Europäisierung nationaler Vertragsrechte

von Wolfram Dickersbach*

A. Einleitung

„€žDie Rechtsverschiedenheit hat die friedliche Sicherheit des Bürgers tausendfältig gestört und nur den Juristen die Taschen gefüllt“€œ. Zu diesem Ergebnis kam Anton Thibaut im Jahr 1814.1 Ąhnliche ܜberlegungen scheinen heutzutage die gesetzgebenden Organe der Europäischen Union anzustellen. Vielfach stellen die einzelnen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nicht nur das Ergebnis nationaler Gesetzgebungsakte dar, sondern werden von europaweit geltenden legislatorischen Maßnahmen des Unionsgesetzgebers beeinflusst. Diese Entwicklung wird überwiegend mit dem Begriff der „€žEuropäisierung“€œ umschrieben.2

B. Die Eingriffsentwicklung im Rahmen der Harmonisierung

I. Primärrecht

Die vier europäischen Grundfreiheiten erfordern es, entgegenstehende nationale Regelungen europarechtskonform auszulegen oder zu beseitigen. Es erfolgt eine unsystematische „€žNegativintegration“€œ durch innerstaatliche Gerichtsbarkeit oder den EuGH.3 Der EuGH hat bisher keine Norm des deutschen Vertragsrechts für unvereinbar mit den Grundfreiheiten erklärt. Das Primärrecht übt daher keinen direkten Einfluss auf das BGB aus.

II. Sekundärrecht

Die deutlichsten Eingriffe in das deutsche Vertragsrecht gehen vom europäischen Sekundärrecht aus. Dieses entfaltet wegen seines legislativen Ursprungs eine positive Harmonisierungswirkung. Verordnungen spielen aufgrund mangelnder Umsetzungsspielräume der Mitgliedsstaaten (vgl. Art. 288 II AEUV) und daraus resultierender Systembrüche eine untergeordnete Rolle.4 Weiterhin eignen sich systemsensiblere Richtlinien eher, um die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus Art. 5 I 2 EUV zu erfüllen.5

1. Die Anfänge der Harmonisierung „€“ das Mindeststandardprinzip

Die ersten für das Vertragsrecht relevanten Richtlinien sollten das Verbraucherschutzniveau in den Mitgliedstaaten durch Mindeststandards auf einen gemeinsamen Nenner bringen.6

a) Allgemeines Schuldrecht

Die Harmonisierung durch Richtlinien begann im allgemeinen Schuldrecht mit der Entwicklung eines Verbrauchervertriebsrechts in Form der Haustürwiderrufs-7 und der Fernabsatzrichtlinie.8 Die Eingriffswirkung dieser Richtlinien besteht in der Aufweichung des Prinzips pacta sunt servanda.9 Die Loslösung vom Vertrag kann, auch wenn kein Rücktrittsgrund vorliegt, einseitig durch Erklärung des Verbrauchers erfolgen.10

b) Besonderes Vertragsrecht

Das ursprüngliche Verhältnis von besonderem Vertragsrecht und Mindeststandardprinzip veranschaulichen die ersten Versionen der Verbraucherkredit-11 und Pauschalreiserichtlinie.12 Während beide Richtlinien lediglich ein Mindestschutzniveau festlegen, trifft die Pauschalreiserichtlinie vergleichsweise detaillierte und flächendeckende Regelungen. Die Timesharingrichtlinie13 beschränkt sich auf Informationspflichten des Unternehmers und das Widerrufsrecht des Verbrauchers als Mindeststandard.14 Dem Erwerber von Teilnutzungsrechten ist ein umfangreicher Prospekt an Informationen zur Verfügung zu stellen (§ 482 BGB i.V.m. Art. 242EGBGB), um die „€žmateriale“€œ Privatautonomie des Verbrauchers zu gewährleisten.15 Der Informationsvorsprung des Unternehmers soll gegenüber dem diesbezüglich regelmäßig unterlegenen Verbraucher bei Vertragsschluss verringert und damit die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers gestärkt werden.16 Der Ansatz, Willens- oder Wissensdefizite einer Vertragspartei auszugleichen, ist dem deutschen Recht nicht generell fremd, wie etwa die §§ 119, 123 oder 138 BGB zeigen. Dennoch steht die Prämisse, dass sich die Vertragsparteien strukturell nicht ebenbürtig sind, in einem gewissen Gegensatz zum originären


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 Thibaut, ܜber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts, Nachdruck der Ausgabe Heidelberg 1814, 1997, S. 23.

2 Vgl. etwa Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts, S. 59; Hübner, in: FS Großfeld, 1999, S. 471, 477.

3 Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 11.

4 Mittwoch, Vollharmonisierung und Europäisches Privatrecht: Methode, Implikationen und Durchführung, 2013, S. 14.

5 Heiderhoff, Europäisches Privatrecht“³, 2012, Rn. 11.

6 Heiderhoff (Fn. 5), Rn. 20.

7 Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Fall von außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Verträgen, ABl. EG 1985 L 372/31.

