer Alleinverantwortung zu einer Gewährleistungs- oder Letztverantwortung gesehen, Di Fabio, VVDStRL 56, S. 235, 251.
56 So Spilker, Behördliche Amtsermittlung, 2015, S. 13. Materiell-rechtlich zwingt Auslegungsmethodik zur Reflexion und ist Mittel, um Willkür auszuschließen, Rennert, JZ 2015, S. 529, 534.
57 BVerfGE 129, 1, 20; Für zivilrechtliche Streitigkeiten BVerfGE 54, 277, 291.
58 So schon Anschütz, in: Handbuch der Politik, S. 317, 324.
59 Rixen, in: NK-VwGO, § 86 Rn. 7.
60 Doch wird kritisiert, dass die Fixierung der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung auf den Rechtsschutz des Einzelnen zulasten des Gemeinwohls geht, Franßen, DVBl 1998, S. 413, 421.
61 Rixen, in: NK-VwGO, § 86 Rn. 7.
62 Ule, DVBl 1954, S. 137, 139; so auch Nolte, Die Eigenart des veraltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, S. 159.
63 Nolte, in: Augsberg, S. 241; zur prozessualen Wahrheit eingehend Gärditz, AöR 139, S. 329, 336f.
64 Hierzu findet sich ein anschaulicher Kommentar der Entscheidung BVerwG NVwZ 2012, S. 432ff. Darin wird die Bewertung, wie viel Fluglärm zumutbar ist, mit der Tatsachenfrage nach der Gesundheitsschädlichkeit des nächtlichen Fluglärms vermischt, Nolte, in: Augsberg, S. 243.
65 Lüke, JuS 1961, S. 41, 43.
66 Ausführlich Lichtenberg, Der Grundsatz der Waffengleichheit auf dem Gebiet des Verwaltungsprozessrechts, S. 4ff. Für das Zivilprozessrecht definiert das BVerfG die Waffengleichheit als die verfassungsrechtlich gewährleistete Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter und leitet diese aus dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip und dem allgemeinen Gleichheitssatz ab, BVerfGE 52, 136, 156.
67 Teilweise wird vertreten, dass der allgemeine Gleichheitssatz überdehnt wird, Sachs, HStR VIII, § 183 Rn. 111.
müssen aber das erforderliche Beweismaß normieren.68 Waffengleichheit und die Gewährung rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 103 I GG gehen einher.69 Der Amtsermittlungsgrundsatz ist im System des Individualrechtsschutzes aber keinesfalls zwingend. Als Kehrseite individueller Freiheit würde sich der Beibringungsgrundsatz als Fortsetzung privater Dispositionsfreiheit besser in das System des Individualrechtsschutzes einfügen.70
II. Modifikationen als Rechtsschutzproblem
Die Einführung des Beibringungsgrundsatzes wird für das verwaltungsgerichtliche Verfahren teilweise als von Art. 19 IV GG gedeckt angesehen.71 Zur Begründung wird angeführt, dass der Amtsermittlungsgrundsatz kein direkter Ausfluss des Art. 19 IV GG sei, sondern seinen Geltungsgrund aus rechtspolitischen Überlegungen speist.72 Diese Ansicht stößt auf Bedenken, wenn man die Rechtsfigur der Waffengleichheit mit dem Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG verknüpft. Der Amtsermittlungsgrundsatz kann aus Art. 19 IV GG hergeleitet werden, eine Garantie der Amtsermittlung lässt sich Art. 19 IV GG gleichsam nicht entnehmen.73 Ein Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit folgt jedenfalls aus Art. 19 IV GG. Die Erlangung verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes dauert wohl länger als die Erlangung zivilrechtlichen Rechtsschutzes, was aber daran liegt, dass der verwaltungsgerichtliche Rechtschutz im Nachgang stattfindet, die Entstehung vollendeter Tatsachen also wahrscheinlicher ist als beim zivilrechtlichen Rechtsschutz, welcher einen laufenden Sachverhalt zum Gegenstand hat.74 Die kürzere Verfahrensdauer resultiert danach aus den Strukturen des Zivilprozesses.
