Anspruchsverfolgung durch den Aufsichtsrat

Oscar Serra de Oliveira*

A. Einleitung

Der Aufsichtsrat hat gemäß § 111 Abs. 1 AktG die Geschäftsführung zu überwachen. Dabei trifft ihn nach der Entscheidung des BGH im Fall ARAG-Garmenbeck1 auch die Pflicht, Ansprüche der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder zu prüfen und über deren Verfolgung zu entscheiden.2 Im ersten Schritt müsse der Aufsichtsrat dabei prüfen, ob und inwieweit tatsächlich Ansprüche gegen den Aufsichtsrat bestehen. Daran anschließend sei auf zweiter Stufe zu prüfen, ob ausnahmsweise von der Verfolgung bestehender Ansprüche abgesehen werden könne.3 Der Aufsichtsrat kann dabei zu dem Ergebnis kommen, dass er Ansprüche gegen den Vorstand nicht verfolgen will.4 Einen wirksamen Vergleich oder Verzicht über die Ansprüche kann der Aufsichtsrat jedoch erst nach 3 Jahren und nur mit Zustimmung der Hauptversammlung abschließen (vgl. § 93 Abs. 4 S. 3 AktG).5 In der folgenden Arbeit sollen deshalb die Möglichkeiten und Grenzen herausgearbeitet werden, in deren Rahmen der Aufsichtsrat von einer Verfolgung von Ansprüchen gegen die Gesellschaft absehen kann.

Folglich wird zunächst erörtert, inwieweit dem Aufsichtsrat bei seiner Entscheidung ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zukommt (B.). Danach wird untersucht, unter welchen konkreten Gesichtspunkten der Aufsichtsrat von einer Verfolgung von Ansprüchen absehen kann (C.). Die Arbeit endet mit einem Fazit (D.).

B. Ermessenspielraum und gerichtliche Kontrolldichte

Nach der Entscheidung des BGH im Fall ARAG-Garmenbeck kann der Aufsichtsrat ausnahmsweise von der Verfolgung von bestehenden Schadensersatzansprüchen gegen den Vorstand absehen. Die Entscheidung sei ausschließlich am Unternehmenswohl auszurichten, welches grundsätzlich die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens verlange. Ein Absehen von der Verfolgung komme nur infrage, wenn gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft die für eine Rechtsverfolgung sprechenden Gesichtspunkte überwiegen oder ihnen zumindest annähernd gleichwertig seien.6 Als mögliche Belange genannt werden negative Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit und das Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit, die Behinderung der Vorstandsarbeit und eine Beeinträchtigung des Betriebsklimas. Gesichtspunkte außerhalb des Unternehmenswohls – gemeint sind solche in der Person des Vorstands – könnten nur in Ausnahmefällen berücksichtigt werden.7 Dabei komme dem Aufsichtsrat bei dieser Entscheidung, die Teil dessen nachträglichen Überwachungstätigkeit sei, kein unternehmerischer Ermessensspielraum zu, da dieser dem Aufsichtsrat nur bei Erfüllung unternehmerischer Aufgaben im Sinne einer präventiven Kontrolle zustehe.8 Lediglich in engen Grenzen sei dem Aufsichtsrat ein Entscheidungsermessen in der Frage zuzubilligen, ob er trotz Erfolgsaussicht einer Haftungsklage aus übergeordneten Gründen des Unternehmenswohls ausnahmsweise von der Durchsetzung eines Schadensersatzanspruchs absehen wolle.9

Fraglich ist, inwieweit diese im ARAG-Urteil aufgestellten Grundsätze heute noch Geltung beanspruchen.

I. Meinungsstand

Die wohl herrschende Meinung hat sich von den Ausführungen des BGH weit entfernt. Dabei ist die Diskussion geprägt von einer Vielzahl an Autoren, die sich gegenseitig widersprechen, faktisch aber zu ähnlichen Ergebnissen gelangen.10 Letztlich lassen sich drei rechtliche Meinungen identifizieren.

1. Anwendung der Business Judgement Rule mit weitem Ermessensspielraum

Am weitesten vom ARAG-Urteil entfernt ist die Einordnung der Verfolgungsentscheidung als unternehmerische Entscheidung im Sinne der Business Judgement Rule (vgl. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG).11 Die Anwendung der Busi-


*Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.

1 BGH, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1997, 1926.

2 Statt Aller: Habersack, in: Goette/Habersack/Kalss (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Aktiengesetz(MüKo), Bd. II, §§ 76-117 AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rn. 34.

3 BGH, NJW 1997, 1926 (1927 f.)

4 Zu möglichen Gründen vgl.: Schnorbus/Ganzer, Wertpapiermitteilungen (WM) 2015, 1832 (1841).

5 Vgl. Fleischer, in Hennsler (GesamtHrsg)/Spindler/Stilz (Hrsg.), Beck-Online Großkommentar zum Aktiengesetz(BeckOGK), Stand: 01.02.2021, § 93 Rn. 342.

6 BGH, NJW 1997, 1926 (1928).

7 BGH, NJW 1997, 1926 (1928).

8 BGH, NJW 1997, 1926 (1928); Der BGH übernimmt dies von Raiser, NJW 1996, 552 (554).

9 BGH, NJW 1997, 1926 (1928).

10 Vgl. dazu Koch, Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht (NZG) 2014, 934 (936).

11 Dafür Paefgen, Die Aktiengesellschaft (AG) 2008, 761 (762 ff.); ders., AG 2014, 554 (572); Zimmermann, Der Betrieb (DB) 2008, 687 (689); Hasselbach/Seibel, AG 2008, 770 (773); Goette, in: Liber amicorum für Martin Winter (GS Winter), 152 (160 f.); ders., Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht (ZHR) 176 (2012), 588 (595); ders., in: Festschrift für Michael Hoffmann-Becking zum 70. Geburtstag (FS Hoffmann-Becking), 377 (393 f.); Kocher, Corporate Compliance Zeitschrift (CCZ) 2009, 215 (219); Mertens, in: Festschrift für Karsten Schmidt zum 70. Geburtstag (FS Schmidt), 1183 (1193 f.); Reichert, in: Festschrift für Peter Hommelhoff zu 70. Geburtstag (FS Hommelhoff), 907 (922 ff.); ders., ZHR 177 (2013), 756 (768); ders., Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2016, 1189 (1195); Eichner/Höller, AG 2011, 885 (893); Bieder, NZG 2015, 1178 (1182 ff.); Fehrenbach, AG 2015, 761 (764 ff.); Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1832 (1842 f.); Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 7 Aufl. 2020, Rn. 461; Krieger, in: Krieger/Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rn. 3.48; Spindler, AG 2013, 889 (898); Mertens/Cahn, in: Zöllner/Noack (Hrsg.), Kölner Kommentar zum Aktiengesetz(KölnKomm), Bd. II/1, §§ 76-94, 3. Aufl. 2010, § 93, Rn. 20; Hopt/Roth, in: Aktiengesetz Großkommentar(GK-AktG), Bd. V, §§ 95-116, 5. Aufl. 2018, § 111 Rn. 339; Hoffmann-Becking, in: Hoffmann-Becking (Hrsg.), Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts(MüHdb-IV), Bd. IV, 5. Aufl. 2020, § 29 Rn. 42; dies andeutend auch: Hemeling, ZHR 178 (2014), 221 (224); für unternehmerische Entscheidung und entsprechendes Ermessen auch schon: Dreher, ZHR 158 (1994), 614 (637 ff.).

Serra de Oliveira, Anspruchsverfolgung durch den Aufsichtsrat27

ness Judgement Rule würde die gerichtliche Kontrolle der Verfolgungsentscheidung nach Maßgabe von §§ 116 S. 1, 93 Abs. 1 S. 2 AktG einschränken, sodass dem Aufsichtsrat bei seiner Entscheidung ein weites Ermessen zugutekommen würde.