8 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. EG 1997 L 144/19.

9 Bülow/Artz, NJW 2000, 2049.

10 Taupitz/Wille, JA 2005, 385 f.

11 Richtlinie 87/102/EWG des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. EG 1987 L 42/48.

12 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, ABl. EG 1990 L 158/59.

13 Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilnutzungsrechten an Immobilien, ABl. EG 1994 L 280/83.

14 Eckert, in: FS Söllner, 2000, S. 239, 245; Vogel, Verbrauchervertragsrecht und allgemeines Vertragsrecht, 2006, S. 101.

15 Canaris, AcP 200 (2000), 273 ff.; Gsell, in: Staudinger (Begr.), Neubearbeitung 2014, Eckpfeiler des Zivilrechts, L. Rn. 12.

16 Arnold, RIW 2009, 679, 681.

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Leitbild des BGB, das beide Seiten als geschäftskundig und eigenverantwortlich betrachtet.17 Von besonderem Einfluss auf das deutsche Vertragsrecht war die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie18 (1999), die den Anstoß für die Schuldrechtsreform gab. Im Vergleich zu den bisher erlassenen Richtlinien betrifft der Regelungsbereich weder besonders schutzbedürftige Verbraucher noch grenzübergreifende Geschäfte. Der europäische Gesetzgeber verfolgte mit dieser Richtlinie eine Harmonisierung im Kernbereich des Vertragsrechts.19 Die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie verkörpert das Prinzip halbseitig-zwingender Inhaltsvorschriften, von denen nur zugunsten des Verbrauchers abgewichen werden darf (vgl. § 475 I 1 BGB).20

2. Legislatorische Vollharmonisierung und „€žtargeted harmonisation“€œ

Die Kommission betrachtete das Prinzip der Mindestharmonisierung als mit einem funktionierenden Binnenmarkt unvereinbar. Die Mitgliedstaaten hätten im Rahmen der Richtlinienumsetzung zu viele verschiedene Schutzstandards geschaffen, die ein Hindernis für den grenzüberschreitenden Handel darstellten.21 Damit wird die vormalige Mindestharmonisierung mit dem Ziel, Verbraucherrechte zu stärken, zum Handelshemmnis umgedeutet.22 „€žVollharmonisierung“€œ bedeutet jedoch nicht, dass erlassene Richtlinien den Charakter von Verordnungen haben. Vielmehr enthaltendiese Richtlinien ֖ffnungsklauseln, die den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume gewähren. Abweichungen vom Richtlinieninhalt sind indes nur dort möglich, wo der Gemeinschaftsgesetzgeber sie explizit vorsieht.23 Die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen24 (2002) verwirklicht das Prinzip der Vollharmonisierung erstmals im Verbraucherrecht. Erwägungsgrund (13) bestimmt, dass „€ždie Mitgliedstaaten in den durch die Richtlinie harmonisierten Bereichen keine anderen als die darin festgelegten Bestimmungen vorsehen dürfen“€œ. ܖffnungsklauseln relativieren diese strikte Regelung indes.25 Mit der vollharmonisierenden Verbraucherrechterichtlinie26 sollten zur Förderung des Binnenmarktes vier mindestharmonisierende Richtlinien zu einem Harmonisierungsinstrument zusammengefasst werden.27 Aufgrund von Widerstand einiger Mitgliedstaaten wurde der Umfang der Richtlinie erheblich eingeschränkt. Von der Vollharmonisierung wurden letztlich nur die Haustürwiderrufs- und Fernabsatzrichtlinie erfasst. Die Neufassung der Verbraucherkreditrichtlinie28 (2008) ist für nationale Gesetzgeber mit geringem Spielraum durch ܖffnungsklauseln ausgestattet.29 Im Ergebnis wurde eine Aufteilung in vollharmonisierte Bereiche und in solche vorgenommen, in denen die nationalen Gesetzgeber eigene Regelungen treffen können (Erwägungsgrund (9)). Dieses Vorgehen wird als „€žtargeted harmonisation“€œ beschrieben.30

3. Die Rolle des EuGH auf dem Weg zur Vollharmonisierung

Parallel zur legislatorischen Wende zur Vollharmonisierung hat der EuGH erheblichen Einfluss auf den Harmonisierungsgrad in der Union genommen. In Urteilen zur Produkthaftungsrichtlinie31 hat der EuGH die Möglichkeit einer überschießenden Umsetzung verneint und somit das Konzept der Vollharmonisierung noch vor Bekanntmachung der Strategie durch den Gemeinschaftsgesetzgeber 2002 verwirklicht. Im Leitner-Urteil des EuGH32 wurde das Mindeststandardprinzip der Pauschalreiserichtlinie dadurch ausgehöhlt, dass der Richtlinie durch Auslegung ein höheres Schutzniveau zugesprochen wurde als es deren Wortlaut gebietet. Die Ausfüllung der Gestaltungsspielräume der nationalen Gesetzgeber durch den EuGH führt faktisch zur Vollharmonisierung.33

