One Share One Vote? Ökonomische Analyse von Mehrstimmrechtsaktien und Bewertung des EU Listing Acts und Zukunftsfinanzierungsgesetzes

Christoph Ruholl*

A. Einführung

Das Stimmrecht ist das zentrale Mittel des Aktionärs zur Einflussnahme innerhalb einer jeden Aktiengesellschaft.1 Die Frühformen von Kapital- und Aktiengesellschaften sahen häufig eine demokratische Aktionärsbeteiligung vor. Jedes Mitglied sollte eine bzw. allenfalls eine begrenzte Anzahl von Stimmen haben, ohne Rücksicht auf die geleisteten Vermögensbeiträge (One Shareholder One Vote).2 Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Ansatz zu einer Plutokratie, in welcher der Kapitaleinsatz proportional den Einfluss bestimmte (One Share One Vote).3 Daneben bildete sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein drittes Modell heraus, welches einem Mitglied überproportional hohen Einfluss einräumte.4 Hierbei handelt es sich um das Mehrstimmrecht. Es gewährt dem Inhaber mehr Stimmrechte, als seinem Kapitaleinsatz entspricht.5 Ein solches Auseinanderfallen von Stimmkraft und Vermögenseinlage lässt das heutige Aktienrecht erst neuerdings wieder zu.6

Zwischen den beiden letzteren Ansätzen herrscht seit den Kodifikationen des modernen Aktienrechts ein global geführter wissenschaftlicher „Glaubenskrieg“7. Die einen sehen One Share One Vote als die „heilige Kuh“8 des Gesellschaftsrechts an. Die anderen bezweifeln, dass dieses Konzept gottgegeben ist, und erachten auch Mehrstimmrechte für sinnvoll. Das Gefecht wird auf dem Feld der Rechtsökonomik geführt. Lange Zeit stand es dabei nicht gut um das Mehrstimmrecht,9 doch neuerdings bildet sich wieder ein positiver Trend heraus10. Insbesondere der Börsengang von Google im Jahr 2004 hat eine internationale Welle der Rückbesinnung auf Mehrstimmrechte angestoßen.11 Auch entschied sich der E-Commerce-Riese Alibaba 2014 für die NYSE anstelle der Hongkonger Börse, um dort Gebrauch von Mehrstimmrechtsaktien machen zu können.12 Im selben Jahr verlegte zudem Fiat aus dem gleichen Motiv seinen Sitz in die Niederlande.13 Ein Blick auf die Datenlage offenbart, dass im Jahr 2022 bei 21 % der US-Börsengänge Mehrstimmrechtsaktien ausgegeben wurden, bezogen auf die Börsengänge von Technologieunternehmen waren es sogar 50 %.14 Die Marktkapitalisierung von Mehrstimmrechtsgesellschaften betrug in den Vereinigten Staaten bereits im Jahr 2016 deutlich über drei Billionen Dollar; Tendenz steigend.15 Mit anderen Worten: Mehrstimmrechte sind en vogue.

Dies haben auch die europäischen und deutschen Regierungsvertreter nicht übersehen. Am 7. Dezember 2022 legte die Europäische Kommission im Rahmen des sog. EU Listing Acts unter anderem den Vorschlag einer Richtlinie zur Zulassung von Mehrstimmrechtsaktien vor.16 Derzeit steht lediglich noch dessen Billigung durch den Europäischen Rat aus. Parallel dazu werden in Deutschland durch das am 14. Dezember 2023 verkündete Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG) Mehrstimmrechtsaktien wieder ermöglicht.17

Nach einer kurzen Heranführung an die Wirkweise (B.) greift dieser Beitrag die bislang überwiegend außer Landes geführte Debatte um das ökonomische Für und Wider von Mehrstimmrechten auf (C.). Es wird untersucht, ob Mehrstimmrechte sich im wohlfahrtsökonomischen Sinne effizient auf das Verhalten von Personen auswirken, also der Gewinn einer Person die Benachteiligungen anderer kompensiert.18 Hierzu werden verschiedene Modellvorstellungen beleuchtet, deren Zuverlässigkeit möglichst anhand bestehender empirischer Untersuchungen ermittelt wird. Aufbauend auf den hieraus gewonnen Erkenntnissen werden sodann die beiden Regelungsvorstöße auf europäischer und nationaler Ebene bewertet (D.). Der Beitrag schließt mit einem Fazit (E.).

B. Wirkweise des Mehrstimmrechts

Einen Zuwachs an positiver Entscheidungsmacht können Mehrstimmrechtsaktien im deutschen Aktienrecht nur bei Hauptversammlungsbeschlüssen bewirken, die eine Stimmenmehrheit voraussetzen.19 Dies betrifft den Regelfall und gerade solche Beschlüsse, die für die operative Leitung und strategische Ausrichtung der Gesellschaft relevant sind, namentlich die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder, die Gewinnverwendung sowie die Entlastung und Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat.20 Grundlagenbeschlüsse setzen hin-


*Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg. Der Beitrag stellt eine aktualisierte und gekürzte Fassung seiner Schwerpunktseminararbeit bei Prof. Dr. Christoph Kumpan dar.

1 Vgl. Kraakman et al., Anatomy of CL, S. 57 f., 172 ff.

2 Harris, in: Wells, History, S. 88 (98); Sandrelli/Ventoruzzo, in: Wells, History, S. 269 (271, 294); Hansmann/Pargendler, 123 Yale L.J. 948, 951 ff. (2014).

3 Sandrelli/Ventoruzzo, in: Wells, History, S. 269 (272 f., 294); Dunlavy, 63 Wash. Lee Law Rev. 1347, 1354 ff. (2006); Hansmann/Pargendler, 123 Yale L.J. 948, 951 ff., 1007 ff. (2014).

4 Dunlavy, 63 Wash. Lee Law Rev. 1347, 1387 (2006).

5 MüKo-AktG/Heider, § 12 Rn. 38; Schmidt/Lutter/Ziemons, AktG, § 12 Rn. 19.

6 §§ 12, 135a AktG.

7 Hopt, in: Geens/Hopt, Eur. Comp. Law, S. 9 (15): „battle of creeds“.

8 Houben/Meeusen, ZEuP 2020, 11 (17): „sacred cow“.

9 Vgl. Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 95; Reddy, Dual-Class Stock, S. 249 ff., 296 f.; Vogl-Mühlhaus, Mehrstimmrecht, S. 344.

10 Vgl. Beckmann, Mehrstimmrecht, S. 362; Bueren/Crowder, in: Fleischer/Mock, Gr. GV, S. 911 (977 ff.); Reddy, Dual-Class Stock, S. 296 ff.; Choi, 8 HBLR 53, 79 f. (2018); Ferrarini, ECFR 2006, 147 (176); Gurrea-Martinez, 22 EBOR 475, 503 ff. (2021); Roe/Venezze, 76 Bus. Law. 467, 504 f. (2021).

11 Bueren/Crowder, in: Fleischer/Mock, Gr. GV, S. 911 (970 ff., 978); Bebchuk/Kastiel, 103 Va. Law Rev. 585, 594 f. (2017); Moore, 12 Wm. & Mary Bus. L. Rev. 93, 134 ff. (2020).

12 Berger et al., 72 Bus. Law. 295, 303 (2017); Howell, 44 J. Corp. Fin. 440, 441 (2017).

13 Umfassend Cronheim, FS Wegen, S. 197 (199 ff.).

14 Ritter, Dual Class IPOs 2022.

15 Bebchuk/Kastiel, 103 Va. Law Rev. 585, 594 (2017).

16 MehrstimmR-RL-E, COM(2022) 761 final.

17 BGBl. I Nr. 354; zurückgehend auf den RefE ZuFinG v. 12.4.2023 und den Koalitionsvertrag v. 7.12.2021, S. 134.

18 Eidenmüller, Effizienz, S. 51 ff.; grundlegend Kaldor, 49 Econ. Journal 549 (1939); Hicks, 49 Econ. Journal 696 (1939).

19 Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 59 f.; Beckmann, Mehrstimmrecht, S. 7.

20 § 133 I AktG iVm §§ 101 I 1, 103 I 1 u. 2, 113 I, 120 I 1, § 120a I 1, 174 I 1 AktG; Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (489 f.).

Ruholl, One Share One Vote?9

gegen Kapitalmehrheiten voraus, auf welche Mehrstimmrechte sich wesensgemäß nicht auswirken können.21 Gleichwohl fordert das Gesetz grundsätzlich auch dort flankierend die einfache Stimmenmehrheit, sodass der überproportionale Einfluss des dominanten Mehrstimmrechtsaktionärs22 in Form einer möglichen Sperrmacht erhalten bleibt.23

C. Mehrstimmrechte aus ökonomischem Blickwinkel

Zu Beantwortung der Frage, welcher Ansatz zur Behandlung von Mehrstimmrechten vorzugswürdig ist, liefert vornehmlich die ökonomische Rechtsanalyse einen fundierten Bewertungsmaßstab.24

I. Kapitalmarktbezogene Erwägungen

1. Finanzmarkttheorie und der Markt für Unternehmenskontrolle

Nach der Effizienzmarkthypothese spiegelt der Kurs im Falle einer Börsennotierung den derzeitigen Unternehmenswert und damit auch die Leistung des Vorstands akkurat wider.25 Eine schlechte Unternehmensführung hat demnach zur Folge, dass der Börsenkurs unter das tatsächliche Wertpotenzial der Gesellschaft fällt.26 Dies macht eine feindliche Übernahme attraktiv, bei welcher die Vorstände durch fähigere ersetzt werden, um so das bislang ungenutzte Potenzial zu realisieren. Dieser Markt für Unternehmenskontrolle unterwirft die Vorstände ex ante einem permanenten Disziplinierungsdruck zu einer wertsteigernden Unternehmensführung und beugt wohlfahrtsschädlichem Opportunismus vor.27 Ein Kontrollaktionär kann dagegen „seine“ Gesellschaft und „seine“ Vorstände von der Kontrollübernahme durch einen feindlichen Übernehmer abschirmen28 und die übrigen Aktionäre damit dem Vorteil der externen Kontrolle und wertsteigernder Übernahmen berauben29.

