Antonia Michel*
A. Einleitung
Die Praxis der Urteilsabsprachen beschäftigt die Strafrechtswissenschaft schon seit Jahrzehnten. Der Gesetzgeber hat die Gefahren einer informellen Praxis der Verständigung schließlich erkannt und hat mithilfe des Verständigungsgesetzes vom 29.07.2009 eine Eindämmung sowie Disziplinierung von Verfahrensabsprachen angestrengt. Ziel dieser Arbeit ist es, die Aufmerksamkeit auf ein weniger bekanntes und beleuchtetes Problem der Verständigung zu lenken: es geht um die Unsicherheit des geltenden Rechts der Verständigung in Bezug auf das Recht des Strafbefehls de lege lata. Dabei gilt es zu analysieren und zu bewerten, inwiefern das Recht des Strafbefehls de lege lata eine offene Flanke für die vom Gesetzgeber angestrebte Eindämmung beziehungsweise Disziplinierung von Verfahrensabsprachen darstellt und ob Änderungsbedarf besteht.
B. Hauptteil – Untersuchung
I. Verfahrensabsprachen
1. Konsens im Strafverfahren
Der allgemeine Begriff der Verfahrensabsprache umfasst vielfältige Formen von Absprachen im gesamten Strafverfahren.1 Den verschiedenen Begriffen liegt der Gedanke des gegenseitigen Einvernehmens, Übereinstimmen und der Zustimmung zugrunde: Konsensfindung.2 Dabei umfasst das Konsensprinzip3 alle Erledigungsformen, bei denen der Beschuldigte dem Verfahrensergebnis zustimmen muss oder er die Wahl des Verfahrens beeinflussen kann.4
Verfahrensabsprachen sind Ausdruck einer Kollision von Theorie und Praxis. Die Ziele des deutschen Strafverfahrens stellen hohe Anforderungen an die Strafjustiz: sie soll Rechtsfrieden herstellen beziehungsweise wiederherstellen und das unter ständiger Beachtung des Legalitätsprinzips und der Pflicht zur Ermittlung der materiellen Wahrheit.5 Die Umsetzung dieser Vorstellungen und Anforderungen der Theorie in jedem Verfahren ist höchst idealistisch und kollidiert mit der Praxis einer überlasteten Strafjustiz.6 Verfahren mit konsensualen Elementen sollen durch Verzicht auf eine vollständige Hauptverhandlung und vollumfängliche Beweisaufnahme Abhilfe und Entlastung schaffen. Sie bieten die Möglichkeit, die Wahrheitsermittlung prozessökonomischer zu gestalten als im bisherigen Normalverfahren unter Beachtung des Amtsermittlungsgrundsatzes.7
2. Analyse der Eindämmungsbestrebungen anhand des Verständigungsgesetzes
Die Praxis der Verständigung ist mit den traditionellen Prozesszielen des Strafverfahrens schwer in Einklang zu bringen. Kollisionen mit den Prozessgrundsätzen und Verteidigungsrechten sind unvermeidlich.8 Für Verfahrensabsprachen bleibt deswegen nur ein gewisser Raum, der gesetzlich geregelt gehört.9 Diesem Bedürfnis ist der Gesetzgeber am 29.07.2009 nachgekommen. Er hat das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren erlassen, in dem die vorangegangene höchstrichterliche Rechtsprechung kodifiziert wurde. Weitere Regelungen zum Recht der Verständigung finden sich in §§ 35a S. 3, 160b, 202a, 212, 243 IV, 257b, 267 III 5, 273 Ia, 302 I 2. Diese Normen sollen die Verfahrensabsprachen in der Hauptverhandlung eindämmen beziehungsweise disziplinieren.10
Der neu geschaffene rechtliche Rahmen sorgt zum einem für eine verbesserte Rechtssicherheit im Hinblick auf Verständigungsgespräche.11 Zum anderen werden durch das Beweisverwertungsverbot eines Geständnisses gemäß § 257c IV und die Unzulässigkeit des Rechtsmittelverzichts nach § 257c II 3 die Rechte des Angeklagten gestärkt.12 Besonders wichtig sind die neu geschaffenen Mitteilungs- und Protokollierungspflichten gemäß §§ 243 IV, 257c IV, V, 273 Ia, die für Transparenz und Kontrolle durch die Rechtsmittelgerichte sorgen.13 Der Gesetzgeber hat die Verständigung im Rahmen seiner Eindämmungsbestrebungen geregelt, um einen Missbrauch zulasten des Angeklagten zu verhindern.14 Verständigungen, die sich außerhalb dieser neuen Regelungen vollziehen, sind rechtswidrig und können in keinem Fall mit den Prozessgrundsätzen des Strafrechts in Einklang gebracht werden.15
II. Recht des Strafbefehls
1. Strafbefehlsverfahren
Das Strafbefehlsverfahren nach §§ 407 ff. eröffnet bei Vergehen die Möglichkeit eines summarischen Verfahrens.16
* Die Autorin ist Studentin an der Bucerius Law School, Hamburg. Alle im Folgenden aufgeführten Normen ohne Gesetzesbezeichnung sind solche der StPO.
1 Vgl. Prelle, KritV 2011, 331, 349; Harms, in: FS Nehm, 2006, S. 289, 292 f.
2 Prelle, KritV 2011, 331, 344.
3 Zu den Problemen des Konsensbegriffs siehe Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren: Leitidee für eine Gesamtreform, 2002, S. 14 f, 30 ff., sie versteht Konsens als Legitimationsprinzip.
