Thilo Kerkhoff*
A. Einleitung
„The courts put life into the dead words of the statute.“1 Eine solche Äußerung mag in einer kontinentalen Jurisdiktion umstritten sein. Doch auch der deutsche Gesetzgeber hat Normen vorgesehen, die der Rechtsanwender in besonderer Weise mit Leben füllen muss. Einerseits eröffnet sich der Anwendungsbereich einer Generalklausel wie § 242 BGB2 nur dadurch, dass sie vom Rechtsanwender ausgefüllt und präzisiert wird.3 Andererseits gilt z.B. das Bereicherungsrecht weithin als ausfüllungsbedürftiges „Billigkeitsrecht“.4 Eine mögliche Grenze zu billigender Bereicherungsansprüche ist die Kondiktionssperre des § 817 S. 2. Wie man mit dieser Kondiktionssperre umgeht, und welchen Zweck sie verfolgt, ist seit Jahrzehnten Gegenstand eines intensiven Forschungsgesprächs.5 Auch die Rechtsprechung ist nicht eindeutig: Wurde ein Bereicherungsausgleich beim Kauf eines Radarwarngerätes noch verneint,6 hat der BGH einen Ausgleich bei Schneeballsystemen zugelassen.7 Ein herausragendes Beispiel der divergierenden Anwendung des § 817 S. 2 sind die Schwarzarbeit-Urteile. Der BGH entschied 1990 die Kondiktionssperre nicht auf bereicherungsrechtliche Lohnansprüche des Schwarzarbeiters anzuwenden (Schwarzarbeit-Urteil I).8 In einem nahezu identischen Fall wurde diese Entscheidung 24 Jahre später revidiert und ein Bereicherungsausgleich ausgeschlossen (Schwarzarbeit-Urteil II).9 Diese höchst unterschiedlichen Entscheidungen setzen sich dabei mit dem Prinzip von Treu und Glauben und seinen Wirkungen und Wertungen bzgl. der Kondiktionssperre auseinander. Daher sind die Urteile ein besonders geeigneter Beobachtungsgegenstand für den Bereicherungsausgleich bei § 817 S. 2 und die richterliche Rechtsfortbildung mittels Generalklausel in einem Bereich, der ohnehin besonders durch Billigkeitsgedanken geprägt ist. Zunächst soll daher ein Blick auf die Entscheidungen des BGH und ihre Motive und Methodik geworfen werden (B.). Anschließend soll das Spannungsverhältnis von Kodifikation und Case Law bezogen auf richterrechtliche Sozialgestaltung beleuchtet werden (C.).
B. Die Schwarzarbeit-Urteile
I. Methodik des Schwarzarbeit-Urteil I
Die Brisanz des ersten Urteils von 1990 liegt in seinem Überraschungsmoment. Mit dem Tenor war nicht zu rechnen, was auch an der Methode der Richter lag. Kerninstrument der Rechtsanwendung ist gewöhnlich der auf Aristoteles zurückgehende syllogistische Schluss aus drei Aussagesätzen. Die Rechtswissenschaft nutzt den Syllogismus, um Situationen der Wirklichkeit den gesetzlichen Tatbeständen unterzuordnen.10 In der Rechtsanwendung enthält der erste Satz die Norm, der zweite gibt die Wirklichkeit wider und der dritte stellt die Rechtsfolge auf. Für eine Sperrung des Bereicherungsausgleichs bzgl. der Lohnforderung des Schwarzarbeiters lautete der Syllogismus:
Der Bereicherungsausgleich ist bei sittenwidrigen Geschäften gesperrt.
Schwarzarbeit ist ein sittenwidriges Geschäft.
Der Bereicherungsausgleich ist bei Schwarzarbeit gesperrt.
Der BGH lässt einen Anspruch 1990 jedoch nicht scheitern, sondern er nutzt die „Grundsätze von Treu und Glauben“ der Generalklausel des § 242, um das Ergebnis des syllogistischen Schlusses zu überwinden und eine Ausnahme zu schaffen.11 Kern der Begründung dieser Ausnahme ist die schlichte Unvereinbarkeit der Kondiktionssperre mit § 242.12 Einerseits findet der BGH eine plausible Konfliktlösung, mit der er an die Rechtsprechung zum Bordellkauf anknüpfen will.13 Andererseits zweifeln viele Literaturstimmen an, dass dem BGH eine angemessene Auslegung der Generalklausel angesichts des Telos des § 817 S. 2 gelungen ist.14
II. Schwarzarbeit-Urteil II: Motivation der Rücknahme
2014 folgte die Kehrtwende, die einen Bereicherungsausgleich bei Schwarzarbeit entsprechend dem Wortlaut des § 817 S. 2 sperrt. Bemerkenswert ist, dass der Senat nicht die Rechtsauffassung im Schwarzarbeit-Urteil I kritisiert,
* Der Autor ist Student der Bucerius Law School, Hamburg.
1 Gray, The Nature and the Sources of Law, 1909, Chapter V, sec. 276, S. 120.
2 Paragraphen ohne nähere Bezeichnung sind im Folgenden solche des BGB.
3 Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 202; zum Begriff der Normkonkretisierung als Normausfüllung ausführlich: Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 20.