Jedoch muss der Theorie des Marktes für Unternehmenskontrolle mittlerweile entgegengehalten werden, dass bereits erhebliche Zweifel an ihrer Grundannahme bestehen, wonach Kapitalmärkte effizient sind.30 Die Erkenntnisse der verhaltensorientierten Finanztheorie zeigen, dass Anleger auch irrational handeln und fehlerhafte Entscheidungen treffen.31 Der Börsenkurs ist demnach kein präziser Monitor für Unternehmerleistung. Und selbst wenn er dies wäre, wird aus ihm nicht ersichtlich, ob seine aktuelle Entwicklung kausal auf den Vorstandsleistungen oder auf anderen Gründen beruht.32 Darüber hinaus ist die Zahl der Übernahmen in Deutschland überschaubar33 und häufig sind gut geführte Unternehmen betroffen34. Dieser rechtstatsächliche Befund zeigt, dass lediglich eine geringe Übernahmegefahr besteht und das Übernahmemotiv nicht immer mindere Vorstandsleistungen sind. Weiters belegen Beobachtungen, dass Vorstände im Falle fehlerhafter Unternehmensleitung meist intern durch den Aufsichtsrat ersetzt werden und nicht extern durch einen feindlichen Übernehmer.35 Gleichwohl ist noch denkbar, dass zumindest die abstrakte Drohung einer Übernahme Fehlverhalten vorbeugt.36 Doch auch dies lässt sich bezweifeln. Vorstände können eine mangelnde Befähigung nicht ohne Weiteres beheben und werden sich im Bewusstsein der geringen Übernahmegefahr kaum von ihr einschüchtern lassen.37 Die Kapitalmarktkontrolle als externer Corporate-Governance-Mechanismus begegnet damit gewichtigen Einwänden und stellt allenfalls ein Instrument der Grobsteuerung dar.38 Als Einwand gegen das Mehrstimmrecht ist der Markt für Unternehmenskontrolle in der Folge nur bedingt tragfähig.

2. Auswirkungen auf den Unternehmenswert

Es bestehen empirische Beweise dafür, dass Mehrstimmrechte sich negativ auf den Börsenwert von Aktiengesellschaften auswirken,39 weil der Kapitalmarkt erwartete Gefahren40 vorab einpreist. Andererseits attestieren einige Studien Mehrstimmrechten neutrale Bewertungsfolgen oder gar Wertsteigerungen.41 Wiederum andere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Mehrstimmrechtsgesellschaften anfangs höher bewertet werden und nach einigen Jahren jedoch niedriger.42 Das Bild ist gespalten. Zahlenmäßig überwiegen die negativen Studien leicht.43 Es kommt letztlich entscheidend darauf an, ob es der Aktiengesellschaft im Einzelfall gelingt, dem Kapitalmarkt die Vorteile der Bündelung der Stimmkraft in den Händen weniger (visionärer) Personen glaubhaft zu machen.44

Bedeutsam ist, zu wessen Nachteil eine geminderte Unternehmensbewertung gereichen würde. Sie könnte den Minderheitsaktionären schaden, denn ihre Anteile hätten einen niedrigeren Wert, ohne dass ihnen unmittelbare Kontrollvorteile erwüchsen.45 Diese Benachteiligung besteht allerdings nicht


21 Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 58 f., 60; Beckmann, Mehrstimmrecht, S. 8.

22 Dieser wird nachfolgend als Kontrollaktionär bezeichnet.

23 § 133 I AktG; Hölters/Weber/Solveen, AktG, § 12 Rn. 12; MüKo-AktG/Arnold, § 133 Rn. 53.

24 Binder, Regulierungsstrategien, S. 20 ff.; Eidenmüller, Effizienz, S. 4 ff.; vgl. auch Fleischer, ZGR 2001, 1 (2, 32).

25 Fama, 25 J. Finance 383, 383 ff. (1970); vgl. Easterbrook/Fischel, Econ. Corporate Law, S. 96 f.

26 Manne, 73 J. Polit. Econ. 110, 112 (1965).

27 Manne, 73 J. Polit. Econ. 110, 113 (1965).

28 Burkart/Lee, 12 Rev. Fin. 1, 25 (2008); Grossman/Hart, 20 J. Fin. Econ. 175, 199 (1988); Holderness/Sheehan, 20 J. Fin. Econ. 317, 318 (1988).

29 Vgl. Reddy, Dual-Class Stock, S. 206; Schäfer/Ott, Ök. Analyse, S. 796 f.; Easterbrook/Fischel, Econ. Corporate Law, S. 171 ff.; Grossman/Hart, 20 J. Fin. Econ. 175, 178 ff. (1988).

30 Gordon, 69 U. Chi. L. Rev. 1233, 1235 ff. (2002);

Grossman/Stieglitz, 70 Amer. Econ. Rev. 393, 393 (1980).

31 Vgl. Kahneman/Tversky, Choices, S. 17 ff.; Ruffner, Ök. Grdl., S. 373 ff.; De Bondt/Thaler, 42 J. Finance 557 (1987).

32 Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 234 f.;vgl. auch Beckmann, Mehrstimmrecht, S. 282.

33 Vgl. Lohrer, Unternehmenskontrolle, S. 88 f.; Hasselbach/Rauch, BB 2019, 194, 194 f.

34 Eisenberg, 89 Colum. L. Rev. 1461, 1499 (1989).

35 Baums, Managementkontrolle, S. 6 f.; Morck et al., 79 Amer. Econ. Rev. 842, 843 ff. (1989).

36 Beckmann, Mehrstimmrecht, S. 279 f.; Lohrer, Unternehmenskontrolle, S. 76.; Zöllner/Noack, AG 1991, 117 (126).

37 Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 238.

38 Ebd.; Beckmann, Mehrstimmrecht, 290 f.; Klormann, Ext. Corp. Gov., S. 286 f.; Lohrer, Unternehmenskontrolle, S. 85 f.

39 Claessens et al., 57 J. Finance 2741, 2769 f. (2002); Cronqvist/Nilsson, 38 JFQA 695, 714 f. (2003); Gregg/Poulsen, 20 J. Fin. Econ. 129, 149 (1988); Smart/Zutter, 69 J. Fin. Econ. 85, 105 (2003).

40 Zu diesen sogleich unter B.II.2.b).

41 Adams/Ferreira, 12 Rev. Fin. 51, 77 ff., 84 (2008); Jordan et al., 41 J. Corp. Fin. 304, 324 ff. (2016).

42 Cremers et al., ECGI, S. 19, 31 f.; Jackson, SEC 2018; Kim/Michaely, ECGI, S. 32.

43 Siehe Reddy, Dual-Class Stock, S. 265 ff.

44 Vgl. Reddy, Dual-Class Stock, S. 216 ff.; Gurrea-Martinez, 22 EBOR 475, 481 (2021); Smart/Zutter, 69 J. Fin. Econ. 85, 105-107 (2003).

45 Vgl. Schäfer/Ott, Ök. Analyse, S. 784 f.

Ruholl, One Share One Vote?10

für den Fall, dass Mehrstimmrechte von Anfang an bestanden. Dann nämlich sind die Minderheitsaktionäre in der Lage, die aus der disproportionalen Stimmrechtsstruktur denkbar erwachsenden Kosten zu antizipieren und einzupreisen, sofern die Struktur transparent gemacht wird.46 Diese höheren Kapitalkosten trägt dann der Kontrollaktionär, welches ihm wiederum den Anreiz setzt, Überwachungsmechanismen vorzusehen, um diese Kosten zu reduzieren.47

3. Attraktivität von Börsengängen

Dass gerade Familien- und junge Wachstumsunternehmen vor der Publikumsöffnung aus Angst vor dem Kontrollverlust zurückschrecken, ist eine wohl belegte Beobachtung.48 Sie sind oft nicht bereit, auf ihre Kontrollvorteile zu verzichten. Diesem Belang können aber Mehrstimmrechtsaktien nachkommen, indem am Kapitalmarkt nur einfach und nicht stimmberechtigte Aktien ausgegeben werden, während die Mehrstimmrechtsaktien bei den ursprünglichen Eignern verbleiben. Eine Stimmrechtsverwässerung kann somit vermieden werden und die Gefahr einer feindlichen Kontrollübernahme besteht wie gesehen ebenfalls nicht. Dies macht Börsengänge und auch Unternehmensgründungen für solche Gruppen attraktiver,49 wie auch die Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten zeigen50.