4 Vgl. Prelle, KritV 2011, 331, 344.
5 Weigend, ZStW 113 (2001), 271.
6 Landau, NStZ 2014, 425, 431.
7 Vgl. Prelle, KritV 2011, 331, 344.
8 Rönnau, Die Absprache im Strafprozess: eine rechtssystematische Untersuchung der Zulässigkeit von Absprachen nach dem geltenden Strafprozessrecht, 1990, S. 217; Landau, DRiZ 1995, 132, 133.
9 Ebd.
10 Göttgen, Prozessökonomische Alternativen zur Verständigung im Strafverfahren, 2019, S. 14.
11 Vgl. Geuenich/Höwer, DStR 2009, 2320, 2324; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2628.
12 Ebd.
13 Ebd.
14 Vgl. Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2631.
15 Knauer, in: FS v.Heintschel-Heinegg, 2015, S. 245, 256.
16 Gaede, in: Löwe/Rosenberg, Großkommentar Strafprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz27, 2022, Vor § 407, Rn. 20.
Im summarischen schriftlichen Verfahren wird auf die mündliche Anhörung und eine Hauptverhandlung verzichtet, es handelt sich mithin um ein abgekürztes Verfahren.17 Sein konsensuales Element erfährt der Strafbefehl zum einen durch § 408 III 2, der eine Übereinstimmung von Gericht und Staatsanwaltschaft in Bezug auf den Erlass des Strafbefehls fordert,18 zum anderen durch den Einspruchsvorbehalt des Beschuldigten.19 Der Beschuldigte hat nach § 410 I 1 die Möglichkeit, innerhalb von zwei Wochen Einspruch einzulegen. Ein erlassener Strafbefehl wird nach § 410 III nur dann rechtskräftig, wenn der Beschuldigte keinen Einspruch einlegt. Das konsensuale Element – die Anerkennung des Schuldvorwurfs – besteht mithin darin, dass der Beschuldigte auf den Einspruch verzichtet.20
2. Absprachen im Strafbefehlsverfahren
Angesichts der schon bestehenden konsensualen Elemente eignet sich der Strafbefehl exzellent für Absprachen.21 Ähnlich der Verständigung hat sich in besonders komplexen Fällen eine Praxis des abgesprochenen Strafbefehls entwickelt.22 Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung haben in diesen Fällen ein beachtliches Interesse daran, eine aufwändige und langwierige Hauptverhandlung mit hohen Kosten und hohem Zeitaufwand zu vermeiden.23 Für den Beschuldigten bedeutet der summarische und schriftliche Charakter des Strafbefehls in der Regel eine geringe Einflussmöglichkeit auf den Inhalt des Strafbefehls.24 In Betracht kommt zum einen eine Absprache, die darauf abzielt, dass die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl beantragt, anstatt nach § 170 I Anklage zu erheben.25 Staatsanwaltschaft und Verteidigung einigen sich aber nicht nur auf den Erlass des Strafbefehls, sondern oftmals auch auf dessen Inhalt.26 In den meisten Fällen erfolgt innerhalb der Absprache auch ein Einspruchsverzicht des Beschuldigten.27
Spätestens seit Einführung des § 160b sind verfahrensbeendende Absprachen auch im Ermittlungsverfahren zulässig und mithin auch im Strafbefehlsverfahren, sofern sie den gesetzlichen Rahmen der §§ 407 ff beachten.28 Die Staatsanwaltschaft darf den Erlass eines Strafbefehls daneben auch nicht von sachfremden Erwägungen abhängig machen.29 Weitergehende Reglungen einer solchen Praxis der Absprachen gehen aus dem Recht des Strafbefehls de lege lata nicht hervor. Zum Beispiel bleibt die Frage der Verbindlichkeit einer solchen Absprache weiterhin ungeklärt und damit unsicher.30
3. Anwendungsbereich
Der Strafbefehl hat den Ruf, ausschließlich Bagatelltaten zu ahnden, die bei der Staatsanwaltschaft in großen Massen anfallen und so die Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz belasten.31 Darunter fallen Verkehrsdelikte, Ladendiebstahl, Leistungserschleichung im ÖPNV und einfache Betäubungsmittelfälle.32
Die weitgehenden Reformierungen des Strafbefehlsverfahren, insbesondere das Strafverfahrensänderungsgesetz von 1987 und das Rechtspflegeentlastungsgesetz vom 01.03.1993, haben zu einer Ausweitung seines Anwendungsbereichs geführt.33 1987 wurde § 408a eingeführt, der einen Wechsel ins Strafbefehlsverfahren auch noch nach Eröffnung der Hauptverhandlung ermöglicht.34 Seit 1993 kann im Strafbefehlsverfahren auch eine Freiheitsstrafe als Rechtsfolge verhängt werden, die aber nach § 407 II 2 zur Bewährung und unter Mitwirkung eines Verteidigers ausgesetzt werden muss.35 Der Strafbefehl bietet sich vor dem Hintergrund dieser Ausweitung nun vor allem im Falle des nicht vorbestraften, aber verteidigten Wirtschafts- und Steuerstraftäters an.36 Das Recht des Strafbefehls deckt damit auch den Bereich der mittleren Kriminalität ab. Diese Entwicklung wirft im Hinblick auf die verbreitete ungeregelte Praxis der Absprachen im Strafbefehlsverfahren Bedenken auf.37 Es lässt sich nicht ausschließen, dass das Strafbefehlsverfahren zur einvernehmlichen Beilegung komplexer, beweisschwieriger Fälle missbraucht wird.38
III. Recht des Strafbefehls de lege lata als offene Flanke
1. Verhältnis Recht der Verständigung zum Strafbefehl
Absprachen im Strafbefehlsverfahren sind, wie bereits festgestellt, zulässig.39 Weitergehende Regelungen, zum Beispiel zur Frage der Verbindlichkeit einer in diesem Verfahren getroffenen Absprache, gehen aus dem Recht
