Besprechung der Entscheidung des EuGH vom 13. September 2011 – Rechtssache Prigge 1
von Anika Sonnenberg*
A. Einleitung
„Zwangsruhestand von Piloten gekippt“2 konstatierte die Tagesschau plakativ, als der EuGH die tariflichen Altersgrenzen der Deutschen Lufthansa AG am 13. September 2011 für unionsrechtswidrig erklärte. Damit zwingt er die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit, welche die tariflichen Altersgrenzen der Piloten über Jahrzehnte hinweg für zulässig erachtet hatte,3 zu einer Kehrtwende.
Diese Entscheidung soll im Zentrum des folgenden Beitrags stehen. Ausgehend von einer Analyse der Urteilsbegründung des EuGH werden dabei auch die Einordnung in die bisherige Entwicklung seiner Rechtsprechung sowie die Folgen der Entscheidung in den Blick genommen.
Zum besseren Verständnis der Urteilsgründe lohnt es sich in Bezug auf Altersgrenzen zunächst, die bisherige Rechtslage in den Blick zu nehmen: In Deutschland existiert keine allgemeine gesetzliche Altersgrenze für das Ausscheiden aus dem Arbeitsleben. Sozialrechtliche Altersrentenansprüche schaffen lediglich die tatsächlichen Voraussetzungen dafür.4 Gleichwohl sind Altersgrenzen in der Praxis häufig anzutreffen, sei es in Individualarbeitsverträgen, Betriebsvereinbarungen oder wie hier in Tarifverträgen. Eine Altersgrenze beendet das Arbeitsverhältnis automatisch, sobald der Arbeitnehmer ein bestimmtes Lebensalter erreicht.5
B. Sachverhalt
Der EuGH hatte aufgrund einer Vorlage des BAG6 über die Wirksamkeit der Altersgrenzen der Deutschen Lufthansa AG in § 19 des Manteltarifvertrages Nr. 5a (MTV Nr. 5a) zu entscheiden. Bei den drei Klägern handelte es sich um Flugzeugkapitäne, die in einem Musterverfahren u.a. feststellen lassen wollten, dass ihre Arbeitsverhältnisse nicht mit Vollendung ihres 60. Lebensjahres 2006 bzw. 2007 geendet hatten. Der für sie geltende § 19 MTV Nr. 5a für das Cockpitpersonal sah eine automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Vollendung des 55., spätestens jedoch mit Vollendung des 60. Lebensjahres vor.
Das Arbeitsgericht Frankfurt a. M. wies die Klage ab7 und auch das Landesarbeitsgericht Hessen8 wies die Berufung zurück. Die Kläger legten hiergegen Revision beim BAG ein.
Bislang hatte das BAG die Wirksamkeit tariflicher Altersgrenzen stets am Maßstab des TzBfG sowie des AGG überprüft. Sowohl die Normen des AGG als auch die des TzBfG dienen jedoch der Umsetzung europäischer Richtlinien, so dass in beiden Fällen eine unionsrechtskonforme Auslegung geboten ist.9 Insbesondere sind auch Tarifverträge nicht vom Geltungsbereich des Unionsrechts ausgenommen.10 Zwar ist es Aufgabe der nationalen Gerichte, die Verhältnismäßigkeit von Mittel und Ziel konkret zu prüfen;11 den Maßstab für ihre Prüfung definiert jedoch der EuGH.12 Dabei ist unbeachtlich, dass die vergleichsweise großzügigen Regelungen des § 14 I TzBfG bereits einen sachlichen Grund zur Wirksamkeit der Altersgrenze ausreichen lassen. Die betreffende Tarifnorm muss gleichwohl auch den strengen Anforderungen des Unionsrechts entsprechen.13
Das BAG setzte das Revisionsverfahren in seiner Entscheidung vom 17. Juni 2009 aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob die tarifvertragliche Altersgrenze der Piloten mit Vollendung des 60. Lebensjahres mit Art. 2 V, Art. 4 I und Art. 6 I der dem AGG zugrunde liegenden Richtlinie 2000/78/EG14 vereinbar ist.
C. Entscheidung des EuGH
Der EuGH verneinte die Vereinbarkeit und erklärte die tariflichen Altersgrenzen der Deutschen Lufthansa AG für unionsrechtswidrig.
I. Art. 21 I Grundrechte-Charta
Auf den ersten Blick überrascht, dass der EuGH sich für die Beurteilung der Altersgrenzen direkt auf die vom BAG erbetene Auslegung der sekundärrechtlichen Richtlinie 2000/78/EG fokussiert, anstatt zunächst auf die Vereinbarkeit der Tarifnormen mit dem europäischen Primärrecht einzugehen. So hätte er die Altersgrenze direkt an Art. 21 I der Grundrechte-Charta überprüfen können. Früher oft als soft law tituliert, bildet dieser seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 nunmehr verbindliches Primärrecht und steht nach Art. 6 I EU-Vertrag gleichrangig neben den Verträgen.15
Doch hat diese Fokussierung des EuGH einen einfachen Grund: Primär- und Sekundärrecht verlaufen in puncto Altersdiskriminierung weitgehend parallel. Dabei stellt sich die Rechtslage wie folgt dar: In Art. 21 I GrCh kommt das primärrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung als allgemei-
* Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School, Hamburg.