Diesbezüglich haben sich vor allem Paefgen und später der am ARAG-Urteil selbst beteiligte BGH-Richter Goette hervorgetan.

a) Der Ansatz von Paefgen

So stellt Paefgen die dem ARAG-Urteil zugrunde liegende Unterscheidung von unternehmerischer Präventivkontrolle, bei der dem Aufsichtsrat ein Ermessen zustehe, und der rechtsgebundenen gerichtlich voll überprüfbaren nachträglichen Kontrolle durch den Aufsichtsrat in Frage.12 Die vom BGH genannten Gesichtspunkte des Gesellschaftsinteresses als Beurteilungskriterien hätten selbst offensichtlich unternehmerische Qualität.13 Bei diesen Erwägungen sei gerade das „Beurteilungsvermögen des Aufsichtsrates als ein mit dem Sachverhalt intim vertrautes, unternehmerisch denkendes und handelndes Gesellschaftsorgan“14 gefragt. Dies ergebe sich zum einen aus der Zukunftsbezogenheit der Entscheidung, zum anderen aus der rechtlichen Unbestimmtheit des Gesellschaftsinteresses.15 Der BGH hingegen betrachte das unternehmerische Ermessen und das Gesellschaftsinteresse fälschlicherweise als Gegensätze, obwohl im Bereich des unternehmerischen Handelns das Gesellschaftsinteresse gerade durch den Aufsichtsrat konkretisiert werde. Denn die Verpflichtung des Aufsichtsrates auf das Gesellschaftsinteresse sei gerade die Grundlage des unternehmerischen Ermessensspielraums.16 Eine klare Unterscheidung der Pflichten des Aufsichtsrates in vergangenheitsbezogene, gebundene Kontrolle und vorausschauende unternehmerische Tätigkeit entspreche zudem nicht der Realität der Aufsichtsratstätigkeit, was sich schon an der Prüfung und Feststellung des Jahresabschlusses nach §§ 171, 172 AktG zeige, welche sich zwar auf die Vergangenheit beziehe, in Form bilanzpolitischer Ermessensentscheidungen aber durchaus einen unternehmerischen Charakter habe, auf den die Business Judgement Rule anwendbar sei.17 Dementsprechend sei auch die Verfolgungsentscheidung durch den Aufsichtsrat eine unternehmerische Entscheidung im Sinne der Business Judgement Rule (18). Dem Aufsichtsrat komme daher ein weiter Ermessensspielraum zugute.19

b) Der Ansatz von Goette

Zu demselben Ergebnis mit entgegengesetzter Argumentation kommt Goette. Die Einordnung als unternehmerische Entscheidung soll sich schon aus der ARAG-Entscheidung selbst ergeben.20 Der BGH habe seine scheinbar klaren Aussagen, die vor allem als Reaktion auf die Vorgehensweise des Berufungsgerichts getroffen wurden, immer wieder selbst relativiert.21 Die Ausführungen des Senats müsse man als Arbeitsanweisungen für das Berufungsgericht verstehen, die lediglich Hinweischarakter hätten, sodass man die teilweise überpointierten Aussagen nicht ohne Einschränkung verstehen dürfe.22 Zu der Frage, warum die Verfolgungsentscheidung eine unternehmerische sein soll, gleicht Goettes Argumentation der von Paefgen. Dem Aufsichtsrat komme die Aufgabe zu, das Unternehmenswohl zu definieren, Vor- und Nachteile zu analysieren und letztlich eine Abwägung zu treffen. Dies sei als unternehmerisches Handeln zu klassifizieren, sodass für den Aufsichtsrat bei dieser komplexen Entscheidung, sofern diese lege artis getroffen wurde, die haftungsbefreienden Regeln der Business Judgement Rule gelten.23

2. Ermessens- oder Beurteilungsspielraum ohne Business Judgement Rule

Neben der Einordnung der Verfolgungsentscheidung als Business Judgement vertreten viele Autoren die – zumindest näher am ARAG-Urteil liegende – Auffassung, dass zwar die Business Judgement Rule nicht anwendbar, die gerichtliche Kontrolle aber trotzdem (mehr oder weniger) eingeschränkt sei.24 Dem Aufsichtsrat wird also ein gewisser Ermessens- oder Beurteilungsspielraum, in dessen Bereich die Entscheidung des Aufsichtsrates gerichtlich nicht überprüfbar ist, zugestanden.

So entnimmt Casper dem durch das UMAG25 eingeführten § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AktG die gesetzliche Wertung, dass Ansprüche gegen den Vorstand grundsätzlich zu verfolgen seien.26 Damit ließe sich aber die Anwendung


12 Paefgen, AG 2008, 761 (762 f.).

13 Paefgen, AG 2008, 761 (763); ders., AG 2014, 554 (571); zustimmend Kocher, CCZ 2009, 215 (220); ebenso Reichert, ZHR 177 (2013), 756 (768); ders., ZIP 2016, 1189 (1195).

14 Peafgen, AG 2008, 761 (763); Ähnlich Reichert, in: FS Hommelhoff (Fn.11), 907 (923).

15 Peafgen, AG 2008, 761 (763).

16 Paefgen, AG 2014, 554 (572); ders., AG 2008, 761 (764); schon ders., Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, S. 146 ff.

17 Paefgen, AG 2008, 761 (763) Fn. 22 m.w.N.; mit ähnlicher Kritik an der Gegensätzlichkeit von nachträglicher Überwachung und unternehmerischem Handeln: Mertens, in: FS Schmidt (Fn. 11), 1183 (1192 f.); Cahn, WM 2013, 1293 (1296).

18 §§ 116 S. 1, 93 Abs. 1 S. 2 AktG

19 Paefgen, AG 2008, 761 (762 ff.).

20 Goette, in: GS Winter (Fn. 11), 152 (159 ff.); ders., ZHR 176 (2012), 588 (594 f.); in diese Richtung auch Krieger/Schneider-Krieger, Rn. 3.48; Fehrenbach, AG 2015, 761 (764 f.); Hasselbach, NZG 2016, 890 (891); zustimmend auch Haarmann/Weiß, Betriebsberater (BB) 2014, 2115 (2124) Fn. 117; MüHdb-IV-Hoffmann-Becking, § 29 Rn. 42.

21 Goette, in: GS Winter (Fn. 11), 152 (155 f.).

22 Goette, ZHR 176 (2012), 588 (592 f.); dahingehend schon: Mertens, in: FS Schmidt (Fn. 11), 1183 (1194 f.).

23 Goette, ZHR 176 (2012), 588 (615); ders., in: FS Hoffmann-Becking (Fn. 11), 377 (393 f.).

24 Casper, ZHR 176 (2012), 617 (635 f.); MüKo-Habersack, § 111 Rn. 44; ders., NZG 2016, 321 (322 f.); BeckOGK-Spindler, § 116 Rn. 63; Dendl, Die Disposition über Organhaftungsansprüche in der Aktiengesellschaft und im Aktienkonzern, 2018, S. 77 ff.; Breuer/Fraune, in: Heidel (Hrsg.), Nomos Kommentar zum Aktiengesetz(NK), Bd. II, §§ 76-117 AktG, 3. Aufl. 2008, § 111, Rn. 14; wohl auch Binder/Kraayvanger, BB 2015, 1219 (1222); Bachmann, Reform der Organhaftung?, in: Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, 2014, Teil E, E 80 f.; Israel, in: Bürgers/Körber (Hrsg.), Aktiengesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2017, § 116 Rn. 16; ähnlich, aber vorsichtiger auch schon: Götz, NJW 1997, 3275 (3277); Kindler, ZHR 162 (1998), 101 (113 f.); gegen die Anwendung der BJR ohne Äußerung zu sonstigen Ermessensspielräumen auch: Bayer, NJW 2014, 2546 (2549); ders./Scholz, NZG 2014, 926 (929).

25 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts.

26 Casper, ZHR 176 (2012), 617 (628 f.).

Serra de Oliveira, Anspruchsverfolgung durch den Aufsichtsrat28

der Business Judgement Rule, bei welcher das Gericht den Abwägungsprozess gar nicht mehr überprüfen könne, nicht rechtfertigen.27 Auf der anderen Seite bestünde jedoch die Gefahr von hindsight bias (Rückschaufehler), zumal es dem Gericht an unternehmerischem Sachverstand fehle.28 Dementsprechend müsste dem Aufsichtsrat durchaus ein weites – gerichtlich nicht überprüfbares – Ermessen im Rahmen der Abwägung zustehen, welches aber erst dann eingreife, wenn tatsächlich Umstände vorgelegen haben, die eine Ausnahme rechtfertigen und der Aufsichtsrat diese Gründe auch seiner Entscheidung zugrunde gelegt und dokumentiert habe.29

Vergleichbar argumentiert Habersack. Überprüfen könne das Gericht lediglich die Feststellung der für die Abwägung maßgeblichen Belange,30 während dem Aufsichtsrat bei der eigentlichen Abwägungsentscheidung ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum als „Ausfluss anderweitig eingeräumten Ermessens“ zukomme,31 sodass das Gericht sich auf eine reine Plausibilitätskontrolle beschränken müsse.32

3. Kein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum

Nach der Gegenansicht bestehen keine Ermessens- oder Beurteilungsspielräume. Die Entscheidung sei vielmehr umfassend gerichtlich überprüfbar.33 Argumentativ unterlegt hat diese Ansicht vornehmlich Koch.