4 BGHZ 36, 232 (235): „Die Bereicherungsansprüche gehören dem Billigkeitsrecht an und stehen daher in besonderem Maße unter den Grundsätzen von Treu und Glauben“; Zur Einheitslehre, dass das Bereicherungsrecht ein Billigkeitsausgleich sei: Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1983, § 2 I 1.
5 Hierzu ausführlich: Honsell, Die Rückabwicklung sittenwidriger oder verbotener Geschäfte, 1974, S. 1, 58f.; Canaris, in: FS Steindorff, 1990, S. 523f.; Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Besonderer Teil, 2. Halbband, 1994,§ 68 III 3 a; Ausführliche Darstellung der Normzwecktheorien auch bei: Klöhn, in: AcP 2010, 804 (815-820); Reuter/Martinek (Fn.4), § 6 V b; Seiler, in: FS Felgentraeger, 1969, S. 379f.
6 BGH, NJW 2005, 1490.
7 BGH, NJW 2006, 45.
8 BGHZ 111, 308.
9 BGHZ 201, 1.
10 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 92.
11 BGHZ 111, 308 (312).
12 BGHZ 111, 308 (312).
13 BGHZ 111, 308 (312).
14 Larenz/Canaris (Fn. 5),§ 68 III 3. g.); Tiedtke, in: DB 1990, 2307 (2310); ebenso Lorenz, in: Staudinger-BGB (2007),§ 817 Rn. 10.
sondern Argumente anders wertet:
1. Veränderungen im Tatsächlichen
Der siebte Zivilsenat widerspricht seiner vorherigen Auffassung, dass der Ausschluss vertraglicher Ansprüche sowie die Gefahr von Strafverfolgung und der Nachzahlung von Sozialabgaben zur Prävention von Schwarzarbeit ausreiche.15 Stattdessen verweist er auf die Begründung zum Entwurf eines neuen Schwarzarbeitsgesetz (SchwarzArbG 2014), in dem ein alarmierendes Niveau von Schwarzarbeit konstatiert wird.16 Der BGH macht sich so ein Werturteil der Bundestagsfraktionen zu eigen, die den Gesetzesentwurf eingebracht und begründet haben. Sogar die Formulierung, dass Schwarzarbeit „kein Kavaliersdelikt“ sondern „handfeste Wirtschaftskriminalität“ sei, wird vom Senat übernommen.17
2. Gesetzesänderungen und veränderte Wertungen des Gesetzgebers
Der Senat bezieht sich auch im Folgenden auf das neue SchwarzArbG 2014 und attestiert ihm das Ziel, ein neues Unrechtsbewusstsein gegenüber der Schwarzarbeit schaffen zu wollen und durch gesellschaftliche Nichtakzeptanz zu einem rechtmäßigen Verhalten aufzurufen.18 Die Kondiktionssperre sei ein geeignetes Mittel, die in der Gesetzesbegründung formulierten Ziele mit den Mitteln des Zivilrechts zu fördern.19 Auffallend ist, dass dabei kein Bezug auf die Normen des neuen Gesetzes genommen wird.20 Statt jedoch auf den § 1 SchwarzArbG 2014 abzustellen, der eine intensivierte Bekämpfung der Schwarzarbeit als Regelungszweck proklamiert, rekurriert der Senat auf die Entwurfsbegründung.21 Diese ist noch keine Gesetzesbegründung, sondern vielmehr ein politisches Dokument, das den Willen und die Ideen der Regierungsfraktionen ausdrückt. Obwohl die Praxis zeigt, dass derartige Entwürfe häufig mit der Regierungsmehrheit angenommen werden, so drückt es doch nicht den Willen des Gesetzgebers, des Bundestags als Einheit aller Fraktionen, aus. Es lässt sich aus der Entwurfsbegründung nicht schließen, ob die Motive des Entwurfs auch die Motive des Gesetzesbeschlusses sind, die sich in den Lesungen des Gesetzgebungsverfahrens bilden.
Methodisch werden die Wertungen eines politischen Willens, der ein Gesetzgebungsverfahren motiviert hat, genutzt, um die Rücknahme einer richterrechtlichen Ausnahme zu begründen.
Materiell-rechtlich ordnet das Schwarzarbeit-Urteil II § 817 S. 2 als Fortsetzung der Nichtigkeitssanktion aus dem Allgemeinen Teil ein. Der Grund der Nichtigkeitssanktion ist der Verstoß gegen das SchwarzArbG. Das Telos der verletzten Norm, die Sanktionierung und Prävention von Schwarzarbeit, wird als Grund angeführt, den gesetzlich vorgesehenen Kondiktionsausschluss stehen zu lassen und nicht einzuschränken. Der Zugang zum Bereicherungsrecht, mit dem eine drittschädigende Kooperation doch abgesichert werden könnte, bleibt damit vollständig verwehrt – parallel zur Entscheidung über den Kauf eines Radarwarngerätes.22 Dieser Einordnung liegt die Annahme eines teleologischen Gleichlaufs von Nichtigkeitssanktion und Kondiktionssperre zu Grunde, der darauf gerichtet sei, den Parteien den Zugang zum Recht zu versperren.23
C. Der Ausschluss des Bereicherungsausgleichs im Verhältnis von Kodifikation und Case Law
Mit ihren divergierenden Erkenntnissen und den skizzierten Methoden stehen die Schwarzarbeit-Urteile im Spannungsfeld von Kodifikation und Case Law, und damit von legislativer und judikativer Rechtssetzung. Zwischen diesen Begriffen stellen sich nun die Fragen, wie Sozialgestaltung durch richterliche Rechtsfortbildung erfolgt, inwieweit Wertungen zur Sozialgestaltung und Wertungen in den Generalklauseln genutzt werden und inwieweit Grenzen für solche richterlichen Wertungsentscheidungen bestehen.