Die Möglichkeit, das Eigenkapital ohne Einbußen an Kontrolle zu erhöhen, verschafft diesen Gesellschaften mehr Flexibilität in der Gestaltung ihrer Kapitalstruktur.51 Die Kontrollaktionäre halten die Gesellschaft nicht mehr von der Kapitalaufnahme zu den günstigsten Bedingungen ab, nur um ihren Einfluss zu wahren.52 Nunmehr kann über die Börse ein hoher Kapitalbedarf gedeckt werden, ohne dabei den Fremdkapitalanteil ausbauen zu müssen. Hierdurch können diese Gesellschaften ihr Illiquiditätsrisiko für Krisenzeiten senken und attraktiven Investitionsprojekten mitunter eher nachgehen.53 Die Kapitalmarktfinanzierung fördert in der Folge — jedenfalls statistisch gesehen — das Unternehmenswachstum.54 Dazu erhalten die Anleger durch vermehrte Kapitalmarktöffnungen die Gelegenheit, an aussichtsreichen Geschäftsmodellen zu partizipieren, welches auch die Attraktivität der Finanzmärkte steigern kann.55

II. Erwägungen der Neuen Institutionenökonomik

Die Neue Institutionenökonomik untersucht schwerpunktmäßig, wie sich die Gestaltung von institutionellen Ordnungen realistischerweise auf das menschliche Handeln auswirkt.56 Sie bildet kein homogenes Theoriengebäude, sondern versammelt verschiedenartige Ansätze unter ihrem Dach.57

1. Vertragsfreiheit in einem Nexus of Contracts

Nach einem Ansatz sind Gesellschaften als ein Geflecht von Vertragsbeziehungen anzusehen.58 Diese vertragstheoretische Betrachtung impliziert, dass Vertragsfreiheit den Regelfall und zwingendes Recht den rechtfertigungsbedürftigen Ausnahmefall darstellen muss.59 Aus ökonomischer Warte begründet nur Marktversagen eine solche Ausnahme.60 Der Marktmechanismus ist insbesondere dann beeinträchtigt, wenn erhebliche Informationsasymmetrien bestehen.61 Ohne das Wissen darum, ob in einer Aktiengesellschaft Mehrstimmrechte existieren und wer die Person des Kontrollaktionärs ist, besteht eine Informationsasymmetrie zu Lasten des Kapitalmarkts. Er kann die konkret bestehenden Gefahren dann nicht einpreisen. Die ökonomische Folge wäre ein „Zitronenmarkt“. In diesem bewertet der Kapitalmarkt sämtliche Aktiengesellschaften mit einem Abschlag, weil er sich nicht sicher sein kann, welche eine „Zitrone“ ist, also von einem opportunistischen oder ungeschickten Kontrollaktionär gelenkt wird.62 Einem solchen Marktversagen lässt sich aber durch Transparenz begegnen.63

4. Corporate Governance und Agency-Kosten

a) Herrschaft und Residualrisikoträgerschaft

Die sog. Theorie der Property Rights64 fragt danach, wem das Verfügungsrecht innerhalb der Gesellschaft zweckmäßig zugeordnet sein sollte, um optimale Anreize zu setzen.65 Sie kommt zu dem Schluss, dass es den Aktionären zustehen sollte, weil diese das residuale Risiko tragen.66 Ihnen steht lediglich das nach Befriedigung aller anderen Vertragspartner verbleibende Residuum zu.67 Sie haben damit den stärksten Anreiz, das Unternehmen gewinnmaximierend zu führen, denn jede Verschwendung von Vermögenswerten schmälert ihr Residualeinkommen. Optimale Anreize werden demnach durch die Kopplung von Kontrolle und Residualrisikoträgerschaft gesetzt.68 Mehrstimmrechtsaktien trennen dahingegen beides voneinander und setzen in der Folge Fehlanreize.69


46 Ebd.; Hart, Firms, S. 208; Ruffner, Ök. Grdl., S. 558; Grossman/Hart, 20 J. Fin. Econ. 175, 200 f. (1988).

47 Hart, Firms, S. 208; Ruffner, Ök. Grdl., S. 558; Cronqvist/Nilsson, 38 JFQA 695, 715 (2003).

48 Oxera, Report, S. 118 f.; Brau/Fawcett, 18 JACF 107, 115 (2006); Burkart/Lee, 12 Rev. Fin. 1, 40 f. (2008).

49 Reddy, Dual-Class Stock, S. 213; Adams/Ferreira, 12 Rev. Fin. 51, 60 (2008); Roe/Venezze, 76 Bus. Law. 467, 504 f. (2021).

50 Bueren/Crowder, in: Fleischer/Mock, Gr. GV, S. 911 (969 ff.); Howell, 44 J. Corp. Fin. 440, 448 f. (2017).

51 Vgl. Reddy, Dual-Class Stock, S. 224 ff.; Ruffner, Ök. Grdl., S. 540 f.; Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (464).

52 Burkart/Lee, 12 Rev. Fin. 1, 41 (2008); Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893 (1895).

53 Ruffner, Ök. Grdl., S. 540 f.; Brau/Fawcett, 18 JACF 107, 108 f., 115 f. (2006); Harris/Raviv, 20 J. Fin. Econ. 55, 58 (1988).

54 Burkart/Lee, 12 Rev. Fin. 1, 41 (2008); Ferrarini, ECFR 2006, 147 (161); Gompers et al., NBER, S. 20.

55 CFA Institute, Dual Class Shares, S. 1; Gurrea-Martinez, 22 EBOR 475, 480 (2021).

56 Vgl. Richter/Furubotn, Neue IÖ, S. 1 ff., 39 ff.; Sauerbruch, Ök. Unters., S. 84 ff.; Fleischer, ZGR 2001, 1 (3 f.).

57 Sauerbruch, Ök. Unters., S. 104 ff.

58 Zurückgehend auf Alchian/Demsetz, 62 Am. Econ. Rev. 777 (1972); Jensen/Meckling, 3 J. Fin. Econ. 305, 310 f. (1976); Easterbrook/Fischel, 89 Colum. L. Rev. 1416 (1989).

59 Ruffner, Ök. Grdl., S. 293 ff.; vgl. Easterbrook/Fischel, 89 Colum. L. Rev. 1416, 1444 ff. (1989).

60 Vgl. Cooter/Ulen, Law & Econ., S. 43 ff.; Schäfer/Ott, Ök. Analyse, S. 46, 85, 100 und passim.

61 Cooter/Ulen, Law & Econ., S. 46 f.; Schäfer/Ott, Ök. Analyse, S. 540.

62 Vgl. Reddy, Dual-Class Stock, S. 302; Kraakman, in: Ferrarini et al., Ref. Comp. Law, S. 95 (99 f.); Akerlof, 84 Q. J. Econ. 488, 489 ff. (1970).

63 Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 275; Denninger, DB 2022, 2329 (2334).

64 U.a. zurückgehend auf Demsetz, 57 Am. Econ. Rev. 347 (1967).

65 Hart, 89 Colum. L. Rev. 1757, 1765 f. (1989); vgl. auch Demsetz, 57 Am. Econ. Rev. 347, 348 (1967).

66 Bainbridge, Corp. L. & Econ., S. 469 ff.; Hart, Firms, S. 30; Easterbrook/Fischel, 26 J. Law Econ. 395, 403 (1983).

67 Vgl. §§ 58 IV 1, 60 AktG; § 199 InsO.

68 Bainbridge, Corp. L. & Econ., S. 469 f.; Hart, Firms, S. 29 ff.; Ruffner, Ök. Grdl., S. 135 f.; Schäfer/Ott, Ök. Analyse, S. 782; Easterbrook/Fischel, 26 J. Law Econ. 395, 403 ff. (1983).

69 Vgl. Ruffner, Ök. Grdl., S. 136.; Sauberbruch, Ök. Unters., S. 114 ff.; Burkart/Lee, 12 Rev. Fin. 1, 40 (2008); Easterbrook/Fischel, 26 J. Law Econ. 395, 403 ff., 409 (1983).

Ruholl, One Share One Vote?11

b) Moralische Risiken

Die Konzentration der Kontrolle bei einem dominanten Mehrstimmrechtsaktionär schafft mithin einen horizontalen Prinzipal-Agenten-Konflikt70 zu Lasten der übrigen Aktionäre.71 Die finanziellen Folgen seiner Entscheidungen treffen primär die Minderheitsaktionäre, seine Prinzipale, während er aufgrund seiner geringeren Residualbeteiligung weitaus weniger betroffen ist.72 Der Kontrollaktionär als Agent nimmt gewissermaßen stellvertretend auch die Interessen der anderen Aktionäre wahr. Dabei entsteht ein moralisches Risiko (Moral Hazard), weil dem Kontrollaktionär ein Spielraum erwächst, den er zur Verfolgung eigennütziger Ziele gebrauchen könnte.73 Einfluss nehmen kann er mittelbar über die bereits aufgeführten Hauptversammlungsentscheidungen, insbesondere durch die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder, die wiederum den Vorstand wählen.74 So kann der Kontrollaktionär sich mitunter sogar selbst in den Vorstand bringen. Die Verluste, die der Gesellschaft bzw. den übrigen Aktionären durch die Vorteilsnahme des Kontrollaktionärs entstehen, sind sog. Agency-Kosten.75 Solche Kosten sind in verschiedenen Konstellationen denkbar.

Zunächst werden Agency-Kosten dadurch verursacht, dass der Kontrollaktionär private Kontrollvorteile aus der Gesellschaft an sich zieht (sog. Tunneling).76 Dies geschieht meist auf subtilere Weise als durch die offensichtliche Veruntreuung von Gesellschaftsvermögen. So können für die Gesellschaft ungünstige Verträge mit nahestehenden natürlichen oder juristischen Personen des Kontrollaktionärs geschlossen werden oder dieser kann der Gesellschaft Geschäftschancen entziehen.77 Gehört der Kontrollaktionär auch dem Vorstand an, kann er sich über seinen Einfluss auf Hauptversammlung und Aufsichtsrat eine überhöhte Vergütung gewähren.78 Einige empirische Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass gerade Letzteres bei Mehrstimmrechtsgesellschaften häufiger vorkommt.79

Wenngleich im wissenschaftlichen Diskurs häufig ausgeblendet, sind darüber hinaus Kontrollvorteile nicht finanzieller Art in ihrer praktischen Bedeutung nicht zu unterschätzen.80 Hierzu zählen insbesondere das gesellschaftliche Ansehen und die Selbsterfüllung, die mit der Beherrschung eines Unternehmens einhergehen, sowie je nach Größe und Bedeutung der Gesellschaft auch der politische Einfluss.81 Decken sich diese nicht finanziellen Interessen und das Gesellschaftswohl einmal nicht, besteht die Gefahr, dass der Kontrollaktionär Letzteres aufopfert. Denkbar sind gerade Fälle von Empire-Building oder Liebhaberei.82