Die Anwendung der Business Judgement Rule auf die Verfolgungsentscheidung sei abzulehnen.34 Der Gesetzgeber habe sich bei der Einführung des 35 durch das UMAG eng an der ARAG-Entscheidung orientiert. Auch den Begriff der unternehmerischen Entscheidung habe der Gesetzgeber daran ausgerichtet, sodass insoweit der Auslegung des BGH gesteigertes Gewicht zuzumessen sei. Dieser habe die Verfolgungsentscheidung als nachträgliche Überwachungstätigkeit und damit gerade nicht als unternehmerische Entscheidung eingeordnet.36 Weiter sei auch die Funktion der Business Judgement Rule – die Verhinderung der Überprüfung einer unternehmerischen Entscheidung durch das dazu nicht fähige Gericht – für die Verfolgungsentscheidung nach der Wertung des Gesetzgebers nicht einschlägig. Dieser habe in Form des 37 bei der Aktionärsklage dem Gericht die Aufgabe erteilt, die grundsätzliche Verfolgungspflicht und die Belange der Gesellschaft selbstständig gegeneinander abzuwägen. Der Gesetzgeber habe daher das Gericht für diese Entscheidung als hinreichend befähigt angesehen.38 Weiter habe der Gesetzgeber mit der Änderung des Aktiengesetzes durch das UMAG das Ziel verfolgt, die gesellschaftsinterne Anspruchsverfolgung effektiver zu gestalten. Dies würde durch eine doppelte Anwendung der Business Judgement Rule – zunächst auf den Vorstand selbst und dann auf die Verfolgungsentscheidung des Aufsichtsrates – konterkariert.39

Auch sonstige Ermessensspielräume sind laut Koch nicht geboten.40 Zwar sei es zutreffend, dass man den Aufsichtsrat für den Fall einer gewissenhaften Prüfung vor einer eigenen Haftung schützen müsse, dies dürfe aber nicht durch die Einschränkung gerichtlicher Kontrolle geschehen, die dann auch außerhalb von Haftungsprozessen reduziert wäre. Denn die Einräumung eines Ermessens bedeute nicht nur, dass man dem Aufsichtsrat keine Pflichtwidrigkeit vorwerfen und damit eine Haftung verhindern könne, sondern auch, dass die Bestandskraft von Entscheidungen nicht überprüft werden könne.41 Zudem sei wiederum § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AktG zu beachten. Im Rahmen des Zulassungsverfahrens der Aktionärsklage nach § 148 AktG habe der Aufsichtsrat demnach keine Einschätzungsprärogative. Dies deute darauf hin, dass dem Aufsichtsrat bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen eine solche auch generell nicht zustehen solle.42

Das Ziel, den Aufsichtsrat bei fehlerhafter Beurteilung vor Schadensersatzansprüchen zu schützen, könne man durch die Ablehnung eines Verschuldens erreichen, sofern der Aufsichtsrat eine nach Ansicht des Gerichts noch vertretbare Entscheidung getroffen habe.43

II. Stellungnahme

Bei der Beantwortung der Frage nach dem Ermessen des Aufsichtsrates bei der Verfolgungsentscheidung und der damit korrespondierenden gerichtlichen Kontrolldichte ist neben dem ARAG-Urteil vor allem zu berücksichtigen, dass sich der Rechtsboden, auf dessen Grundlage die Argumentation stattfinden muss, seit jenem Urteil verändert hat. Durch das UMAG wurde zum einen die schon im ARAG-Urteil thematisierte Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG) kodifiziert und zum anderen das Anspruchsverfolgungsrecht einer Aktionärsminderheit reformiert.44


27 Casper, ZHR 176 (2012), 617 (635).

28 Casper, ZHR 176 (2012), 617 (635 f.).

29 Casper, ZHR 176 (2012), 617 (636).

30 MüKo-Habersack, § 111 Rn. 44; Habersack, NZG 2016, 321 (323).

31 MüKo-Habersack, § 111 Rn. 44.

32 Habersack, NZG 2016, 321 (323).

33 Koch, AG 2009, 93 (97); ders., AG 2012, 429 (431); ders., NZG 2014, 934 (941 f.); ders., in: Born/Ghassemi-Tabar/Gehle (Hrsg.), Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts(MüHdb-VII), Bd. VII, 6. Aufl. 2020, § 30 Rn. 44; ders., in: Hüffer/Koch (Hrsg.), Aktiengesetz, Kommentar, § 111 Rn. 24; Mayer, NZG 2014, 1208 (1210); Cobe/Kling, NZG 2015, 48 (50), Fn. 40; Holle, ZHR 182 (2018), 569 (579 f.); Schneider, DB 2005, 707 (711); Gaul, AG 2015, 109 (112 f.); Lutter, in: FS Hoffmann-Becking (Fn. 11), 747 (753 f.), der aber im Haftungsprozess doch nur eine Vertretbarkeitskontrolle zulässt.

34 Koch, AG 2009, 93 (97); ders., NZG 2014, 934 (941 f.); MüHdb-VII-ders., § 30 Rn. 44; Hüffer/Koch-ders., § 111 Rn. 24; zustimmend Cobe/Kling, NZG 2015, 48 (50).

35 § 93 Abs. 1 S. 2 AktG

36 Koch, AG 2009, 93 (95 f.).

37 § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AktG

38 Koch, AG 2009, 93 (96); Ähnlich ders., NZG 2014, 934 (940): „Warum ein Gericht in der Situation der Aktionärsklage dazu in der Lage sein solle, die Entscheidung des Aufsichtsrats vollumfänglich zu überprüfen, diese Fähigkeit aber einbüßen soll, wenn dissentierende Aufsichtsratsmitglieder eine Feststellungsklage erheben, ist nicht nachvollziehbar.“; zustimmend Holle, ZHR 182 (2018), 569 (580).

39 Koch, AG 2009, 93 (97); MüHdb-VII-ders., § 30 Rn. 44.

40 Koch, AG 2009, 93 (97 ff.).

41 Koch, NZG 2014, 934 (938); dies andeutend auch schon ders., AG 2009, 93 (98).

42 Koch, AG 2009, 93 (98 ff.).

43 MüHdb-VII-Koch, § 30 Rn. 44; ders., AG 2009, 93 (100 f.); für einen Ausschluss auf Verschuldensebene auch Drygala, in: Schmidt/Lutter (Hrsg.), Aktiengesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2020, §116 Rn. 11.

44 Vgl. Koch, Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (ZGR) 2006, 769 ff.

Serra de Oliveira, Anspruchsverfolgung durch den Aufsichtsrat29

1. Verfolgungsentscheidung als Business Judgement?

Zunächst ist deshalb zu klären, ob es sich bei der Entscheidung, etwaige Ansprüche nicht zu verfolgen, um eine unternehmerische Entscheidung handelt, was zur Anwendung der nunmehr kodifizierten und gemäß § 116 S. 1 AktG auch für den Aufsichtsrat geltenden Business Judgement Rule führen würde.

a) Keine unternehmerische Entscheidung nach ARAG/Garmenbeck

Nach Goette45 soll sich die Einordnung als unternehmerische Entscheidung schon aus dem ARAG-Urteil selbst ergeben. Allerdings stellte der II. Zivilsenat zur Verfolgungsentscheidung eindeutig fest, dass dem Aufsichtsrat kein unternehmerischer Ermessensspielraum zustehe.46 Auch Goette hatte sich im Jahre 2000 noch klar gegen ein Ermessen bei der Verfolgungsentscheidung ausgesprochen.47 Hinzu kommt die ständige Rechtsprechung des BGH, die auch nach ARAG/Garmenbeck ein unternehmerisches Ermessen des Aufsichtsrates bei der Verfolgungsentscheidung ablehnt.48 Wäre die Verfolgungsentscheidung aber nach dem Verständnis des BGH eine unternehmerische Entscheidung, dann müsste dieser dem Aufsichtsrat auch ein unternehmerisches Ermessen gewähren. Zuletzt hat sich zudem ein anderer Richter des damaligen zusammen mit zwei Richtern des aktuellen II. Zivilsenats unter Berufung auf das ARAG-Urteil gegen die Einordnung der Verfolgungsentscheidung als unternehmerische Entscheidung ausgesprochen.49 Goettes Interpretation des Urteils erscheint darob nicht gerechtfertigt.

b) Unternehmerische Entscheidung im Sinne der Business Judgement Rule

Das ARAG-Urteil könnte jedoch wegen der Änderung des AktG durch das UMAG schlicht überholt sein. Dies wäre der Fall, wenn die Verfolgungsentscheidung entsprechend der Ansicht von Paefgen50 als unternehmerische Entscheidung im Sinne der Business Judgement Rule einzustufen wäre.