I. Richterrechtliche Rechtsfortbildung
Am Anfang der Gesetzgebung steht eine politische Idee. Am Anfang der Urteilsfindung steht ein Konflikt. Dessen Beilegung ist Aufgabe der Rechtsprechung und seine Rechtsfragen zugleich die Grenze der richterlichen Betätigung.24 Mit der Verabschiedung eines Gesetzes entsteht unzweifelhaft Recht. Doch auch in jedem Urteil als Akt der Rechtsanwendung durch das Gericht liegt ein Akt der Rechtssetzung.25 Die allermeisten Urteile stellen eine Anwendung der kodifizierten Normen entsprechend einem tradierten Vorverständnis dar. Verlässt der Richter jedoch die gewöhnliche Rechtsanwendung im Rahmen der Individualkonfliktlösung und kommt zu einem neuen Ergebnis, betritt er den Boden der richterlichen Rechtsfortbildung.26 Sind die im individuellen Streitfall aufgeworfenen und entschiedenen Fragen genereller aber unbekannter Natur, können aus dem Urteil Rechtssätze abstrahiert werden, die allgemeine Gültigkeit besitzen. Wenn eine oder mehrere plausible Grundsatzentscheidungen wahrgenommen werden und andere Gerichte diesen folgen, hat man den Entscheidungen die Qualität des Richterrechts zuerkannt.27
15 BGHZ 201, 1 (8, Rn. 25).
16 BGHZ 201, 1 (8, Rn. 25); vgl. BT-Drucks. 15/2573 S. 1, 17.
17 BGHZ 201, 1 (8, Rn. 25); vgl. BT-Drucks. 15/2573 S. 17.
18 BGHZ 201, 1 (8, Rn. 25).
19 BGHZ 201, 1 (9, Rn. 29).
20 Materiell sieht das SchwarzArbG 2014 in den §§ 8-11 eine differenziertere Sanktionssystematik vor und regelt neben der Zusammenarbeit der Behörden (§§ 6, 6a SchwarzArbG 2014) auch die Einrichtung einer zentralen Datenbank zur Erfassung von Fällen illegaler Beschäftigung (§ 16 SchwarzArbG 2014).
21 BT-Drucks. 15/2573.
22 Beiden Parteien, Käufer und Verkäufer des Radarwarngeräts, wird ein sittenwidriger Verstoß gegen die Rechtsordnung vorgeworfen, deren Schutz sie daher nicht verdienten, BGH, NJW 2005, 1490 (1491).
23 Mit weiteren Nachweisen: Klöhn, in: AcP 2010, 804 (846).
24 Picker, JZ 1984, 153 (154); Wegen des Verbots der Rechtsverweigerung ist es nicht nur Aufgabe, sondern zugleich Pflicht des Gerichts den vorgelegten Fall zu entscheiden, dazu: Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 571.
25 Jestaedt, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 64; Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 240.
26 Jestaedt (Fn. 25), S. 67; Zu „praeter-legem“ und „contra-legem“-Judikaten auch Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974, S. 41.
27 Picker, JZ 1984, 153 (154).
II. Sozialgestaltung durch Richterrecht
Entscheidungen, bei denen sich nicht nur die Frage danach stellt, was recht ist (ius est), sondern auch danach was sozial oder moralisch wünschenswert ist und was legitim ist (ius esto), verlassen die bloße Rechtsfindung bzw. Rechtserkenntnis. Eine Lösung für den individuellen Konflikt überschreitet dann die Grenze zur rechtspolitischen Gestaltung, wenn sie das menschliche Zusammenleben durch Rechtssetzung gestaltet und soziale Ziele durch rechtliche Mittel erreichen will.28
Schmidt-Jortzig beschreibt Rechtspolitik in dieser Manier als das von einer bestimmten Zielvorstellung geleitete Hinarbeiten auf eine Veränderung oder Ergänzung der Rechtsordnung bzw. einzelner ihrer Gesetze und Vorschriften.29 Der Begriff rechtspolitischer Sozialgestaltung ist dagegen enger und setzt einen Einfluss auf Individuen voraus. Das gesetzte Recht muss das Verhaltensrecht ändern. Dies ist bei vielen zivilrechtlichen und strafrechtlichen Gesetzen gegeben, meint aber insbesondere Fälle, in denen die Lösung des Sachverhalts in der Wirklichkeit in hohem Maß das individuelle Lebensmoment und die vermögensrechtlichen Beziehungen beeinflusst.30 Die folgenden Entscheidungen zeigen wie sich Individualkonfliktlösung und soziale Ziele bei verschiedenen Gründen der richterlichen Rechtsfortbildung überlagern:
1. Arbeitsrecht: Betriebliche Versorgungsversprechen
Nur in seltenen Fällen werden Gerichte eigene „Rechtssätze aufstellen“ bzw. Normen schaffen. Ein solcher Fall war jedoch das Urteil des BAG, dass einem Arbeitnehmer mit 20 Jahren Betriebszugehörigkeit, „dem vor seinem 65. Lebensjahr vom Arbeitgeber ordentlich gekündigt wird“, die bis zu seinem Ausscheiden erdiente Versorgungsanwartschaft zusprach. In diesem speziellen Fall hat sich das BAG aufgrund einer Regelungslücke zum Aufstellen eines eigenen Rechtssatzes gezwungen gesehen.31 Die Not, eine Lücke schließen zu müssen, ist häufiger und anerkannter Ausgangspunkt und Legitimationsgrund der richterlichen Rechtsfortbildung.32 Eine echte Lücke liegt dann vor, wenn der Gesetzgeber einen Sachverhalt nicht vorhersehen konnte und ihn daher nicht geregelt hat. Zwar handelt es sich bei den betrieblichen Versorgungsversprechen um ein nicht geregeltes oder vorgesehenes Problem, doch bleibt die offene Rechtsschöpfung durch Richter wohl eine Ausnahme.