1. Amtshaftungsprozess
Berechtigterweise wird die Frage gestellt, weshalb der Beibringungsgrundsatz im Amtshaftungsprozess dem Justizgewährleistungsanspruch gerecht wird, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren dies aber nicht der Fall sein soll.75 Die Frage wird drängender, wenn man sich vor Augen führt, dass im Amtshaftungsprozess die Rechtmäßigkeit behördlicher Maßnahmen Verfahrensgegenstand ist und dennoch unter Anwendung des Beibringungsgrundsatzes vor den Zivilgerichten entschieden wird.76 Der Terminus Justizgewährleistungsanspruch, in seiner zweifachen Ausprägung, impliziert die Antwort. Es gibt nicht „den einen“ ultimativen Justizgewährleistungsanspruch, an dem sich alle Verfahrensarten messen lassen. Der Justizgewährleistungsanspruch, abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten hat im Gegensatz zu Art. 19 IV GG die Funktion Rechtsschutz bei zivilrechtlichen Streitigkeiten zu gewähren.77 Zwar ist der Amtshaftungsprozess keine zivilrechtliche Streitigkeit, doch ist er Konsequenz verfassungsrechtlicher Zuweisung78 und verfolgt gegenüber herkömmlichen verwaltungsgerichtlichen Verfahren ein anderes Anspruchsziel. Die Geltung des Beibringungsgrundsatzes im Amtshaftungsprozess stellt den Kläger in der Praxis vor Beweisschwierigkeiten und ist deshalb nachteilig.79 Dies ist nur so lange hinzunehmen, wie die grundrechtlichen Positionen nicht leerlaufen. Inzwischen hat das BVerfG klargestellt, dass die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast nicht als praktisch unüberwindbares Hindernis der gerichtlichen Durchsetzung von Grundrechtspositionen entgegenstehen darf. Derzeit bietet das zivilrechtliche Prozessrecht ein Konzept, welches abgestufte Darlegungs- und Beweislasten zulässt, sodass der Grundrechtsverstoß davon abhängt, ob das Gericht im Einzelfall die Darlegungs- und Beweislast grundrechtskonform ausgelegt und angewandt hat.80
2. Unionsrechtliche Anforderungen
Die Europäisierung wird neben der Konstitutionalisierung als Fundamentalprozess begriffen.81 Während die Konstitutionalisierung zentraler Konfliktpunkt mit Blick auf die Ausgestaltung der Sachverhaltsermittlung ist, entfaltet die Europäisierung im Rahmen des loyalen Vollzugs über die Grundsätze des Diskriminierungsverbots82 und des effet utile nur reflexartig Wirkung. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass das Unionsrecht keine Vorgaben zum Beweisrecht konstatiert.83 Dem EuGH folgend kann ein nationales Gericht aber nur über Unionsrechte entscheiden, wenn es alle relevanten Tatsachen prüfen kann.84 Das Erfordernis der Befugnis zur Prüfung bedeutet jedoch nicht, dass der Amtsermittlungsgrundsatz unionsrechtlich geboten wäre,85 zumal die Grundrechtecharta der Europäischen Union nach ihrem Art. 51 I 1 nur bei der Durchführung des Unionsrechts gilt.86 Aus dem Rechtscharakter des Art. 47 GRCh als zentrale Rechtsschutzgarantie des Primärrechts ließen sich jedoch über ihre Direktionskraft Erkenntnisse für das nationale Prozessrecht gewinnen.87 Der nationale Beibringungsgrundsatz würde dem justiziellen Unionsgrundrecht aus Art. 47 GRCh aber ebenso genügen.88 Vor dem EuG und dem EuGH wird indes ein Kombinationsmodell aus Amtsermittlung und Beibringung
68 Übertragung des Argumentationsmusters aus Spilker, Behördliche Amtsermittlung, S. 55ff.