Der Begriff der unternehmerischen Entscheidung ist recht substanzlos und im Gesetz nicht weiter bestimmt.51 Nach der Gesetzesbegründung des UMAG sind unternehmerische Entscheidungen infolge ihrer Zukunftsbezogenheit durch Prognosen und nicht justiziable Einschätzungen geprägt.52 Die vom BGH im ARAG-Urteil genannten Abwägungselemente – negative Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit, Reputationsverlust, Behinderung der Vorstandsarbeit, Einfluss auf das Betriebsklima – erfüllen diese Kriterien, sodass die Verfolgungsentscheidung dem Wortlaut der Gesetzesbegründung nach eine unternehmerische Entscheidung sein könnte.53

aa) Historie

Der BGH hat im ARAG-Urteilfestgestellt, dass die unternehmerische Handlungsfreiheit notwendiges Gegenstück der dem Vorstand obliegenden Führungsaufgabe sei. Der Aufsichtsrat könne ein unternehmerisches Ermessen deswegen nur dort in Anspruch nehmen, wo er im Sinne einer präventiven Kontrolle selbst unternehmerisch tätig wird und gerade nicht im Fall der Verfolgungsentscheidung, die Teil seiner nachträglichen Überwachungstätigkeit54 sei.55 In der Gesetzesbegründung zu § 93 Abs. 1 S. 2 AktG hat der Gesetzgeber bezüglich der Tatbestandsmerkmale der Business Judgement Rule wiederholt auf das ARAG-Urteil Bezug genommen.56 Dies spricht dafür, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff der unternehmerischen Entscheidung – im Gleichlauf mit dem ARAG-Urteil – nur Entscheidungen im Kontext der klassischen Führung des Unternehmens und eben nicht im Kontext der nachträglichen Überwachungstätigkeit erfassen wollte.57 Dafür spricht weiter der in den Gesetzesmaterialien verwendete Begriff des Geschäftsleiterermessens.58 Dementsprechend ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Entscheidung über die Verfolgung von Ansprüchen als Teil der nachträglichen Überwachungstätigkeit anders als Paefgen nicht als unternehmerische Entscheidung eingestuft hat.

bb) Systematik

Gegen die Einordnung als unternehmerische Entscheidung spricht zudem die Systematik des Gesetzes in Gestalt des – wie die Business Judgement Rule durch das UMAG eingeführten – § 148 AktG. Denn im Rahmen des Klagezulassungsverfahrens hat das Gericht gemäß § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AktG eigenständig zu prüfen, ob der Geltendmachung des Ersatzanspruchs keine überwiegenden Gründe des Gesellschaftswohls entgegenstehen.59 Die zu treffende Abwägung entspricht aber bis auf den leicht veränderten Maßstab – „überwiegende Gründe“ statt „gewichtiger Gründe“ – derjenigen, die der Aufsichtsrat bei seiner Verfolgungsentscheidung zu treffen hat.60 Da unternehmerische Entscheidungen gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüfbar sein sollen, weil dem Gericht die entsprechende Kompetenz zur sachgerechten Überprüfung ohne Rückschaufehler fehlt,61 kann es sich bei dieser Abwä-


45 Siehe oben: B.I.1.b).

46 BGH NJW 1997, 1926 (1928).

47 Goette, in: Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof (FS BGH), 123 (139).

48 Siehe nur BGH, NZG 2018, 1301 Rz. 37.

49 Henze/Born/Drescher, Höchstrichterliche Rechtsprechung, 6. Aufl. 2015, Rn. 1252.

50 Siehe oben: B.I.1.a).

51 Vgl. auch Koch, AG 2009, 93 (94).

52 BT-Drucks. 15/5092, S. 11.

53 Paefgen, AG 2008, 761 (763); Haßler, Ermittlungspflichten des Aufsichtsrats bei Anhaltspunkten für Sorgfaltspflichtverletzungen durch den Vorstand unter Berücksichtigung der ARAG/Garenbeck-Entscheidung, 2014, S. 144; soweit zustimmend selbst Koch, AG 2009, 93 (94 f.).

54 Bezüglich der Zuordnung zur nachträglichen Überwachung besteht grundsätzlich Konsens, vgl. nur: MüKo-Habersack, § 111 Rn. 34; Casper, ZHR 176 (2012), 617 (630); Koch, AG 2009, 93; Goette, ZHR 176 (2012), 588 (596); Paefgen, AG 2008, 761 (763).

55 BGH, NJW 1997, 1926 (1928).

56 BT Drucks. 15/5092, S. 11.

57 So auch Koch, AG 2009, 93 (95 f.).

58 BT Drucks. 15/5092, S. 12; Vgl. Dendl, Organhaftung (Fn. 23), S. 71 Fn. 163.

59 Allgemeine Auffassung, statt Aller: Rieckers/Vetter, in: Zöllner/Noack (Hrsg.), Kölner Kommentar zum Aktiengesetz (KölnKomm), Bd. III/2, §§ 142-178, 3. Aufl. 2013, § 148 Rn. 358; vgl. auch schon Spindler, NZG 2005, 865 (867).

60 Koch, AG 2009, 93 (100); Redeke, ZIP 2008, 1549 (1552).

61 Koch, AG 2009, 93 (96); ders., NZG 2014, 934 (941); Hüffer/Koch-ders., § 93 Rn. 9; Reichert, in: FS Hommelhoff (Fn. 11), 907 (923); Paefgen, AG 2008, 761 (763); Fleischer, ZIP 2004, 685 (686); ders., NZG 2008, 371 (372); Bachmann, ZHR 177 (2013), 1 (4).

Serra de Oliveira, Anspruchsverfolgung durch den Aufsichtsrat30

gung nicht um eine unternehmerische Entscheidung handeln, denn der Gesetzgeber hat das Gericht ja anscheinend im Rahmen des Klagezulassungsverfahrens für befähigt gehalten, die Abwägung selbst vorzunehmen.62 Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zu § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AktG wiederum auf die Grundsätze der ARAG-Entscheidung Bezug genommen hat.63

Dementsprechend ist auch Koch zu widersprechen, wenn er meint, dem § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AktG liege die Wertung zugrunde, dass der Gesetzgeber für die – dann doch unternehmerische? – Verfolgungsentscheidung ein judicial second guessing explizit gestattet habe und deswegen die Business Judgement Rule nicht anwendbar sei.64 Denn aus § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AktG ergibt sich vielmehr, dass die Verfolgungsentscheidung schon gar keine unternehmerische Entscheidung ist. Bei Kochs Ansatz ließe sich zudem aufgrund der Unterschiede zwischen Aktionärsklage und Aufsichtsratsentscheidung – die Aktionärsklage ist ein Minderheitenrecht, welches erst nach erfolgloser Aufforderung der AG zur Anspruchsdurchsetzung besteht – eine unterschiedliche gerichtliche Kontrolldichte gerade doch rechtfertigen.65

cc) Telos

Bedenkt man zuletzt das Ziel des Gesetzgebers, durch das UMAG die gesellschaftsinterne Anspruchsverfolgung zu effektuieren,66 so erscheint es widersprüchlich, die Business Judgement Rule, die dem Aufsichtsrat einen weiten Ermessensspielraum geben würde, auf die Verfolgungsentscheidung anzuwenden. Denn es wird sich – in den Worten von Lutter – „irgendein Aspekt aus dem großen Kranz des Wohles der Gesellschaft immer finden“,67 mit dem sich ein Absehen von der Verfolgung rechtfertigen lassen würde. Das würde dem Ziel einer effektiveren Anspruchsverfolgung zuwiderlaufen.

dd) Zwischenfazit

Auch Paefgens Ansatz ist daher abzulehnen. Die Verfolgungsentscheidung ist keine unternehmerische Entscheidung im Sinne der Business Judgement Rule, diese mithin nicht anwendbar.

2. Anderweitiger Ermessens- oder Beurteilungsspielraum

Dem Aufsichtsrat könnte aber ein anderweitiger Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zustehen. Fraglich ist, ob dies mit den Regelungen des UMAG vereinbar ist.

Im Klagezulassungsverfahren ist die Abwägung des grundsätzlichen Verfolgungsinteresses und des möglicherweise gegenläufigen Unternehmenswohls durch das Gericht vorzunehmen.68 Damit hat der Aufsichtsrat jedenfalls im Rahmen der Aktionärsklage keinen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum. Dies muss aber nicht generell gelten. Denn aus § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AktG lässt sich zwar schließen, dass die Verfolgungsentscheidung keine unternehmerische Entscheidung ist,69 dies schließt aber einen sonstigen Ermessensspielraum nicht grundsätzlich aus.70 Ein solches anderweitiges Ermessen würde jedoch zu einem divergierenden Prüfungsmaßstab – volle gerichtliche Kontrolle im Klagezulassungsverfahren; eingeschränkte Kontrolle bei Feststellungsklage durch überstimmte Aufsichtsratsmitglieder und im Haftungsprozess – führen.