2. Persönlichkeitsrecht: Geldersatz für immaterielle Schäden
Der Geldersatz immaterieller Schäden ist ebenfalls eine höchst rechtspolitische Frage, geht es doch um die Zuweisung potentiell großer Vermögenspositionen. Auch hier war eine Regelungslücke zu füllen. Das Problem des Ersatzes immaterieller Schäden war dagegen vorhersehbar und wurde bei der Entwicklung des BGB gesehen und man entschied sich bewusst dagegen.33 Trotzdem bejahte der BGH im „Herrenreiter-Urteil“ den Ersatz des immateriellen Vermögensschadens.34 Für die Ersatzfähigkeit wie den Nichtersatz existieren jeweils höchst plausible Begründungsmodelle. Wem der Vorzug eingeräumt wird, ist eine Wertungsentscheidung. Eine solche Wertungsentscheidung soll der reinen Rechtserkenntnis jedoch fremd sein: Für Flume ist die Begründung „nichts anderes als die Behauptung, daß sich aus dem Grundsatz der Unantastbarkeit der Würde des Menschen und dem Recht der Persönlichkeit der Anspruch auf Geldersatz“ ergebe.35 Da es jedoch um eine Persönlichkeitsverletzung durch die Presse geht, sei es eine politische Entscheidung in der Zuständigkeit des Parlaments als Gesetzgeber.36
3. Werkvertragsrecht: Schwarzarbeit
Im Fall des Schwarzarbeit-Urteil I sieht das Gesetz eigentlich die Kondiktionssperre des § 817 S. 2 vor. Erst unter Wertungs- und Billigkeitsaspekten ist zu überlegen, ob und inwieweit das Ergebnis des syllogistischen Schlusses nach Treu und Glauben korrigiert werden muss. Die Rechtssetzung liegt nicht in der Schließung von Lücken oder der Begründung oder Interpretation von Normen, sondern in der wertenden Korrektur dessen, was die gewohnte Rechtsanwendung ergibt. Diese Korrektur erfolgte im Rahmen der Kondiktionssperre anhand der Wertungen der Generalklausel des § 242. Auch hier bedeutet Richterrecht die Zuweisung von Vermögen und die Verwirklichung sozialer Ziele und damit Sozialgestaltung. Bemerkenswert ist, dass der BGH wie im Herrenreiter-Urteil aus Unbehagen und Wertungsaspekten das Recht fortbildet.
III. Über die Wertungsentscheidung des Richters zur Sozialgestaltung
Diese Wertungen und die Intensität des Streits um die Rechtsfragen sind Ausdruck dessen, dass es im Recht nicht immer eine klare Linie, nicht die eine wahre Erkenntnis gibt. In diesen Entscheidungen bot sich den Richtern nicht eine einzige, wahre Lösung an, die bloß zu erkennen war. Stattdessen war unter zwei oder mehreren plausiblen Wegen der Konfliktlösung eine Entscheidung zu treffen. Zum Ergebnis führen nicht nur die Schlüsse einer formalen Logik, sondern Abwägung und Wertung. Rechtssetzung durch Rechtsanwendung ist somit eine Wertungsentscheidung – mit rechtlichen und außerrechtlichen Bezügen.37 Im Kontext der Sozialgestaltung, d.h. der Frage nach sozialen Zielen und rechtlichen Mitteln, spielen Wertungen zu ihrer Definition eine besondere Rolle.
