Gastbeitrag: Heimat Europa

Wie die EU Vertrauen schaffen kann – und was das „Europäische Sozialmodell“ verlangt

von Professor Dr. Heribert Prantl *

Die Schirme zur Rettung von Banken, Wirtschaft und Euro sind zig Milliarden groß. Aber die Größe allein bringt es nicht. Jeder weiß, was ein guter Schirm braucht, der bei schwerem Wetter funktionieren soll: Er braucht einen festen Stock, an dem man ihn gut halten kann, und er braucht Speichen, die ihm Stabilität geben; je mehr solcher Streben er hat, umso wetterfester ist er. Schirme von der ungeheuren Größe, wie sie zur Euro-Rettung ausgespannt werden, mögen von der Kanzlerin Merkel, von Präsident Sarkozy und ein paar anderen europäischen Spitzenpolitikern gerade noch aufgespannt werden können; wenn sie den Schirm dann allein festhalten wollen, wird es ihnen ergehen wie dem fliegenden Robert im Struwwelpeter: Er rennt mit dem Schirm ins Ungewitter hinein und schon passiert es: „Seht! Den Schirm erfasst der Wind, und der Robert fliegt geschwind, durch die Luft so hoch, so weit; niemand hört ihn, wenn er schreit.“ Dann fliegt der Schirm mitsamt dem Robert durch die Wolken, und die Geschichte endet mit dem bitteren Satz: „Wo der Wind sie hingetragen, ja das weiß kein Mensch zu sagen.“

Den Regierungen der EU und der EU-Kommission in Brüssel wird es so ergehen, wenn sie glauben, sie könnten den Schirm allein halten. Sie brauchen dazu die Gesellschaften ihrer Länder, und sie brauchen das Vertrauen ihrer Bürger, weil erst dieses Vertrauen dem Schirm die Speichen einzieht. Die Europäische Union braucht das Vertrauen ihrer Bürger, und dieses Vertrauen tropft nicht einfach von den Rettungsschirmen herunter. Ohne dieses Vertrauen bleibt ein Schutzschirm instabil; er flattert, reißt alles mit oder geht kaputt. Wie sehr das Vertrauen geschädigt ist, kann man in jeder Diskussion zu fast jedem Thema hören: Ob es um die verschimmelten Wände im Klo des Kindergartens geht oder darum, dass Lehrer fehlen und Unterrichtsstunden ausfallen – immer und überall gab es wilden Beifall, wenn einer dann nur „500 Milliarden“ sagt: „500 Milliarden für Banken, aber nur ein paar Knöpfe Sozialgeld pro Monat für Kinder von Langzeitarbeitslosen.“

Europa ist das Beste, was den Deutschen, Franzosen und Italienern, den Tschechen und Dänen, den Polen und Spaniern, den Niederländern, Briten und Griechen, den Bayern und Balten etc. etc. in ihrer langen Geschichte passiert ist. Europa ist die Verwirklichung so vieler alter Friedensschlüsse, die den Frieden dann doch nicht gebracht haben. Die Europäische Union ist das Ende eines fast tausendjährigen Krieges, den fast alle gegen fast alle geführt haben. Sie ist ein unverdientes Paradies für die Menschen eines ganzen Kontinents. Das klingt emphatisch, aber es ist so – und doch traut man sich das kaum noch zu sagen, weil solche feierlichen Sätze zu Wortgeklingel werden, wenn und solange die Menschen diese EU nur als Nutzgemeinschaft für die Wirtschaft, aber nicht als Schutzgemeinschaft für die Bürger erleben.

Wer seinen Nationalstaat als Heimat erlebt hat, der will daraus nicht vertrieben werden. Er will, wenn die Heimat Nationalstaat zu schwach wird, Europa als zweite Heimat. Wenn also in europaweiten Protesten Demonstranten immer wieder von ihren Regierungen fordern, in einer globalisierten Welt für ein gewisses Maß an ökonomischem Anstand zu sorgen, dann ist das nicht unbillig. Regeln für ein sozialverträgliches Wirtschaften gehören zum inneren Frieden. Der Sorge um diesen inneren Frieden Rechnung zu tragen – das gehört zu den Grundaufgaben der Europäischen Union. Viele Bürger haben das beklemmende Gefühl, dass die EU zwar für die klassische äußere und innere Sicherheit steht, dass sie für Handel und Wandel von Vorteil ist, dass jedoch die sozialen Belange bei ihr nicht gut aufgehoben sind. Ja es besteht die Furcht, dass im grenzüberschreitenden freien Wettbewerb, den die EU propagiert, das Soziale immer mehr unter die Räder gerät, weil das unterschiedliche Sozialniveau in den einzelnen Mitgliedsstaaten bei offenen Grenzen erstens zum


* Prof. Dr. jur. Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und Leiter der Redaktion Innenpolitik. Er lehrt als Honorarprofessor an der juristischen Fakultät der Universität Bielefeld.

Prantl, Heimat Europa (BLJ 2011, 93)94

Sozialdumping einlädt und zweitens zur Nivellierung der nationalen sozialen Absicherung nach unten führt. Wenn es dieses Gefühl gibt, und es gibt dieses Gefühl, dann reicht es nicht, von den Bürgern Dankbarkeit zu verlangen dafür, dass es die Europäische Union gibt. Europa braucht nicht nur Verträge, es braucht auch das Vertrauen seiner Bürger.