Als Begründung für diese Divergenz der Prüfungsdichte werden vor allem zwei Argumente angeführt: Das Klagezulassungsverfahren sei nur für schwere Pflichtverletzungen gedacht71 und die erhöhte Prüfungsdichte rechtfertige sich aus dem speziellen Charakter der Aktionärsklage als Minderheitenrecht.72 Diese Argumente überzeugen kaum. Würde man eine unterschiedliche Kontrolldichte mit der Erheblichkeit der Pflichtverletzung begründen, die im Vorverfahren der Aktionärsklage nach § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AktG geprüft wird, so müsste man konsequenterweise zu dem Ergebnis kommen, dass auch außerhalb der Aktionärsklage bei erheblichen Pflichtverletzungen dem Aufsichtsrat kein Ermessen zustehe und die Entscheidung gerichtlich voll überprüfbar sei.73 Dies wäre theoretisch möglich, wäre aber vor dem Hintergrund, dass auch oberhalb der Erheblichkeitsschwelle eine Abwägung zu treffen ist, zumindest ungewöhnlich und wird auch, soweit ersichtlich, in der Literatur nicht vertreten.74 Wenig überzeugend ist auch das zweite Argument. Zwar ergibt es durchaus Sinn, dass die Verfolgungsentscheidung einer Aktionärsminderheit im Gegensatz zur Entscheidung der Hauptversammlung (vgl. § 147 Abs. 1 AktG) und des Aufsichtsrates einer strengeren gerichtlichen Kontrolle unterliegen soll. Doch müsste dann ein etwaiger Beurteilungsspielraum des Aufsichtsrates auch hier respektiert werden, wenn der Gesetzgeber einen solchen vorgesehen hätte.75 Die beiden Argumente vermögen daher den entstehenden divergierenden Prüfungsmaßstab nicht zu rechtfertigen.

Dabei ist der Hintergedanke einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfbarkeit durchaus verständlich. Es sei schwerlich nachvollziehbar, wenn der Aufsichtsrat für eine vertretbare, lege artis getroffene Nichtverfolgungsentscheidung selber gemäß §§ 116 S. 1, 93 Abs. 2, S. 1 AktG haften müsste.76 Dabei wird jedoch die Tragweite übersehen, die die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte


62 So auch Dendl, Organhaftung (Fn. 23), S. 73 ff.; Redeke, ZIP 2008, 1549 (1557); a.A.: Reichert, ZHR 177 (2013), 756, (769 f.).

63 BT Drucks. 15/5092, S. 22.

64 Koch, AG 2009, 93 (96).

65 Vgl. Bieder, NZG 2015, 1178 (1183).

66 Scholz, Die existenzvernichtende Haftung von Vorstandsmitgliedern in der Aktiengesellschaft, 2014, S. 146; ähnlich Koch, AG 2009, 93 (97).

67 Lutter, in: FS Hoffmann-Becking (Fn. 11), 747 (752).

68 Siehe schon oben: Fn. 56.

69 Siehe oben: B.II.1.b).bb).

70 Koch, NZG 2014, 934 (939); Dendl, Organhaftung (Fn. 23), S. 75.

71 Cahn, WM 2013, 1293 (1297); Goette, ZHR 176 (2012), 588 (599); Reichert, ZHR 177 (2013), 756 (769 f.).

72 Bieder, NZG 2015, 1178 (1183); Wohl auch Habersack, NZG 2016, 321 (323).

73 Koch, AG 2009, 93 (99 f.).

74 Vgl. Koch, NZG 2014, 934 (940).

75 Ähnlich Koch, AG 2009, 93 (99).

76 Dendl, Organhaftung (Fn. 23), S.81 f.; Dies ist wohl auch die Sorge von Casper, ZHR 176 (2012), 617 (635 f.), wenn er von hindsight bias des Gerichts im Haftungsprozess redet; dazu schon Thümmel, DB 1997, 117 (1119).

Serra de Oliveira, Anspruchsverfolgung durch den Aufsichtsrat31

hätte. Denn neben Haftungsklagen gegen den Aufsichtsrat sind auch Feststellungsklagen überstimmter Aufsichtsratsmitglieder möglich, in welchen dann ebenso die – nach Überzeugung des Gerichts – falsche Entscheidung nicht revidierbar wäre,77 obwohl hier die Frage der Haftung des Aufsichtsrates noch gar keine Rolle spielt. Vorzugswürdiger scheint es daher, die Schutzwürdigkeit des Aufsichtsrates auf der Ebene des Verschuldens – welches exklusiv im Haftungsprozess geprüft wird – zu berücksichtigen.78

Daher ist auch den Stimmen, die bei der Verfolgungsentscheidung – anders als im Klagezulassungsverfahren – für einen begrenzten Beurteilungs- oder Ermessensspielraum und eine entsprechende eingeschränkte gerichtliche Kontrolle plädieren, nicht zuzustimmen.

3. Zwischenfazit

Im Ergebnis ist damit mit Koch davon auszugehen, dass dem Aufsichtsrat bei der Verfolgungsentscheidung keine Ermessens- oder Beurteilungsspielräume zustehen und die Entscheidung gerichtlich voll kontrollierbar ist.

C. Die Verfolgungsentscheidung im Einzelnen – Grundlagen und Vorgehensweise

Im zweiten Schritt soll nun untersucht werden, unter welchen Gesichtspunkten der Aufsichtsrat von der Verfolgung von Ansprüchen absehen kann.

I. Maßstab: Grundsätzliche Pflicht zur Anspruchsverfolgung?

Der BGH geht davon aus, dass die Verfolgung von Ansprüchen die Regel und die Nichtverfolgung die Ausnahme sein müsse, da das Unternehmenswohl grundsätzlich die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens verlange. Der Aufsichtsrat sei daher grundsätzlich zur Verfolgung von Ansprüchen verpflichtet.79 Fraglich ist, ob dies überzeugen kann.

1. Ausgangspunkt: Gesellschaftsinteresse

Ausgangspunkt jedweder Überlegungen ist die Verpflichtung des Aufsichtsrates, im Interesse der Gesellschaft zu handeln.80 Dies entspricht auch der Auffassung des BGH.81 Der Bezug zum Unternehmenswohl verlangt grundsätzlich eine Abwägung zwischen den für und gegen eine Verfolgung sprechenden Gesichtspunkten, bei der eine Vorgewichtung nicht stattfinden darf.82 Ein Regel-Ausnahme-Verhältnis soll dazu laut einigen Stimmen nicht passen.83

2. Nähe zu § 93 Abs. 4 S. 3 AktG

Die Annahme eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses könnte durch § 93 Abs. 4 S. 3 AktG Bestätigung finden, nach welchem ein Verzicht oder ein Vergleich über Ersatzansprüche erst nach drei Jahren und nur mit Zustimmung der Hauptversammlung möglich ist.

a) Keine Anwendung auf die Nichtverfolgung

Zunächst ist zwar allgemein anerkannt, dass § 93 Abs. 4 S. 3 AktG über seinen Wortlaut hinaus auch sonstige Rechtsgeschäfte mit vergleichbaren wirtschaftlichen Folgen erfasst,84 weswegen man auch die Nichtverfolgung, deren wirtschaftliche Folgen durch die Verjährung mit denen eines Verzichts vergleichbar sind, unter diese Norm fassen könnte.85 Es sprechen aus dogmatischer Sicht jedoch zwei Gründe gegen die unmittelbare Anwendung von 86. Zum einen sind sowohl der Verzicht und der Vergleich als auch die sonstigen nach herrschender Meinung dem 87 unterfallenden Rechtshandlungen zweiseitige Vereinbarungen, während bei einer reinen Nichtverfolgung der Vorstand selbst nicht mitwirkt.88 Zum anderen ist jedes unter die Norm fallende Verhalten eine aktive Handlung, während es sich bei der reinen Nichtverfolgung um ein ausschließlich passives Unterlassen handelt.89 Daher findet § 93 Abs. 4 S. 3 AktG auf die reine Nichtverfolgung unmittelbar keine Anwendung.90

b) Wertung aus § 93 Abs. 4 S. 3 AktG

Auch wenn § 93 Abs. 4 S. 3 AktG bei der reinen Nichtverfolgung von Ansprüchen nicht zur Anwendung kommt, besteht doch jedenfalls wegen des mit der Verjährung eintretenden wirtschaftlichen Gleichlaufs eine außerordentliche Nähe zum Verzicht.91 Dies lässt sich zur Begründung des vom BGH postulierten Regel-Ausnahmeverhältnisses heranziehen.92 Ein Zweck des § 93 Abs. 4 S. 3 AktG, nämlich einen


77 Dazu Koch, AG 2009, 93 (98).

78 So auch Lutter, in: FS Hoffmann-Becking (Fn. 11), 747 (752 f.); Koch, NZG 2014, 934 (938 f.); ausführlich zum Verschulden in diesem Fall Koch, in: Festschrift für Gerd Krieger zum 70. Geburtstag (FS Krieger), 521 ff.