69 BVerfGE 52, 131, 156; Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 103 I Rn. 3.
70 Rennert, DVBl 2015, S. 793, 794.
71 Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 IV Rn. 123; anders Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, § 86 Rn. 15.
72 Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 IV Rn. 123.
73 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 19 IV GG Rn. 115.
74 Papier, HStR VIII, § 176 Rn. 22.
75 Implizit Wimmer, in: Gärditz, § 86 Rn. 16; kritisch Gärditz, Die Verwaltung 2010, S. 309, 316.
76 Muthers, in: NK-BGB, § 839 Rn. 302.
77 Hierzu Maurer, FS Bethge, 2009, S. 535, 536.
78 Die Zuweisungen (Art. 34 III, Art 14 III 4 GG) werden als begrenzte Tolerierung des Beibringungsgrundsatzes interpretiert, Schenke, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 19 IV GG Rn. 141.
79 Muthers, in: NK-BGB, § 839 Rn. 302.
80 BVerfG-K, Beschluss vom 13.08.2013, Rn. 61f.
81 Mangold/Wahl, Die Verwaltung 2015, S. 1, 4.
82 Hierzu EuGH Rs. C-542/08, Barth/Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Urteil vom 15.4.2010 Rn. 17, 19.
83 Gärditz, JuS 2009, S. 385, 391.
84 EuGH Rs. C-199/11, Europese Gemeenschap/Ortis NV, Urteil vom 6.11.2012 Rn. 49.
85 EuGH Rs. C-386/10 P, Chalkor/Kommission, Urteil vom 8.12.2011 Rn. 66.
86 Im Fall EuGH Rs. C-617/10, Åklagare/Åkerberg Fransson, Urteil vom 26.2.2013 Rn. 19. 25, 26, 27 wird der Anwendungsbereich erstaunlich weit ausgelegt.
87 Schmidt-Aßmann, Kohärenz und Konsistenz des Verwaltungsrechtsschutzes, S. 56.
88 Gärditz, AöR 139, S. 329, 355.
praktiziert.89 Der größte Unterschied besteht darin, dass die Kontrolle auf eine Nachprüfung derjenigen Umstände beschränkt ist, die vom Kläger moniert wurden. Dies bewirkt auch für die rechtliche Prüfung eine Konzentrationswirkung.90 Dennoch ist eine Sachverhaltsermittlung von Amts wegen, auch ohne entsprechende Rüge der Parteien möglich, wenn das Gericht bei Vorliegen konkreter Umstände dies für erforderlich hält. Insoweit steht die Sachverhaltsermittlung von Amts wegen im pflichtgemäßen Verfahrensermessen der supranationalen Gerichtsbarkeit.91
D. Zwischenbilanz
Es ist zu berücksichtigen, dass durch die Veränderung der Fallstrukturen einer Vielzahl divergierender privater Interessen92 bei der gerichtlichen Entscheidung Rechnung zu tragen ist. Das Muster des zweipoligen Prozesses und dessen Grundsatz in dubio pro civi93 kann daher nicht mehr bemüht werden, um Waffengleichheit herzustellen. Drittbeteiligungsfälle fordern eine stärkere gesetzgeberische Normierung der Mitwirkungslasten, um in quantitativer und qualitativer Hinsicht das höchstmögliche Maß an Rechtsschutz für alle Beteiligten zu gewährleisten.94
Die Gegensätzlichkeit von Amtsermittlungs- und Beibringungsgrundsatz ist in der Theorie jedoch brisanter als in der Praxis.95 In der Praxis wird ein unstreitiger Sachverhalt im Interesse der effizienten Erledigung des Rechtsstreits nur selten im Wege der Amtsermittlung überprüft.96 Faktisch steht die Sachverhaltsaufklärung unter dem Vorbehalt der Wirtschaftlichkeit.97 Eine Funktionsverschiebung des Amtsermittlungsgrundsatzes von einer Vollkontrolle hin zur Plausibilitätsprüfung zeichnet sich in der verwaltungsgerichtlichen Realität ab.98 Im Verwaltungsverfahren wird teilweise so übermäßig von dem Grundprinzip des § 24 VwVfG abgewichen, dass die Amtsermittlung in ihr Gegenteil verkehrt wird, die Pflicht zu