Des Weiteren können Agency-Kosten durch die Abschottung des Vorstands entstehen. Auf dessen Zusammensetzung kann — über die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder — einzig der Kontrollaktionär Einfluss nehmen. Solange der Vorstand in dessen Interesse handelt, braucht er sich um seine Position kaum zu sorgen. Das kann zu geringerer Leistungsbereitschaft führen (sog. Shirking).83 Zudem kann der Vorstand dazu verleitet sein, für die Gesellschaft ineffiziente Entscheidungen zu treffen, wenn damit höhere Kontrollvorteile für den Kontrollaktionär einhergehen.84

Diese Abschottung kann, gerade wenn der Kontrollaktionär selbst ein Vorstandsamt bekleidet, auch eine zeitliche Dimension entfalten. Der Kontrollaktionär kann trotz schwindender Eignung bis in das hohe Alter an seiner Machtstellung festhalten.85 Dazu wird die Vorstandschaft womöglich an Angehörige weitergereicht anstatt an die bestgeeigneten Personen.86 Studien indizieren diesbezüglich, dass die Leitung durch Nachkommen regelmäßig mit Leistungseinbußen einhergeht.87

c) Chancen der Agency-Beziehung

Der Blickwinkel der Prinzipal-Agenten-Theorie birgt jedoch die Gefahr, dass ein zu einseitig negatives Bild gezeichnet wird.88 Für eine ganzheitliche Betrachtung müssen auch die möglichen Vorteile der Agency-Beziehung einbezogen werden.89 Anzustreben ist nämlich nicht ein Minimum, sondern ein Optimum an Agency-Kosten im Verhältnis zu den Nutzen.90 In ähnlichem Sinne betont der Stewardship-Ansatz, dass Agenten häufig von sich aus im Prinzipalinteresse handeln.91

Die aus Mehrstimmrechtsaktien erwachsenden Kontrollvorteile bedrohen die Gesellschaft nämlich nicht nur. Sie ermöglichen ihr auch, visionäre Gründungspersönlichkeiten an die Gesellschaft zu binden.92 Solche Gründer können für den Gesellschaftserfolg entscheidend sein, wie ein Seitenblick


70 Zurückgehend auf Ross, 63 Am. Econ. Rev. 134 (1973); Jensen/Meckling, 3 J. Fin. Econ. 305 (1976); Grossman/Hart, 51 Econometrica 7 (1983).

71 Sauerbruch, Ök. Unters., S. 108; grundlegend Kraakman et al., Anatomy of CL, S. 29 f.

72 Vgl. Bainbridge, Corp. L. & Econ., S. 36 f.; Easterbrook/Fischel, 26 J. Law Econ. 395, 409 (1983); Jensen/Meckling, 3 J. Fin. Econ. 305, 308 (1976).

73 Bainbridge, Corp. L. & Econ., S. 36 ff.; Richter/Furubotn, Neue IÖ, S. 163, 225 ff.; Schäfer/Ott, Ök. Analyse, S. 784; Eisenberg, 89 Colum. L. Rev. 1461, 1471 ff. (1989).

74 § 84 I 1, IV AktG; vgl. bereits B.

75 Bainbridge, Corp. L. & Econ., S. 35 f.; Ruffner, Ök. Grdl., S. 131; Jensen/Meckling, 3 J. Fin. Econ. 305, 308 (1976).

76 Gilson/Gordon, 152 U. Pa. L. Rev. 785, 787 ff. (2003); Johnson et al., 90/2 Am. Econ. Rev. 22, 22 (2000).

77 Baums, Managementkontrolle, S. 5 f.; Eisenberg, 89 Colum. L. Rev. 1461, 1473 (1989).

78 Vgl. §§ 87 I 1, 119 I Nr. 3, 120a I 1 AktG; Reddy, Dual-Class Stock, S. 193 f.; Casper, ZHR 187 (2023), 5 (27).

79 Masulis et al., 64 J. Finance 1697, 1705 ff. (2009); Smart/Zutter, 69 J. Fin. Econ. 85, 104 (2003); Tinaikar, 18 J. Manag. Gov. 373, 394 ff. (2014).

80 Reddy, Dual-Class Stock, S. 201; Gilson, 119 Harv. Law. Rev. 1641, 1664, 1667 ff. (2006).

81 Demsetz/Lehn, 93 J. Political Econ. 1155, 1161 f. (1985); Dyck/Zingales, 59 J. Finance 537, 540 (2004); Gilson, 119 Harv. Law. Rev. 1641, 1664, 1667 ff. (2006).

82 Reddy, Dual-Class Stock, 202; Sauerbruch, Ök. Unters., S. 107; Gompers et al., 23 Rev. Financ. Stud. 1051, 1085 (2010).

83 Baums, Managementkontrolle, S. 5; Sauerbruch, Ök. Unters., S. 105; Eisenberg, 89 Colum. L. Rev. 1461, 1471 ff. (1989); Casper, ZHR 187 (2023), 5 (26).

84 Bebchuk et al., NBER, S. 10 ff.; vgl. auch Easterbrook/Fischel, 26 J. Law Econ. 395, 409 (1983).

85 Bebchuk/Kastiel, 103 Va. Law Rev. 585, 587 f. (2017); Cronqvist/Nilsson, 38 JFQA 695, 715 (2003).

86 Bebchuk/Kastiel, 103 Va. Law Rev. 585, 605 (2017); Gilson, 119 Harv. Law. Rev. 1641, 1667 ff. (2006).

87 Morck et al., in: Morck, Corp. Ownership, S. 319 (338); Anderson/Reeb, 58 J. Finance 1301, 1321 (2003); Bennedsen et al., 122 Q. J. Econ. 647, 669 (2007); Villalonga/Amit, 80 J. Fin. Econ. 385, 402 ff. (2006).

88 Vgl. Sauerbruch, Ök. Unters., S. 108; Goshen/Squire, 117 Colum. L. Rev. 767, 769 ff. (2017); Hart, 89 Colum. L. Rev. 1757, 1759 f. (1989).

89 Bainbridge, Corp. L. & Econ., S. 37 f.; Davis et al., 22 Acad. Manage. Rev. 20, 20 f. (1997).

90 Bainbridge, Corp. L. & Econ., S. 37 f.; Ruffner, Ök. Grdl., S. 132.

91 Zurückgehend auf Donaldson, 15 Acad. Manage. Rev. 369 (1990); Donaldson/Davis, 16 Aust. J. Manag. 49 (1991); Davis et al., 22 Acad. Manage. Rev. 20 (1997).

92 Goshen/Hamdani, 125 Yale. L. J. 560, 577 ff. (2016); Sharfman, 63 Vill. L. Rev. 1, 28 f. (2018); vgl. Fischel, 54 U. Chi. L. Rev. 119, 137 (1987).

Ruholl, One Share One Vote?12

auf prominente US-amerikanische Unternehmen offenbart.93 Von diesem Bund profitieren die übrigen Aktionäre. Ohne das Zugeständnis der Kontrolle bei geringerem Kapitaleinsatz würden solche Gründer die Gesellschaft womöglich verlassen oder erst gar nicht dem Kapitalmarktpublikum öffnen.94

Auch die Abschottung des Vorstands von der externen Kapitalmarktkontrolle kann wünschenswerte Folgen haben. Vorstände sind hierdurch weniger geneigt, mitunter suboptimale unternehmerische Entscheidungen zu treffen, um den Kapitalmarktanlegern zu gefallen.95 Die Außenwirkung spielt eine geringere Rolle. Die Abschottung kann mithin dazu beitragen, dass der Vorstand der nachhaltigen Unternehmensentwicklung dient (Long-Termism), anstatt auf ein wirtschaftliches Strohfeuer zur Zufriedenstellung eines fluktuierenden Anlegerkreises bedacht zu sein (Short-Termism).96 Unter den zahlreichen Studien zu dieser Thematik herrscht jedoch keine Einigkeit.97 Auffällig ist zumindest, dass in Mehrstimmrechtsgesellschaften die Forschungsausgaben oftmals höher ausfallen.98

Außerdem kann dem verhaltensökonomischen Problem, dass Menschen sich regelmäßig risikoavers verhalten,99 besser begegnet werden. Ein Kontrollaktionär hat die Möglichkeit, sein Vermögen zu diversifizieren, weil er es nicht komplett in der Gesellschaft halten muss. Sein mit der Gesellschaft verbundenes Residualrisiko ist demnach geschmälert. Seine Risikoaversion sinkt in der Folge und er wird den Vorstand eher dazu anhalten, ökonomisch sinnvolle Wagnisse einzugehen.100 Ein Mehrheitsaktionär in einem One Share One Vote-System dahingegen neigt empirisch eher zu einer übermäßig vorsichtigen Unternehmensführung, weil große Teile seines Vermögens in der Gesellschaft gebunden sind.101

Schließlich ist anzumerken, dass ein eindeutiger empirischer Beweis, wonach die Agency-Kosten die dargestellten Potenziale überwiegen, bislang nicht gelungen ist.102 Die Mehrzahl der Studien attestiert Mehrstimmrechtsgesellschaften höhere Langzeitrenditen und teilweise auch höhere Leistungen.103 Die Erfahrung in den Vereinigten Staaten enthüllt zudem, dass kaum je Fälle extremer Kontrollvorteilsnahme von Kontrollaktionären bekannt geworden sind.104 Zuweilen wurden geschäftsleitenden Kontrollaktionären sogar besonders geringe Vergütungen gezahlt, wie als prominentes Beispiel bei Google.105

d) Probleme des Kollektivs

Im Übrigen steht dem dargestellten Property Rights-Ansatz die faktische Schwierigkeit entgegen, dass die Interessen der Aktionäre nicht immer homogen sind.106 Ferner ist eine Mitwirkung in der Gesellschaft für Kleinaktionäre meist nicht sinnvoll, weshalb sie rational apathisch bleiben.107 Wie die Erkenntnisse der Neuen Politischen Ökonomik nahelegen, kann ein proportional verteiltes Stimmrecht als Mechanismus der kollektiven Entscheidung in dieser Konstellation versagen.108 Einen Ausweg kann die Konzentration der Stimmkraft durch Mehrstimmrechte bieten. Hierdurch kann auch der Prinzipal-Agenten-Konflikt im Verhältnis zum Vorstand gesenkt werden, weil ein gut informierter Kontrollaktionär höhere Anreize hat und eher in der Lage ist, das Handeln des Vorstands zu überwachen.109