79 BGH NJW 1997, 1926 (1928).

80 Siehe nur: Mertens, in: FS Schmidt (Fn. 75), 1183 (1186 f.); Goette, in GS Winter (Fn. 11), 155 (161 ff.); Reichert, ZHR 177 (2013), 756 (763); Hüffer/Koch-Koch, § 111 Rn. 17; Holle, ZHR 182 (2018), 569 (575);MüKo-Habersack, § 111 Rn. 41; so schon Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands – Haftungsspielräume in der wirtschaftlichen Krise, 2001, S. 119 ff.

81 BGH, NJW 1997, 1926 (1928), die Begriffe Unternehmenswohl und Gesellschaftsinteresse verwendet der BGH wohl synonym.

82 Holle, ZHR 182 (2018), 569 (575); zustimmend Hüffer/Koch-Koch, § 111 Rn. 17; wohl auch MüKo-Habersack, § 111 Rn. 42.

83 Mertens, in: FS Schmidt (Fn. 11), 1183 (1187); Reichert, ZHR 177 (2013), 756 (763); ders., IN: FS Hommelhoff (Fn. 11), 907 (925); Holle, ZHR 182 (2018), 569 (575); Cahn, WM 2013, 1293 (1297); Haarmann/Weiß, BB 2014, 2115 (2124).

84 Vgl. etwa: Hüffer/Koch-Koch, § 93 Rn. 77; BeckOGK-Fleischer, § 93 Rn. 341; GK-Hopt/Roth, § 93 Rn. 528 f.; Schmidt/Lutter-Sailer-Coceani, § 93 Rn. 64.

85 Dafür: Brommer, Die Beschränkung der Rechtsfolgen der Vorstandsinnenhaftung, 2016, S. 170 ff.; Tröger, ZHR 179 (2015), 453 (477 ff.) a.A: Seibt/Cziupka, DB 2014, 1598 (1601): „kategorial von den Wirkungen eines „Verzichts“ zu unterscheiden“.

86 § 93 Abs. 4 S. 3 AktG

87 § 93 Abs. 4 S. 3 AktG

88 Hölters, in: Hölters (Hrsg.), Aktiengesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2017, § 93 Rn. 310a.

89 BGH, NZG 2014, 1058 Rz. 19.

90 Ebenso: GK-Hopt/Roth, § 93 Rn. 530; Hölters-Hölters, § 93 Rn. 310a; MüKo-Habersack, § 111 Rn. 47.

91 BGH NJW 1997, 1926 (1928); Koch, AG 2009, 93 (101); BeckOGK-Spindler, § 116 Rn. 63; auch schon Lutter, ZIP 1995, 441 (442).

92 Hüffer/Koch-Koch., § 111 Rn. 17; ders., AG 2009, 93 (101); MüKO-Habersack, § 111 Rn. 47; BeckOGK-Spindler, § 116 Rn. 63; a.A: Holle, ZHR 182 (2018), 569 (578); Bieder, NZG 2015, 1178 (1183); Reichert, in: FS Hommelhoff (Fn. 11), 907 (917 ff.).

Serra de Oliveira, Anspruchsverfolgung durch den Aufsichtsrat32

voreiligen Verzicht zu verhindern,93 ist im Fall einer reinen Nichtverfolgung zwar gerade nicht einschlägig.94 Doch dient § 93 Abs. 4 S. 3 AktG zusätzlich auch dem Minderheitenschutz95 und dem Schutz vor kollegialer Rücksichtnahme96 – Aspekte, die auch im Fall der Nichtverfolgung zu beachten sein können. Dagegen wird vorgebracht, dass der genannte Minderheitenschutz bei einer reinen Nichtverfolgung schon durch die §§ 147, 148 AktG gewährleistet sei.97 Dies jedoch zu Unrecht, denn Aktionäre können Ansprüche nur verfolgen, wenn sie von diesen überhaupt erfahren. Wenn der Aufsichtsrat Ansprüche gerade deswegen nicht verfolgt, weil das Bekanntwerden ihrer Umstände dem Unternehmen mehr schaden würde als deren Nichtverfolgung, dann erhalten die Aktionäre auch keine Möglichkeit zur Klage.98 Außerdem ist zu berücksichtigen, dass 99 ausweislich seiner Gesetzeshistorie einen von den 100 unabhängigen Schutzmechanismus darstellt, sodass von den Schutzwirkungen der §§ 147, 148 AktG in Bezug auf die Nichtverfolgung nicht auf die Wertungen des 101 geschlossen werden kann.102

Wenn also eine Minderheit von 10 % der Aktionäre nach § 148 AktG gegen den Willen der Hauptversammlung einen Anspruchsverzicht verhindern kann, dann offenbart dies die grundsätzliche gesetzgeberische Wertung, dass die Verfolgung von Ansprüchen im Regelfall im Unternehmenswohl liegen wird.103

3. Wertung aus § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AktG

Die vorgenannte Wertung ergibt sich – jedenfalls für erhebliche Pflichtverletzungen im Sinne des § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AktG – zusätzlich seit dem UMAG aus § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AktG, nach welchem die Klage zuzulassen ist, wenn der Geltendmachung des Anspruchs nicht überwiegende Gründe des Gesellschaftswohls entgegenstehen. Aus der Regierungsbegründung folgt nämlich, dass – in Anknüpfung an die ARAG-Entscheidung – bewusst auf überwiegende Gründe des Gesellschaftswohls abgestellt wurde, um den Ausnahmecharakter einer Nichtverfolgung zu betonen.104

4. Einfluss der Legalitätspflicht

Nach einer Mindermeinung soll sich die regelmäßige Pflicht zur Anspruchsverfolgung auch aus der aktienrechtlichen Legalitätspflicht105 ergeben,106 da diese sonst nicht effektiv durchgesetzt würde.107 Dies kann indes nicht überzeugen.108

Die Legalitätspflicht verpflichtet den Vorstand zu gesetzmäßigem Handeln.109 Sie könnte damit allenfalls im Falle eines rechtswidrigen Verhaltens des Vorstands eine Verfolgungspflicht begründen.110 Eine allgemeine Verfolgungspflicht, also die Pflicht zwar pflicht-, aber nicht gleichzeitig rechtswidriges Verhalten des Vorstands zu verfolgen, kann sich aus Legalitätspflicht damit keinesfalls ergeben.111 Gegen die Annahme, dass sich aus der Legalitätspflicht überhaupt eine Regelverfolgungspflicht ergibt, spricht aber darüber hinaus, dass eine effektive Durchsetzung der Legalitätspflicht nicht zwangsläufig die Regressnahme erfordert. Vielmehr sind generell entsprechende Maßnahmen zu treffen, die weitere rechtswidrige Handlungen verhindern, was nicht unbedingt durch die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen geschehen muss.112

5. Zwischenfazit

Die Verfolgung von Ansprüchen gegen den Vorstand ist der Regelfall, das Absehen von der Verfolgung die Ausnahme. Dies bedeutet, dass der Aufsichtsrat grundsätzlich zur Anspruchsverfolgung verpflichtet und damit ein Absehen von der Verfolgung besonders begründungsbedürftig ist.113 Dies ist auch mit der grundsätzlichen Ausrichtung am Unternehmenswohl vereinbar, denn aus der Begründungsbedürftigkeit des Absehens von der Anspruchsverfolgung lässt sich kein Rückschluss auf die konkrete Abwägung im Einzelfall ziehen. Wenn das Unternehmenswohl gegen eine Verfolgung spricht, dann besteht eben gerade eine Ausnahme von der Verfolgungspflicht.


93 Allgemeine Meinung, vgl. nur: Zimmermann, in: Festschrift für Konrad Duden zum 70. Geburtstag (FS Duden), 773 (774); Fleischer, AG 2015, 133 (138); KölnKomm-Mertens/Cahn, § 93 Rn. 164; MüKo-Spindler, § 93 Rn. 282.

94 Reichert, in: FS Hommelhoff (Fn. 11), 907 (918).

95 BGH, NZG 2014, 1058 Rz 20; BeckOGK-Fleischer, § 93 Rn. 329; Hüffer/Koch-Koch, § 93 Rn. 76; GK-Hopt/Roth, § 93 Rn. 503.