Eine Wertungs- oder Billigkeitsentscheidung getroffen zu haben, kann daher kein prinzipieller Vorwurf sein, den man Urteilen macht, wo individuell eine andere Wertung vorgenommen wurde. Tatsächlich „trägt jede Auslegung schöpferische Züge, und kein Richterspruch ist reine Deduktion aus dem Gesetz“.38 Damit enthält jede Auslegung auch ein normausfüllendes, wertendes Element. Legt eine Norm
28 Strempel, RuP 1987, 12 (17).
29 Schmidt-Jortzing, ZG 2008, 126 (129).
30 Vgl. Schmidt-Jortzing, ZG 2008, 126 (129).
31 BAG, Urteil vom 10.3.1972, 3 AZR 278/71, Rn. 49.
32 Jestaedt (Fn. 25), S. 56.
33 Flume,Richter und Recht, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, Teil K, 1967, K 7.
34 BGHZ 26, 349; zum „tollkühnen Sprung“ über § 253: Bötticher, in: MDR 1963, 353.
35 Flume (Fn. 33), K 9.
36 Flume (Fn. 33), K 11.
37 Vgl. Diederichsen (Fn. 26), S. 6.
38 Röthel (Fn. 3), S. 21.
mehr als eine Begriffsbedeutung nahe, so ist die erste Wertungsentscheidung erforderlich.39 Ein besonders hohes Maß an Wertungen ist erforderlich, wo das Gesetz selbst wenig konkret ist. Besonders kritisch werden solche Wertungen beäugt, wenn sie einen hohen Sozialbezug zum Leben der Parteien haben. In den Schwarzarbeit-Urteilen beziehen sich die Wertungen des Gerichts auf das Prinzip von Treu und Glauben. Dies führt zu der Frage, wie Sozialgestaltung und Generalklauseln zusammenwirken.
IV. Sozialgestaltung und Generalklauseln
Der hier relevante § 242 ist aus seinem Wortlaut heraus kaum justiziabel. Es handelt sich um eine originär konkretisierungsbedürftige Norm, d.h. die Rechtsindividualisierung durch den Anwender ist immer und in besonderem Ausmaß erforderlich.40 Bezüglich der Generalklauseln wird der Prozess der Normkonkretisierung als Normausfüllung verstanden.41 Vergleichbar mit Güterabwägungsentscheidungen nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird der Rechtsanwender stets aufgefordert, die Normen zu konkretisieren und die fehlenden Entscheidungsanteile zu bestimmen.42
1. Notwendigkeit der wertungsoffenen Generalklauseln
Um Wertungen der Rechtsprechung in der Konkretisierung zu vermeiden, könnte der Gesetzgeber diese Aufgabe selbst durch Kodifikation übernehmen. Statt Generalklauseln müssten umfangreiche Kataloge von Tatbeständen aufgestellt werden.43 Insbesondere bei der Neuordnung des SchwarzArbG 2014 hätte der Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtsprechung eine explizite Regelung treffen können. Doch sind solche detaillierten Kataloge für den Anwender weder wünschenswert noch rechtssystematisch sinnvoll. Selbst wenn ein idealer Gesetzgeber die Mannigfaltigkeit von Verhalten voraussehen könnte, die potentiell seine Wertungen und Vorstellungen verletzen, sind Generalklauseln gerade in ihrer Unbestimmtheit notwendig.44 Denn auch im Fall eines perfekten Gesetzgebers, würden stets bloß historische Vorstellungen kodifiziert und zementiert, die nicht die gegenwärtigen Lebensverhältnisse reflektieren.45 Seit der Schaffung des BGB im ausgehenden 19. Jahrhundert haben seine Anwender ganz verschiedene disruptive Entwicklungen und einen enormen Fortschritt der Technik erlebt.46 Der entscheidende Vorteil der Unbestimmtheit und der Regelungslücken liegt somit in der kontinuierlichen Konkretisierung der Generalklauseln, die das Recht schneller anpasst, als es Kodifikationsprozesse könnten. Eine vollständige Kodifikation erscheint daher weder praktikabel noch sinnvoll.
2. Delegationsakt
Die Generalklausel selbst enthält noch keinen Weisungsgehalt, sondern fordert auf, eine Norm zu bilden. In der Unvollständigkeit der Generalklausel liegt zugleich die Ermächtigung des Rechtsanwenders und damit des Richters die Norm auszufüllen und ihr einen Gehalt zu geben.47 § 242 verbindet dabei den sittlichen Begriff von Treu und Glauben mit der Verkehrssitte, den „Standards“ der Wirklichkeit. 48 Dies ermächtigt den erkennenden Senat im Rahmen der Konkretisierung zum Rückgriff auf „nicht positivierte Maßstäbe, Verkehrsanschauungen, Werturteile im Sinne einer sozialen Handlungsethik oder auch nur im Sinne der verkehrsüblichen Beurteilung von tatsächlichen Kriterien eines Umstandes“.49
Die Notwendigkeit zu werten, wird für den Richter dadurch erhöht, dass er sich nicht dem Recht verweigern darf, sondern den Parteienkonflikt lösen muss.50 Somit steht den Richtern in Anwendung von § 242 ein besonders hohes Maß an Wertungsfreiheit und damit auch Potential zur Rechtsfortbildung zur Verfügung.
V. Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung und Gestaltung
Unklar bleibt die Frage, welche Grenzen Wertungsentscheidungen und Sozialgestaltung in der richterlichen Rechtsfortbildung gesetzt sind.