Sachverhaltsermittlung letztlich also den Antragsteller trifft.99 Für das verwaltungsgerichtliche Verfahren wird ebenfalls besorgt, dass der Amtsermittlungsgrundsatz so lange herabinterpretiert und banalisiert werden könnte, „bis in Wahrheit nur ein fehlbezeichneter Beibringungsgrundsatz übrig bleibt“.100 Dass sich der Untersuchungsgrundsatz, der sich im europäischen Vergleich als eine deutsche Besonderheit darstellt,101 in der Defensive befindet, ist der Systemverschiebung durch das europäische Sekundärrecht geschuldet.102 Je dichter der normative Referenzrahmen (des Unionsrechts) geflochten wird, umso intensiver fällt die verwaltungsgerichtliche Kontrolle aus.103 Die Steigerung der materiellen Kontrollintensität ist mit der Diskussion um eine Herabsetzung der Tatsachenkontrolle kongruent. Dabei tritt der Amtsermittlungsgrundsatz gar nicht in Erscheinung, wenn das Verfahren den Typiken eines gewöhnlichen Prozesses folgt. Als Grundsatz findet die Amtsermittlung nur Anwendung, wenn das Prozessrecht keine Regelungen bereithält, es also eine Lücke zu schließen gilt. Die Methode der Sachverhaltsermittlung unterscheidet sich nur bei Vorliegen dieser pathologischen Situation erkennbar vom Zivilprozess.104 Die Möglichkeit gerade in dieser Prozesssituation inquisitorisch zu ermitteln ist aber für die Urteilsfindung entscheidend und spricht für ein festhalten an einem unveränderten Amtsermittlungsgrundsatz.
E. Informationsasymmetrie als strukturelle Gegebenheit
Der Bürger wird im Verhältnis zur Verwaltung als in doppelter Hinsicht unterlegen angesehen. Zum einen verfügt der Bürger über weniger Rechtskunde als die Verwaltung, zum anderen hat er weniger Kenntnis von den Tatsachen, die sich die Verwaltung unter Rückgriff auf staatliche Ressourcen verschafft hat.105 Das vorprozessuale Unterordnungsverhältnis findet Eingang in den Prozess.106 Dass sich die Beteiligten im Prozess als rechtlich gleichgeordnete Parteien begegnen,107 vermag hieran nichts zu ändern, denn das Unterordnungsverhältnis wird perpetuiert.
I. Informationsgenerierung und richterliche Distanz
Informationen werden durch Amtsermittlung generiert und begründen Entscheidungen. Der moderne Staat muss sich demgemäß bei Ausübung von Herrschaftsgewalt zunehmend auf Wissen berufen. Durch das Rechtsstaatsprinzip ist der Staat auf rationales Handeln ausgelegt und zugleich festgelegt.108 Dabei sind Sachverständigengutachten, gleich ob sie in antizipierter Form oder unmittelbar verfahrensbezogen einfließen, nur hilfreich, wenn sie der richterlichen Sachkenntnis dienen.109 Sachkenntnis zerfällt wiederum in unterschiedliche wissenschaftliche Erklärungsansätze, die nicht frei sind von persönlicher Wertung und von persönlichen Interessen gesteuert sein können.110 Das gerichtliche Erkenntnisverfahren ist also von Sachverständigengutachten beeinflusst.111 Allerdings darf die gerichtliche
89 Ähnlich schon König, Die Tatsachenermittlung im Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere S. 50f., 73f.
90 Von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, S. 182f.
91 Gärditz, DJT-Gutachten, S. 73f.
92 Siehe hierzu Knöpfle, DVBl 1974, S. 707 ff.
93 Hierzu Schmidt-Aßmann, Aufgaben und Perspektiven verwaltungsrechtlicher Forschung, S. 289.
94 Dies kann unter dem Gesichtspunkt von Art. 19 IV GG gar eine gesetzgeberische Pflicht darstellen. So Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 IV GG Rn. 220.