96 BGH, NZG 2014, 1058 Rz 20; GK-Hopt/Roth, §93 Rn. 506; Jaeger/Trölitzsch, ZIP 1995, 1157 (1161).

97 So Holle, ZHR 182 (2018), 569 (578); Reichert, in: FS Hommelhoff (Fn. 11), 907 (919); ders., ZHR 177 (2013), 756 (770 f.); Bieder, NZG 2015, 1178 (1183); Ähnlich schon Paefgen, AG 2008, 761 (765).

98 Bachmann, in: Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages (Fn. 23), E 41; Holle, ZHR 182 (2018), 569 (578).

99 § 93 Abs. 4 S. 3 AktG

100 §§ 147, 148 AktG

101 § 93 Abs. 4 S. 3 AktG

102 Ausführlich Scholz, Haftung (Fn. 63), S. 150 Fn. 427.

103 Ähnlich: Koch, AG 2009, 93 (100); Jaeger/Trölitzsch, ZIP 1995, 1157 (1158); auch Reichert, in: FS Hommelhoff (Fn. 11), 907 (918), der aber diese Wertung für die Nichtverfolgung ablehnt.

104 BT-Drucks. 15/5092, S. 22; Vgl. auch Koch, AG 2009, 93 (96) Fn. 23; Casper, ZHR 176 (2012), 617 (628).

105 Zur Legalitätspflicht des Vorstands grundsätzlich: Thole, ZHR 173 (2009), 504 ff.; Fleischer, ZIP 2005, 141 ff.; Bayer, in: FS Schmidt (Fn. 11), 85 (88 ff.).

106 So Grigoleit/Tomasic, in: Grigoleit (Hrsg.), Aktiengesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2020, § 111 Rn. 29; Ähnlich Casper, ZHR 176 (2012), 617 (630).

107 Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, § 111 Rn. 29.

108 So auch: Hüffer/Koch-Koch., § 111 Rn. 18; Reichert, in: FS Hommelhoff (Fn. 11), 907 (920 ff.); Bieder, NZG 2015, 1178 (1179); Holle, ZHR 182 (2018), 569 (576 f.).

109 Vgl. Schmidt/Lutter-Sailer/Coceani, § 93 Rn. 7; KölnKomm-Mertens/Cahn, § 93 Rn. 71; BeckOGK-Fleischer, § 93 Rn. 28 jeweils m.w.N.; Umstritten ist die Frage, ob die Legalitätspflicht auch bei Verletzung einer Vertragspflicht greift, siehe dazu: Thole, ZHR 173 (2009), 504 (518 f.).

110 Dafür Schütz, in: Semler/v. Schenk (Hrsg.), Der Aufsichtsrat, Kommentar, §§ 95-116, 170-172, 394 und 395 AktG, 1. Aufl. 2015, § 111 Rn. 291.

111 Ähnlich Bieder, NZG 2015, 1178 (1179).

112 Ausführlich Reichert, in: FS Hommelhoff (Fn. 11), 907 (920 ff.); Zustimmend Bieder, NZG 2015, 1178 (1179); Holle, ZHR 182 (2018), 569 (576 f.).

113 So auch: Hüffer/Koch-Koch, § 111 Rn. 17; MüHdb-VII-Koch, § 30 Rn. 35; Fehrenbach, AG 2015, 761 (765).

Serra de Oliveira, Anspruchsverfolgung durch den Aufsichtsrat33

II. Bedeutung für die konkrete Verfolgungsentscheidung als einzelfallbezogene Abwägung

a) Grundsatz

Aus der grundsätzlichen Orientierung der Verfolgungsentscheidung am Unternehmenswohl ergibt sich, dass das Gesellschaftsinteresse dann ein Absehen von der Anspruchsverfolgung verlangt und rechtfertigt, wenn sich die Anspruchsverfolgung negativ auf das Gesellschaftsvermögen auswirken würde.114 Letztendlich sind also die Auswirkungen einer Anspruchsverfolgung auf das Gesellschaftsvermögen zu saldieren.

b) In der Abwägung zu berücksichtigende Belange

aa) Unmittelbar finanzielle Aspekte

Jedenfalls in die Abwägung einzustellen sind demnach die unmittelbar finanziellen Auswirkungen einer Anspruchsverfolgung, also die im Falle eines Erfolges beitreibbare Summe sowie entsprechende Rechtsverfolgungskosten unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Prozessrisikoanalyse. Genauso ist mit sonstigen klar in Geld messbaren Faktoren umzugehen.

Das Bedürfnis nach einer grundsätzlichen Bagatellgrenze, unter welcher Ansprüche grundsätzlich nicht verfolgt werden müssen, ist nicht ersichtlich.115 Denn wenn die Anspruchsverfolgung sich positiv auf das Gesellschaftsvermögen und damit das Gesellschaftswohl auswirkt, dann sollte der Anspruch auch verfolgt werden. Gleichwohl wird bei entsprechend niedrigen Schadenssummen eine Anspruchsverfolgung wegen der weiteren zu berücksichtigen Faktoren, die mittelbar auch einen Einfluss auf das Gesellschaftsvermögen haben,116 häufig nicht dem Unternehmenswohl entsprechen und damit zu unterlassen sein. Dies muss jedoch eine Frage des Einzelfalls bleiben.

bb) Sonstige Belange der Gesellschaft

Zu berücksichtigen sind aber auch die vom BGH genannten möglicherweise entgegenstehenden Belange der Gesellschaft: negative Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit, Reputationsverlust, Beeinträchtigung der Vorstandsarbeit und des Betriebsklimas.117 Diese sind zwar schwer in Geld quantifizierbar, können mittel- bis langfristig aber doch einen negativen Einfluss auf das Gesellschaftsvermögen haben und sind dementsprechend zu berücksichtigen.118 Der Aufsichtsrat ist insoweit gezwungen, die finanziellen Auswirkungen zu schätzen.119 Das Ergebnis dieser Schätzung ist dann in die Abwägung miteinzubeziehen. Über die im BGH-Urteil genannten möglichen Gesellschaftsbelange hinaus wurden in der Literatur und der Instanzrechtsprechung zahlreiche weitere Aspekte des Unternehmenswohls herausgearbeitet, welche das Absehen einer Anspruchsverfolgung rechtfertigen können.120

Dabei ist jedoch zu beachten, dass wegen der aus dem Regel-Ausnahme-Verhältnis resultierenden besonderen Begründungsbedürftigkeit des Absehens von der Anspruchsverfolgung eine pauschale Rechtfertigung mit den entsprechenden Belangen der Gesellschaft nicht ausreichen kann. Vielmehr müssen konkrete Umstände vorliegen, die die Annahme entsprechender negativer Auswirkungen auf das Gesellschaftswohl rechtfertigen.121

cc) Keine Einbeziehung unternehmensfremder Aspekte

Nach dem ARAG-Urteil kann der Aufsichtsrat andere Gesichtspunkten als solche des Unternehmenswohls – erwähnt werden soziale Konsequenzen für den Vorstand – nur in Ausnahmefällen berücksichtigen.122 Mit einer am Gesellschaftswohl orientieren Abwägung lässt sich solch eine Einbeziehung außergesellschaftlicher Interessen jedoch schwer vereinbaren.123 In die Abwägung mit entgegenstehenden Belangen der Gesellschaft können solche Aspekte demnach nur einbezogen werden, soweit sie Auswirkungen auf Belange des Unternehmens – denkbar wäre beispielsweise die Gefahr, wegen einer rücksichtslosen Regressnahme keine kompetenten Vorstände mehr anwerben zu können124 – haben.125

In der Literatur wird deswegen zunehmend eine Begrenzung des Regresses der Höhe nach diskutiert, um den Vorstand vor einer existenzvernichtenden Haftung126 zu schützen. Grundlage dieser Regressbeschränkung soll die gesellschaftliche Fürsorgepflicht127 – teilweise unter Rückgriff auf arbeitsrechtliche Wertungen128 – sein. Im Ergebnis soll entweder der Anspruch der Gesellschaft gegen den Vorstand von Anfang an nur in begrenzter Höhe entstehen129 oder nach Einrede des Vorstands nur begrenzt


114 Wilsing, in: Festschrift für Georg Maier-Reimer zum 70. Geburtstag (FS Maier-Reimer), 889 (891); Mertens, in: FS Schmidt (Fn. 11), 1883 (1187); Casper, ZHR 176 (2012), 617 (632); Scholz, Haftung (Fn. 63), S. 121; Wohl auch Redeke, ZIP 2008; 1549 (1554 ff.).

115 Für eine Bagtellgrenze aber Casper, ZHR 176 (2012), 617 (634); wohl auch BeckOGK-Spindler, § 116 Rn. 64.

116 Dazu sogleich.

117 BGH NJW 1997, 1926 (1928).

118 So wohl auch Goette, in: GS Winter (Fn. 11), 153 (164 f.).

119 Casper, ZHR 176 (2012), 619 (632); Scholz, Haftung (Fn. 63), S. 121.

120 Für eine ausführliche Auflistung siehe: Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1832 (1841).

121 So auch Casper, ZHR 176 (2012), 619 (632); Scholz, Haftung (Fn. 63), S. 121; ähnlich Hasselbach/Seibel, AG 2008, 773 (774); Binder/Kraayvanger, BB 2015, 1219 (1222 f.).