III. Zwischenergebnis

Mehrstimmrechte trennen die Herrschaft von der Residualrisikoträgerschaft. Dies kann schädlich, aber auch nutzbringend sein. Auf der einen Seite wird der Anreiz erhöht, zu Lasten der übrigen Aktionäre übermäßige Kontrollvorteile zu entnehmen, ineffiziente Entscheidungen zu treffen, zu lange an der Kontrollposition festzuhalten oder diese an ungeeignete Nachkommen weiterzureichen. Ferner besteht die Gefahr der Abschottung von dem Markt für Unternehmenskontrolle. Zudem werden Mehrstimmrechtsgesellschaften am Kapitalmarkt oft niedriger bewertet, was deren Finanzierungskosten erhöht.110

Auf der anderen Seite lassen Mehrstimmrechte eine Vermögensdiversifikation ihres Inhabers zu und machen ihn weniger anfällig für kurzfristig negative Kursausschläge. Hierdurch kann der Vorstand ermutigt sein, sich stärker auf das nachhaltige Gesellschaftswohl zu fokussieren und ökonomisch sinnvollen Risiken nicht aus dem Weg zu gehen. Womöglich wird auch den Problemen des Aktionärskollektivs begegnet. In Übereinstimmung hiermit wurden Mehrstimmrechtsgesellschaften meist höhere Langzeitrenditen und teilweise höhere Leistungen attestiert.111 Gerade Familien- und junge Wachstumsunternehmen werden weiters dazu veranlasst, sich dem Kapitalmarktpublikum überhaupt zu öffnen. Schließlich kann ein erhöhtes Stimmrecht erforderlich sein, um fähigen Gründern in einem komplexen Wirtschaftsumfeld den nötigen Handlungsspielraum zu gewähren.


93 Dazu Beckmann, Mehrstimmrecht, S. 180 f.

94 Reddy, Dual-Class Stock, S. 217; Choi, 8 HBLR 53, 59 (2018).

95 DeAngelo/DeAngelo, 14 J. Fin. Econ. 33, 35 (1985); Fischel, 54 U. Chi. L. Rev. 119, 138 (1987); Lehn et al., 27 J. Fin. Econ. 557, 564 (1990).

96 Beckmann, Mehrstimmrecht, S. 169 ff.; Burckhardt, Loyalitätsaktien, S. 79 ff.; Reddy, Dual-Class Stock, S. 226 ff.; Belot et al., Research Paper, S. 34; Choi, 8 HBLR 53, 59 und passim (2018); Cipollone, 21 Dal. J. Leg. Stud. 62, 70 (2012); Jordan et al., 41 J. Corp. Fin. 304, 324 ff. (2016); Mio et al., 29 Bus. Strat. Env. 1785, 1794 (2020); a.A. Roe/Venezze, 76 Bus. Law. 467, 505 ff. (2021).

97 Negative Studien: Arugaslan et al., 16 J. Corp. Fin. 170, 171, 174 (2010); Cremers et al., ECGI, S. 39; Mikkelson/Partch, 1 J. Corp. Fin. 175, 197 (1994).

98 Baran et al., 46 J. Financ. Res. 169, 197 (2023); Jordan et al., 41 J. Corp. Fin. 304, 308 ff. (2016).

99 Vgl. etwa Kahneman, Thinking, S. 334 ff.

100 Vgl. Gilson/Black, Law & Fin., S. 784; Bauguess et al., 36 J. Bank Fin. 1244, 1252 (2012); Fischel, 54 U. Chi. L. Rev. 119, 139 f. (1987).

101 Faccio et al., 24 Rev. Financ. Stud. 3601, 3621 (2011); Himmelberg et al., 53 J. Fin. Econ. 353, 367 f. (1999).

102 Reddy, Dual-Class Stock, S. 301 ff.; vgl. daneben Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 262 ff.; Beckmann, Mehrstimmrecht, S. 358 ff.; Ruffner, Ök. Grdl., S. 561 ff.

103 Ahn et al., Colum. Bus. L. Rev. 476, 519 (2021); Anderson et al., Fox Res. Paper, S. 23, 29 f.; Bauguess et al., 36 J. Bank Fin. 1244, 1251 (2012); Chemmanur et al., 54 J. Law Econ. 651, 681 (2011); Dimitrov/Jain, 12 J. Corp. Fin. 342, 347, 358 f. (2006).

104 Vgl. Reddy, Dual-Class Stock, S. 189, 191; Flocos, 138 U. Pa. L. Rev. 1761, 1778 (1990).

105 Google Inc., Proxy Statement Schedule 14(A) v. April 2022.

106 Ringe, in: Bernitz/Ringe, Comp. Law, S. 209 (220); Osterloh-Konrad, ZGR 2012, 35 (54).

107 Sauerbruch, Ök. Unters., S. 116, 134 ff.; Easterbrook/Fischel, 26 J. Law Econ. 395, 396 (1983).

108 Ruffner, Ök. Grdl., S. 183 f.; Easterbrook/Fischel, 26 J. Law Econ. 395, 405 (1983).

109 Vgl. Kraakman et al., Anatomy of CL, S. 79, 81.; Ringe, in: Bernitz/Ringe, Comp. Law, S. 209 (221); Casper, ZHR 187 (2023), 5 (26).

110 Siehe Fn. 46.

111 Siehe Fn. 121.

Ruholl, One Share One Vote?13

D. Implikationen für die Regulierung und Bewertung der Neuregelungen

Welche Schlüsse diese ökonomischen Erkenntnisse für den rechtlichen Umgang mit Mehrstimmrechten im Allgemeinen und die Beurteilung der Rechtsänderungen auf europäischer und nationaler Ebene im Besonderen zulassen, soll im Folgenden untersucht werden.

I. Ermöglichung von Mehrstimmrechten

Frustriert bemängelte Harry S. Truman einst, dass seine Ökonomen ihm keine klaren Antworten liefern würden.112 Vergleichbar besteht hier in der Gesamtwertung eine gewisse Pattsituation, auch wenn die Tendenz in der Rechtsökonomik neuerdings zugunsten von Mehrstimmrechten ausschlägt.113 In einigen Fällen sind Mehrstimmrechte förderlich, in anderen schädlich. Welche Erwägungen überwiegen, hängt von der Persönlichkeit des Kontrollaktionärs ab. Ein Ergebnis für den Durchschnitt der Fälle lässt sich nur schwer bilden.114 Doch hieraus den Schluss zu ziehen, Mehrstimmrechtsaktien müssten durchweg verboten werden, wäre fehlerhaft. Auch in One Share One Vote-Strukturen überwiegen mitunter die Nachteile.115 Die Reaktion des Gesetzgebers hierauf ist aber kein Verbot, sondern die Einführung von Mechanismen, welche die Risiken abfedern. Ein vergleichbarer Ansatz ist für Mehrstimmrechtsaktien angezeigt und drängt sich im Anblick des international entbrannten Wettbewerbs der Regelungsgeber um die Gunst großer und aufstrebender Unternehmen auch geradezu auf.116 Nur so sind Aktiengesellschaften in der Lage, diejenige Stimmrechtsstruktur zu wählen, welche für sie die effizienteste ist.117

Dies muss für jede Aktiengesellschaft gelten, unabhängig davon, ob sie börsennotiert ist oder nicht.118 Zwar greifen die dargestellten kapitalmarktbezogenen Nachteile nur im Fall der Börsennotierung.119 Jedoch begegnet der diesbezüglich vorwiegend geäußerte Einwand, durch Mehrstimmrechte würde die Wächterfunktion des Übernahmemarktes unterbunden,120 erheblichen Bedenken. Vielmehr gelten wesentliche Vorzüge des Mehrstimmrechts gerade im Fall der Kapitalmarktorientierung, namentlich die gesteigerte Attraktivität der Publikumsfinanzierung einhergehend mit der Möglichkeit der Abkopplung von kurzsichtigen Anlegertendenzen.

Das ZuFinG und der Richtlinienentwurf des EU Listing Acts vollziehen einen historischen Kurswechsel, indem sie Mehrstimmrechtsaktien (wieder) zulassen. Dies jedoch unter Einschränkungen,121 auf die sogleich näher einzugehen sein wird. Das Vorgehen deckt sich im Grundsatz mit den hier gewonnenen Erkenntnissen. Zu kurz greift aber der EU Listing Act, wenn er die Mitgliedstaaten nur dazu verpflichtet, Mehrstimmrechte lediglich im Vorfeld der Erstzulassung an einem KMU-Wachstumsmarkt zu erlauben.122 Die größere Freiheit bei der Wahl der passenden Stimmrechtsstruktur überzeugt aus ökonomischer Warte für jede Aktiengesellschaft und nicht allein — wenngleich dort in besonderem Maße — für KMU-Wachstumsunternehmen.123 Immerhin handelt es sich bei dem Richtlinienentwurf nur um eine Mindestharmonisierung, die weitergehende Gestattungen zulässt.124 Von dieser Möglichkeit macht das ZuFinG Gebrauch und erlaubt Mehrstimmrechte einheitlich.125

II. Begrenzung von Mehrstimmrechten

Mehrstimmrechte bedürfen einer sorgsam ausbalancierten Eindämmung. Dabei ist allerdings Vorsicht vor einer Überregulierung geboten. Andernfalls drohen wesentliche Vorteile, namentlich die Steigerung der Attraktivität von Börsengängen und die Bindung zukunftsweisender Gründer, zu zerfließen und Deutschland könnte im internationalen Regelungswettbewerb das Nachsehen haben. Deshalb können etwa moderate Kontrollvorteile wohlfahrtsökonomisch durchaus in Kauf zu nehmen sein.126 Im Folgenden werden die vier wesentlichsten Begrenzungen beleuchtet.