1 Europäischer Gerichtshof (EuGH), Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011.
2 http://www.tagesschau.de/wirtschaft/piloten106.html, zuletzt abgerufen am 20.3.2012.
3 Vgl. etwa BAGE 88, 118; BAG, NZA 2004, 1352; Boecken, Wie sollte der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand rechtlich gestaltet werden? Gutachten B für den 62. Deutschen Juristentag, 1998, S. B 32 ff.; Zwanziger, in: Kittner/Zwanziger/Deinert (Hrsg.), Arbeitsrecht, Handbuch für die Praxis6, 2011, § 130 Rn. 15; Müller-Glöge, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht12, 2012, § 14 TzBfGRn. 57.
4 Vgl. Mohr, EuZA 2010, 371, 378.
5 Koch, in: Schaub u.a., Arbeitsrechts-Handbuch14, 2011, § 40 Rn. 45.
6 BAGE 131, 113-114.
7 ArbG Frankfurt a.M., BB 2007, 1736.
8 LAG Hessen, Urt. v. 15.10.2007, 17 Sa 809/07 (juris).
9 EuGH, Rs. C‑555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365416, Rn. 46 ff.; Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht12, 2012, Vorb. AGG Rn. 4; Hromadka, NJW 1994, 911.
10 Schlussanträge des Generalanwalts Villalón, Rs. C-447/09 – Prigge, v. 19.5.2011, Rn. 45/46.
11 EuGH, Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569, Rn. 47/48.
12 BAG, NZA 2009, 1355, 1363/1364.
13 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 46.
14 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. EU Nr. L 303, S. 16; Artikel ohne Angabe sind im Folgenden solche der Richtlinie 2000/78/EG.
15 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 38; EuGH, Rs. C‑555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365416, Rn. 22; vgl. Willemsen, NZA 2011, 258.
ner Grundsatz des Unionsrechts zum Ausdruck.16 Diesen Grundsatz hatte der EuGH im Urteil Mangold17 herausgearbeitet.18 Als Spezialfall des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes ist er über Art. 6 I EU-Vertrag und Art. 21 I GrCh als Teil des besonderen Diskriminierungsschutzes ausgestaltet.19
Es war jedoch länger unklar, ob dieser primärrechtliche Prüfungsansatz im Urteil Palacios wieder zurückgenommen wurde.20 Der EuGH hatte seine Kontrolldichte darin deutlich eingeschränkt und anstelle der in Mangold angeordneten Verhältnismäßigkeitsprüfung eine einzelfallbezogene Plausibilitätskontrolle bzw. Willkürprüfung durchgeführt.21 Anfang 2010 hat der EuGH dieser Diskussion ein Ende gesetzt und die Existenz des primärrechtlichen Diskriminierungsverbots in der Entscheidung Kücükdeveci bestätigt.22
Dieses Primärrechtsverbot der Altersdiskriminierung wird durch die Richtlinie 2000/78/EG für den Bereich Beschäftigung und Beruf sekundärrechtlich konkretisiert.23 Dabei geht es in seinen konkreten Anforderungen nicht über die der Richtlinie hinaus, mit der Folge, dass jeder Verstoß gegen das Primärrechtsverbot zugleich ein Richtlinienverstoß ist.
Zugleich fungiert das Primärrechtsverbot als notwendiges Bindeglied, um dem EuGH eine Prüfung der Altersgrenze an den (subsumtionsfähigen) Vorschriften der Richtlinie zu ermöglichen.24 Liegt nach der Richtlinie 2000/78/EG eine unzulässige Altersdiskriminierung vor, indiziert dies einen Verstoß gegen Art. 21 I GrCh, auch wenn nicht jeder Richtlinienverstoß generell primärrechtswidrig ist.25
II. Sekundärrechtsakt Richtlinie 2000/78/EG
Wie angedeutet steht damit die Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG im Zentrum der Entscheidung des EuGH.
1. Anwendbarkeit der Richtlinie 2000/78/EG
Unter Berufung auf Art. 16 I lit. b) stellt der EuGH einleitend fest, dass auch Tarifverträge die Vorgaben der Richtlinie beachten müssen.26
Grundsätzlich entfalten Richtlinien zwar keine unmittelbare Drittwirkung unter Privaten oder Tarifvertragsparteien.27 Im Wege der richtlinienkonformen Auslegung wirken sie aber dennoch auf horizontale Verhältnisse ein.28
2. Vorliegen einer Diskriminierung nach der Richtlinie 2000/78/EG
Im Einklang mit der deutschen Rechtsprechung konstatiert der EuGH weiter, dass in der tariflichen Altersgrenze eine unmittelbare berufsbezogene Diskriminierung liegt, Art. 1, 2 I, II lit. a), 3 I lit. c) (entsprechen §§ 1, 3 I 1, 2 I Nr. 2, 7 II AGG).29 Diese kann durch Art. 2 V, Art. 4 I oder Art. 6 I gerechtfertigt sein, deren Voraussetzungen er im Folgenden detailliert prüft.30
3. Rechtfertigung nach Art. 2 V Richtlinie 2000/78/EG
Zunächst ist anzumerken, dass es sich bei Art. 2 V systematisch – entgegen der von Wortlaut und Systematik nahegelegten Vermutung – nicht um eine Bereichsausnahme, sondern um einen Rechtfertigungsgrund handelt.31 Er rechtfertigt Diskriminierungen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Gesundheit und Rechte und Freiheiten anderer. Der EuGH führt hierbei vertiefend aus, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass von Art. 2 V dem Entstehen eines Spannungsfeldes zwischen dem Gleichbehandlungsgrundsatz auf der einen und den für eine demokratische Gesellschaft notwendigen Prinzipien auf der anderen Seite vorbeugen bzw. vermittelnd habe eingreifen wollen.