122 BGH, NJW 1997, 1926 (1928).

123 So auch: Paefgen, AG 2008, 761 (763); ders., Unternehmerische Entscheidungen (Fn. 16), S. 146; Bayer, in: FS Schmidt (Fn. 11), 85 (99); Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, § 111 Rn. 16; Lutter/Krieger/Verse (Fn. 11), Rn. 461; Krieger/Schneider-Krieger, Rn. 3.48; Lutter, ZIP 1995, 441 (442); kritisch schon Horn, ZIP 1997, 1137 f.; a.A. wohl Habersack, ZHR 177 (2013), 782 (801).

124 Reichert, ZIP 2016, 1189 (1194).

125 Fehrenbach, AG 2015, 761 (768); Hüffer/Koch-Koch, § 111 Rn. 20; Reichert, ZIP 2016, 1189 (1194); ähnlich Goette, in. GS Winter (Fn. 11), 153 (164 ff.); Grigoleit-Grigoleit/Tomasic, § 111 Rn. 16.

126 Koch… uneingeschränkte Haftung des Vorstands für angemessen hält“.

127 Koch., AG 2012, 429 (433); ders., AG 2014, 513 (514); Brommer, AG 2013, 121 (128 ff.); Reichert, ZHR 177 (2013), 756 (776); Casper, ZHR 176 (2012), 617 (636 ff.); Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1877 (1878 f.); Mack, Die Regresshaftung von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft- Voraussetzungen und Möglichkeiten ihrer Begrenzung, 2015, S 228 ff.

128 Koch, in: GS Winter (Fn. 11), 327 (339 ff.); ders., AG 2012, 429, (435 ff.); Brommer, AG 2013, 121 (129 f.); für Beschränkung nur aus arbeitsrechtlicher Wertung: Wilhelmi, NZG 2017, 681 ff.; Bachmann, ZIP 2017, 841 ff.

129 Koch, AG 2014, 513 (520); Hüffer/Koch-ders., § 93 Rn. 52.

Serra de Oliveira, Anspruchsverfolgung durch den Aufsichtsrat34

durchsetzbar sein.130 Ob eine solche Regressbeschränkung tatsächlich existiert,131 ist hier nicht weiter zu erörtern. Denn wenn ein Anspruch schon nur in bestimmter Höhe entsteht oder durchsetzbar ist, dann stellt sich die Frage der Verfolgung dieses Anspruchs über diese Grenze hinaus nicht.

dd) Pflicht zur Offenbarung eigenen Fehlverhaltens

In Anknüpfung an ein BGH-Urteil aus dem Jahr 2018132 stellt sich die Frage, ob der Aufsichtsrat von der Anspruchsverfolgung absehen kann, wenn er damit gleichzeitig eigene Pflichtverletzungen aufdecken müsste.

Dabei ist grundsätzlich umstritten, inwieweit das aus Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG abgeleitete Verbot der Pflicht zur Selbstbezichtigung (nemo tenetur) auch im Kapitalgesellschaftsrecht Geltung findet.133 Das Problem wird besonders relevant, wenn man sich klar macht, dass bei Pflichtverletzungen des Vorstands häufig auch ein Überwachungsverschulden des Aufsichtsrates im Raum steht.134

Dem BGH ist zuzustimmen, wenn er in diesem Zusammenhang die besondere Überwachungs- und Schutzfunktion des Aufsichtsrates betont.135 Denn wenn der Aufsichtsrat schon seine präventive Überwachungsfunktion nicht pflichtgemäß erfüllt hat, dann wäre es absurd, ihn gerade deswegen von der Pflicht zur nachträglichen Überwachung – in Form der Aufklärung und Verfolgung von Schadensersatzansprüchen – zu befreien.136 Diesbezüglich ist dem Aufsichtsrat auch eine mittelbare Aufdeckung seiner eigenen Pflichtverletzung zumutbar, hat er doch das Aufsichtsratsmandat und damit die Aufgabe zur Überwachung des Vorstands freiwillig übernommen.

Dies gilt sogar für die Offenbarung strafrechtlichen Verhaltens. Denn die Gefahr der strafrechtlichen Haftung ließe sich durch ein entsprechendes strafrechtliches Beweisverwertungsverbot verhindern.137 Außerdem wäre es widersprüchlich, wenn der Aufsichtsrat grundsätzlich eigenes Fehlverhalten im Rahmen der Anspruchsverfolgung aufdecken müsste, diese Pflicht aber bei besonders krassem Fehlverhalten – in Form einer Straftat – nicht bestehen würde.138

Dementsprechend findet das Selbstbezichtigungsverbot aus Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG bei der Verfolgungsentscheidung keine Anwendung. Der Aufsichtsrat kann nicht aus dem Grund von der Verfolgung von Ansprüchen absehen, dass er dabei mittelbar eigenes Fehlverhalten aufdecken muss.139

D. Fazit in Thesen

Der Aufsichtsrat hat bei der Entscheidung, von der Verfolgung von Ansprüchen gegen den Vorstand abzusehen, keinen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum. Seine Entscheidung unterliegt im Klagefall der vollen gerichtlichen Kontrolle.

Der Aufsichtsrat ist grundsätzlich zur Verfolgung von Ansprüchen gegen den Vorstand verpflichtet. Das Absehen von der Anspruchsverfolgung ist als Ausnahme von dieser Regel durch den Aufsichtsrat besonders zu begründen.

Die Entscheidung über die Anspruchsverfolgung ist einzig am Unternehmenswohl auszurichten. Bei der Entscheidung sind die unmittelbar finanziellen Auswirkungen sowie sonstige hinreichend konkret bestimmbare Belange der Gesellschaft, die mittelbar einen Einfluss auf das Gesellschaftsvermögen haben, zu berücksichtigen. Der Aufsichtsrat kann von der Anspruchsverfolgung absehen, wenn die Anspruchsverfolgung sich letztlich negativ auf das Gesellschaftsvermögen auswirken würde.

Unternehmensfremde Aspekte darf der Aufsichtsrat bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigen. Soziale Konsequenzen für den Vorstand können deshalb nur dann berücksichtigt werden, wenn sie mittelbar auch Belange des Unternehmens betreffen.

Die Pflicht des Aufsichtsrates zur Anspruchsverfolgung entfällt auch dann nicht, wenn dieser durch die Verfolgung mittelbar eigene Pflichtverletzungen aufdecken müsste. Er kann deswegen nicht von der Verfolgung von Ansprüchen gegen den Vorstand absehen.


130 Mack, Regresshaftung (Fn. 120), S 232 f.; wohl auch Casper, ZHR 176 (2013), 617 (640 ff).

131 Dies kann man mit guten Gründen bezweifeln. Vgl. Schöne/Petersen, AG 2012, 700 (704 f.); kritisch auch Gaul, AG 2015, 109 (113); Grunewald, AG 2013, 813 (814 f.).

132 BGH, NZG 2018, 1301 – Easy Software.

133 Dabei geht es im Vordergrund um den Fall, dass ein Geschäftsleiter eine eigene Pflichtverletzung verschweigt und diese darauf hin verjährt. Der Großteil der Literatur verneint eine Pflichtverletzung durch das Verschweigen. Siehe: MüKo-Spindler, § 93 Rn. 327; Grunewald, NZG 2013, 841 (845); Hölters-Hölters, § 93 Rn. 339; Fleischer, AG 2014, 457 (461) jeweils m.w.N.

134 Vgl. Faßbender, NZG 2015, 501 (507); zustimmend Fleischer, ZIP 2018, 2341 (2347); Bachmann, in: Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages (Fn. 23), E 68 f.; so auch der BGH, NZG 2018 2117, Rz. 46.

135 BGH, NZG 2018, 1301 Rz. 46; zustimmend auch: Bayer/Scholz, NZG 2019, 201 (206 f.); Jenne/Miller, AG 2019, 112 (120 f.).

136 So wohl auch Jenne/Miller, AG 2019, 112 (121).

137 Dies andeutend auch: BGH, NZG 2018, 1301 Rz. 48.

138 Vgl. Bayer/Scholz, NZG 2019, 201 (207).

139 So auch: Jenne/Miller, AG 2019, 112 (120 f.); Bayer/Scholz, NZG 2019, 201 (206 f.); vorsichtiger Fleischer, ZIP 2018, 2341 (2348); a.A.: Cahn, ZHR 184 (2020), 297 (316 ff.).