1. Höhe der Stimmrechtsmultiplikation

Die Verringerung der Kapitalbeteiligung hat zwar das Potenzial, die Unternehmensführung am langfristigen Gesellschaftswohl auszurichten und Risikoaversionen zu beseitigen, ein minimaler Kapitaleinsatz birgt jedoch die Gefahr, dass den Kontrollaktionär dann jedwede, auch begründete Kursbewegungen unbeeindruckt lassen.127 Das ist problematisch, weil der Börsenwert auch fruchtbare Signale sendet und der Kontrollaktionär eher geneigt sein kann, übermäßige, rein spekulative Risiken einzugehen.128 Daher sollte eine Regulierung durch eine höhenmäßige Deckelung des Stimmrechtsfaktors sicherstellen, dass ein Mehrstimmrechtsinhaber noch spürbar am Residualrisiko der Gesellschaft beteiligt ist.129 Die Grenze muss nur richtig gesetzt werden. Sie darf nicht so niedrig liegen, dass die genannten Vorzüge der Kapitalmarktabkopplung entfallen, und nicht so hoch, dass der Kontrollaktionär kein Skin in the Game mehr hat.130 Bei entsprechender Justierung hätte ein Kurseinbruch zumindest


112 Berühmt ist das Zitat: „Give me a one-handed economist. All my economists say ‚on the one hand‘, then ‚but on the other‘.“

113 Siehe Fn. 11.

114 Vgl. aber die (wohl einzige) umfassende Untersuchung der Datenlage bei Reddy, Dual-Class Stock, S. 249-307, mit keinem eindeutigen Ergebnis.

115 Deren Nachteile sind weitgehend spiegelbildlich die hier dargestellten Vorteile von Mehrstimmrechtsstrukturen, vgl. Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 217 ff.

116 Vgl. Reddy, Dual-Class Stock, S. 247; Casper, ZHR 187 (2023), 5 (29), Chemmanur/Jiao, 36 J. Bank. Financ. 305, 316 (2012); Huang et al., 20 J. Corp. Law Stud. 121, 121 f. (2020); Ventoruzzo, ZVglRWiss 114 (2015), 192 (196, 209 ff.).

117 Vgl. Reddy, Dual-Class Stock, S. 247; Grossman/Hart, 20 J. Fin. Econ. 175, 200 f. (1988); Sharfman, 93 South. Calif. Law Rev. 1, 10 (2019); Umfrage bei COM(2022) 761 final, S. 11 f.

118 Vgl. Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 366 f.; Beckmann, Mehrstimmrecht; S. 293 ff.; Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (486).

119 Bayer, in: Vhdl. 67. DJT, S. E 1 (E 109); Herzog/Gebhard, ZIP 2022, 1893 (1898 f.).

120 Vgl. etwa Casper, ZHR 187 (2023), 5 (24 f.); Denninger, DB 2022, 2329 (2331 f.); Herzog/Gebhard, ZIP 2021, 1893 (1899).

121 Vgl. Artt. 4-6 MehrstimmR-RL-E; §§ 12 S. 2, 135a AktG.

122 ErwG 1 und 7, Artt. 1, 2 e), 4 I, II MehrstimmR-RL-E i.V.m. Art. 4 I Nr. 12 MiFID II.

123 DAV, NZG 2023, 464 (466); Gumpp, BKR 2023, 82 (89); Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (486).

124 Art. 3 MehrstimmR-RL-E.

125 §§ 12 S. 2, 135a I 1 AktG; RefE ZuFinG, S. 93 f.; kritisch etwa Harnos, AG 2023, 348 (350).

126 Reddy, Dual-Class Stock, S. 247 f.; Ferrarini, ECFR 2006, 147 (162, 174); Gurrea-Martinez, 22 EBOR 475, 488 (2021).

127 Vgl. Bebchuk et al., NBER, S. 11; Bebchuk/Kastiel, 107 Geo. L. J. 1453, 1473 f. (2019); Ferrarini, ECFR 2006, 147 (160); Manso, 66 J. Finance 1823, 1845 ff.

128 Reddy, Dual-Class Stock, DD S. 233, 237; Gurrea-Martinez, 22 EBOR 475, 483 (2021).

129 Bebchuk/Kastiel, 107 Geo. L. J. 1453, 1473 f., 1505 f. (2019); Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (489); Reddy, 80 C.L.J. 515, 538 (2021).

130 Vgl. Bebchuk/Kastiel, 107 Geo. L. J. 1453, 1473 f. (2019); Reddy, 80 C.L.J. 515, 538 ff. (2021).

Ruholl, One Share One Vote?14

merkliche Auswirkungen auf das Vermögen des Kontrollaktionärs. Der Kapitalmarkt könnte hierdurch noch einen gewissen Schutz vor wohlfahrtsschädlichem Verhalten bieten.

a) Umsetzung im EU Listing Act

Der Richtlinienentwurf eröffnet den Mitgliedstaaten zwei Möglichkeiten, von denen nur eine umgesetzt werden muss: Entweder sind der Stimmrechtsfaktor sowie der Anteil des Grundkapitals, der mit Mehrstimmrechten ausgestattet werden darf, zu begrenzen oder das Mehrstimmrecht ist bei Beschlüssen, die einer qualifizierten Mehrheit bedürfen, zu beschränken.131 Diese Alternativlösung ist kritikwürdig. Eine hinreichende Residualrisikoträgerschaft des Kontrollaktionärs sicherzustellen, ist ökonomisch in jedem Fall angezeigt. Darüber hinaus den Anteil von Mehrstimmrechtsaktien am Grundkapital — etwa auf 50 oder 25 % — zu limitieren, schafft keinen Mehrwert.132 Es ist gerade der Zweck eines Mehrstimmrechts, keinen hohen Kapitalanteil halten zu müssen. Überdies ist die alternative Beschränkung des Beschlussgegenstands etwa in Deutschland weitgehend überflüssig, weil besonders grundlegende Beschlüsse ohnehin zusätzlich Kapitalmehrheiten erfordern.133

b) Umsetzung im Zukunftsfinanzierungsgesetz

Nach dem ZuFinG darf eine Aktie höchstens das zehnfache Stimmecht gewähren.134 Folglich muss ein Kontrollaktionär theoretisch zumindest mit 5 % am Grundkapital beteiligt sein, um die einfache Stimmenmehrheit sicher zu halten. Regelmäßig dürfte der Kontrollaktionär hierbei noch einen spürbaren Teil des Residualrisikos tragen, wobei dies wesentlich von der konkreten Höhe des Grundkapitals abhängt. Anzumerken ist jedoch, dass die hiesige Deckelung im internationalen Vergleich an die untere Grenze stößt. Zwar lassen einige europäische Staaten ebenfalls zehnfache Stimmrechte zu,135 weshalb diese Höhe sinnvoll erscheint, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Allerdings wird gerade im angloamerikanischen Raum häufig ein höchstens fünffaches Stimmrecht bzw. eine Kapitalbeteiligung von wenigstens 10 % für geeignet erachtet.136

2. Transparenz

Wenn der Kapitalmarkt nicht weiß, ob in einer Aktiengesellschaft Mehrstimmrechte bestehen und wer die Person des Kontrollaktionärs ist, besteht eine Informationsasymmetrie zu seinen Lasten. Wie bereits ausgeführt, hätte dies ein Marktversagen in Form eines „Zitronenmarktes“ zur Folge, welches der privatautonomen Vereinbarung von Mehrstimmrechten entgegenstehen würde.137 Dem kann aber durch hohe Transparenz begegnet werden.138 Der Kapitalmarkt ist in der Lage, Stimmrechtsstrukturen und -inhaber zu unterscheiden. Eine Regulierung sollte deshalb Publizität hinsichtlich des Vorliegens einer Mehrstimmrechtsstruktur, des Stimmrechtsfaktors, der Identität des Mehrstimmrechtsinhabers und seiner Kapitalbeteiligung gewährleisten.139 So kann der Kapitalmarkt die konkreten Mehrstimmrechtsinhaber und die von ihnen tatsächlich ausgehenden Risiken beurteilen und einpreisen, wodurch negative externe Effekte zu Lasten aller anderen Aktiengesellschaften vermieden werden.140

a) Umsetzung im EU Listing Act

Der europäische Entwurf bleibt auf halber Strecke stehen, indem er zwar die detaillierte Offenlegung der Stimmrechtsstruktur, der Stimmrechtsmultiplikation sowie der Identität der Mehrstimmrechtsinhaber verlangt,141 nicht aber der Höhe der in einer Person vereinten Stimmkraft. Dies ist bedenklich, weil für den Kapitalmarkt deshalb nicht in jedem Fall ersichtlich ist, ob ein Kontrollaktionär vorhanden ist bzw. wer es ist.142 Diesen weiteren Schritt hätte der Entwurf gehen können, wenn er schon die Identität der Mehrstimmrechtsinhaber preisgibt.

b) Umsetzung im Zukunftsfinanzierungsgesetz

Das ZuFinG ist sich der Bedeutung von Transparenz bewusst und verweist dazu auf die nach deutschem Recht bestehenden Publizitätspflichten.143 Der Satzung sowie der Bilanz und dem Lagebericht lassen sich die Stimmrechtsstruktur und die Stimmrechtsmultiplikation entnehmen.144 Im Falle der Börsennotierung sind das Erreichen bestimmter Stimmrechtsanteile und die Identität dieses Stimmrechtsinhabers offenzulegen.145 Eine kleine Schutzlücke besteht gleichwohl auch hier bei der nicht börsennotierten Aktiengesellschaft.146

3. Zeitpunkt der Einführung

Bei transparenten Strukturen ist ein effizienter Kapitalmarkt in der Lage, die Risiken zu antizipieren, wenn die Mehrstimmrechte zum Zeitpunkt der Publikumsöffnung bereits bestehen.147 Die Anleger können sich dann auf die Person des Kontrollaktionärs einstellen. Vor einem Börsengang würde eine Mehrstimmrechtsstruktur demzufolge nur gewählt werden, wenn die Kapitalgeber ihr Vertrauen und ausreichend Eigenkapital bereitstellen würden.148 Andernfalls würde sie sich in einem Marktmechanismus nicht durchsetzen. Anders verhält es sich bei der nachträglichen Einführung von Mehrstimmrechten. Die Anleger können das Risiko dann schwerer vorhersehen. Um in diesem Fall ihre Übervorteilung und ein


131 Art. 5 I b) MehrstimmR-RL-E.

132 Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (489); a.A. Casper, ZHR 187 (2023), 5 (31); DAV, NZG 2023, 464 (468).