Im Fall Gysbrechts34 wurde eine überschießende Umsetzung als Verstoß gegen Grundfreiheiten betrachtet, was zu einer weiteren „€žErosion des Mindeststandardprinzips“€œ führt.35

III. Richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung nationalen Rechts

Nationale Normen europäischen Ursprungs müssen europarechtskonform ausgelegt werden (Art. 288 III AEUV i.V.m Art. 4 III 2 EUV). Das nationale Recht wird damit durch einen zusätzlichen Auslegungskanon ergänzt.36 Eine Auslegung entsprechend der Richtlinie wird nur dann möglich sein, wenn die Wortlautgrenze sie zulässt „€“ selbst wenn der Gesetzgeber eine richtlinienwidrige Vorschrift verabschieden wollte, verdrängt die europarechtskonforme Auslegung die Historie des Gesetzes.37 Daneben verpflichtet das Gebot richtlinienkonformer Auslegung das nationale Recht im Sinne der Richtlinie fortzubilden.38 Sofern die Umsetzung einer Richtlinie versehentlich unvollständig vorgenommen wurde, liegt eine planwidrige Regelungslücke vor, die mittels


17 Vgl. Taupitz/Wille, JA 2005, 385.

18 RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. EG 1999 L 171/12.

19 Tonner/Tamm, JZ 2009, 277, 278; Vogel (Fn. 14), S. 105.

20 Vogel (Fn. 14), S. 129.

21 KOM (2008) 614 endg., S. 2.

22 Reich, ZEuP 2010, 7, 16.

23 Lippstreu, Wege der Rechtsangleichung im Vertragsrecht, 2014, S. 157 f.

24 RL 2002/65 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher, ABl. EG 2002 L 271/15.

25 Gsell/Herresthal, in: dies (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht S. 2.

26 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011, ABl. EU 2011 L 304/64.

27 Artz (Fn. 25), S. 210; Grundmann, JZ 2013, 53, 54.

28 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates vom 23. April 2008, ABl. EU 2008 L 133, 66.

29 Gsell/Herresthal (Fn. 25), S. 3.

30 In Deutschland wird auch von „€žHalbharmonisation“€œ gesprochen, Reich, ZEuP 2010, 7.

31 Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. EG 1985 L 210/29.

32 EuGH, Rs. C-168/00 „€“ Leitner/TUI Deutschland, Slg. 2002, I-2631.

33 Reich, ZEuP 2010, 7, 12; ebenso Tonner/Lindner, NJW 2002, 1475, 1476.

34 EuGH, Rs. C-205/07 „€“ Lodewijk Gysbrechts u.a., EuZW 2009, 115.

35 Reich, ZEuP 2010, 7, 15.

36 Hirsch, in: Riesenhuber, Die Europäisierung des Privatrechts, 2006, S. 14.

37 Vgl. Heiderhoff (Fn. 5), Rn. 117; Faust, in: RV K. Schmidt, 2011, S. 299, 308.

38 Canaris, in: FS Bydlinski, 2002, S. 47, 81 f.; Gebauer (Fn. 2) , Kap. 4 Rn. 38.

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richtlinienkonformer Analogiebildung zu schließen ist.39 Im Fall einer bewusst fehlerhaften Umsetzung bleibt der mangelnde Umsetzungswille des deutschen Gesetzgebers gemäß Art. 23 I GG von deutschen Gerichte unberücksichtigt.40 Bei einer unbewusst abschließenden und fehlerhaften Umsetzung hat der BGH im Fall Quelle eine Rechtsfortbildungsmöglichkeit unter der Voraussetzung angenommen, dass der Gesetzgeber eine richtlinienkonforme Regelung bei Kenntnis der Europarechtswidrigkeit erlassen hätte.41

Schließlich wird bei einer unbewussten Umsetzung einer Richtlinie durch den deutschen Gesetzgeber eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung damit bejaht, dass dem Gesetzgeber ein genereller Wille zur Umsetzung von Richtlinien unterstellt werden kann.42