17 Eckstein, in: MüKo, Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung1, 2018, § 407, Rn. 11.
18 Vgl. Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 407, Rn. 13; Schaal, in: GS Meyer, 1990, S. 427, 430.
19 Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 407, Rn. 5; Rönnau (Fn. 8), S. 134, ablehnend Prelle, KritV 2011, 331, 360 f., Weigend, ZStW 113 (2001), 271, 304.
20 Deiters, ZStW 130 (2018), 491, 506.
21 Vgl. u.a. Brauer, in: HK, Heidelberger Kommentar Strafprozessordnung6, 2019, § 407, Rn. 4; Landau, DRiZ 1995, 132; Weßlau, ZStW 116 (2004), 150, 161.
22 Vgl. Weßlau/Degener, in: SK, Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung5, 2020, Vor §§ 407 ff., Rn. 8; Deiters, ZStW 130 (2018), 491, 506.
23 Brauer, in: HK (Fn. 21), § 407, Rn. 4; Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 407, Rn. 28.
24 Vgl. Schmidt–Hieber, Verständigung im Strafverfahren, 1989, Rn. 76; Deiters, GA 2015, 371, 382.
25 Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 407, Rn. 31.
26 Vgl. Brauer, in: HK (Fn. 21), § 407, Rn. 4; Schmidt-Hieber (Fn. 24), Rn. 75; Deiters, ZStW 130 (2018), 491, 506.
27 Deiters, ZStW 130 (2018), 491, 506.
28 Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, Kommentar Strafprozessordnung63, 2020, § 160b, Rn. 6.
29 Vgl. Schmidt-Hieber (Fn. 24), Rn. 77; Rönnau (Fn. 8), S. 134.
30 Temming, in: BeckOK, Kommentar zur Strafprozessordnung4, 2021, § 407, Rn. 5.
31 Vgl. Bömeke, Rechtsfolgen fehlgeschlagener Absprachen im deutschen und englischen Strafverfahren, 2001, S. 28.
32 Weßlau/Degener, in: SK (Fn. 22), Vor §§ 407 ff., Rn. 7.
33 Vgl. Prelle, KritV 2011, 331, 348; Heinz, in: FS Müller-Dietz, 2001, S. 271, 273; Fezer, in: FS Baumann, 1992, S. 361, 395; sehr ausführlich Elobied, Die Entwicklung des Strafbefehlsverfahrens von 1846 bis in die Gegenwart, 2010, S. 199 f.
34 Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 408a, Rn. 1.
35 Weßlau/Degener, in: SK (Fn. 22), Vor §§ 407, Rn. 11.
36 Böttcher, in: FS Odersky, 1996, S. 299, 309.
37 Vgl. u.a. Temming, in: BeckOK (Fn. 30), § 407, Rn. 3; Böttcher (Fn. 36), S. 299, 316.
38 Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 407, Rn. 32.
39 Vgl. Schmidt-Hieber (Fn. 24), Rn. 74 f., spätestens jedenfalls nach Einführung des § 160b so Brauer, in: HK (Fn. 21), § 407, Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 28), § 160b, Rn. 6.
des Strafbefehls de lege lata nicht hervor. Das bedeutet insbesondere für den Beschuldigten eine erhebliche Rechtsunsicherheit.40 Möglicherweise kann § 257c diese Problematik lösen. Darauf aufbauend muss in diesem Zusammenhang untersucht werden, inwiefern die Regeln des Verständigungsgesetzes auf Absprachen im Strafbefehlsverfahren Anwendung finden.
a) Direkte Anwendbarkeit des § 257c
Eine direkte Anwendbarkeit des § 257c auf getroffene Absprachen im Strafbefehlsverfahren muss abgelehnt werden. Denn Voraussetzung für eine zulässige Verständigung nach § 257c ist ihr Abschluss in der Hauptverhandlung.41 Diese Voraussetzung ergibt sich nicht aus dem Wortlaut des § 257c, sondern aus seiner systematischen Stellung: § 257c folgt auf § 257b, der die Hauptverhandlung explizit nennt.42 Demnach gelten die Regeln des Verständigungsgesetzes aus systematischen Gründen nur für Verständigungen innerhalb der Hauptverhandlung und § 257c wirkt demnach nicht unmittelbar für Absprachen im Strafbefehlsverfahren.
b) Entsprechende Anwendbarkeit des § 257c
In Betracht kommt weiterhin eine entsprechende Anwendung des § 257c auf Absprachen im Strafbefehlsverfahren. Hierfür bedarf es einer planwidrigen Regelungslücke und vergleichbaren Interessenslage.