1. „Funktionsgrenze“
Zwar wird der Begriff der „Funktionsgrenze“ im Verwaltungsrecht in einem gänzlich anderen Kontext verwandt, doch er könnte auch im Verhältnis von Kodifikation und Case Law für Grenzen stehen. Möglicherweise sind all diejenigen Rechtsfragen besser vom Gesetzgeber zu lösen, deren Wertungsvorgänge einen hohen Komplexitätsgrad erreichen. Denn trotz der „vorzüglichen Qualifikation des Richters“51 fehlt Juristen oft Spezialwissen über die betroffenen Lebensmomente, sodass bestimmte richterliche Wertungen besser durch Wissenschaftler anderer Fachrichtungen vorgenommen werden könnten. So fragt Flume, ob die Wertung des Herrenreiter-Urteils, dass sich aus dem Grundsatz der Menschenwürde und dem Recht der Persönlichkeit ein Anspruch auf Geldersatz bei der Persönlichkeitsverletzung ohne Vermögensschaden ergebe, nicht besser von Soziologen, Politologen oder Psychologen hätte vorgenommen werden müssen.52 Es ergibt sich folglich eine Grenze der Expertise, sodass die Senate in ihrem Wertungsmaterial auf die Wahrnehmung, das Wissen und die Erfahrung ihrer Mitglieder beschränkt sind. Grundsätzlich besteht dieses Problem auch im Parlamentsbetrieb. Während die außerrechtliche Expertise vor Gericht aber auf bestimmte Gutachten beschränkt ist, unterhält die Legislative mit hohem Aufwand wissenschaftliche Dienste und Anhörungen vor Fachausschüssen. Vor Gericht ist die Kapazitätsgrenze externer
39 Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 67.
40 Jestaedt (Fn. 25), S. 65.
41 Ausführlich und mit weiteren Nachweisen: Röthel (Fn. 3), S. 21.
42 Jestaedt (Fn. 25), S. 56, 65.
43 Beispiele für Generalklauseln im Zivilrecht sind neben § 242 BGB auch §§ 138, 157, 307 Abs. 1 S. 2, 314, 626 BGB.
44 Ipsen (Fn. 39), S. 67.
45 Kirchhof, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 71.
46 Diederichsen spricht von einer „hydraartigen Vermehrung der Rechtsprobleme“ durch die Industrialisierung und den technischen Fortschritt. Dies habe zu einer „Hypertrophie der Rechtsprechung“ geführt, die der Gesetzgeber kaum bewältigen könne. Diederichsen (Fn. 26), S. 8.
47 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 57; vgl. Ipsen(Fn. 39), S. 65, 67.
48 Esser (Fn. 47), S. 57.
49 Esser (Fn. 47), S. 57.
50 Röhl (Fn. 24), S. 571.
51 Diederichsen (Fn. 26), S. 17.
52 Flume (Fn. 33), K9.
Expertise, durch die Wertungen umfassender werden, schnell erreicht. Die Grenzen der Expertise sind jedoch nicht derart, dass ihre Verletzung Rechtsfolgen nach sich zieht. De lege sind sie irrelevant, de facto eine zu bedenkende Schwierigkeit.
2. Grenzen des Fallbezugs
Das erkennende Gericht ist stets auf die Lösung des Individualkonflikts beschränkt.53 Aus der Lösung des Einzelfalls lassen sich in Grundsatzentscheidungen zwar Rechtssätze abstrahieren, die Möglichkeiten einer umfassenden Regelung sind jedoch auf ein obiter dictum beschränkt. In diesem Sinne hat sich das BAG in oben zitierter Entscheidung zu Versorgungsanwartschaften selbst dahingehend beschränkt, dass es vergleichbare Fälle (z.B. mit kürzerer Betriebszugehörigkeit) nicht institutionalisieren wolle. Des Weiteren sei die umfassende Regelung des Verfallbarkeitsproblems dem „Gesetzgeber und den Tarifvertragsparteien vorbehalten, die viel weitergehende Erkenntnis- und Gestaltungsmöglichkeiten haben als das Richterrecht“.54 Dem BAG geht es somit weniger um die Legitimation der Gestaltung als den möglichen Gestaltungsumfang als Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung.
3. Grenzen der Verfassung
Die Gerichtsbarkeit eines Rechtsstaates zeichnet sich insbesondere durch ihre Unabhängigkeit bzw. Neutralität und Fairness aus. Für das Vertrauen in die Rechtsordnung kommt den Geboten der willkürfreien und folgerichtigen Entscheidungstätigkeit daher eine hohe Bedeutung zu.55 Weitere Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips sind die Grundsätze der Bestimmtheit, der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit.56 Diese Anforderungen werden an die parlamentarische wie die richterliche Rechtssetzung gestellt. Unabhängig vom Rechtsstaatsprinzip lässt sich fragen, ob Wertungsentscheidungen nicht prinzipiell besser beim Gesetzgeber aufgehoben wären. Das Gericht muss nicht nur mit weniger außerrechtlicher Expertise arbeiten als der Parlamentsbetrieb, sondern es ist auch in seiner Wertungsdiversität und Wertungspluralität begrenzt. Während im Deutschen Bundestag hunderte Abgeordnete sitzen, kommen Gerichtsentscheidungen selbst in größeren Senaten nur durch wenige Personen zu Stande. Daher könnte eine höhere Wahrscheinlichkeit bestehen, dass subjektive Anschauungen und individuelle Erfahrungen auf die Wertung durchschlagen und die Wertungen im Milieu der Richterschaft tendenziell ähnlich sind.57 Diese Argumentation verkennt jedoch einen Kernvorteil des Richterrechts: Die rechtliche und faktische richterliche Unabhängigkeit. Richter müssen nicht alle vier Jahre eine Wahl gewinnen, sodass der Richter weniger stark als ein Abgeordneter widerstreitenden Interessen ausgesetzt ist und daher stärker Gerechtigkeit garantieren kann.58 Die Frage, ob Wertungen besser durch den Gesetzgeber vorzunehmen wären, ist solange klar zu beantworten, wie Gesetze den Richter als Rechtsanwender systemimmanent zur Wertung auffordern. Daher ist eine richterliche Wertung nicht nur zulässig und nahezu unvermeidbar, sondern vorgesehen. Der Richter muss entscheiden und somit werten. Die Frage, welches Maß an Wertungen zulässig ist, bleibt jedoch bestehen.