IV. Schlussfolgerungen aus der bisherigen Harmonisierung

Neben den phänotypischen Veränderungen des BGB, die aus der Terminologie, dem Umfang und Detailreichtum europarechtlich geprägter Normen resultieren, treten die europäischen Einflüsse vor allem auf inhaltlicher Ebene hervor. Die Einführung eines umfangreichen Verbraucherschutzkonzepts führt zu einer Spaltung des Anwendungsbereichs etlicher vertragsrechtlicher Normen des BGB in b2b– und b2c-Geschäfte. Vor diesem Hintergrund kann die Europäisierung des Vertragsrechts als Entstehung eines Dualismus von deutschem und europäischem Recht betrachtet werden.43 Zum anderen wirken die dargestellten Richtlinien in verschiedener Hinsicht auf den Grundsatz der Privatautonomie ein. Regelungen, die Informationspflichten von Unternehmern aufstellen, sollen die „€žmateriale“€œ Privatautonomie der Verbraucher durch Herstellung ihrer Entscheidungsfreiheit gewährleisten.44 Noch tiefgreifender wird die Privatautonomie in ihrer Ausprägung als Gestaltungsfreiheit durch halbseitig zwingende Richtlinienvorschriften wie im Verbrauchsgüterkauf beeinträchtigt.45 Ein „€žTropfen sozialistischen ܖls“€œ wurde insofern vom Unionsgesetzgeber hinzugegeben.46 Dessen vorrangiges Motiv ist die Binnenmarktförderung und nicht der Sozialstaatsgedanke.47 Der Verbraucherschutz ist lediglich Mittel zum Zweck.48 Die Rechtsangleichung erreicht mit der Vollharmonisierung eine neue Dimension, sodass von Rechtsvereinheitlichung gesprochen werden muss.49

C. Bewertung der bisherigen Harmonisierung

I. Kompetenzfragen und Auslegungshoheit

Zu Beginn der Bewertung der bisherigen Harmonisierung stellt sich die Frage, wie weit die Gesetzgebungskompetenz des Unionsgesetzgebers reicht und ob dieser zu Eingriffen in nationales Recht mittels Vollharmonisierung ermächtigt ist. Entscheidend ist die Reichweite des Art. 114 AEUV, der zu rechtsangleichenden Maßnahmen berechtigt und auf den der Unionsgesetzgeber Gesetzgebungsakte regelmäßig stützt.50 Für eine Kompetenz zur Rechtsvereinheitlichung spricht, dass Art. 114 AEUV auch den Erlass von Verordnungen ermöglicht. A maiore ad minus ist davon auszugehen, dass vollharmonisierende Richtlinien als weniger einschneidende Maßnahmen von der Kompetenz gedeckt sind.51 Art. 114 IV bis IX AEUV regeln die Voraussetzungen für die Beibehaltung abweichender mitgliedstaatlicher Regelungen. Aus dem Umkehrschluss ergibt sich, dass der Gemeinschaftsgeber vollharmonisierende Richtlinien erlassen darf. Eine vollharmonisierende Richtlinie trifft in ihrem Anwendungsbereich abschließende Regelungen52 und entfaltet Sperrwirkung, soweit der Unionsgesetzgeber von seiner konkurrierenden Zuständigkeit aus Art. 114 AEUV Gebrauch gemacht hat.53 Damit rückt die Frage nach dem Anwendungsbereich einer Richtlinie in den Fokus. Dieser entscheidet über die verbleibende Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten.54 Bei der Mindestharmonisierung stellt sich diese Kompetenzproblematik nicht, da Mitgliedstaaten bei Zweifeln hinsichtlich der Richtlinienreichweite durch eine überschießende Umsetzung „€žauf der sicheren Seite“€œ sind.55 Weiterhin hält der EuGH das Auslegungsmonopol bezüglich Normen mit europarechtlichem Hintergrund inne (Art. 267 IIIAEUV).56 Im Anwendungsbereich einer Richtlinie findet somit faktisch ein Kompetenztransfer zugunsten der Gemeinschaft statt, der sowohl die Rechtsetzung als auch deren Auslegung betrifft.57

II. Rechtsvereinheitlichung und Rechtszersplitterung

1. Gesamteuropäische Perspektive

Im Anwendungsbereich einer vollharmonisierenden Richtlinie ist mangels Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten unionsweit von einer Rechtsvereinheitlichung auszugehen. Um diese Rechtsvereinheitlichung zu verwirklichen, ist neben der legislatorischen Angleichung auch die einheitliche Rechtsanwendung erforderlich.58 Deren Gewährleistung ist unter den gegebenen Strukturen des Rechtsprechungssystems in der Union fraglich: Verordnungen oder auf Richtlinien basierende nationale Normen sind vom EuGH auszulegen (vgl. Art. 267 AEUV). Er gewährleistet dementsprechend die


39 Heiderhoff (Fn. 5), Rn. 120.

40 Heiderhoff (Fn. 5), Rn. 121; Roth (Fn. 36), § 14 Rn. 48.

41 BGH, NJW 2009, 427.

42 Faust (Fn. 37), S. 299, 313.

43 Schulze, in: Janssen, Auf dem Weg zu einem europäischen Privatrecht, 2012, S. 291.

44 Canaris (Fn. 15), S. 303.

45 Vgl. Lorenz, in: MüKoBGB6, § 475 Rn. 1 zur bis zum 13.06.2014 geltenden Fassung.

46 Canaris, (Fn. 15), S. 292.

47 Heiderhoff (Fn. 5), Rn. 185.

48 „€žDas Wohl der Verbraucher ist das Kernstück gut funktionierender Märkte“€œ, KOM (2007) 99 endg., S. 6.