95 Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 IV GG Rn. 122; So auch Kothe/Redeker, in: Redeker/von Oertzen, § 86 Rn. 1; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, S. 537.
96 Wimmer, in: Gärditz, § 86 Rn. 7.
97 Hufen, Verwaltungsprozessrecht, S. 537.
98 Andeutungsweise Gärditz, DJT-Gutachten, S. 76.
99 Im Zusammenhang von risikobehafteten Verwaltungsentscheidungen Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 457; Für die Umweltverträglichkeitsprüfung; ähnlich Meßerschmidt, EurUP 2014, S. 11, 21.
100 Addicks, NWVBl 2005, S. 293, 295; Erwiderung Bertrams, NWVBl 2005, S. 404.
101 Everling, NVwZ 1987, S. 1, 6.
102 Für das Umweltverwaltungsverfahren Von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, S. 271.
103 Ausdrücklich Gärditz, DJT-Gutachten, S. 11.
104 Berg, FS Menger, 1985, S. 537, 539f.
105 Lüke, JuS 1961, S. 41, 43.
106 Lichtenberg, Der Grundsatz der Waffengleichheit auf dem Gebiet des Verwaltungsprozessrechts, S. 57.
107 Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz und Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 445.
108 Voßkuhle, HStR III, § 43 Rn. 1.
109 Kutscheidt, NWVBl 1995, S. 121, 125f.
110 Voßkuhle, HStR III, § 43 Rn. 19.
111 Nußberger, AöR 129, S. 282, 283.
Entscheidung nicht schon mit der Wahl des Sachverständigen fallen.112 Dies würde dazu führen, dass Sachverständige letztlich mitentscheiden.113 Je mehr Informationen nämlich über die richterliche Ermittlungstätigkeit in den Prozess eingeführt werden, desto geringer ist die Selektivität des Verfahrens gegenüber äußeren Einflüssen.114 Ob das Gericht im Prozess in seine Rolle als neutraler Entscheider hineinfindet, hängt davon ab, wie die Behörde in ihrer Stellung als Prozessbeteiligte agiert. In der Vergangenheit wurde die mangelnde Beteiligung der Behörde beklagt, welche die Gefahr implizierte, dass das Gericht Verwaltungsaufgaben im Interesse der Allgemeinheit wahrnehmen musste.115 Die Verschiebung der Sachverhaltsaufklärung auf die Gerichte geht dann in einem Kompetenzproblem auf.116
II. Waffengleichheit durch Informationsrechte
Staatliche Entscheidungen beziehen ihre Legitimation auch aus der Akzeptanz ihrer Adressaten.117 Durch eine gesteigerte Mitwirkungslast wären die Beteiligten stärker in das Verfahren eingebunden. Dies könnte die Akzeptanz erhöhen. Damit ist aber nicht zu rechnen, wenn die Gestaltungsmöglichkeiten als schlichtweg unfair empfunden werden. Um diesem Empfinden vorzubeugen, welches insbesondere aus der Informationsasymmetrie folgen dürfte, muss der Bürger im Verhältnis zur Behörde gesetzlich besser gerüstet sein. Das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes (IFG) ist am 1.1.2006 in Kraft getreten und enthält in § 1 I einen Anspruch des Bürgers gegenüber Bundesbehörden auf Zugang zu amtlichen Informationen. Hierdurch wird die Informationsasymmetrie in begrenzten Fallkonstellationen bereits leicht gemindert.118 § 29 I 1 VwVfG gewährt nur einen Anspruch auf Akteneinsicht. Dieser ist gegenüber spezialgesetzlichen Einsichtsrechten subsidiär119 und endet in zeitlicher Hinsicht, wenn das Verwaltungsverfahren abgeschlossen ist.120 Als Ausdruck der Ausrichtung auf den Individualrechtsschutz sind nur die Beteiligten einsichtsberechtigt, soweit dies zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Es verwundert daher nicht, dass die bisherigen Entwicklungen im