Editorial: 50 Jahre europäische Integration

von Professor Dr. Meinhard Hilf*

Die Berliner Erklärung vom 25. März 2007 erinnert an die vor 50 Jahren erfolgte Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957. Die damals gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) sollten eine Entwicklung zur vollständigen Integration der Volkswirtschaften der sechs Gründerstaaten einleiten. Aber bereits sechs Jahre zuvor – am 18. April 1951 – war mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) eine erste Teilintegration beschlossen worden. Als Handreichung der anderen fünf europäischen Staaten war die Bundesrepublik Deutschland von Beginn an in diesen Prozess eingebunden. Der EGKSVertrag erfasste zwar nur den Kohleund Stahlsektor, aber gerade dieser hatte sich als Heizmaterial der voran gegangenen zwei Weltkriege erwiesen. Diese verheerenden historischen Erfahrungen hatten deutlich gemacht, dass Europa aus sich heraus kaum friedensfähig sein würde. Aus dieser Einsicht erwuchs schließlich die Bereitschaft, zumindest Teilsouveränitäten und partielle Hoheitsrechte schrittweise zu vergemeinschaften: Mit dem Kohleund Stahlsektor sollte ein elementarer Wirtschaftszweig nicht mehr den Beschlussbefugnissen der nationalen Verfassungsorgane unterliegen, sondern durch bindende und vorrangige Entscheidungen der hierzu eingesetzten europäischen Organe gesteuert werden. Dieser erste Integrationsvertrag war zunächst nur in französischer Sprache verbindlich. Inzwischen bringt jeder beitretende Staat seine eigene Verfassungssprache mit, so dass das heutige Unionsrecht in über 20 Sprachen vorliegt, unter denen stets auch die Muttersprache der einzelnen Unionsangehörigen enthalten ist.

Aus dem Elan heraus, den die EGKS hatte zu Tage treten lassen, wurde alsbald eine Europäische Verteidigungsund Politische Gemeinschaft (EVG) konzipiert, die allerdings im August 1954 in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Schon damals erwies sich die europäische Integration als ein ebenso neuartiges wie schwieriges Vorhaben, das aber allen Widrigkeiten zum Trotz letztlich unumgänglich war. Einigkeit wurde schließlich am 25. März 1957 erzielt, als die sechs Gründungsstaaten die Römischen Verträge vereinbarten. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) sollten die Grundlage für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker schaffen und sie sollten Frieden und Freiheit festigen (so die Präambeln). Das Endziel blieb somit offen, nur der Weg wurde skizziert und mit ersten Schritten begangen. Damals wie heute: Eine Diskussion um den Endpunkt des Integrationsprozesses, der eigentlich nur die bundesstaatlich zusammengefassten „Vereinigten Staaten von Europa“ hätten sein können, hätte kein Ergebnis erbracht. So ist der Weg letztlich zum Ziel geworden, auf dem auf die wechselnden Anforderungen von außen besser und flexibler reagiert werden kann. Ohnehin sind es die Einflüsse von Seiten äußerer politischer oder wirtschaftlicher Bedürfnisse und Interessen, die sich als Motor der Integration erwiesen haben und diese auch weiter voranbringen werden: Aus sich selbst heraus hätte der Einigungsprozess kaum jemals die Tiefe und vor allem nicht die immer noch gegebene Geschwindigkeit erreicht. Die nicht ausbleibenden Krisen wären


* Der Autor ist Professor an der Bucerius Law School, Hamburg.

Hilf, 50 Jahre europäische Integration (BLJ 2007, 48)49

kaum bewältigt worden. Zu den bewältigten Krisen zählen zum einen das Scheitern des schon angesprochenen Unionskonzeptes aus dem Jahre 1954 sowie später (1965) die von Frankreich gegenüber den anderen Mitgliedstaaten praktizierte „Politik des leeren Stuhls“, die erst nach partieller Aufgabe des Mehrheitsprinzips überwunden werden konnte. Das damals konsentierte Vetorecht für den Fall, dass „wesentliche Interessen“ eines Mitgliedstaates von der Beschlussfassung betroffen waren, gab Frankreich die Möglichkeit, sich wieder dem europäischen Projekt anzuschließen. Es versteht sich von selbst, dass es in einem so engen Verbund die Gemeinschaftstreue gebietet, auf nachgewiesene Schwierigkeiten einzelner Partner angemessen einzugehen.