Um zu eruieren, ob die tarifliche Altersgrenze nach Art. 2 V gerechtfertigt ist, prüft der EuGH nun, ob die Flugsicherheit zu den aufgeführten Zielen gehört und ob die fragliche Tarifnorm Art. 19 I MTV Nr. 5a eine im einzelstaatlichen Recht vorgesehene Maßnahme ist.
a) Flugsicherheit als Ziel i.S.d. Art. 2 V
Flugsicherheitserwägungen lassen sich, wie er ohne weiteres feststellt, unter den Schutz der öffentlichen Sicherheit subsumieren.32 Maßnahmen, die auf die Vermeidung von Flugzeugunglücken gerichtet sind, verfolgen somit eines der in Art. 2 V genannten Ziele.
b) Tarifregelung als „im einzelstaatlichen Recht vorgesehene Maßnahme“
Problematischer ist hingegen, ob die Altersgrenze sich als eine im einzelstaatlichen Recht vorgesehene Maßnahme klassifizieren lässt.
Der Generalanwalt Villalón lehnt dies in seinen Schlussanträgen vom 19. Mai 201133 unter Verweis darauf ab, dass wichtige Entscheidungen der Ordnung, Sicherheit und Gesundheit eine allein dem Staat zugewiesene und der Parteidisposition entzogene Befugnis seien.
16 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 38.
17 EuGH, Rs. C-144/04 –Mangold, Urt. v. 22.11.2005.
18 Meinel/Heyn/Herms, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitsrechtlicher Kommentar2, 2010, § 10 Rn. 3; Preis/Temming, NZA 2010, 185, 198; Annuß, BB 2006, 325 ff.; Preis, NZA 2006, 401, 405; Franzen, EuZA 2008, 1, 9; krit. Rieble/Zedler, ZfA 2006, 273, 282; Temming, NZA 2007, 1193, 1194.
19 Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht12, 2012, Vorb. AGG Rn. 4, § 1 AGG Rn. 14; krit. Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston, Rs. C-227/04 – Lindorfer, Slg. 2007, I-06767, Rn. 55 ff.; Preis, NZA 2006, 401, 406.
20 BAGE 128, 148-150.
21 EuGH, Rs. C-411/05 – Palacios, Slg. 2007, I-8531; bemerkenswert ist, dass 8 der 13 Richter an beiden Urteilen beteiligt waren, zumal Urteile, in denen der EuGH vorangegangene Positionen korrigiert, selten sind, vgl. EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 – Keck, Slg. 1993, I-6097, Rn. 75; Temming, NZA 2007, 1193, 1193.
22 EuGH, Rs. C‑555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365416, Rn. 21; EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 38.
23 Vgl. EuGH, Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981; Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht12, 2012, Vorb. AGG Rn. 4; Franzen, EuZA 2010, 306, 314; Rieble/Zedler, ZfA 2006, 273, 280.
24 Willemsen, NZA 2011, 258, 261.
25 So auch Krois, EuZA 351, 354/355.
26 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt.v.13.9.2011, Rn. 49.
27 EuGH, Rs. C-152/84 – Marshall I, Slg. 1986, I-723; BAGE 128, 134; ArbG Frankfurt a. M., BB 2007, 1736, 1737; Schlachter, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht12, 2012, § 1 AGG Rn. 14; für Tarifvertragsparteien streitig, vgl. Rieble/Zedler, ZfA 2006, 273, 276.
28 Vgl. EuGH, Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-06057; Hanau, NZA 2010, 1, 4/5.
29 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 45; Rieble/Zedler, ZfA 2006, 273, 297.
30 Groß, Die Rechtfertigung einer Altersdiskriminierung auf der Grundlage der Richtlinie 2000/78/EG, 2010, S. 114/115.
31 Eingehend Mohr, EuZA 2010, 371, 374; a.A. Lingscheid, Antidiskriminierung im Arbeitsrecht – Neue Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht auf Grund der Richtlinien 2000/43/EG und 2000/78/EG und ihre Einfügung in das deutsche Gleichbehandlungsrecht, 2004, S. 244.
32 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 58.