49 Vgl. Remien, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Praxis2, 1. Teil § 14 E VII Rn. 42.

50 Auch eine Angleichung des Verbraucherrechts gemäß Art. 169 AEUV ist an Art. 114 AEUV zu messen, vgl. Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 52. Ergänzungs-lieferung, AEUV Art. 169 Rn. 33.

51 Mittwoch (Fn. 4), S. 117.

52 Limmer, DNotZ-Sonderheft 2012, 59, 61.

53 Mittwoch (Fn. 4), S. 23

54 Reich, ZEuP 2010, 7, 26.

55 Lippstreu (Fn. 23), S. 137.

56 St. Rspr., vgl. EuGH, Rs. C-506/04 „€“ Wilson/Rechtsanwaltskammer Luxemburg, Slg 2006, I-8613 Rn. 34; Schwarze, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar3, AEUV Art. 267 Rn. 15.

57 Reich, ZEuP 2010, 7, 17.

58 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 50), AEUV Art. 267 Rn. 2; Heiderhoff (Fn. 5), Rn. 131.

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einheitliche Auslegung von EU-Recht in den Mitgliedstaaten.59 Durch die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte bei Auslegungszweifeln entsteht in der Theorie ein Dialog zwischen den einzelstaatlichen Gerichten und dem EuGH und damit unionsweite Rechtsanwendungsgleichheit. Statistiken zeigen, dass die Bereitschaft der mitgliedstaatlichen Gerichte zur Durchführung von Vorabentscheidungsverfahren erheblich variiert.60 Insofern liegt der Schluss nahe, dass nicht jeder auslegungsbedürftige Sachverhalt dem EuGH vorgelegt wird. Auch der BGH hat in der Vergangenheit stellenweise seine Vorlagepflicht missachtet.61 Zudem ist die Zahl der Vorabentscheidungsverfahren in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Zahl der Mitgliedstaaten stieg, während eine Reform zur Entlastung des EuGH unterblieb.62 Daneben nimmt der Anteil nationalen Rechts mit europarechtlichem Hintergrund infolge der Harmonisierungsbestrebungen der Union zu. So ist festzustellen, dass nach Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie von deutschen Gerichten vermehrt Vorlagefragen an den EuGH gestellt wurden.63 Nicht zuletzt versah der EuGH wegen ܜberlastung die Vorlagepflicht von Auslegungsfragen (Art. 267 III AEUV) mit zahlreichen Ausnahmen. Diese besteht nicht, wenn „€ždie gestellte Frage bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist“€œ64 oder wenn bereits „€žeine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofes vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist“€œ.65 Außerdem hat der EuGH die aus französischem Recht stammende Doktrin des acte claire übernommen. Nach dieser entfällt die Vorlagepflicht, wo die „€žrichtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt“€œ.66 Deutsche Gerichte machen von diesen Ausnahmen sehr häufig Gebrauch.67 Schließlich hat der EuGH die Auslegungskompetenz für die Konkretisierung von Generalklauseln, wie Art. 3 I der Klauselrichtlinie, den nationalen Gerichten übertragen.68 Dies hatte desaströse Folgen für die Rechtsanwendungsgleichheit auf europäischer Ebene.69 Folglich kann das Ziel der Rechtsvereinheitlichung nur mit Reformen im Rechtsprechungssystem erreicht werden.

2. Mitgliedstaatliche Perspektive

Grenzüberschreitend führen vollharmonisierende Richtlinien zu Rechtsvereinheitlichung „€“ in den Mitgliedstaaten zur Dekodifikation bestehender Regelungswerke.70 In Deutschland wirkt sich dieses Phänomen bei der Regulierung einzelner Vertragstypen aus, während das allgemeine Vertragsrecht unberücksichtigt blieb.71 Nationale Gesetzesänderungen sind oftmals auf Normierung der bisherigen Rechtsprechung gerichtet. Dagegen entsteht europäische Gesetzgebung ohne Bezug zurRechtsprechung der Mitgliedstaaten.72 Maßnahmen der Union müssen daher in einem nächsten Schritt von nationalen Gerichten und dem EuGH konkretisiert werden. Was grenzüberschreitend Rechtssicherheit verstärken soll, geht bis zu dieser Konkretisierung Hand in Hand mit Rechtsunsicherheit innerhalb der Mitgliedstaaten.

