Johannes Karl Kühle*
Sicherlich wird die intertemporale Interpretation der Freiheitsgrundrechte durch das BVerfG1 zurecht als verfassungsgerichtliche Revolution gefeiert. Allerdings hat das Gericht die Gelegenheit ausgelassen, der Schutzdimension der Grundrechte scharfe Konturen zu verleihen und insbesondere das von den Beschwerdeführenden eingeforderte Recht auf ein ökologisches Existenzminimum anzuerkennen. Keine vier Monate nach dem Urteil wurde Deutschland nachhaltig von der Hochwasserkatastrophe am 14.7.2021 erschüttert. Dieses Essay geht im Schwerpunkt der Frage nach, ob der normativ und rechtssprachlich bemerkenswerte Diskussionsbeitrag des Ersten Senats zum ökologischen Existenzminimum bereits einer neuen rechtlichen Beurteilung unterzogen werden muss.
A.
„Die deutsche Sprache kennt kaum Worte für die Verwüstung, die hier angerichtet ist“, solidarisiert sich Angela Merkel mit Betroffenen im Katastrophenort Schuld (Rheinland-Pfalz).2, 18.7.2021. Die stärksten Regenfälle seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in Deutschland haben zu einem ungekannten Maß an Vernichtung von menschlichen Leben und wirtschaftlichen Existenzen geführt. Forschende führen die zunehmende Intensität und Eintrittswahrscheinlichkeit solcher Extremwetterereignisse auf den Klimawandel zurück.3, 24.8.2021. Die Gefahren des Klimawandels sind (spätestens) jetzt sichtbar in Deutschland angekommen.
B.
In seinem Urteil äußert sich das BVerfG erstens zur Schutzdimension von Grundrechten und zweitens zum Recht auf ein ökologisches Existenzminimum.
Eine Verletzung der Schutzpflichten aus Art. 2 II 1, 14 I GG lehnt das BVerfG im Ergebnis ab (Rn. 143). Das BVerfG rekurriert lediglich auf seine wenig ausdifferenzierte Rechtsprechung zur Dogmatik von Schutzpflichten (Rn. 152 ff.)
Zwar bestehe eine solche Schutzpflicht auch angesichts der Gefahren durch den Klimawandel. Die Beschwerdeführenden können sich aber nicht mit Erfolg darauf berufen. Ferner sei die in die Zukunft gerichtete Wirkung dieser Schutzpflichten nicht subjektiv einklagbar (Rn. 146).
Bereits keine Klagebefugnis gewähre allerdings das „Recht auf ein ökologisches Existenzminimum“ in Anlehnung an das menschenwürdige Existenzminimum, das Art. 1 I iVm 20 I GG schützt (Rn. 113 ff.).
Das BVerfG äußert sich kurz, aber pointiert zu den Umständen, unter denen ein solches Recht anerkannt werden kann (Rn. 114 f.). Zwar sind diese Ausführungen obiter dictum, sie können dennoch Aufschluss darüber geben, wie das BVerfG im Angesicht von Umweltkatastrophen grundrechtliche Maßstäbe anwenden oder auch neudefinieren wird.
C.
Das BVerfG sieht einerseits die Schnittmengen zwischen dem Schutzanspruch eines „Rechts auf ein ökologisches Existenzminimum“ und der Schutzdimension der Grundrechte aus Art. 2 II 1, 14 I GG. Diese Grundrechte schützten bereits vor „Umweltschäden mit katastrophalen oder gar apokalyptischen Ausmaßen“.
Diese Formulierung klingt nach BVerfG-Sprech und ist auch entsprechend aussagelos. Sie ist entlehnt aus einem Nichtzulassungsbeschluss aus 2010, bei dem die Beschwerdeführerin sich gegen eine Gefahr durch im CERN-Teilchenbeschleuniger angeblich entstehende Schwarze Löcher wandte.4 Mit dem Superlativ „apokalyptisch“ legt das BVerfG nahe, dass es Schutzpflichtverletzungen wegen unzureichender Klimawandelbekämpfung nur restriktiv und wenn überhaupt in ferner Zukunft bejahen wird. Was sich die Richter_innen des Ersten Senats hier als Schwelle vorgestellt haben, bleibt mangels weiterer Ausführungen völlig unklar.