Bereich der speziellen Informationszugangsrechte zu weiten Teilen Ergebnis europäischer Impulse sind121 und von ihrem Gewährleistungsbereich weiter reichen als die Akteneinsicht nach § 29 VwVfG. Dies bezeugt die Gegensätzlichkeit vom europäischen und deutschen Rechtsschutzkonzept. Durch Individualbefugnisse soll der Bürger im Unionsrecht mobilisiert werden, die Verwaltung zu kontrollieren.122 Der Paradigmenwechsel, der etwa durch den Erlass von Informationszugangsgesetzen herbeigeführt wurde, wurde in der juristischen Literatur der Bundesrepublik Deutschland hingegen kritisch begleitet.123 Der Datenschutz konnte gegenüber den Informationsfreiheitsrechten konsequenterweise eine dominante Rolle einnehmen. Die Informationsfreiheitsrechte haben in Deutschland zwar eine Entwicklung genommen, die aber noch keinen angemessenen Schlusspunkt gefunden hat.124 Hier sind Entwicklungspotentiale, deren Motor wohl das Unionsrechts sein wird.125 Zu gegebener Zeit müsste dann die Waffengleichheit als tragende argumentative Säule der Amtsermittlung ernsthaft diskutiert werden. Informationsfreiheitsrechte nützen nicht nur Anwälten und Journalisten,126 sondern können den Rechercheaufwand für den prozessführenden Bürger verringern, wenn sie entsprechend ausgestaltet sind.
F. Fazit
Tatsächlich erleichtert der Amtsermittlungsgrundsatz die Erlangung von Rechtsschutz, denn der Bürger kann, anders als im Zivilprozess, auch ohne anwaltliche Vertretung das Prozesskostenrisiko minimieren und so effektiv um Rechtsschutz nachsuchen.127 Zwar könnten Elemente des Beibringungsgrundsatzes dazu führen, dass das Tatsachengericht seine Kapazitäten konzentriert und so das praktische Kontrollniveau gar gesteigert werden könnte.128 Andererseits würde ein Beibringungsgrundsatz derzeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren jedoch bestehende Ungleichheiten manifestieren und den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz unzulässig verringern.129 Dies gilt umso mehr da der Tatsachenstoff unmittelbar Auswirkungen auf die materielle Kontrolldichte haben kann130 und sich die Asymmetrie der Sachverhaltsfestlegung so auch auf Rechtsebene fortsetzen würde. Folgt man der Annahme, dass Ermittlungsexzesse in der Praxis eher die Ausnahme darstellen,131 muss man konsequenterweise davon ausgehen, dass die Entlastungspotenziale auf Ermittlungsebene gering sind. In Relation zu der Einbuße an Rechtsschutz, die der Einzelne zu verzeichnen hätte, wenn der Gehalt des Amtsermittlungsgrundsatzes reduziert würde, sind mögliche
112 Kutscheidt, NWVBl 1995, S. 121, 125f.
113 Zutreffend Seibert, NWVBl 2015, S. 372, 374.
114 Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz und Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 233; Zustimmend Nolte, Die Eigenart des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, S. 159.
115 Stelkens, NVwZ 1982, S. 81, 83.
116 Kutscheidt, NWVBl 1995, S. 121, 123.
117 Schenke, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 19 IV GG Rn. 29.
118 Die Informationszugangsrechte gegen Landesbehörden sind aber sehr unterschiedlich ausgeprägt. Bayern, Hessen, Niedersachsen und Sachsen haben bislang kein Informationsfreiheitsgesetz erlassen. Hierzu Caspar, DÖV 2013, S. 371 f.
119 Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 29 Rn. 2.
120 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, S. 135.