4. Grenzen zu politischen Entscheidungen und judicial self-restraint
Jede Entscheidung und jede Gewaltausübung des Richters bedarf einer legitimierenden Verbindung zur bestehenden Rechtsordnung.59 Ein Element dieser Verbindung ist die Gewaltenteilung. Kernaufgabe der Legislative ist die Normsetzung. Sie trifft primär eine gestaltende Funktion. Die Exekutive und Judikative übernehmen den Vollzug. Sie wenden Recht an und vollziehen es so gleichermaßen. Gestaltung und Politik sind im westlichen Demokratieverständnis Aufgabe der Legislative. Wo die Frage von Anwendung oder Nichtanwendung einer Norm zur Frage nach der Zuweisung von Vermögen und der Gestaltung individueller Lebensverhältnisse wird, wird aus der vermeintlichen Anwendungsfrage jedoch erneut eine politische Entscheidung. Die klare Funktionsgliederung des Staates wird bei starker Gestaltung durch Richter nicht mehr eingehalten. Daher ist sozial-gestaltendes Richterrecht primär ein Problem der Gewaltenteilung.60 Je politischer eine Entscheidung ist, desto eher greift ein Urteil in den Gestaltungskreis ein, der mit der Legislative assoziiert ist. Je weniger reine rechtstechnische Fragen und je stärker Fragen von Billigkeit, Moral und Legitimität Teil der Entscheidung sind, desto politischer ist eine Entscheidung. Wann ein Urteil so politisch ist, dass die Entscheidung eine Legislativ-Entscheidung ist, ist kaum klar zu beantworten, handelt es sich doch erneut um eine Wertungs- und Abwägungsfrage. Dennoch können die Richter in der Rechtsfortbildung auf Grundlage neuer moralischer und politischer Vorstellungen beschränkt sein:
a) Judicial self-restraint
Eine solche Grenze innerhalb der Rechtsordnung zu normieren, ist denkbar schwierig.61 Im Verfassungsrecht der USA hat sich daher das Konzept der Selbstbeschränkung der Gerichte, judicial self-restraint, und der Gegenbegriff des judicial activism entwickelt.62 Gemeint ist die bewusste
53 Strempel, RuP 1987, 12 (15).
54 BAG, Urteil vom 10.3.1972, 3 AZR 278/71, Rn. 50.
55 Bumke, in: Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012, S. 3, 40.
56 Bumke (Fn. 55), S. 42
57 Meier-Hayoz, JZ 1981, 417 (421).
58 Ipsen (Fn. 39), S. 132.
59 Bumke (Fn. 55), S. 34.
60 Vgl. Ipsen (Fn. 39), S. 128 ff.
61 Das Problem liegt weniger im System als in der Bewertung der Grenze. Nach dem Verständnis von Kelsen ist „die Rechtsordnung ein System von generellen und individuellen Normen, die miteinander dadurch verbunden sind, daß die Erzeugung jeder zu diesem System gehörigen Norm durch eine andere Norm des Systems und in letzter Linie durch seine Grundnorm bestimmt ist“. In diesem Denken wäre es also möglich die Normen, die die Rechtserzeugung durch Gerichte determinieren insoweit einzuschränken, als bestimmte Inhalte nicht erzeugt werden dürfen. Problematisch ist vielmehr, dass sich aus den Normen des Verfahrens höchstschwierig eine klare Grenze zu den zu erzeugenden Normen ziehen lässt, die möglicherweise zu stark gestalten würden, Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 239.