III. Verminderte Transaktionskosten durch Harmonisierung?

Die Abkehr vom Mindeststandardprinzip wird damit begründet, dass verschiedene Verbraucherschutzniveaus zu Rechtsunsicherheit der Parteien außerhalb ihres Heimatstaates führen.73 Statistiken der Kommission untermauern diese These: Knapp die Hälfte aller europäischen Einzelhandelsunternehmen ist darauf ausgerichtet, Geschäfte im Ausland zu betreiben. Dagegen betreiben nur 19 % der Unternehmen aktiv grenzüberschreitenden Handel. Auf Verbraucherseite machen nur 6 % von der Möglichkeit Gebrauch, im Ausland Waren oder Dienstleistungen zu bestellen.74 Bei der Analyse der abschreckenden Wirkung unbekannter Rechtsordnungen auf Verbraucher und Unternehmer müssen indes faktische Hürden wie räumliche Entfernung oder Sprachbarrieren berücksichtigt werden.75 Verhaltensökonomische Erhebungen weisen darauf hin, dass die Frage nach dem anwendbaren Recht und deren Auswirkungen für Verbraucher kaum ins Gewicht fällt,76 möglicherweise, da die elementarsten Verbraucherrechte wie das Widerrufsrecht ohnehin harmonisiert sind. Auch für Unternehmer sind andere Faktoren als die Transaktionskosten aufgrund einer fremden Rechtsordnung wie die Steuerbelastung oder Umsatzerwartung von Bedeutung, wenn sie in anderen Mitgliedstaaten Handel treiben. Da Unternehmer aber schon gemäß Art. 6 Rom I-Verordnung ausländische Verbraucherschutzvorschriften beachten müssen, erscheint eine Verringerung der Transaktionskosten durch die Vollharmonisierung für Unternehmer annehmbar.

IV. ֖konomische Perspektive „€“ Der institutionelle Wettbewerb

1. Race to the bottom

Aus ökonomischer Perspektive des Rechts kann der institutionelle Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen zu einem race to the bottom führen. Regelmäßig besteht ein Wissensvorsprung zwischen denKaufvertragsparteien


59 Vom „€žGaranten des Rechts der Europäischen Union“€œ spricht Pernice, EuR 2011, 151, 167.

60 Rösler, EuR 2012, 392, 393 f.

61 Faust (Fn. 37), S. 299 f.

62 Karpenstein (Fn. 58), AEUV Art. 267 Rn. 8.

63 Vgl. Rösler, EuR 2012, 392, 404.

64 EuGH, verb. Rs. 28 bis 30/62 „€“ Da Costa en Schaake u.a./Administratie der Belastingen, Slg. 1963, 69, 81.

65 EuGH, Rs. 283/81 „€“ CILFIT/Ministero dello sanitÜ , Slg. 1982, I-3415, 3429 f. Rn. 14.

66 EuGH, ebenda Rn. 16; Wolf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 50), 38. Ergänzungslieferung, Sekundärrecht A 1 Rn. 30.

67 Karpenstein, Die Praxis des EU-Rechts2, 2013, Rn. 360 m.w.N.

68 EuGH, Rs. C-237/02 „€“ Freiburger Kommunalbauten/Hofstetter, Slg. 2004, I-3403, Rn. 21 f.; dazu M. Schmidt, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, 2009, S. 230.

69 So die Kritik von Hesselink, ERCL 2006, 366, 370.

70 Grundmann, JZ 2013, 53, 64.

71 Grigoleit, AcP 210 (2010), 354, 378.

72 Arnold, RIW 2009, 679, 683; Lippstreu (Fn. 23), S. 27.

73 KOM (2006) 744 endg., S. 7.

74 KOM (2006) 744 endg., S. 7 f.

75 Arnold, RIW 2009, 679, 680; Micklitz/Reich, EuZW 2009, 279 ff.; Siems, EuZW 2008, 454, 457.

76 Lippstreu (Fn. 23), S. 110 m.w.N.; zum Verbraucherkreditrecht vgl. Oxera (Oxford Economic Research Association), What is the Impact of the Proposed Consumer Credit Directive?, April 2007, S. 33 ff., abrufbar unter: http://www.oxera.com/Oxera/media/Oxera/Impact-of-the-proposed-Consumer-Credit-Directive.pdf?ext=.pdf, letzter Abruf am: 27.04.2015.

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zu Gunsten des Verkäufers.77 Bei unzureichenden Informationspflichten des Verkäufers kann der Käufer seine Kaufentscheidung nicht anhand der Qualität, sondern nur nach dem Preis ausrichten. Kauft er ausschließlich das minderwertige Produkt, wird das hochwertigere vom Markt verdrängt. Es entsteht ein market for lemons zum Nachteil des Verbrauchers.78 Dieser Effekt stellt sich ein, wenn die Vertragsparteien eine uneingeschränkte Rechtswahl treffen können, die Rechtsordnungen im direkten Wettbewerb stehen.79 Vollharmonisierung schafft hier Abhilfe, indem in Europa ein einheitlicher Schutzstandard an Informationspflichten geschaffen wird.80