121 Gemeint ist insbesondere das Umweltinformationsgesetz (UIG), welches erstmalig zur Umsetzung der Richtlinie 90/313/EWG 1994 erlassen wurde und anschließend zur Umsetzung der Richtlinie 2003/4/EG im Jahre 2004 grundlegend novelliert wurde. Zusammenfassend hierzu Rehbinder, in: Hansmann/Sellner, Kap. 3 Rn. 186f. Zum anderen ist das Informationsweiterverwendungsgesetz gemeint, welches der Umsetzung der Richtlinie 2003/98/EG dient. Das IFG ist hingegen nicht auf Unionsrecht zurückzuführen.
122 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, S. 176. Die Gegensätzlichkeit weicht sich indes auf. Der EuGH formiert sich als Rechtsschutzinstanz, welche die Wahrung der individuellen Rechte ebenso wie die objektive Kontrolle verwirklicht sehen will, Everling, FS Starck, 2007, S. 535, 548f.
123 Reinhart, DÖV 2007, S. 18, 19, 24.
124 Adler, DÖV 2016, S. 630.
125 Allgemein dazu, dass das Unionsrecht Reformimpulse setzt Sommermann, DÖV 2002, S. 133, 134, 136; In Bezug auf Informationsfreiheit in der Tendenz ähnlich Adler, DÖV 2016, S. 630, 632.
126 So aber Bräutigam, DÖV 2006, S. 376, 381; Reinhart, DÖV 2007, S. 18, 24.
127 Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 IV GG Rn. 122; Amtsermittlung als Korrelat zum fehlenden Anwaltszwang, Ule, DVBl 1954, S. 137, 140
128 Gärditz, DJT-Gutachten, S.73.
129 Gärditz, DJT-Gutachten, S.75.
130 Sachverhaltsaufklärung und rechtliche Wertung werden in Wechselwirkung gesehen, Kutscheidt, NWVBl 1995, S. 121, 123.
131 Addicks, NWVBl 2005, S. 293, 295; Es wird davon gesprochen, dass gelegentlich zu viel erforscht wird, wobei dies nicht zur Fehlerhaftigkeit der Entscheidung führt. Arntz, DVBl 2008, S. 78, 81.
Entlastungspotenziale nicht geeignet, diese Einbuße zu rechtfertigen. Zu groß ist Gefahr, dass dies eine Ökonomisierung der Rechtsprechung132 bedeuten könnte. Eine sachgerechte Handhabung des Amtsermittlungsgrundsatzes vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung und der Prozessökonomie diskutieren zu wollen,133 geht in Bezug auf Letzteres an der Realität vorbei. Der Amtsermittlungsgrundsatz wird bereits prozessökonomisch gehandhabt.
Der Amtsermittlungsgrundsatz ist Ausdruck eines traditionellen Rechtsschutzverständnisses, welches noch nicht überholt ist. Dass sich dies vor dem Hintergrund der Akademisierung und Digitalisierung der Gesellschaft ändern wird, die der herrschenden Informationsasymmetrie entgegenwirkt, ist wahrscheinlich. Die hinreichende sachliche und personelle Ausstattung der Verwaltungsgerichtsbarkeit134 ist das Gebot der Stunde, um den eingangs beschriebenen Herausforderungen gerecht zu werden. Die Funktionsverschiebungen des Verwaltungsprozesses sollten dazu führen, dass das Verhältnis zwischen behördlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahren jenseits der Überprüfung von Letztentscheidungsrechten neu austariert wird. Möglicherweise liegen gerade in einem novellierten Verständnis des behördlichen Amtsermittlungsgrundsatzes die Entlastungspotenziale, die gegenwärtig aus einem bereits überdehnten verwaltungsgerichtlichen Amtsermittlungsgrundsatz heraus gewrungen werden.
132 Bertrams, NWVBl 1999, S. 245, 246.
133 So aber Arntz, DVBl 2008, S. 78, 81.
134 Diese kann sich gar zum Verfassungsgebot verdichten, BVerfGE 36, 264, 275; Papier, HStR VIII, § 176 Rn. 22.