aa) Für eine entsprechende Anwendung des § 257c
Für eine entsprechende Anwendung des § 257c auf Absprachen im Strafbefehlsverfahren wird eingewendet, dass der Gesetzgeber einen sogenannten Handel mit der Gerechtigkeit allgemein verhindern wollte.43 Diese Gefahr besteht ebenfalls bei informellen Absprachen im Strafbefehlsverfahren.44 Die Kontrolle der Öffentlichkeit ist aufgrund des summarischen Charakters geringer als bei einer Verständigung, die wenigstens in der Urteilsfindung in der Hauptverhandlung vor den Augen und Ohren der Öffentlichkeit erwähnt wird. Einige Autoren fordern vor diesem Hintergrund eine sinngemäße Anwendung der Regeln des § 257c und die Grundsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung.45
bb) Gegen eine entsprechende Anwendung des § 257c
Die Gegenansicht lehnt die entsprechende Anwendung des § 257c aufgrund der fehlenden planwidrigen Regelungslücke ab.46 An der planwidrigen Regelungslücke fehle es, weil der Gesetzgeber die Verständigung nur der Hauptverhandlung vorbehalten wollte.47 Verbindliche Absprachen können ausschließlich in der Hauptverhandlung förmlich getroffen werden.48 Auch nach Ansicht des BVerfG trifft das Verständigungsgesetz eine abschließende Regelung.49 Schutzzweck des Gesetzes wäre gerade die Garantie der Öffentlichkeit und materiellen Wahrheitssuche in der Hauptverhandlung.50 Das Strafbefehlsverfahren vollzieht sich aufgrund seines schriftlichen und summarischen Charakters außerhalb der Öffentlichkeit und der Hauptverhandlung. Eine wirksame Kontrolle, die der des Verständigungsgesetzes entspricht, erweist sich als deutlich schwieriger.51 Nach dieser Ansicht kann § 257c IV folglich keine Bindungswirkung für Absprachen im Strafbefehlsverfahren treffen und für den Beschuldigten besteht weiterhin Rechtsunsicherheit.52 Auch die Formulierung des Gesetzgebers im Entwurf zum Verständigungsgesetz lässt auf eine planmäßige Regelungslücke schließen.53 Der Gesetzgeber hat darin eine explizite Regelung von Absprachen im Strafbefehlsverfahren verneint, um den summarischen Charakter des Strafbefehls vor einer übermäßigen Formalisierung zu schützen.54 Die Regelung einer solchen „informellen Praxis der Absprache“ müsste anhand der Grundsätze des fairen Verfahrens erfolgen.55
c) Im Besonderen: Verhältnis Recht der Verständigung zu § 408a
Etwas anderes könnte im Zusammenhang mit § 408a gelten. Hiernach kann ein Strafbefehl auch nach Eröffnung der Hauptverhandlung von der Staatsanwaltschaft noch beantragt werden, wenn die Voraussetzungen des § 407 I 1 und 2 vorliegen und wenn der Durchführung einer Hauptverhandlung das Ausbleiben oder die Abwesenheit des Angeklagten oder ein sonstiger wichtiger Grund entgegensteht. Nach Erlass des Eröffnungsbeschlusses ist der Übergang im Verfahren vor dem Amtsgericht zum Strafbefehlsverfahren möglich geworden.56 Ein Verfahren nach § 408a ist unzweckmäßig, wenn die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte Einspruch einlegen wird.57 Um dies auszuschließen, wird sich die Staatsanwaltschaft in der Regel bei Beschuldigtem und Verteidiger vergewissern, dass diese mit einer Erledigung im Sinne des § 408a einverstanden sind.58 Damit bietet sich § 408a ebenfalls für Absprachen an.59 In diesem Zusammenhang stellt sich wiederum die Frage nach der Anwendbarkeit der Regeln des Verständigungsgesetzes. Ein Strafbefehl nach § 408a ergeht nun nach eröffneter Hauptverhandlung und der Anwendungsbereich des Verständigungsgesetz müsste in diesem
40 Vgl. Temming, in: BeckOK (Fn. 30), § 407, Rn. 5.
41 Temming, in: HK (Fn. 21), § 257c, Rn. 8; BVerfG, HRRS 2013 Nr. 222, Rn. 99.
42 Temming, in: HK (Fn. 21), § 257c, Rn. 8.
43 Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 407, Rn. 30; Brauer, in: HK (Fn. 21), § 407, Rn. 4.
44 Hierzu Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 407, Rn. 30, danach müssen Absprachen im nichtöffentlichen Strafbefehlsverfahren erst recht unzulässig sein.
45 Vgl. u.a. Brauer, in: HK (Fn. 21), § 407, Rn. 4; Metzger, in: KMR, Kommentar zur Strafprozessordnung109, Stand: Jan. 2022, Vor §§ 407 ff., Rn. 31, wobei letzterer aber eine Bindungswirkung analog § 257c ablehnt.
46 Vgl. Temming, in: BeckOK (Fn. 30), § 407, Rn. 5.
47 Ebd.
48 Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 28), § 408b, Rn. 2.