133 Dazu bereits B.; Casper, ZHR 187 (2023), 5 (34); Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (489 f.); vgl. auch DAV, NZG 2023, 464 (469).

134 § 135a I 2 AktG.

135 Näher dazu Beckmann, Mehrstimmrecht, S. 343; Casper, ZHR 187 (2023), 5 (32); Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (489).

136 Reddy, Dual-Class Stock, S. 377 ff.; Bebchuk/Kastiel, 103 Va. Law Rev. 585, 620 (2017); Bebchuk/Kastiel, 107 Geo. L. J. 1453, 1505 (2019); Fisch/Solomon, 99 B. U. L. Rev. 1057, 1087 (2019); Winden, Colum. Bus. L. Rev. 852, 872 f. (2018).

137 Siehe Fn. 76.

138 Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 275 ff.; vgl. Akerlof, 84 Q. J. Econ. 488, 490 ff., 495 f., 500 (1970).

139 In diese Richtung Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 275 ff.; Ferrarini, ECFR 2006, 147 (176); Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (490); vgl. auch die Befragung bei COM(2022) 761 final, S. 12.

140 Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 275 ff.; Reddy, Dual-Class Stock, S. 302; vgl. Ruffner, Ök. Grdl., S. 294 f.

141 Art. 6 MehrstimmR-RL-E.

142 In diese Richtung auch DAV, NZG 2023, 464 (470); Gumpp, BKR 2023, 82 (89); Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (490); Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275 (1277).

143 RefE ZuFinG, S. 100.

144 Vgl. § 152 I 4 AktG; §§ 289a I Nr. 1, 315a I Nr. 1 HGB.

145 §§ 33 ff. WpHG; vgl. insgesamt Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (495 f.); RefE ZuFinG, S. 100; zweifelnd Mock/Mohamed, NZG 2022, 1275 (1277).

146 Die Mitteilungspflicht gem. § 20 AktG greift zu kurz, weil sie nicht für die Beteiligung von Privataktionären gilt, vgl. MüKo-AktG/Bayer, § 20 Rn. 6.

147 Ruffner, Ök. Grdl., S. 558; Gilson, 73 Va. L. Rev. 807, 809 (1987); Grossman/Hart, 20 J. Fin. Econ. 175, 200 f. (1988); Roe/Venezze, 76 Bus. Law. 467, 474 (2021).

148 Gurrea-Martinez, 22 EBOR 475, 481 (2021); Lin, Colum. Bus. L. Rev. 453, 482 (2017); Venezze, 15 EBOR 499, 539 (2014).

Ruholl, One Share One Vote?15

weiteres „Zitronenmarkt“-Phänomen im Sinne von Risikoabschlägen ex ante zu Lasten aller Aktiengesellschaften zu vermeiden, bedarf es besonderer Schutzmechanismen, welche die nachträgliche Einführung einer Mehrstimmrechtsstruktur begrenzen.149 Vor diesem Hintergrund sollte sie von der Zustimmung einer angemessen großen Mehrheit der übrigen Aktionäre abhängig gemacht werden.150

a) Umsetzung im EU Listing Act

Die Mitgliedstaaten werden dazu verpflichtet, die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien lediglich vor einem Börsengang zu gestatten.151 Die nachträgliche Einführung stellt der EU Listing Act in das Ermessen der Mitgliedstaaten, fordert für deren Beschluss jedoch eine qualifizierte Mehrheit.152 Dieses Vorgehen ist grundsätzlich zu begrüßen,153 obgleich eine verpflichtende Gestattung auch der nachträglichen Einführung bei entsprechenden Mehrheiten vorzugswürdig wäre.

b) Umsetzung im Zukunftsfinanzierungsgesetz

Von Rechts wegen soll die Einführung von Mehrstimmrechten in Deutschland jederzeit möglich sein. Doch fordert das ZuFinG die Zustimmung jedes (noch so gering) betroffenen Aktionärs.154 Faktisch wird die Einführung von Mehrstimmrechten nach der Gründung bzw. Publikumsöffnung damit ausgeschlossen.155 Dies kommt den strengen Vorgaben der Listing Rules der NYSE und NASDAQ gleich, die nur bereits bestehende Mehrstimmrechtsstrukturen zulassen.156 Doch sind durchaus ökonomische Gründe für nachträgliche Stimmrechtserhöhungen denkbar. Fehlt dem Kontrollaktionär etwa zu Beginn die Reputation, kann er mit einem moderaten Stimmrechtsprivileg starten, um das Vertrauen des Kapitalmarkts zu gewinnen, und seine Stimmmacht bei erfolgreicher Leitung nachträglich auf ein effizientes Maß erhöhen.157 Deshalb geht das ZuFinG an dieser Stelle zu weit.158 Einstimmigkeit kann einzelnen Kleinaktionären sogar eine Erpressungsmacht eröffnen.159 Die nachträgliche Einführung unter den Vorbehalt eines hohen Kapitalmehrheitsbeschlusses zu stellen, würde die übrigen Aktionärsgruppen hinreichend schützen.

4. Verfall des Mehrstimmrechts

Die Gründungsaktionäre mögen in Anfangszeiten für die Unternehmensführung prädestiniert sein. Doch kann sich dies mit voranschreitendem Alter ändern.160 Empirisch wird dies durch die bereits erwähnte Beobachtung gestützt, dass regelmäßig der Wert und zuweilen die Produktivität von Mehrstimmrechtsgesellschaften nach einigen Jahren sinken.161 Vor diesem Hintergrund erscheint es zum Schutz der Minderheitsaktionäre angebracht, die Stimmrechtserhöhung zu entziehen, sobald sie ineffizient wird. An welche Bedingungen ein solcher Verfall des Mehrstimmrechts geknüpft werden sollte, ist eine international viel diskutierte Frage.

Denkbar ist zunächst, das Mehrstimmrecht nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums auf ein einfaches Stimmrecht zu reduzieren (Time-Based Sunset).162 Dagegen spricht, dass eine schädliche Wirkung nicht unbedingt mit dem Ablauf einer starren Frist einsetzt. Beweise, ab wann sich ein Mehrstimmrecht nachteilig auswirkt, lassen sich nicht finden und wohl auch gar nicht allgemein erbringen. Deshalb kann eine Befristung kaum zuverlässig und ohne negative Auswirkungen im Einzelfall erfolgen.163 Überdies könnte eine feste Zeitgrenze übermäßig abschreckend wirken. Teilweise begegnen ließe sich diesen Schwächen nur damit, den übrigen Aktionären die Möglichkeit einer Fristverlängerung einzuräumen.164

Flexibler ist es, den Verfall an bestimmte Ereignisse zu koppeln (Event-Based Sunset), etwa das Erreichen einer Altersgrenze sowie den Eintritt einer Erkrankung oder gar das Versterben des Mehrstimmrechtsinhabers.165 Dies entspricht in den Vereinigten Staaten der gängigen Praxis.166 Auch ist es denkbar, das Mehrstimmrecht nur so lange aufrechtzuerhalten, wie eine zuvor festgelegte Unternehmensleistung gehalten wird oder der Kontrollaktionär keine Treuepflichten verletzt.167 Derartige Regelungen sind wohlfahrtsökonomisch sinnvoll, weil sie am ehesten sicherstellen können, dass Mehrstimmrechte nur bestehen, solange sie effizient sind.168

Schließlich legen die ökonomischen Erkenntnisse dar, dass die Person des Kontrollaktionärs entscheidend ist und Nachfolger die Gesellschaft häufig schlechter führen.169 Da die Minderheitsaktionäre sich aber nur auf die ursprüngliche Person einstellen konnten, bedürfen sie auch im Fall der Übertragung des Mehrstimmrechts, gleichgültig welcher Art, eines Schutzes (Transfer-Based Sunset).170 Hierfür bietet sich eine Art der Vinkulierung an, welche die Übertragung von


149 Vgl. Hart, Firms, S. 208 f.; Ruffner, Ök. Grdl., S. 559; Gilson, 73 Va. L. Rev. 807, 841, 844 (1987); Grossman/Hart, 20 J. Fin. Econ. 175, 201 (1988); Roe/Venezze, 76 Bus. Law. 467, 474 (2021).

150 In diese Richtung auch DAV, NZG 2023, 738 (743); Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (487).

151 Art. 4 I, II MehrstimmR-RL-E.

152 Artt. 3, 5 I a) MehrstimmR-RL-E.

153 Vgl. DAV, NZG 2023, 464 (467); Ferrarini, ECFR 2006, 147 (158); Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (487).

154 § 135a I 3 AktG.

155 Ausdrücklich RefE ZuFinG, S. 98; BT-Drucks. 20/9363, S. 118; vgl. Casper, ZHR 187 (2023), 5 (29); Harnos, AG 2023, 348 (351).

156 NYSE, Listed Company Manuel, § 313.00 (2023); NASDAQ, Listing Rules, § 5640 (2023).

157 Ruffner, Ök. Grdl., S. 559, 570.

158 So auch BT-Drucks. 20/9363, S. 118, 121; Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (487); differenzierend DAV, NZG 2023, 464 (467); DAV, NZG 2023, 738 (743).