Auf die Forderung nach einem sozialen Europa wird in der politischen Diskussion üblicherweise geantwortet: Die EU sei für Freiheit und Wettbewerb da, die Nationalstaaten hätten für das Soziale zu sorgen. Die Sozialpolitik, heißt es, gehöre nun einmal im Lichte des Subsidiaritätsgrundsatzes auf die mitgliedschaftliche Ebene. Dafür spricht in der Tat einiges. Aber eine solche Aufgabenteilung kann nicht funktionieren, wenn die EU vor allem die Vorfahrt für die Wirtschafts- und Wettbewerbsfreiheit propagiert – dann wird nämlich die Sozialpolitik der Mitgliedsstaaten als Hindernis betrachtet, das beiseitegeräumt werden muss nach dem Motto: freie Bahn der Freizügigkeit, freie Bahn der Dienstleistungsfreiheit, freie Bahn dem Waren- und Kapitalverkehr – weg mit allem, was dabei stört. Vor allem der Europäische Gerichtshof in Luxemburg scheint in diesem Denken verhaftet zu sein: Er agiert und urteilt oft so, als wäre er noch der Gerichtshof der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, als habe er noch nicht gemerkt, dass aus der EWG die EU geworden ist.

Dem Luxemburger Gerichtshof fehlt die soziale Sensibilität, die das Bundesverfassungsgericht auszeichnet. Vor einiger Zeit hat der Europäische Gerichtshof es Bund, Ländern und Gemeinden verboten, öffentliche Aufträge daran zu koppeln, dass die beauftragten Firmen den örtlichen Tarifvertrag einhalten. Das höchste EU-Gericht verwies darauf, dass man ja einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären könne. Das weniger weit gehende Mittel, die Bindung einzelner öffentlicher Aufträge an soziale Grundsätze, nimmt das EU-Gericht dem deutschen Staat aber aus der Hand. Eine solche EU-Rechtsprechung fördert das Lohndumping. Selbst das Streikrecht, das als Grundrecht in den Verfassungen vieler Mitgliedsländer verankert ist, muss derzeit in Luxemburg noch den wirtschaftlichen Grundfreiheiten weichen. Der EU-Gerichtshof ist immer noch eher der juristische Olymp einer EWG, denn der juristische Olymp einer Union der Bürgerinnen und Bürger.

Bei der Reform der Sozialstaaten geht es darum, diese Erfolgsgeschichte fortzusetzen, nicht darum, sie zu beenden. Es geht darum, die Essentialia dessen zu bestimmen, was denn „sozialer Fortschritt“, wie er im Lissabon-Vertrag beschrieben wird, sein soll. Diese Essentialia sind dann der Ausdruck der sozialen Gerechtigkeit. Auf dem Papier ist die EU schon ein wenig sozial geworden: Im Artikel 3 des Lissabon-Vertrages ist nicht mehr nur von einem Europa die Rede, das auf ausgewogenes Wirtschaftswachstum und auf Preisstabilität setzt; dort heißt es auch, dass auf eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft hingewirkt werden soll, die – und jetzt kommt es – auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt. An anderer Stelle aber hat der Lissabon-Vertrag wieder blinde Flecken, etwa dort, wo von den Werten der EU die Rede ist; da werden unter anderem die Demokratie und die Rechtstaatlichkeit genannt – aber die Sozialstaatlichkeit und die soziale Gerechtigkeit sucht man vergebens.

Europäisches Sozialmodell: Das heißt nicht, dass es europaweit gleich hohe Mindestlöhne geben soll oder europaweit das gleiche Arbeitslosengeld oder europaweit die gleichen Renten oder europaweit die gleichen Schulsysteme. Europäisches Sozialmodell: Das heißt auch nicht, dass das Gesundheitswesen in ganz Europa auf die gleiche Art und Weise finanziert sein muss. Ein gesamteuropäischer, glattgehobelt dünner Sozialstaat mit stromlinienförmigen Vorgaben aus Brüssel – das ist kein europäisches Sozialmodell, sondern eher eine Horrorvorstellung. Das Europäische Sozialmodell ist etwas ganz anderes. Es ist die gemeinsame Vorstellung davon, dass soziale Ungleichheit nicht gottgegeben ist. Europäisches Sozialmodell: Das ist guter Schutz und kluge Hilfe bei den großen Lebensrisiken, bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit; das ist der gemeinsame Nenner der europäischen Sozialordnungen. Das Europäische Sozialmodell gibt den Armen nicht nur Bett und Dach, sondern auch ein Fortkommen aus der Armut. Das europäisches Sozialmodell ist ein gemeinsames Koordinatensystem, in dem die Achsen Solidarität und Gerechtigkeit heißen – und in dem dann die einzelnen Staaten ihre jeweiligen Koordinaten finden und von Brüssel, Straßburg und Luxemburg dabei nicht behindert, sondern unterstützt werden.

Ein Europa ohne Europäer ist zum Scheitern verdammt. Nur ein soziales und gerechtes Europa ist auch ein demokratisches Europa. Ein demokratisches Europa ist ein Europa, das den Interessen all seiner Bürger verpflichtet ist, denen der armen und reichen Bürger, denen der starken und schwachen Bürger. In der Präambel der Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft aus dem Jahr 1999 steht der Satz: „…im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“. Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen. Das ist eine gute, eine wichtige, eine zukunftsweisende Devise. Sie gilt nicht nur für die Schweiz. Die Stärke Europas misst sich am Wohl der Schwachen.