49 BVerfG, HRRS 2013 Nr. 222, Rn. 88.
50 Vgl. Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 407, Rn. 30; BVerfG, HRRS 2013 Nr. 222, Rn. 89.
51 BVerfG, HRRS 2013 Nr. 222, Rn. 92.
52 Vgl. Temming, in: BeckOK (Fn. 30), § 407, Rn. 5.
53 BT-Drs. 16/12310, S.16.
54 Ebd.
55 Ebd.
56 Vgl. Rieß, JR 1988, 133, 134.
57 Metzger, in: KMR (Fn. 45), § 408a, Rn. 24.
58 Maur, in: KK, Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung8, 2019, § 408a, Rn. 12.
59 Vgl. Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 408a, Rn. 26; Metzger, in: KMR (Fn. 45), § 408a, Rn. 25.
Fall greifen.60 Der einzige Unterschied zu einer Absprache im Normalverfahren besteht darin, dass die Hauptverhandlung im Fall des § 408a nicht mit einem Urteil endet.61 Anhaltspunkte, dass dies eine unmittelbare Anwendbarkeit des Verständigungsrechts ausschließt, ergeben sich nicht.62 Diese führt aber zu Konfliktpunkten zwischen dem Recht der Verständigung und § 408a im Zusammenhang mit dem Amtsermittlungsgrundsatz § 257c I 2 in Verbindung mit § 244 II, der Verständigungsherrschaft des Gerichts nach § 257c III und dem Verbot, den Schuldspruch zum Gegenstand der Verständigung zu machen gemäß § 257c II 3.63
2. Ausweichmöglichkeiten
Das Verständigungsgesetz und insbesondere § 257c schaffen einen rechtlichen Rahmen für Verständigungen. Sie ändern jedoch nichts an dem Umstand, dass das Recht des Strafbefehls de lege lata keine wirksame Kontrolle gegen Missbrauch bei Absprachen im Strafbefehlsverfahren vorsieht.64 Diese fehlende Kontrolle könnte ein Anreiz sein, die strengeren Regeln der Verständigung zu umgehen und stattdessen auf eine Erledigung im Wege des Strafbefehlsverfahren auszuweichen.65
a) Konkrete Anreize für ein Ausweichen auf das Recht des Strafbefehls
Ein Beispiel für einen solchen Anreiz ist der im Recht der Verständigung nun unzulässige Rechtsmittelverzicht. Nach § 302 I 2 ist ein Rechtsmittelverzicht dann ausgeschlossen, wenn dem Urteil eine Verständigung nach § 257c vorausgegangen ist. Mit der Einführung von § 302 I 2 dürfte ein gewichtiger Anreiz für eine Verständigung für Gericht und Staatsanwaltschaft weggefallen sein.66 Gleichzeitig ist wohl auch ein Anreiz entstanden, sich anderweitig umzuschauen: zum Recht des Strafbefehls! Dort ist ein Einspruchsverzicht nach Absprache zwischen den Verfahrensbeteiligten weiterhin möglich. § 410 I 2 verweist lediglich auf § 302 I 1, II und nicht auf § 302 I 2. Diese fehlende Verweisung lässt darauf schließen, dass ein abgesprochener Einspruchsverzicht des Beschuldigten zulässig ist. Weitere Anreize für ein Ausweichen zum Strafbefehl dürfen die nun eingeführten Mitteilungs- und Protokollierungspflichten darstellen und das Festhalten am Amtsermittlungsgrundsatz nach § 257c I 2, die beide mit einem erheblichen Mehraufwand für die Praxis einhergehen.67
b) Schnittpunkte
Es muss zudem auch tatsächlich die Möglichkeit bestehen, auf den Strafbefehl auszuweichen. Dafür muss es Schnittpunkte zwischen Verständigung und Strafbefehl geben. Also Fallkonstellationen, die theoretisch sowohl mittels Verständigung als auch im Wege einer Absprache mittels Strafbefehl erledigt werden können. In Betracht kommt eine Überschneidung in mittelschweren Fällen.68 Die Verständigung ist dabei in sämtlichen Bereichen anwendbar, aber ebenfalls im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts besonders beliebt.69 Beide Formen der Absprache bezwecken eine prozessökonomische Erledigung und sind insofern in komplexeren Fällen eine attraktive Alternative zum Normalverfahren. In Fällen der mittleren Kriminalität, zum Beispiel in mittelschweren Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, besteht folglich eine tatsächliche Möglichkeit vom Recht der Verständigung auf den Strafbefehl auszuweichen. Ein weiterer Schnittpunkt zwischen Verständigung und Strafbefehl dürfte der Hauptverhandlungsstrafbefehl nach § 408a sein. Auch hier ist das Verhältnis zum Recht der Verständigung bisweilen unklar und insofern eine gute Ausweichmöglichkeit, die auch nach Eröffnung der Hauptverhandlung noch besteht.
3. Bewertung der offenen Flanke
Die Analyse hat ein unsicheres Verhältnis zwischen dem Recht der Verständigung und dem Strafbefehl ergeben. Eine entsprechende Anwendung der Regeln des Verständigungsgesetzes auf Absprachen im Strafbefehlsverfahren nach §§ 407 ff. ist umstritten und damit unsicher. Selbst die unmittelbare Anwendbarkeit des § 257c auf Absprachen innerhalb § 408a führt zu zahlreichen Konfliktpunkten. Im Ergebnis steht fest, dass konkrete Regeln zur Eindämmung und Disziplinierung von Absprachen im Strafbefehlsverfahren fehlen. Diese Regelungslücke eröffnet die Möglichkeit und schafft Anreize, dass in Bereichen der mittleren Kriminalität auf Erledigung mittels Absprache im Strafbefehlsverfahren ausgewichen werden kann. So muss im Ergebnis festgestellt werden, dass das Recht des Strafbefehls de lege lata eine offene Flanke für die vom Gesetzgeber im Übrigen angestrebte Eindämmung beziehungsweise Disziplinierung von Verfahrensabsprachen darstellt.