159 Anderson, Stimmrechtsproportionalität, S. 345; Ruffner, Ök. Grdl., S. 569.

160 Bebchuk/Kastiel, 103 Va. Law Rev. 585, 587 ff., 590, 604 f. (2017); Cronqvist/Nilsson, 38 JFQA 695, 715 (2003); Gurrea-Martinez, 22 EBOR 475, 483 f. (2021).

161 Cremers et al., ECGI, S. 19, 31 f.; Jackson, SEC 2018; Kim/Michaely, ECGI, S. 32.

162 Bebchuk/Kastiel, 103 Va. Law Rev. 585, 587 ff. (2017); Fisch/Solomon, 99 B. U. L. Rev. 1057, 1079 ff. (2019); Moore, 12 Wm. & Mary Bus. L. Rev. 93, 134 ff. (2020).

163 Fisch/Solomon, 99 B. U. L. Rev. 1057, 1080 ff., 1092 (2019); Reddy, 80 C.L.J. 515, 533 f. (2021); Winden, Colum. Bus. L. Rev. 852, 917 (2018).

164 Bebchuk/Kastiel, 103 Va. Law Rev. 585, 618 (2017); Fisch/Solomon, 99 B. U. L. Rev. 1057, 1084 ff. (2019); Moore, 12 Wm. & Mary Bus. L. Rev. 93, 134 (2020).

165 Bebchuk/Kastiel, 103 Va. Law Rev. 585, 619 f. (2017); Fisch/Solomon, 99 B. U. L. Rev. 1057, 1089 ff. (2019); Winden, Colum. Bus. L. Rev. 852, 875 ff. (2018).

166 Winden, Colum. Bus. L. Rev. 852, 875 f. (2018).

167 Chemmanur/Jiao, 36 J. Bank. Financ. 305, 316 (2012); Fisch/Solomon, 99 B. U. L. Rev. 1057, 1091 (2019); Moore, 12 Wm. & Mary Bus. L. Rev. 93, 139 f. (2020); Winden, Colum. Bus. L. Rev. 852, 928 ff. (2018).

168 Vgl. Fisch/Solomon, 99 B. U. L. Rev. 1057, 1091 ff. (2019); Winden, Colum. Bus. L. Rev. 852, 924 ff. (2018).

169 Morck et al., in: Morck, Corp. Ownership, S. 319 (338); Anderson/Reeb, 58 J. Finance 1301, 1321 (2003); Bennedsen et al., 122 Q. J. Econ. 647, 669 (2007).

170 Reddy, Dual-Class Stock, S. 368 ff.; Fisch/Solomon, 99 B. U. L. Rev. 1057, 1088 f. (2019); Moore, 12 Wm. & Mary Bus. L. Rev. 93, 141 ff. (2020).

Ruholl, One Share One Vote?16

der mehrheitlichen Zustimmung der übrigen Aktionäre abhängig macht.171 Denn die Übertragung kann für sie vorteilhaft sein, sodass ihnen die Entscheidungskompetenz zugebilligt werden sollte.172

a) Umsetzung im EU Listing Act

Der Richtlinienentwurf beschränkt sich darauf, die drei dargestellten Arten eines Mehrstimmrechtsverfalls als mögliche, fakultative Schutzmaßnahmen aufzuzeigen.173 Greifbare Empfehlungen gibt er diesbezüglich nicht. Dieses Vorgehen ist angesichts der verschiedenen bereits bestehenden nationalen Regelungsregime zur Steigerung der Richtlinienakzeptanz legitim.174 Damit wird die Aufgabe, eine ökonomisch zweckmäßige Begrenzung zu erarbeiten, an die nationale Ebene weitergereicht. Es findet sich lediglich der konkrete Vorschlag, sicherzustellen, dass Mehrstimmrechte nicht zur Blockierung von sog. ESG-Beschlüssen genutzt werden können.175 Diese Hervorhebung ist politisch nachvollziehbar, rechtsökonomisch jedoch entbehrlich. Dass Mehrstimmrechte ein höheres ESG-Risiko bergen, ist nicht belegt.176

b) Umsetzung im Zukunftsfinanzierungsgesetz

Das ZuFinG gewährt Mehrstimmrechte nur auf Namensaktien. Dies ist angebracht, um deren Einfluss zu personalisieren.177 Im Übrigen differenziert es zwischen börsennotierten und nicht börsennotierten Aktiengesellschaften. Für börsennotierte nutzt es zwei der drei denkbaren Arten eines Verfalls. Es beschränkt den Einflussvorrang auf zehn Jahre nach der Börsennotierung und lässt das Mehrstimmrecht daneben im Falle einer vorherigen Übertragung entfallen.178 Diese Lösung ist nach den hier gewonnenen Erkenntnissen suboptimal. Flexibler wäre, wie dargestellt, ein ereignisbasierter Verfall anstelle eines zeitbasierten.179 Zudem wäre eine Art der Vinkulierung einem völligen Verfall bei Übertragung vorzuziehen.180 Zu begrüßen ist zumindest, dass durch Beschluss einer Dreiviertel-Kapitalmehrheit eine einmalige Fristverlängerung auf weitere zehn Jahre zulässig ist.181 Wieso diese Möglichkeit nur einmal gewährt wird, erschließt sich jedoch nicht.182 Im Einzelfall können die übrigen Aktionäre durchaus von weiteren Verlängerungen profitieren.183 Was schließlich die Länge des Befristungszeitraums anbelangt, ordnet sich das Gesetz in die vielerorts für angemessen befundene Größenordnung ein. So werden Befristungen von zehn bis fünfzehn184, sieben185 oder auch drei bis fünf186 Jahren befürwortet.

Demgegenüber ist für die nicht börsennotierte Aktiengesellschaft keinerlei Verfall des Mehrstimmrechts vorgesehen. Die starke Kapitalmarktfixierung des ZuFinG gibt den Schutz der Minderheitsaktionäre an dieser Stelle ein Stück weit preis. Doch ist dem Gesetz diesbezüglich zuzugestehen, dass geschlossenen Kapitalgesellschaften aufgrund ihres üblicherweise kleineren und professionelleren Gesellschafterkreises grundsätzlich mehr Gestaltungsfreiheit zugebilligt werden kann187 und das deutsche Gesellschaftsrecht bereits belastbare Schutzinstrumente für Minderheitsaktionäre kennt188.

E. Fazit

In der ökonomischen Debatte um Mehrstimmrechte vermag sich keine Seite klar durchzusetzen. Es besteht ein Patt. Ob Mehrstimmrechte wohlfahrtsförderlich sind, steht und fällt mit der konkreten Person des Kontrollaktionärs. Diese Erkenntnis legt einen differenzierenden Rechtsrahmen nahe, der durchlässig genug ist, um einer Aktiengesellschaft die Wahl der für sie effizientesten Stimmrechtsstruktur zu ermöglichen, die damit hierorts verbundenen Risiken jedoch angemessen begrenzt.

Dies gelingt den Vorstößen auf nationaler und europäischer Ebene in Teilen. Der EU Listing Act versäumt es, den Stimmrechtsfaktor unausweichlich zu deckeln, Transparenz hinsichtlich der individuellen Stimmmacht herzustellen und die Möglichkeit der nachträglichen Einführung vorzuschreiben. Letzteres Versäumnis macht sich auch das ZuFinG zu eigen. Dessen größter Makel ist es aber, dass es für die börsennotierte Aktiengesellschaft anstelle eines ereignisbasierten einen zeitbasierten, nur einmalig verlängerbaren Verfall und anstelle einer Vinkulierung einen übertragungsbasierten Verfall vorsieht. Abseits dessen sind die Reformen in ihrer Stoßrichtung zu begrüßen, setzen sie doch einen bedeutenden Schritt hin zu einem ausgewogen agilen und konkurrenzfähigen Aktienrecht.


171 Derart Casper, ZHR 187 (2023), 5 (33, 47); DAV, NZG 2023, 738 (744); IDW, Stellungnahme ZuFinG, S. 3; Nicolussi, AG 2022, 753 (763).

172 Noch weitergehend Beckmann, Mehrstimmrecht, S. 347.

173 Art. 5 II a) – c) MehrstimmR-RL-E.

174 Vgl. bereits A.III.; Beckmann, Mehrstimmrecht, S. 102 ff.; Ventoruzzo, ZVglRWiss 114 (2015), 192 (198 ff.).

175 Art. 5 II d) MehrstimmR-RL-E.

176 DAV, NZG 2023, 464 (469); Hansen, Oxf. Bus. L. Blog v. 30.1.2023; Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (489 f.).

177 § 135a I 1 AktG; Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (492); rechtsvergleichend Jung, ZVglRWiss 120 (2021), 104 (107 ff.).

178 § 135a II 1, 2 AktG.

179 DAV, NZG 2023, 464 (469); Kalss, ZHR 187 (2023), 438 (487 f.); vgl. Nicolussi, AG 2022, 753 (762).

180 DAV, NZG 2023, 464 (469); DAV, NZG 2023, 738 (744); vgl. auch RefE ZuFinG, S. 97.

181 § 135a II 3, 4 AktG.

182 Dies offenlassend RefE ZuFinG, S. 99.

183 Vgl. Fn. 189.

184 Bebchuk/Kastiel, 103 Va. Law Rev. 585, 590 (2017); Winden, Colum. Bus. L. Rev. 852, 870 f. (2018).

185 Cremers et al., ECGI, S. 32; vgl. Fisch/Solomon, 99 B. U. L. Rev. 1057, 1080 (2019).

186 Vgl. Bueren/Crowder, in: Fleischer/Mock, Gr. GV, S. 911 (977); Sharfman, 63 Vill. L. Rev. 1, 3 (2018).

187 Vgl. Bayer, in: Vhdl. 67. DJT, S. E 1 (E 81 ff.); Fleischer, ZHR 179 (2015), 404 (408 ff., 416 ff.).

188 Grundlegend Hofmann, Minderheitsschutz, S. 693 ff. und passim.