2. Die „€žunsichtbare Hand des Marktes“€œ

Andererseits gibt es auch einen indirekten Wettbewerb zwischen Rechtsordnungen, der sich in der Standort- oder Produktwahl von Verkäufern und Käufern niederschlägt.81 Nimmt der Konsum durch Verbraucher oder die Zahl der Unternehmer in einem Mitgliedstaat wegen nationaler Vorschriften überproportional zu, werden entsprechende Normen übernommen. Die „€žunsichtbare Hand des Marktes“€œ82 würde demnach ohne harmonisierende Gesetzgebungsakte der Union zu Rechtsangleichung führen. Der Wettbewerb und die Verabschiedung unterschiedlicher Regelungen werden durch die Vollharmonisierung beendet. Auch wenn der skizzierte indirekte Wettbewerb theoretisch vorteilhaft erscheint, bildet er die wirklichen Gegebenheiten nur unvollständig ab: Die Standortwahl von Unternehmen hängt nicht ausschließlich von den rechtlichen Rahmenbedingungen ab, sondern von einer Reihe von Faktoren wie Produktionskosten, Arbeitsmarkt oder Infrastruktur. Gleichzeitig kann vom Konsumverhalten der Verbraucher in einem Staat nicht automatisch auf die Vorteilhaftigkeit seiner Rechtsnormen geschlossen werden.83 ImErgebnis spielt auch der indirekte Wettbewerb von Rechtsnormen nur eine untergeordnete Rolle bei der Bewertung der Vollharmonisierung.

V. Integrationsfaktor oder Totengräber nationaler Rechtskultur?

Aus ideeller Sicht kann Rechtsvereinheitlichung als Integrationsfaktor84, aber auch als Widerspruch zur europäischen Idee von Unterschiedlichkeit, Konkurrenz und Komplementarität gesehen werden.85 Ohne Spielraum für Regelungen nehme die Vollharmonisierung den Nationalstaaten die Möglichkeit, ihren Eigenheiten Ausdruck zu verleihen.86 Eingriffe des Unionsgesetzgebers mittels Richtlinien sind Anpassungsmaßnahmen an einen sich wirtschaftlich und technisch verändernden Markt, die auch vom nationalen Gesetzgeber getroffen worden wären. Die rechtliche Anpassung an die wirtschaftlichen Anforderungen eines gemeinsamen Binnenmarktes kann der Unionsgesetzgeber besser für alle Mitgliedstaaten einheitlich treffen als jeder Mitgliedstaat für sich. Eine Gefährdung mitgliedstaatlicher Rechtskultur als europäischer Identitätsfaktor tritt daher auch mit Blick auf die vormalige gemeinsame europäische Rechtskultur des ius commune nicht ein.87

VI. Verbraucherschutzniveau

Das Mindeststandardprinzip setzten Mitgliedstaaten mit der Schaffung höherer Verbraucherschutzniveaus um. Im Zusammenhang mit der Vollharmonisierung wird die Umkehrung dieser Entwicklung vorausgesagt.88 Die neuen Richtlinien orientieren sich nicht am bisher höchsten,89 sondern lediglich an einem hohen Schutzstandard.90 Diese Folge der Vollharmonisierung verdeutlicht das Beispiel der Verbraucherrechterichtlinie. Die Neugestaltung des Widerrufsrechts bei Fernabsatzverträgen sieht vor, dass der Unternehmer die Kosten der Warenrücksendung nicht mehr tragen muss (Art. 14 I der Richtlinie). Weiterhin entfällt das unbefristete Widerrufsrecht außerhalb der Fernabsatzrichtlinie für Finanzdienstleistungen im Fallefehlender Belehrung (Art. 10 II der Richtlinie).91 Entscheidend ist, wie der Verbraucherschutzstandard zu bestimmen ist. Dem individuell betroffenen Verbraucher dient ein hoher Schutzstandard, sofern er von ihm Gebrauch macht. Betrachtet man indes die Gesamtheit der Verbraucher, kann sich ein überhöhtes Schutzniveau auch zum Nachteil auswirken. Bürdet die Ausübung von Widerrufsrechten dem Unternehmer alle Folgekosten auf, werden sich diese zu Lasten der Verbraucher in den Produktpreisen niederschlagen.92 Hinsichtlich der Informationspflichten des Unternehmers gegenüber dem Verbraucher kann ein zu hoher Schutzstandard eine „€žBumerangwirkung“€œ entfalten.93 Umfangreiche schriftliche Informationen und Belehrungen können in den Augen des Verbrauchers intransparent wirken und diesen folglich von deren Wahrnehmung abhalten.94 Dieses Phänomen zeigte sich insbesondere bei der Timesharingrichtlinie wonach dem Erwerber von Teilzeitnutzungsrechten etwa 90 Pflichtinformationen zur Verfügung gestellt werden müssen.95 Die Reduktion des Verbrauchschutzniveaus in Deutschland durch die Vollharmonisierung ist für den individuell betroffenen Verbraucher sicherlich bedenklich, kann aber auf die Gesamtheit der Verbraucher mittelbar positive Auswirkungen entfalten, wenn Kosteneinsparungen an Verbraucher weitergereicht werden.


77 Pindyck/Rubinfeld, Mikroökonomie 8, 2013, S. 800 ff.; Lippstreu, Fn. 23, S. 93.

78 Vgl. Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im europäischen Binnenmarkt, 2002, S. 330 f.; Schmid, Die Instrumentalisierung des Privatrechts durch die EU, 2010, S. 630.