62 Röhl (Fn. 24), § 72 S. 573; Schuppert, DVBl. 1988, 1191 (1192f.).
Zurückhaltung der Gerichte, das Recht nicht auf Basis veränderter moralischer und politscher Vorstellungen fortzubilden.63 Ein Gericht soll nicht zum Gesetzgeber avancieren und eigene rechtspolitische oder soziale Zielsetzungen verfolgen. Das BVerfG hat sich ebenfalls den Grundsatz des judicial self-restraint auferlegt, um nicht „in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen“.64
b) Unzulässigkeit des judicial activism im Zivilrecht
Diese Grenze hat das BVerfG auch der Zivilgerichtsbarkeit gezogen. Die Einordnung von Sozialplanabfindungen als Konkursforderungen kraft Richterrechts wurde vom BVerfG für verfassungswidrig befunden, da es sich um eine Entscheidung aus „sozialpolitischen Gründen“ handele.65 Somit dürfen in diesem Konzept durch die Richter keine eigenen rechts- oder sozialpolitischen Überzeugungen verwirklicht werden oder rechtspolitische Entscheidungen des Gesetzgebers verworfen werden.66 Zulässig könnte in der richterrechtlichen Rechtsfortbildung aber diejenige politische Wertung sein, in der sich ein rechtspolitscher Konsens widerspiegelt.67
D. Schlussgedanken
Als Reaktion auf sein erstes Schwarzarbeiter-Urteil wurde dem BGH vorgeworfen, contra legem entschieden zu haben.68 Wäre dieser Vorwurf haltbar, so hätte das Urteil eine Grenze der Rechtsfortbildung des Verfassungsrechts verletzt. Denn in ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist ein Normverständnis unzulässig, „das in Widerspruch zum Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers“ steht.69 Zwar blieb diese Grenze nicht ohne Kritik,70 sie ist jedoch verfassungsrechtlich gezogen worden. Im Fall des ersten Urteils zur Schwarzarbeit lässt sich aus der Einschränkung des § 817 S. 2 über die Generalklausel des § 242 noch kein Vorwurf der Verfassungswidrigkeit oder des judicial activism ziehen; sind doch gerade die Ansprüche des Bereicherungsrechts in besonderer Weise Billigungen und weiten Wertungsspielräumen unterworfen.71
In Bezug auf das Schwarzarbeit-Urteil II ist aus dem veränderten materiellen Recht nicht zwingend eine Wertung iS. der Kondiktionssperre zu sehen. Das veränderte materielle Recht dient einer Vielzahl von Interessen z.B. fiskalischen.72 Ausschlaggebend ist für den BGH die Begründung des Entwurfs, sodass er sich auf den politischen Willen des Gesetzgebungsverfahrens bezieht. Zwar ist die Meinung der Fraktion nicht die Meinung des Gesetzgebers als Ganzes, doch sie ist ein Indiz rechtspolitischer Ideen. Die Positionen der Regierungsfraktionen haben eine ausreichende Zahl Bürger überzeugt, die den Parteien, aus denen sich die Fraktionen zusammensetzen, ihre Stimme gegeben haben. Die klare Wertung, dass „Schwarzarbeit kein Kavaliersdelikt“ sei, zitiert der BGH 2014 aus dem genannten Fraktionsdokument und macht sich so eine Wertung derjenigen zu eigen, die die Mehrheit des Volkes repräsentieren. Die Fraktion ist hier Sprachrohr einer gesellschaftlichen, rechtspolitischen Wertung. Dies macht die Wertung der BGH-Richter geradezu demokratisch. Sie haben somit der aktualisierten Haltung der Gesellschaft zur Schwarzarbeit durch Richterrecht Ausdruck verliehen. Das Überdenken eines Gesetzes oder Rechtssatzes im veränderten sozio-kulturellen Kontext soll gerade durch richterliche Rechtsfortbildung möglich sein.73
Richterrecht lässt sich stets nur anhand der kommunizierten, externen Entscheidungsgründe verstehen. Interne Beweggründe und komplexe Wertungen sind naturgemäß weder erkennbar, noch von einer höheren Instanz überprüfbar.74 Dennoch können auch sich materiell widersprechende Urteile in höchstem Maße plausibel sein. Ob das zweite Schwarzarbeit-Urteil II nun das „wahre“ Urteil ist und die Rechtslage „wahrhaft“ erkannt hat und, ob es eine juristische Wahrheit und einen Wahrheitsanspruch der Rechtsprechung überhaupt geben kann, bleiben offene Fragen.
63 Röhl (Fn. 24), § 72 S. 573f.; Als führende Stimme des judicial self-restraint gilt der Richter des US Supreme Courts Felix Frankfurter: Trop v. Dulles, 356 U.S. 86, 120 (1958): „But it is not the business of this Court to pronounce policy. (…) That self-restraint is of judges to sit in judgment on the wisdom ofwhat Congress and the Executive Branch do.“; Levinson, 25 Stanford Law Review 1973, 430 (439-440, 446).
64 BVerfGE 36, 1 (14).
65 BVerfGE 65, 183 (194).
66 Bumke (Fn. 55), S. 41; Eine besondere Zurückhaltung der Rechtsprechung bzgl. des Gleichheitssatzes bejahte das BVerfG auch für „wirtschaftslenkende Maßnahmen“, BVerfGE 18, 315 (331f.).
67 Meier-Hayoz, JZ 1981, 417 (421).
68 Tiedtke, DB 1990, 2307 (2310); ebenso Lorenz, in: Staudinger (Fn. 14), § 817 Rn.10.
69 BVerfGE 124, 25 (39); 71, 81 (105); 95, 64 (93).
70 Zur Ansicht, dass es neben dem Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG keine festen Grenzen für die richterliche Rechtsfortbildung gibt: Bumke, in: FS Kirchhof, Bd. I, 2013, S. 994 Rn. 30.
71 Siehe Fn. 4.
72 BT-Drucks. 15/2573, S. 2.
73 Bumke (Fn. 55), S. 41.
74 Externe und interne Entscheidungsgründe müssen nicht zwingend auseinanderfallen. Vielmehr könnte die juristische Methodik derart vom Richter internalisiert worden sein, dass er sich ihrer – auch des Syllogismus – intern bedient. Vgl. Diederichsen (Fn. 26), S. 16.