Gastbeitrag: Recht gegen Religion? Die deutsche Beschneidungsdebatte zwischen abstraktem Knabenschutz und konkretem Religionsrespekt

von Professor Dr. Frank Saliger*

Mit rechtskräftigem Strafurteil vom 7. Mai 2012 hat eine kleine Strafkammer des Landgerichts Köln Geschichte geschrieben: Zum ersten Mal im deutschen Strafrecht, aber auch international wohl einmalig, ist eine durch einen Arzt fachmännisch durchgeführte und mit Einwilligung der Eltern vorgenommene Beschneidung eines Knaben als strafbare rechtswidrige Körperverletzung gewürdigt worden. Das Echo auf die Entscheidung war entsprechend gewaltig. Es reichte von entschiedener Zustimmung, dass ein „barbarischer“, Jahrtausende alter Brauch endlich mit Rücksicht auf das Kindeswohl verboten wird, über differenzierende Ja-Aber-Stellungnahmen bis hin zu resoluter Ablehnung, das Urteil verwechsle religiöse Gefahrenabwehr mit Religionsabwehr und stelle das Existenzrecht der Juden und Moslems in Deutschland in Frage. Die Politik hat auf die durch das Strafurteil entstandene Rechtsunsicherheit rasch reagiert. Bereits im Juli wurde mit großer Mehrheit (473 von 583 Abgeordneten) ein Entschließungsanstrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP angenommen, durch ein Gesetz so schnell wie möglich sicherzustellen, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist.

Hat die Strafkammer des Landgerichts Köln etwas falsch gemacht und, wenn ja, was? Dem Landgericht wird vorgeworfen, es sei zu juristisch verfahren. Es habe nur formal dogmatisch subsumiert und dabei das Große und Ganze außer Acht gelassen: die Religionsfreiheit, die Bedeutung der Knabenbeschneidung für Judentum und Islam, die weltweite Akzeptanz von Knabenbeschneidungen, kurzum: die praktische Alltagsvernunft gemäß der Maxime „Fiat iustitia pereat mundus“. Indes kann und darf das säkulare Recht des modernen Verfassungsstaats seinen Anspruch nicht aufgeben, die vielfältigen religiösen, traditionellen, kulturellen oder sozialen Praktiken seiner Bürger von Zeit zu Zeit einer normativen Überprüfung zu unterziehen. Davon sind auch religiös motivierte Knabenbeschneidungen nicht per se ausgenommen. Insofern ist es nicht bereits unvertretbar, wenn das Landgericht Köln einen nicht medizinisch indizierten und regelmäßig mit Schmerzen verbundenen chirurgischen Eingriff wie die Knabenbeschneidung als nicht sozialadäquate, tatbestandsmäßige Körperverletzung wertet.

Zu kurz greift das Landgericht Köln allerdings bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Körperverletzung. Bei der Frage, ob die stellvertretende Einwilligung der Eltern die Knabenbeschneidung rechtfertigt, erkennt das Landgericht zwar noch, dass eine Grundrechtskollision aufzulösen ist: nämlich auf Seiten des Kindes das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), auf Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und auf Religionsausübung (Art. 4 Abs. 1, 2 GG), das jedoch bis zur Religionsmündigkeit von den Eltern ausgeübt wird; auf Seiten der Eltern deren eigenes Recht auf Ausübung ihrer Religion (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) sowie auf Pflege und Erziehung ihres Kindes (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Auflösung dieser Grundrechtskollision nach Maßgabe praktischer Konkordanz orientiert das Landgericht freilich einseitig an einer Lesart des Kindeswohls, die nur medizinisch indizierte Beschneidungen erlauben will. Damit überdehnt es


* Der Autor ist Inhaber eines Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Bucerius Law School, Hamburg.

Saliger, Recht gegen Religion? (BLJ 2012, 90)91

die Aufgabe des staatlichen Wächteramts über das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) und betreibt abstrakten Knabenschutz.

Tatsächlich haben die Eltern das Recht, ihren Kindern diejenigen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu vermitteln, die sie für richtig halten (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. Art. 4 Abs. 1, 2 GG). Auch wenn das Erziehungsrecht den Eltern ausschließlich im Interesse des Kindes (Kindeswohl) zusteht, besitzen die Eltern und nicht der Staat den Auslegungsvorrang über das Kindeswohl. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass es die Eltern sind, denen das Wohl ihrer Kinder in der Regel mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder dem Staat. Der Staat darf also nicht gegen den Willen der Eltern für die nach seiner Ansicht bestmögliche Erziehung der Kinder sorgen. Er darf als Wächter erst eingreifen, wenn die Eltern das Kindeswohl durch einen evidenten Missbrauch ihres Sorgerechts gefährden. Ein solche Gefährdung wäre anzunehmen, wenn die Beschneidung nach der aus der Elternperspektive vorzunehmenden Abwägung aller Vor- und Nachteile unter keinem Gesichtspunkt mit dem Wohl des Kindes vereinbar ist. Das kann indes für die Beschneidung, die trotz der mit ihr verbundenen Körperverletzung nicht mit Prügelstrafe vergleichbar ist, nicht gesagt werden. Denn die feste religiöse, kulturelle oder soziale Verankerung der fachmännisch durchgeführten Beschneidung, ihre geringen Komplikationsrisiken und der fehlende Nachweis von Traumatagefahren stützen insgesamt nicht die Annahme, die Beschneidung sei aus Elternperspektive gänzlich unvertretbar (konkreter Religionsrespekt). Soweit das Landgericht Köln demgegenüber den Erziehungsvorrang der Eltern auch in religiöser Hinsicht verkürzt, ist sein Urteil nicht zu viel, sondern zu wenig juristisch.

Besonderheiten der Entscheidung im Kölner Fall – der Freispruch des Arztes wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums beseitigte dessen Beschwer; die Staatsanwaltschaft hielt das Urteil wegen der grundsätzlichen Strafbarkeit der Beschneidung wohl für richtig – haben dazu geführt, dass das Urteil rechtskräftig und damit nicht mehr von einer höheren Instanz überprüft werden konnte. Das hat den Gesetzgeber auf den Plan gerufen, der mittlerweile einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Danach soll die Personensorge der Eltern auch das Recht umfassen, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des einwilligungsunfähigen Knaben einzuwilligen, wenn die Beschneidung nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll (neuer § 1631d Abs. 1 Satz 1 BGB). Dieser Vorschlag ist gewiss begrüßenswert, sofern er die Zulässigkeit von Beschneidungen allgemein auf eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage stellt und im Hinblick auf das Urteil des Landgerichts Rechtssicherheit schafft. Ob damit aber alle Zweifelsfragen beseitigt sind, bleibt abzuwarten. So dürfen Beschneidungen durch von den Religionsgesellschaften vorgesehenen, besonders ausgebildeten und für die Durchführung vergleichbar einem Arzt befähigten Personen (z.B. Mohel und sünnetci) allein in den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes vorgenommen werden (neuer § 1631d Abs. 2 BGB). Zudem lässt sich nur der Gesetzesbegründung entnehmen, dass ein entgegenstehender Kinderwille zu berücksichtigen ist, und dass auch bei Beschneidungen durch traditionelle Beschneider betäubt werden soll.