33 Schlussanträge des Generalanwalts Villalón, Rs. C-447/09 – Prigge, v. 19.5.2011, Rn. 53.
Zweifellos obliegt dem Staat diese Aufgabe. Gleichwohl leuchtet nicht ein, warum nicht zusätzlich auch Private Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit treffen können sollten, deren Standards im Einzelfall sogar über das vom öffentlichen Recht Geforderte hinausgehen.34 Schließlich verlangt auch das Kriterium der Geeignetheit nur, dass die Maßnahme zur Erreichung des Ziels förderlich, nicht hingegen, dass sie dafür konstitutiv ist.
Demnach dürfte auch eine Tarifnorm die Ziele des Art. 2 V verfolgen. Allerdings deutet der Wortlaut („im einzelstaatlichen Recht vorgesehene Maßnahme“) darauf hin, dass die Maßnahme hier ausnahmsweise tatsächlich durch eine staatliche Obrigkeit getroffen werden muss. Anders als Art. 4 I und Art. 6 I regelt Art. 2 V nämlich gerade auch das rechtliche Instrumentarium. Dem kann eine von Sozialpartnern ausgehandelte Tarifnorm nicht genügen.35
Im Ergebnis ebenfalls eine Rechtfertigung über Art. 2 V verneinend, in der Begründung jedoch abweichend, entschied der EuGH, dass Tarifpartner zwar keine öffentlich-rechtlich verfassten Einrichtungen seien. Gleichwohl sei es den Mitgliedsstaaten unbenommen, den Tarifpartnern mittels hinreichend bestimmter Ermächtigungsvorschriften zu gestatten, Maßnahmen i.S.d. Art. 2 V zu treffen. Aus diesem Grund sei die Tarifnorm eine im einzelstaatlichen Recht vorgesehene Maßnahme i.S.d. Art. 2 V.36
c) Verknüpfung zwischen Maßnahme und Ziel
Nichtsdestotrotz gelangt der EuGH im Folgenden – unter Bezugnahme auf die sogleich darzustellenden internationalen Regelwerke – zu dem Ergebnis, dass die Maßnahme nicht notwendig zum Erreichen des Ziels ist, mithin keine hinreichende Verknüpfung zwischen Maßnahme und Ziel vorliegt.37 Eine Rechtfertigung nach Art. 2 V scheidet somit jedenfalls aus.
d) Rechtfertigung nach Art. 4 I Richtlinie 2000/78/EG
Im Anschluss prüft der EuGH eine Rechtfertigung nach Art. 4 I (entspricht § 8 AGG). Danach stellt die Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, dann keine Diskriminierung dar, wenn das Merkmal eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung ist, sofern es einen rechtmäßigen Zweck verfolgt und eine angemessene Anforderung darstellt.38
aa) Rechtmäßiger Zweck
Rechtmäßiger Zweck der Altersgrenze ist die Gewährleistung der Flugsicherheit.39
bb) Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsgrund
Die Ungleichbehandlung müsste „wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 1 genannten Diskriminierungsgründe steht“, erfolgt sein. Dieser Formulierung entnimmt der EuGH, dass es einer Differenzierung zwischen Diskriminierungsgrund und Merkmal bedarf: Das Merkmal, nicht der Grund, muss eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen.40 Hier erfolge die Ungleichbehandlung wegen des Merkmals Vorhandensein besonderer körperlicher Fähigkeiten, welches im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsgrund Alter stehe.
cc) „Wesentliche und entscheidende“ berufliche Anforderung
Dem EuGH zufolge nehmen körperliche Fähigkeiten mit zunehmendem Alter ab. Körperliche Schwächen könnten speziell bei Piloten beträchtliche Konsequenzen mit sich bringen. Daraus schlussfolgert er zutreffend, dass das Merkmal Vorhandensein besonderer körperlicher Fähigkeiten eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung i.S.d. Art. 4 I ist.41
dd) Angemessene Anforderung
Des Weiteren untersucht der EuGH, ob die Tarifvertragsparteiendurch ihren Beschluss, dass Verkehrspiloten ab Vollendung des 60. Lebensjahres körperlich nicht mehr zur Ausübung ihres Berufs fähig sind, angemessene Anforderungen aufstellen.
(1) Bestimmung des Prüfungsmaßstabs
Dabei widmet er sich zunächst dem Prüfungsmaßstab zur Beurteilung der Angemessenheit. Systematisch weist er dafür auf den 23. Erwägungsgrund der Richtlinie hin, dem zufolge die Rechtfertigung einer Altersdiskriminierung nur unter „sehr begrenzten Bedingungen“ in Betracht kommen soll. Dies deute auf einen strengen Maßstab hin.42
Dem ist zuzustimmen. Gleichwohl lässt sich anmerken, dass die deutsche Rechtsprechung Altersgrenzen nach § 8 I AGG im Vergleich großzügiger und sogar ohne empirischen Beleg als gerechtfertigt angesehen hat.43 Diese Großzügigkeit geht jedoch fehl: Aufgrund des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von Diskriminierung und Rechtfertigung sowie mit Blick auf den Rechtsgedanken des § 22 AGG ist vielmehr eine gerontologische Untermauerung zu fordern.44 Darüber hinaus wird das Diskriminierungsverbot völkerrechtlich durch Art. 14 EMRK gestützt, was ihm umso größeres Gewicht verleiht. Zwar mögen die physische und psychische Leistungsfähigkeit im jüngeren Alter allgemein besser, die Reflexe schneller sein. Diese relative Erkenntnis kann jedoch angesichts des strengen Maßstabs nicht ausreichen. Starre Altersgrenzen können nur gerechtfertigt sein, wenn ein über sie hinausgehendes Fortbestehen des Leistungsvermögens empi-
34 Vgl. dazu im Kontext des AGG: LAG Hessen, Urt. v. 15.10.2007, 17 Sa 809/07 (juris); Lingscheid, Antidiskriminierung im Arbeitsrecht – Neue Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht auf Grund der Richtlinien 2000/43/EG und 2000/78/EG und ihre Einfügung in das deutsche Gleichbehandlungsrecht, 2004, S. 243.