Der Integrationsprozess erforderte inzwischen mehr als 25 Änderungsverträge. 21 neue Mitgliedstaaten sind bisher beigetreten infolge einer kaum vorherzusehenden Anziehungskraft der europäischen Einigung. Jeder nachfolgende Beitritt wird zwar schwieriger, da der mitwachsende gemeinsame Besitzstand ohne Abstriche zu übernehmen ist. Das schließt naturgegeben Anpassungsverabredungen nicht aus (sogenannte „phase-in“bzw. „phase-out“-Regelungen). „Maastricht“ (1992) war sicherlich der Höhepunkt mit der Bildung einer nahezu alle Teilgebiete umfassenden „Europäischen Union“. Pompidou hatte diesen Begriff vorgeschlagen mit den Worten:

„J’ai une vision – une Union européenne.“ Aber auch hier wusste niemand, was „Union“ eigentlich bedeuten sollte. Die gemeinsame Währung war klar umrissen und ist seither eine unumkehrbare Grundlage für das Zusammenwachsen der zurzeit 13 beteiligten Mitgliedstaaten geworden. Und obgleich sich die vereinbarte gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik schwer tut in der Bewältigung internationaler Krisen, so weiß doch jeder Mitgliedstaat, dass sie unausweichlich ist. Und je größer die Zahl der Mitgliedstaaten ist, desto schwieriger wird eine abweichende Einzelposition durchzuhalten sein. Für Europa sind die gemeinsamen Außengrenzen notwendigerweise verbunden mit einer sich abzeichnenden gemeinsamen Immigrationspolitik. Auch gemeinsame Schritte in die Klimaund Energiepolitik werden folgen. So verlangt die Globalisierung in ihrer facettenreichen Erscheinung mehr und mehr ein Zusammenrücken der zahlreichen Randstaaten am eurasischen Kontinent. Da erscheint es kaum noch erstaunlich, dass die Wiedervereinigung Deutschlands möglich wurde, dass Konflikte um Zypern und Südtirol bewältigt wurden (oder werden). Der neue Artikel 23 des Grundgesetzes (1992) bringt diese Verankerung Deutschlands in seinen verfassungsrechtlichen Grundlagen so zum Ausdruck, dass dessen Gehalt eigentlich für alle Mitgliedstaaten gelten sollte. Hier ist die „Konstitutionalisierung“ Europas als bestehendes Programm vorgeformt. Die Mitgliedstaaten können heute nur noch als „integrierte Staaten“ verstanden werden.

Nur scheint der nächste Schritt in Richtung auf eine Europäische Verfassung zu scheitern (seit 2004). Man mag viele unterschiedliche Gründe hierfür sehen. Völker, die die Verfassung in unausdeutbaren Volksabstimmungen abgelehnt haben, werden sich wie viele andere die Augen reiben. Den Integrationsprozess werden diese Zwischensignale sicher beeinflussen, sicher verzögern, ihn aber nicht zum Stillstand bringen können. Die Union mit ihren gemeinsamen verfassungsrechtlichen Grundlagen, der Herrschaft des Rechts und der marktwirtschaftlichen Prinzipien mit sozialer Abfederung und damit besonderen Anziehungskräften wird wie ein mäandernder Strom Wege finden zur Fortsetzung des historisch gesehen völlig einmaligen Integrationsprozesses. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind kein geeignetes Beispiel hierfür: Es wird in Europa stets eine doppelte Identität der einzelnen als Bürger ihres Heimatstaates und gleichzeitig als Bürger der Union geben. Die einzelnen Mitgliedstaaten werden ihren Platz am „internationalen Tisch“ behalten, wenn auch in engster Solidarität und Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden.

Warum dürfte es einen solchen Integrationsprozess mit der Ausgestaltung einer umfassenden und vorrangigen Rechtsund Verfassungsordnung nur in Europa geben oder gegeben haben? Die Gründe sind nicht klar und schon gar nicht konsentiert: Historische, geografische, wirtschaftliche, philosophische und kulturelle Gründe (auch ohne einheitliche Sprache!) tragen alle zur Begründung der einzigartigen Union der europäischen Völker bei. Die Berliner Erklärung vom 25. März 2007 wird in weiteren 50 Jahren wieder bestätigt werden können: Die Chance für ein friedliches und solidarisches Europa ist selbst angesichts aktueller und künftig noch auftretender Problemlagen gegeben.