Apokalypse in den Tälern von Ahr und Erft? Angela Merkel nennt die Szene schließlich „surreal und gespenstisch“. Am Ende dürfte klar sein, dass der Begriff der „Apokalypse“ in politischen und philosophischen, sicherlich nicht in juristischen Debatten Platz finden sollte. Darin ließe sich diskutieren, ob es nicht zynisch wäre, den im Jahre 2021 vielerorts realisierten Gefahren des Klimawandels – hitzebedingte Großbrände, starkregenbedingte Überflutungen – die Anerkennung als einigermaßen „apokalyptisch“ zu verweigern.
*Der Autor ist Student an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dieser Beitrag wurde im Rahmen des KlimaEssay Wettbewerbs des Bundesverbands rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V. als zweitbestes Essay ausgezeichnet. Weitere prämierte Texte sind bei FAZ Einspruch, im Völkerrechtsblog und in den Hamburger Rechtsnotizen erschienen. Nähere Informationen und noch weitere Beiträge finden sich auf der Website des Wettbewerbs (www.bundesfachschaft.de/ klimaessay).
1 BVerfG, Beschluss vom 24.3.2021, NVwZ 2021, 951.
2 https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/panorama/merkel-hochwasserkatastrophe-surreal-gespenstisch-hilfe-100.html.
3 https://www.tagesschau.de/inland/studie-starkregen-101.html.
4 BVerfG, Beschluss vom 18.2.2010 – 2 BvR 2502/08, Rn. 13.
Das BVerfG geht zum Glück darüber hinaus und zieht einen eigenen Mehrwert eines Rechts auf ein ökologisches Existenzminimum in Betracht, soweit durch Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen nur Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum, nicht aber „die sonstigen Voraussetzungen sozialen, kulturellen und politischen Lebens“ gesichert werden könnten (Rn. 114). Dieser Gedanke wiederum wird der Sache sehr wohl gerecht und steht in einem denklogischen Zusammenhang mit der intertemporalen Interpretation von Freiheitsgrundrechten. Es kann eben nicht sein, dass die grundrechtliche Freiheit zu emittieren so lange den Vorrang beansprucht, dass am Ende zentrale Voraussetzungen demokratischen Zusammenlebens und immateriellen Wohlstands in Deutschland entfallen. Das BVerfG scheint diesen Satz konkret auf Schutzverpflichtungen des Gesetzgebers durch konsequente Emissionsreduktionen zu beziehen, wenn es nachfolgend auch eine Schutzpflichtverletzung durch „extreme“ Anpassungsmaßnahmen für möglich hält.
Zahlreiche Reportagen veranschaulichen, wie stark neben massiven Zerstörungen und zahlreichen Todesfällen die Voraussetzungen eines nach diesen Grundzügen umrissenen Zusammenlebens in den Katastrophengebieten langfristig eingeschränkt sind.7as Projekt „Dernau danach“, 5. Das BVerfG öffnet die Diskussion für nichtrechtliche Wertungen, wenn es formuliert, dass das ökologische Existenzminimum in einer „nach menschlichen Maßstäben lebensfeindlichen“ Umwelt relevant werden kann (Rn. 114). Daran, dass gegenwärtige Lebensumstände in den betroffenen Tälern das in Deutschland vorausgesetzte Minimum an Grundversorgung unterschreiten, dürften wenig Zweifel bestehen.
Insofern hat das BVerfG sehr zutreffend erkannt, dass Gefahren durch den Klimawandel über das Lebenswichtige hinaus in zahlreiche verfassungsmäßig relevante Belange des öffentlichen Lebens ausstrahlen. Es denkt nur nicht konsequent weiter und verkennt, dass ein Recht auf ein ökologisches Existenzminimum effektiven und umfassenden Grundrechtsschutz ermöglichen würde. Es bestehen vielfältige Risiken durch die zunehmende Degeneration unserer Umwelt, die sich nicht auf die Verletzung von Leben, Gesundheit und Eigentum durch Gefahren des Klimawandels beschränken.