35 So auch Schlussanträge des Generalanwalts Villalón, Rs. C-447/09 – Prigge, v. 19.5.2011, Rn. 51.
36 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 59-61.
37 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 63/64.
38 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 65.
39 Vgl. EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt.v.13.9.2011, Rn. 68/69.; BAG, NZA 2009, 1355, 1365.
40 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 66; EuGH, Rs. C-229/08 – Wolf, Slg. 2010, I-00001, Rn. 35/36.; Schlussanträge des Generalanwalts Villalón, Rs. C-447/09 – Prigge, v. 19.5.2011, Rn. 58/59.; Mohr, EuZA 2010, 371, 376.
41 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 67.
42 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 71; vgl. Merkmal der unabdingbaren Voraussetzung in Art. 2 III der Richtlinie 76/207/EWG; Thüsing, RdA 2001, 319, 323 ff.; zur Vergleichbarkeit beider Maßstäbe Wiedemann/Thüsing, NZA 2002, 1234, 1237.
43 Vgl. etwa BAGE 131, 113.
44 Ebenso Meinel/Heyn/Herms, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Arbeitsrechtlicher Kommentar2, 2010, § 10 Rn. 80a; Brors, in: Däubler/Bertzbach (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Handkommentar2, 2008, § 10 Rn. 89.
risch nahezu ausgeschlossen werden kann.45 Ohne einen zumindest abstrakten Beleg für ein Sicherheitsrisiko wäre die Altersgrenze mit Vollendung des 60. Lebensjahres willkürlich gesetzt.46
(2) Angemessenheit
Der EuGH verneint die Verhältnismäßigkeit der Anforderungen und damit eine Rechtfertigung nach Art. 4 I in der für seine Judikate charakteristischen Kürze. Er stützt sich dabei primär auf vergleichbare nationale und internationale Regelungen:47 Die internationale Empfehlung JAR-FCL 1.060a,48 welche durch § 20 II LuftVZO und § 4 1. DV LuftPersV in deutsches Recht umgesetzt wurde, erlaubt Piloten unter bestimmten Auflagen eine Beschäftigung bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres.49 Wenn dieser internationale Mindeststandard Piloten also bis 65 arbeiten lässt, kann ein früheres Ausscheiden aus dem Berufsleben dem EuGH zufolge nicht zwingend erforderlich sein.50 Überdies lägen ihm keine Akten oder Erklärungen vor, aus denen sich ein gerontologischer Nachweis dafür ergibt, dass Piloten schon ab Vollendung des 60. Lebensjahres nicht mehr zur Führung eines Flugzeugs fähig sind.51
Dem ist beizupflichten. Aktuelle Studien52 belegen zudem, dass ältere Piloten durch ihre Erfahrung in Notfällen oftmals souveräner reagieren. Dies deutet darauf hin, dass eine individuelle Leistungsüberprüfung, wie sie etwa nach §§ 24b, 24a II LuftVZO vorgesehen ist, den Sicherheitsanforderungen ebenso genügt. Verlieren Piloten ihre öffentlich-rechtlichen Lizenzen aufgrund der Leistungsüberprüfungen, so kann ihnen ohnehin personenbedingt gekündigt werden.53
4. Rechtfertigung nach Art. 6 I Richtlinie 2000/78/EG
Zuletzt prüft der EuGH eine Rechtfertigung der Altersgrenzen nach Art. 6 I (entspricht § 10 AGG). Dafür muss eine Ungleichbehandlung, welche sich als Entlassungsbedingung unter Art. 6 I 2 lit. a) fassen lässt, ein legitimes Ziel verfolgen und dabei angemessen und erforderlich, kurzum verhältnismäßig, sein. Die Tatsache, dass die Voraussetzungen des Art. 4 I nicht vorliegen, ist hierbei insoweit unbeachtlich, als der Maßstab des Art. 6 I großzügiger ist.54
Wie der EuGH hervorhebt, ist nicht jedes Ziel legitim i.S.v. Art. 6 I.55 Daher stellt sich die Frage, ob sich die von den Tarifvertragsparteien angeführte Flugsicherheit – oder auch die vom Generalanwalt Villalón unterbreitete Tarifautonomie – unter diesen unbestimmten Rechtsbegriff fassen lässt.56
a) Flugsicherheit
In der deutschen Jurisprudenz war lange umstritten, ob ein legitimes Ziel i.S.d. Art. 6 I sozialpolitischer Natur sein muss. Der EuGH hatte dies in jüngerer Zeit bejaht57 und beruft sich nunmehr auf seine vorangegangenen Entscheidungen.58 Die Gewährleistung der Flugsicherheit ist, wie er folgerichtig konstatiert, nicht sozialpolitischer Natur und qualifiziert sich damit nicht als legitimes Ziel.59
Seine Position verdient Zustimmung: Dem Wortlaut des Art. 6 I zufolge scheint grundsätzlich zwar jedes rechtmäßige Ziel in Betracht zu kommen. Auch ist die beispielhafte Aufzählung von Zielen „aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung“ wie das „insbesondere“ verdeutlicht, keinesfalls abschließend.60 Dennoch ist auffällig, dass alle genannten Beispiele einen sozialpolitischen Bezug gemein haben, welcher die Gruppe der legitimen Ziele qualitativ eingrenzt.61 Auch die Tatsache, dass die Richtlinie neben Art. 6 I noch weitere Rechtfertigungstatbestände zur Verfügung stellt, deutet systematisch darauf hin, dass es zur Rechtfertigung nicht allein auf die Interessenabwägung ankommen kann. Art. 4 I liefe sonst weitgehend leer.