79 Kieninger (Fn. 78), S. 12 ff.

80 Vgl. Roth, JZ 2001, 475, 480.

81 Lippstreu (Fn. 23), S. 99.

82 Zu dieser von Adam Smith begründeten Theorie vgl. Pindyck/Rubinfeld (Fn. 77), S. 766.

83 Lippstreu (Fn. 23), S. 101.

84 Hommelhoff, AcP 192 (1992), 71, 73; Taupitz, Europäische Rechtsvereinheitlichung heute und morgen, 1993, S. 7 f.

85 Tamm, EuZW 2007, 756, 758; Zimmermann, JZ 2007, 1.

86 Arnold, RIW 679, 683; Wilhelmsson, ZEuP 2008, 225, 226.

87 Ähnlich auch BVerfGE 75, 243 f.; Hallstein, RabelsZ 1964, 211 ff.

88 Tonner/Tamm, JZ 2009, 277, 282 m.w.N.

89 Das höchste Verbraucherschutzniveau in der EU wurde bisher von Deutschland, ֖sterreich und den skandinavischen Staaten geschaffen, vgl. Tamm, EuZW 2007, 756, 759.

90 Tamm, EuZW 2007, 756, 760.

91 Tonner, VuR 2014, 23, 24.

92 Vgl. Eidenmüller/Jansen/Kieninger et. al., JZ 2012, 269, 288.

93 Mäsch, EuZW 1995, 8, 11.

94 Limmer (Fn. 25), S. 189.

95 Schmid (Fn. 78), S. 637.

Dickersbach, Europäisierung nationaler Vertragsrechte (BLJ 2015, 3)8

Zu Lasten der Vollharmonisierung ist festzustellen, dass ein Widerspruch zwischen der Begründung der Vollharmonisierung mit fehlendem Vertrauen in den europäischen Binnenmarkt und der Absenkung des Schutzniveaus besteht.97

VII. Ergebnis der Bewertung

Zugunsten der Vollharmonisierung ist anzuführen, dass eine Steigerung unternehmerischer grenzüberschreitender Aktivität durch verminderte Transaktionskosten nicht auszuschließen ist. Insofern ist auch die Verhältnismäßigkeit der Eingriffsmaßnahmen (vgl. Art. 5 I 2, IV EUV) zu bejahen. Dem Vorwurf an den Unionsgesetzgeber, aktionistisch bei Verabschiedung vollharmonisierender Richtlinien zu handeln, widerspricht die wiederholte Entscheidung der Mitgliedstaaten für eine Kompetenzübertragung zur Rechtsangleichung an den Unionsgesetzgeber.98

Für die Harmonisierungsmaßnahmen streitet, dass sich der vielfach beschworene Wettbewerb der Rechtsordnungen aufgrund bisheriger Regulierung im europäischen Kollisionsrecht als nicht gewichtig entpuppt. Andererseits ist gerade aus deutscher Sicht die Absenkung des Verbraucherschutzniveaus negativ zu beurteilen. Die Vollharmonisierung sollte sich am höchsten bisher bestehenden Verbraucherschutzstandard orientieren. Gegen die Vollharmonisierung spricht zudem die zunehmende Rechtsunsicherheit in der Praxis. Die Vollharmonisierung nimmt den Mitgliedstaaten einen Großteil ihres Umsetzungsspielraums, führt aber aufgrund von Defiziten bei der Rechtsanwendung nicht zur Rechtsvereinheitlichung.

D. Gesamtergebnis

Die Zeiten, in denen das deutsche Vertragsrecht als kohärentes System oder Ausdruck nationaler Wertvorstellungen betrachtet werden konnte, sind vorbei. Längst ist das BGB zu einem Vehikel der Umsetzung europäischer Wirtschaftspolitik geworden. Die Verbraucherschutzrichtlinien, die in diesem Prozess die Hauptrolle spielen, entspringen dabei nur oberflächlich dem Sozialstaatsgedanken. Auch sie dienen schlussendlich der Binnenmarktförderung. Selbst wenn die Binnenmarktförderung im Zeitalter der Globalisierung die raison dêre der Europäischen Union in wirtschaftlicher Hinsicht darstellt,99 ist aufgrund der Defizite in der Rechtsanwendungsgleichheit zweifelhaft, ob die legislatorische Vereinheitlichung der nationalen Vertragsrechte ihren Beitrag dazu leisten kann. Ein Abschluss der Harmonisierungsmaßnahmen ist nicht absehbar. Insofern ist die Sichtweise abzulegen, dass Unionsgesetzgeber und nationales Vertragsrecht in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stünden.100 Vielmehr wird es die Aufgabe der Rechtswissenschaft sein, eine sinnvolle Koexistenz beider Rechtsmassen zu gewährleisten.


97 Mittwoch (Fn. 4), S. 139.

98 In die gleiche Richtung Schulze (Fn. 43), S. 293.

99 Vgl. Hirsch (Fn. 36), S. 10.

100 Basedow, AcP 200 (2000), 445, 447.