IV. Änderungsbedarf
Das Recht des Strafbefehls stellt eine offene Flanke für die Eindämmungsbestrebungen von Verfahrensabsprachen des Gesetzgebers dar. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, inwiefern das Recht des Strafbefehls überarbeitet werden muss, um diese offene Flanke zu schließen. Der Gesetzgeber wollte durch seine Bestrebungen die Verfahrensabsprachen eindämmen und disziplinieren, um die Prozessgrundsätze zu sichern, Transparenz zu schaffen und die Rechte des Angeklagten zu sichern und damit einen Missbrauch der Verständigung zu verhindern. Es gilt zu bewerten, ob diese Schutzzwecke auch im Strafbefehlsverfahren zu berücksichtigten sind. Die Bewertung erfolgt unter Einbeziehung des summarischen Charakters des Strafbefehls und seiner besonderen Bedeutung für die Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz.
1. Summarischer Charakter des Strafbefehls
Fraglich ist, ob der summarische Charakter des Strafbefehls nicht gegen eine geregelte Absprachepraxis spricht. Zweck der Eindämmungsbestrebungen des Gesetzgebers am
60 Gaede, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 16), Vor § 407, Rn. 64.
61 Vgl. Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 408a, Rn. 27; Gaede, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 16), § 408a, Rn. 7.
62 Ebd.
63 Vgl. Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 408a, Rn. 28.
64 Ebd.
65 Vgl. Gaede, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 16), Vor § 407, Rn. 64.
66 Hierzu ausführlich Busch-Gervasoni, in: FS Schiller, 2014, S. 109, 110.
67 Kubiciel, HRRS 2014, 204, 205; Eckstein, NK 2014, 103, 112.
68 Vgl. Gaede, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 16), Vor § 407, Rn. 64.
69 Bömeke (Fn. 31), S. 29.
Beispiel der Verständigung war es, die Prozessgrundsätze der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und dem Amtsermittlungsgrundsatz zu garantieren. Das Strafbefehlsverfahren vollzieht sich außerhalb dieser Prozessgrundsätze und kann sie faktisch gar nicht wahren. Man könnte nun argumentieren, dass diese Prozessgrundsätze im Strafbefehlsverfahren aus diesem Grund nicht garantiert werden müssen, beziehungsweise nicht garantiert werden können.70 Dagegen muss eingewendet werden, dass die Pflicht zur Einhaltung der Prozessziele und Prozessgrundsätze die Strafjustiz nicht nur innerhalb der Hauptverhandlung trifft.71 Das BVerfG hat hierzu in seiner Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung zur Verständigung im Strafprozess festgestellt, dass die Prozessziele und -grundsätze nicht zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und der Gerichte stehen.72 Ein Handel mit der Gerechtigkeit soll auch außerhalb der Hauptverhandlung nicht stattfinden.73 Auch Absprachen im Strafbefehlsverfahren kollidieren mit den Grundsätzen des deutschen Strafprozesses. Aufgrund der ohnehin verkürzten Wahrheitsermittlung und fehlenden Öffentlichkeit besteht noch ein stärkeres Bedürfnis nach einer gesetzlichen Regelung, um die Absprachen zu kontrollieren und Missbrauch zu verhindern. Trotz seines summarischen Charakters bedarf es mithin auch im Recht des Strafbefehls einer Regelung im Zusammenhang mit der informellen Absprachepraxis.
2. Schutz des Beschuldigten
Eine Überarbeitung könnte sich als nicht notwendig erweisen, vor dem Hintergrund, dass ein Verfahren im Wege des Strafbefehls ausschließlich vorteilhaft für den Beschuldigten ist. Das Strafbefehlsverfahren bedeutet für ihn geringere Kosten und einen geringeren Zeitaufwand.74 Außerdem kann er das öffentliche Aufsehen einer Hauptverhandlung umgehen.75 Aufgrund des summarischen Charakters besteht auch die Möglichkeit, dass manche Umstände im Zusammenhang mit der Tat zugunsten des Beschuldigten nicht aufgedeckt werden.76 Trotz zahlreicher Vorteile für den Beschuldigten, kann auch im Falle eines abgesprochenen Strafbefehls die Freiwilligkeit des Beschuldigten gefährdet sein.77 Denn obgleich sich der Anwendungsbereichs des Strafbefehls immer weiter ausgeweitet hat, haben sich die Rechte des Beschuldigten nicht verbessert.78 Stattdessen haben die beschriebenen Reformen, der Staatsanwaltschaft einen größeren Entscheidungs- und Handlungsspielraum eingeräumt, der ihre Macht weiter verstärkt.79 Es bedarf einer Änderung des Recht des Strafbefehls hin zu mehr Schutz für den Beschuldigten, denn die Legitimation des Strafbefehls ergibt sich aus dem Einspruchsvorbehalt des Beschuldigten.80 Dabei muss der Gesetzgeber folgende Unsicherheiten überarbeiten:
Die schon bestehenden Dokumentationspflichten des § 160b S. 2 und die des § 202a S. 2 sind nicht ausreichend.81 Ein Verstoß gegen die Dokumentationspflichten der Verständigung, zum Beispiel aus § 273 Ia, gefährdet den Bestand des Urteils.82 Es bedarf auch bei einer fehlenden Protokollierung von Absprachen im Strafbefehl vergleichbaren Sanktionen, die zum Beispiel die Rechtskraftwirkung des Strafbefehls nach § 410 III gefährden.