Auf weitere, etwa die Generationengerechtigkeit betreffende, arbeitsmarktpolitische Erwägungen haben die Tarifvertragsparteien sich vorliegend nicht berufen. Gleichwohl ist anzunehmen, dass solche arbeitsmarktpolitischen Erwägungen, wie sie der EuGH in seinen bisherigen Entscheidungen62 größtenteils zugelassen hat, im Fall von Flugkapitänen eher eine untergeordnete Rolle spielen. Tatsächlich ist der Pilotenberuf aufgrund der hohen Anforderungen derart spezialisiert, dass auf dem Markt gegenwärtig Ressourcenknappheit herrscht.63
b) Tarifautonomie
Bislang haben sich die deutschen Gerichte zur Rechtfertigung tariflicher Altersgrenzen allein auf Flugsicherheitserwägungen gestützt. In seinen Schlussanträgen sprach sich Generalanwalt Villalón nun dafür aus, die Wahrung der Tarifautonomie zum legitimen Ziel i.S.v. Art. 6 I „aufzuwerten“ und die Altersgrenze an ihr zu messen.64 Ob man ihm insoweit folgt, hängt letztlich davon ab, welche Rechtsqualität man der Tarifautonomie auf Unionsebene zuerkennt. Gegen eine Ein-
45 Vgl. Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, Kommentar2, 2004, § 1 Rn. 620; Löwisch/Caspers/Neumann, Beschäftigung und demographischer Wandel, 2003, S. 48/49.
46 Vgl. Brors, in: Däubler/Bertzbach (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Handkommentar2, 2008, § 10 Rn. 89.
47 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 73-75.
48 Unter deutscher Beteiligung erarbeitetes Regelwerk der Joint-Aviation-Authorities, das im deutschen Hoheitsgebiet keine Anwendung findet, vgl. BAG, NZA 2009, 1355, 1359.
49 Vgl. BGBl. 2008 I S. 1229; Schmalenberg, in: Tschöpe (Hrsg.), Anwalts-Handbuch Arbeitsrecht7, 2011, 1 E Rn. 88.
50 0]EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 75; Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben – Eine rechtsmethodische Analyse, 2008, S. 355.
51 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 74.
52 Deutsches Ärzteblatt, „Kristallisierte Intelligenz“: Ältere Piloten im Flugsimulator besser, www.aerzteblatt.de/nachrichten/27639/, Stand: 20.3.2012; unter Verweis auf: www.neurology.org/content/68/9/648. abstract, Stand: 20.3.2012; vgl. ferner Körner, NZA 2008, 497; Boecken, Wie sollte der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand rechtlich gestaltet werden? Gutachten B für den 62. Deutschen Juristentag, 1998, S. B 40, 54.
53 Zwanziger, in: Kittner/Zwanziger/Deinert (Hrsg.), Arbeitsrecht, Handbuch für die Praxis6, 2011, § 130 Rn. 13.
54 Vgl. Mohr, EuZA 2010, 371, 377.
55 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 79 ff.
56 v. Hoff, SAE 2009, 293, 300.
57 EuGH, Rs. C-388/07 – Age Concern England, Slg. 2009, I-1569, Rn. 46; EuGH, Rs. C-88/08 – Hütter, Slg. 2009, I-5325, Rn. 41; vgl. BAGE 133, 265, 278.
58 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 81.
59 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 82; BAG, NZA 2009, 1355, 1363.
60 Schlussanträge des Generalanwalts Villalón, Rs. C-447/09 – Prigge, v. 19.5.2011, Rn. 72.
61 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 80.
62 Vgl. nur EuGH, verb. Rs. C-250/09 und C-268/09 – Georgiev, Urt. v. 18.11.2010; EuGH, Rs. C‑555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365416.