Angesichts des Realismus, den das BVerfG hier im Grundsatz an den Tag legt, muss die Kritik bestärkt werden, dass es im Jahr 2021 diesem Klima- und Umweltschutzgrundrecht die Anerkennung verweigert. War der Eintritt eines solchen Ereignisses ex ante schlicht unvorstellbar, auch für Richter_innen, die intensiv den aktuellen IPCC-Bericht studiert haben?
D.
Für ein solches Recht spricht ganz besonders, dass es eben – klarer als intertemporale Freiheitsgrundrechte – überhaupt die Debatte über ein verfassungsrechtlich zu gewährleistendes Untermaß ermöglicht. Dieses ökologische Minimum unterläge keiner Abwägung mehr mit anderen freiheitsrechtlichen Belangen, die aus rechtsdogmatischen Gründen – wegen der Rechtfertigungsbedürftigkeit der staatlichen Freiheitseinschränkung – eine höhere Durchsetzungskraft aufweisen.6 Die Gerichte könnten eine Grundrechtsverletzung allein vom Ergebnis, nämlich der Unterschreitung des Minimums her beurteilen. Daraus muss aber, wie das BVerfG offensichtlich befürchtet, kein Appell an den Gesetzgeber resultieren, durch eine gerichtlich vorgegebene Maßnahme Abhilfe zu schaffen. Vielmehr könnte sich das Gericht gewaltenteilungsbewusst darauf beschränken, die anderen Gewalten zu allen Mitteln nach ihrem Ermessen (Emissionsreduktions- oder Anpassungsmaßnahmen) verpflichten, die den Eintritt katastrophaler Zustände effektiv verhindern können.7 Das funktioniert selbstverständlich nicht mehr, wenn Klimaschutzmaßnahmen so lange aufgeschoben werden, bis auch freiheitsgrundrechtlich höchstbedenkliche Maßnahmen alternativlos erscheinen.
Durch die Umsetzung des KSG in der urteilsgegenständlichen Fassung könne der Eintritt katastrophaler Zustände verhindert werden, das bescheinigt das BVerfG schließlich der Großen Koalition (Rn. 115). Auch hier, vier Monate später, ein großes Fragezeichen.
E.
Insgesamt dürften die Wertungen des BVerfG in Teilen von den Ereignissen der Unwetternacht überholt worden sein. Abseits der rechtlich nicht handhabbaren Kategorie der „Apokalypse“ muss die Kritik am Urteil des BVerfG hinsichtlich des Rechts auf ein ökologisches Existenzminimum und der Schutzpflichten jedoch relativiert werden. Denn bemerkenswert ist, dass die aus dem Urteil ersichtlichen Maßstäbe der besonders gelagerten Bedrohung durch den Klimawandel durchaus gerecht werden. Es überrascht hingegen, wie wenig konsequent das BVerfG diese Ansätze zu Ende denken möchte, auch wenn man zugesteht, dass eine solche Katastrophe auf deutschem Staatsgebiet im Jahr 2021 sich im Vorhineinder Vorstellungskraft vieler Menschen entzog. Nun aber bestehen konkretisierte Maßstäbe und zunehmende Erfahrungswerte, was der Klimawandel in Deutschland anrichten kann. Das lässt auf eine weitere Revolution der Verfassungsrechtsprechung hoffen. Die Stärkung grundrechtlicher Schutzpflichten und insbesondere die Anerkennung des Rechts auf ein ökologisches Existenzminimum bleibt eine unabdingbare Voraussetzung, um Rechte der heute geborenen und zukünftigen Generationen effektiv zu schützen.
5 https://www.zeit.de/entdecken/dernau-danach/index.
6 Ausführlich SRU (2016), https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/02_Sondergutachten/2016_2020/2019_06_SG_Legitimation _von_Umweltpolitik.pdf?__blob=publicationFile&v=13, S. 129.
7 Ekardt, https://verfassungsblog.de/climate-revolution-with-weaknesses, 8.5.2021.