Nach § 411 IV ist das Gericht bei der Urteilsfällung an den im Strafbefehl enthaltenen Anspruch nicht gebunden, soweit der Beschuldigte Einspruch eingelegt hat. Das allgemeine Verbot der reformatio in peius gilt damit nicht für das Strafbefehlsverfahren, mit Ausnahme der Fälle des § 410 I 2 in Verbindung mit § 297 und § 411 I 3.83 Eine drohende Verschlechterung im Falle eines Einspruchs des Beschuldigten beeinflusst dessen Entscheidungsfreiheit in Hinblick auf das Einlegen oder Verzichten eines Einspruchs. Die Entscheidungsfreiheit ist aber Voraussetzung für die Legitimation des summarischen und schriftlichen Charakters des Strafbefehls. Vor diesem Hintergrund muss die Möglichkeit einer reformatio in peius eingeschränkt werden.84
Es bedarf auch im Recht des Strafbefehls konkreter gesetzlicher Regeln im Hinblick auf die Bindungswirkung einer getroffenen Absprache und den Folgen insbesondere für erbrachte Vorleistungen der Verteidigung, wenn die Absprache fehlgeht. Eine Möglichkeit wäre ein Beweisverbot des Geständnisses vergleichbar zu § 257c IV, wenn doch nach § 408 III verfahren wird.85 Allgemein gilt: der Beschuldigte und die Verteidigung haben ein schützenswertes Vertrauen, dass die Staatsanwaltschaft und Gerichte nicht von vorherigen Erklärungen abweichen.86 Dies ergibt sich maßgeblich aus den Grundsätzen des Vertrauensschutzes, die sich aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens und wiederum aus Art. 20 III in Verbindung mit Art. 2 I GG ergeben.87
Problematisch ist im Hinblick auf das Verhältnis zur Verständigung, dass die Absprache über einen Einspruchsverzicht im Strafbefehlsverfahren anders als im Recht der Verständigung nicht ausgeschlossen wird.88 Das ergibt sich aus der fehlenden Verweisung des § 410 I 3 auf § 302 I 2. Die damit einhergehenden Unsicherheiten könnten einfach beseitigt werden, indem der Gesetzgeber diese Lücke schließt und § 410 I 2 auch auf § 302 I 2 verweisen lässt.
70 Vgl. Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 407, Rn. 30.
71 Vgl. BVerfG, HRRS 2013 Nr. 222, 1. Leitsatz; Gaede, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 16), Vor § 407, Rn. 64.
72 BVerfG, HRRS 2013 Nr. 222, 1. Leitsatz; Weßlau (Fn. 3), S. 41; so auch schon Schünemann, in: FS Baumann, 1992, S. 361, 371.
73 Vgl. Brauer, in: HK (Fn. 21), § 407, Rn. 4.
74 Meyer-Lohkamp, StraFo 2012, 170, 171.
75 Ebd.
76 Ebd.
77 Deiters, ZStW 130 (2018), 491, 507.
78 Elobied (Fn. 33), S. 200.
79 Vgl. Elobied (Fn. 33), S. 216.
80 Dazu u.a. BVerfGE 3 248, 253; Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 28), Vor § 407, Rn. 2.
81 Gaede, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 16), Vor § 407, Rn. 64; Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 407, Rn. 31.
82 Greger, in: KK (Fn. 58), § 273 Ia, Rn. 15.
83 Gaede, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 16), § 411, Rn. 56.
84 Vgl. Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 411, Rn. 75.
85 Vgl. Brauer, in: HK (Fn. 21), § 407, Rn. 4.
86 Graumann, HRRS FG Fezer, 2008, S. 54; Brauer, in: HK (Fn. 21), § 407, Rn. 4.
87 Vgl. Graumann (Fn. 86), S. 54; BGH, HRRS 2004 Nr. 683; ablehnend Temming, in: BeckOK (Fn. 30), § 407, Rn. 5; Metzger, in: KMR (Fn. 45), Vor §§ 407; Rn. 30 f.
88 Vgl. näher Eckstein, in: MüKo (Fn. 17), § 410, Rn. 20 f.
3. Bewertung des Änderungsbedarfs
Die Erfahrung mit der informellen Praxis der Verständigung und ihren rechtlichen Bedenken hat gezeigt, dass die Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht die alleinige Grundlage einer Absprache sein kann und darf.89 Die Prozessziele und -maximen des Strafprozessrechts als Ausfluss von Verfassungsrecht verlangen einen gesetzlich geregelten Rahmen.90 Nur eine Absprache, die in diesem Rahmen erfolgt, kann Rechtssicherheit und Transparenz schaffen und Schutz für die Verteidigung bieten. Dies muss auch im Strafbefehlsverfahren gelten, denn sowohl der summarische Charakter des Strafbefehls, die Vorteile des Strafbefehls für den Beschuldigten und die unverzichtbare Bedeutung des Strafbefehls für die Strafjustiz stehen einer Änderung und Überarbeitung des Rechts des Strafbefehls nicht entgegen. Das Strafbefehlsverfahren ist wie schon oben festgestellt aufgrund seines summarischen Charakters ein unverzichtbares Instrument einer überlasteten Strafjustiz.91 Die besondere Bedeutung des Strafbefehlsverfahren für die Praxis liegt darin, dass ein Schuldspruch ohne Anklageschrift, ohne Eröffnungsbeschluss und ohne Hauptverhandlung möglich ist.92 Eine solche prozessökonomische Verfahrensart muss weiterhin bestehen bleiben.93 Bei der Überarbeitung des Strafbefehls de lege lata muss aus diesem Grund darauf geachtet werden, dass eine Vermeidung der Hauptverhandlung weiter möglich bleibt. Es sollte bei der Überarbeitung vielmehr um die Verbesserung des schriftlichen Strafbefehlsverfahren gehen.94 Bei allen Änderungen muss der für die Strafjustiz unverzichtbare summarische und schriftliche Charakter des Strafbefehls gewahrt werden.95
C. Zusammenfassende Thesen
Verfahrensabsprachen sind Ausdruck einer überlasteten Strafjustiz. Sie bieten eine prozessökonomische Alternative zur Erledigung im Normalverfahren. Sie sind jedoch aufgrund des verkürzenden Charakters schwer in Einklang zu bringen mit den traditionellen Prozesszielen und -maximen.