63 FAZ: www.faz.net/artikel/C30535/luftverkehr-die-chancen-der-piloten-steigen-30098617.html, Stand: 20.3.2012.
64 Schlussanträge des Generalanwalts Villalón, Rs. C-447/09 – Prigge, v. 19.5.2011, Rn. 78-85.
ordnung als Ziel spricht, dass sie eher ein Prinzip darstellt, denn einen Selbstzweck. Zwar vermag sie den Prüfungsmaßstab zu beeinflussen; eine Klassifizierung als Ziel läuft jedoch Gefahr, zum Zirkelschluss zu werden.
Der EuGH hat sich den Ausführungen seines Generalanwalts in diesem Punkt jedenfalls – leider ohne sich argumentativ mit ihnen auseinanderzusetzen – nicht angeschlossen.
D. Folgen der Entscheidung
I. Konsequenzen für die tariflichen Altersgrenzen
Angesichts des Verstoßes der die Altersgrenzen festsetzenden Tarifnormen gegen das primärrechtliche Altersdiskriminierungsverbot aus Art. 21 I GrCh sind die nationalen Gerichte fortan verpflichtet, die Tarifnormen außer Anwendung zu lassen.65 Gleiches ergibt sich aus § 7 II AGG, § 134 BGB.
Nicht vollständig geklärt ist allerdings, wie mit zeitlich zurückliegenden Diskriminierungen zu verfahren ist und wie mit der Beendigung derzeitig bestehender Arbeitsverhältnisse umzugehen sein wird.66 Aufgrund der im Arbeitsrecht üblichen – und im Interesse der Rechtssicherheit gebotenen – strengen Präklusionsfristen dürfte die weit überwiegende Zahl zurückliegender Fälle heute jedenfalls nicht mehr angreifbar sein. Einzig die Arbeitsverhältnisse der Kläger setzen sich bis zum (jeweiligen) Regelrenteneintrittsalter fort.
Für die künftige Regelung der Beendigung der Arbeitsverhältnisse der Piloten steht der Luftfahrtbranche eine Vielzahl an Optionen zur Verfügung. So könnte sie sich zum einen an der vom EuGH zitierten flexibleren Regelung der JAR-FCL 1.060a orientieren und den Einsatz älterer Piloten durch die Begleitung jüngerer Kollegen in Mehrpersonencockpits absichern.
Zum anderem ließen sich die bereits existierenden individuellen Tauglichkeitsuntersuchungen67 ausbauen. Bereits jetzt verringert sich die Gültigkeitsdauer der Tauglichkeitszeugnisse der Piloten mit steigendem Alter.68 Insofern ist eine auf Flugsicherheitserwägungen gestützte, nach dem Lebensalter differenzierende Behandlung bereits im nationalen Recht verankert.
Zuletzt könnte man verstärkt ein freiwilliges Ausscheiden der Piloten forcieren.69 Exemplarisch lassen sich solche auf Freiwilligkeit setzende Regelungen etwa im Vereinigten Königreich und in Frankreich finden: Im Vereinigten Königreich kann zwar ein (durch eine Altersrente abgesichertes) Ausscheiden vereinbart werden, der Arbeitnehmer kann jedoch seine weitere Beschäftigung verlangen.70 Auch in Frankreich gilt seit Anfang 2010 ein flexibler Ansatz, der ein Ausscheiden vor Vollendung des 70. Lebensjahres mit Beteiligung des Arbeitnehmers erlaubt.71
II. Einordnung der Entscheidung in die Rechtsprechungsentwicklung
In seiner Entscheidung hat sich der EuGH einmal mehr mit der Zulässigkeit von Altersgrenzen befasst. Fragen der Altersdiskriminierung haben auch die deutsche Judikatur in den vergangenen Jahren vielfach beschäftigt. So hat das BAG die tariflichen Höchstaltersgrenzen für die Einstellung von Piloten erst kürzlich für unwirksam erklärt.72 Auf der anderen Seite wurden jedoch auch zahlreiche pauschale Altersgrenzen höchstrichterlich abgesegnet.73
Bemerkenswert an dieser neuen Entscheidung ist, dass der EuGH den weiten Ermessenspielraum, den er den Tarifvertragsparteien zuvor74 zugestanden hatte, drastisch einschränkt: Soweit der Gesetzgeber eine Altersgrenze festsetzt, dürfen die Tarifvertragsparteien sie nicht durch eigene strengere Regelungen unterschreiten. Wie sich dies auf die deutsche Rechtsprechung, die den Tarifvertragsparteien im Rahmen des Art. 9 III GG von jeher einen weiten Spielraum zugesteht, auswirken wird, bleibt abzuwarten. Indem der EuGH bekräftigt hat, nur sozialpolitische Erwägungen als legitime Ziele i.S.d. Art. 6 I anzuerkennen, wird der bisherige Spielraum der Tarifvertragsparteien jedenfalls eingeschränkt.