Der Gesetzgeber hat sich dazu entschlossen, die informelle Praxis der Verständigung einzudämmen und zu disziplinieren, indem er ihr durch das Verständigungsgesetz rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen hat.
Auch im Strafbefehlsverfahren kommt es in Anbetracht der schon bestehenden konsensualen Elementen zu informellen Absprachen zwischen den Verfahrensbeteiligten im Hinblick auf den Erlass des Strafbefehls und seinem Inhalt. Anders als bei der Verständigung bietet das Recht des Strafbefehls de lege lata in diesem Zusammenhang keine schützenden Regelungen. Das Verständigungsgesetz bezieht sich ausschließlich auf die Hauptverhandlung und kann insofern ebenfalls keine Rechtssicherheit für Absprachen im Strafbefehlsverfahren bewirken.
Die fehlenden schützenden Regelungen im Recht des Strafbefehls und das unsichere Verhältnis zum Recht der Verständigung führen dazu, dass zumindest in mittelschweren Fällen vom Recht der Verständigung auf Absprachen im Strafbefehlsverfahren ausgewichen werden kann. Damit stellt das Recht des Strafbefehls de lege lata eine offene Flanke für die vom Gesetzgeber im Übrigen angestrebte Eindämmung beziehungsweise Disziplinierung von Verfahrensabsprachen dar.
Die Erfahrungen mit der Verständigung haben gezeigt, dass eine Absprache, die allein auf der Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten beruht, erhebliche Risiken birgt. Die Ziele und Schutzzwecke der Eindämmungsbestrebungen des Gesetzgebers verbieten einen Handel mit der Gerechtigkeit. Damit dieser Handel auch tatsächlich unterbunden wird, und sich nicht bloß auf Absprachen in anderen Verfahren verschiebt, muss das Strafrecht de lege lata trotz seines summarischen Charakters und seiner damit zusammenhängenden unverzichtbaren Bedeutung für die Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz notwendig und dringend überarbeitet werden. Klärungsbedarf besteht im Hinblick auf das Verhältnis von § 408a und § 257c. Die Position des Beschuldigten muss in Anbetracht der kaum sanktionierten Dokumentationspflichten nach §§ 160b S. 2, 202a S. 2, der zulässigen reformatio peius, der fehlenden Bindungswirkung einer Absprache und dem Einspruchsverzicht als zulässigen Gegenstand einer Absprache dringend gestärkt werden.
Die gesamte Strafrechtswissenschaft hast sich jahrzehntelang mit der Praxis der informellen Urteilsabsprachen befasst. Im Rahmen dieser Arbeit ist jedoch aufgefallen, wie wenig sie sich hingegen mit Absprachen in anderen Formen und Verfahrensstadien, und deren Auswirkung auf das geltende Recht, beschäftigt hat. Es braucht vielleicht noch einmal einen Detlef Deal aus Mauschelhausen,96 der die Strafrechtswissenschaft und den Gesetzgeber auf die Missstände im Zusammenhang mit Absprachen im Strafbefehlsverfahren aufmerksam macht und auf die Gefahren, die damit für das geltende Recht einhergehen.
89 Siehe hierzu Graumann (Fn. 86), S. 54, 56.
90 Ebd.
91 Vgl. Gaede, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 16), Vor § 407, Rn. 59; Rönnau (Fn. 8), S. 133.
92 Dazu u.a. Rönnau (Fn. 8). S.133; Schaal (Fn. 18), S. 427; Ambos, JURA 1998, 281, 287.
93 Maur, in: KK (Fn. 58), Vor § 407, Rn. 3; BVerfGE 3 248, 253; BVerfGE 25 158, 165; ablehnend Ambos, JURA 1998, 281, 287 ff., Weßlau, ZStW 116 (2004), 150, 160 m.w.N.
94 Vgl. Gaede, in: Löwe/Rosenberg (Fn. 16), Vor § 407, Rn. 59.
95 Ausführlich siehe Weßlau/Degener, in: SK (Fn. 22), Vor §§ 407 ff., Rn. 25 f.
96 Deal, StV 1982, 545 ff, der Strafverteidiger Wieder machte unter dem Pseudonym Detlef Deal auf die informelle Praxis der Urteilsabsprachen aufmerksam: „Fast jeder kennt es, fast jeder praktiziert es, nur keiner spricht darüber“.