Erklären lässt sich sein restriktiver Kurs mit rechtspolitischen Erwägungen: Da nicht beschäftigungs- und sozialpolitische Gesichtspunkte im Mittelpunkt der Entscheidung stehen, muss der EuGH weniger Rücksicht auf die Souveränität der Mitgliedstaaten zur autonomen Gestaltung ihrer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nehmen. Insofern lässt sich die Entscheidung auch nicht pauschal auf andere Sachverhalte übertragen.75
Durch das Urteil vom 13. September 2011 wird die langjährige Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit zu den tariflichen Altersgrenzen von Piloten hinfällig. Insgesamt bleibt der EuGH dabei seinem Ziel treu, eine diskriminierungsfreie Arbeitswelt zu schaffen, in der das Alter möglichst keine Rolle spielt. Insofern überrascht seine Entscheidung letztlich nicht.
III. Ausblick auf die Konsequenzen für die Rechtspraxis
In der Rechtspraxis wird man bei der künftigen Gestaltung und Nachbesserung von tariflichen Altersgrenzen verstärkt überprüfen müssen, welche gesetzlichen Vorgaben zum jeweiligen Regelungsgegenstand bestehen.
Ferner verdeutlicht das Urteil, dass der EuGH Altersgrenzen anhand der konkret von den Tarifvertragsparteien zugrunde gelegten Ziele untersucht.76 Diese Ziele sollten daher bei Tarifabschluss sorgfältig dokumentiert werden, zumal die Unwirksamkeit von Tarifnormen oft eine starke Belastung für Unternehmen bedeuten kann. Entsprechendes gilt für Altersgrenzen in Betriebsvereinbarungen und Standardarbeitsverträgen.
Eine weitere Folge der Entscheidung betrifft die Charakterisierung des legitimen Ziels des Art. 6 I: Indem sich der EuGH erneut dafür ausgesprochen hat, nur sozialpolitische Erwägungen als legitime Ziele i.S.d. Art. 6 I anzuerkennen, wird die bisherige Rechtsprechung des BAG auch in anderen Bereichen in Frage gestellt. So kann bezweifelt werden, inwieweit sich eine nach Altersgruppen gestaffelte Sozialauswahl (§ 1 III 2 KSchG) nun rechtfertigen lässt. Bislang hatte das BAG sie auch akzeptiert, wenn sie allein dem (rein unternehmerischen) Ziel der Erhaltung der betrieblichen Alters-
65 EuGH, verb. Rs. C-250/09 und C-268/09 – Georgiev, Urt. v. 18.11.2010, Rn. 73; EuGH, Rs. C‑555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365416, Rn. 51.
66 Vgl. Körner, NZA 2008, 497, 503.
67 Vgl. dazu §§ 20 II, 24b, 24a II LuftVZO und § 4 1. DV LuftPersV.
68 Vgl. § 24d II LuftVZO.
69 So auch Thüsing/Pötters, ZIP 2011, 1886, 1888.
70 Section 47 Employment Equality (Age) Regulations 2006 No. 1031.
71 Article L 1237-5 Code du travail.
72 BAG, NZA 2011, 751.
73 Vgl. etwaEuGH, Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Urt. v. 12.10.2010.
74 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-45/09 – Rosenbladt, Urt. v. 12.10.2010.
75 So auch Thüsing/Pötters, ZIP 2011, 1886, 1887.
76 Vgl. EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt.v.13.9.2011, Rn. 51.
struktur dient.77 Künftig wird man sich verstärkt auf andere Argumentationslinien wie etwa die Verteilung von Beschäftigungschancen stützen müssen.
E. Fazit
Es bleibt festzuhalten: Die deutsche Rechtsprechung bot zur Frage der Rechtmäßigkeit tariflicher Altersgrenzen von Piloten bislang ein einheitliches Bild, welches durch unionsrechtliche Neuerungen nun ins Wanken geraten ist.
Der Argumentationslinie des BAG ließ sich von jeher entgegnen, dass das fortwährend zitierte Sicherheitsrisiko sich nicht auf gerontologische Beweise stützen lässt. Dies hat nun auch der EuGH bemängelt.78 Pauschale und starre Altersgrenzen mögen das Dilemma der Luftfahrtbranche vereinfachen; sie sind aber – jedenfalls unterhalb des allgemeinen Renteneintrittsalters – angesichts des primärrechtlichen Verbots der Altersdiskriminierung nicht haltbar.
Neben seiner rechtlichen Dimension weist die Frage der Altersgrenze für Piloten auch eine gesellschaftspolitische Kehrseite auf: Darf man ältere Arbeitnehmer pauschal als Sicherheitsrisiko stigmatisieren? In einer spektakulären Notlandung auf dem Hudson stellte Pilot Chesley Sullenberger jüngst eindrücklich unter Beweis, dass man auch mit 57 Jahren noch Wunder vollbringen kann.79 Ein gewisses Restrisiko wird sich jedoch nie ausschließen lassen. Nur eines bleibt schlussendlich gewiss: Das letzte Wort in puncto Altersdiskriminierung hat der EuGH.
77 Vgl. BAGE 128, 238.
78 EuGH, Rs. C-447/09 – Prigge, Urt. v. 13.9.2011, Rn. 74.
79 Sog. Wunder vom Hudson, vgl. Gelinsky, FAZ: www.faz.net/artikel/S30176/notlandung-im-hudson-river-hoellisch-gut-30100394.html, Stand: 20.3.2012.