Das Common European Sales Law und seine Textstufen
von Professor Dr. Dr. h.c. mult. Reinhard Zimmermann*
Privatrechtsvereinheitlichung in Europa vollzieht sich auf unterschiedlichen Wegen und auf unterschiedlichen Gebieten. Protagonisten sind der europäische Gesetzgeber, der Europäische Gerichtshof und eine sich zunehmend europäisierende Privatrechtswissenschaft. Was die Kernbereiche des Privatrechts betrifft, so steht im Zentrum das Vertragsrecht. Denn zum einen bildet der Binnenmarkt den stärksten Motor der Rechtsvereinheitlichung im Rahmen der EU, und es ist offenkundig, dass das Vertragsrecht dazu einen besonders engen Bezug hat. Zum anderen hatte das Vertragsrecht von jeher einen internationaleren Zuschnitt als, beispielsweise, das Recht der unerlaubten Handlungen, das Sachenrecht oder das Familienrecht. Der Handel blieb selbst im Zeitalter des Nationalismus grenzüberschreitend, und Kaufleute, in den Worten von Rudolf von Jhering, vermittelten mit dem Austausch der materiellen Güter auch den der geistigen. Das moderne Vertragsrecht in Europa beruht auf denselben historischen Grundlagen, und der hypothetische Wille vernünftiger Vertragsparteien war gewöhnlich der Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Doktrinen.
Vor etwa 35 Jahren hat nun eine europäische Wissenschaftlergruppe damit begonnen, auf dem gemeinsamen Vorrat grundlegender Begriffe und Wertungen aufbauend, einen regelförmigen Referenztext zu entwerfen, der sich vielleicht am besten als nicht-legislative Kodifikation, oder auch als ein privates „Restatement“ des europäischen Vertragsrechts bezeichnen lässt. Herausgekommen ist mit den Principles of European Contract Law (PECL; publiziert in drei Schritten 1995, 2000 und 2003) ein echtes Pionierwerk europäischer Vertragsrechtsvereinheitlichung. Parallel dazu erarbeitete eine internationale Arbeitsgruppe des römischen UNIDROIT-Instituts Modellregeln für internationale Handelsverträge: die Principles of International Commercial Contracts (PICC; 1994, 2004, 2010). Sowohl die PECL als auch die PICC knüpften an das UN-Kaufrecht an (Convention on Contracts for the International Sale of Goods = CISG von 1980, in Deutschland 1991 in Kraft getreten), und damit an einen der erfolgreichsten Akte internationaler Privatrechtsvereinheitlichung im 20. Jahrhundert.
Nicht berücksichtigt ist in dieser „Troika“ von Texten das Verbraucherprivatrecht, dessen Regulierung seit Mitte der 1990er Jahre der europäische Gesetzgeber in die Hand genommen hatte. Das war für CISG und PICC angesichts ihres Anwendungsbereichs nicht weiter bemerkenswert, wurde aber alsbald zu einem zentralen Kritikpunkt an den ja nicht auf Handelsverträge beschränkten PECL. Nun bildeten (und bilden) die europäischen Richtlinien im Bereich des Verbrauchervertragsrechts kein System. Es handelt sich vielmehr um punktuelle Maßnahmen mit überwiegend instrumentellem Charakter, die schlecht aufeinander abgestimmt sind und noch schlechter auf das überlieferte allgemeine Vertragsrecht in den EU-Mitgliedstaaten, wie wir es etwa in den PECL niedergelegt finden (d.h. auf den sogenannten acquis commun). In einer Reihe von Mitteilungen hatte sich die Europäische Kommission zwar seit 2001 die Harmonisierung bzw. Vereinheitlichung des Vertragsrechts auf die Fahnen geschrieben und in diesem Rahmen insbesondere auch die Revision des gemeinsamen europarechtlichen Besitzstandes (acquis communautaire) im Bereich des Verbrauchervertragsrechts auf ihre Agenda gesetzt. Doch ist es zu einer solchen inhaltlichen Revision bis heute nicht gekommen. Vielmehr zeichnen sich alle seither auf der Grundlage der PECL oder in Anknüpfung daran entwickelten Texte durch eine ausgesprochen unkritische Übernahme des acquis communautaire aus. Zu diesen Texten gehören vor allem die Principles of the Existing EC Contract Law (Acquis Principles = ACQP; 2007, 2009) und der von einem großen wissenschaftlichen Netzwerk erarbeitete Draft Common Frame of Reference (DCFR; 2008, 2009). Die ACQP bemühen sich um eine systematisierende und regelförmige Verdichtung des europäischen Verbrauchervertragsrechts, während es im DCFR einerseits um die Zusammenführung von ACQP und PECL, andererseits aber auch um die Rekonzeptualisierung beider Textmassen unter dem Gesichtspunkt eines allgemeinen Schuldrechts und um die regelförmige Erfassung weiterer Bereiche des Vermögensrechts geht: vom besonderen Vertragsrecht über die gesetzlichen Schuldverhältnisse bis hin zu Teilbereichen des Sachenrechts.
* Der Autor ist Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht und Professor an der Bucerius Law School in Hamburg.
Inzwischen hat eine von der Europäischen Kommission eingesetzte Expertengruppe in einem als „Machbarkeitsstudie“ annoncierten Entwurf vom Mai 2011 den DCFR nun wieder „rekontraktualisiert“. Daran anknüpfend ist im Oktober 2011 der Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (Common European Sales Law = CESL) erschienen. Dieses Dokument erfasst wesentliche Bereiche des allgemeinen Vertragsrechts, ferner das Recht des Warenkaufs und das Recht der mit einem Kaufvertrag verbundenen Dienstleistungen. Etwa gleichzeitig ist eine (ursprünglich deutlich ambitionierter geplante) Verbraucherrechte-Richtlinie in Kraft getreten, die die vertriebsbezogenen Richtlinien über Haustürgeschäfte und Fernabsatz ersetzt und marginal auch zwei weitere Richtlinien berührt.
Das CESL soll nicht unmittelbar für alle im Bereich der EU abgeschlossenen Warenkaufverträge gelten; vielmehr muss seine Verwendung von den Parteien in bestimmter Weise vereinbart werden („opt-in“-Modell). Das Hauptziel des Verordnungsvorschlags besteht darin, das Funktionieren des Binnenmarktes durch Förderung des grenzüberschreitenden Handels zu verbessern. Gleichzeitig sollen Vertragsabschlüsse nach dem CESL aber auch für Verbraucher attraktiv sein, ist das CESL doch auf ein besonders hohes Verbraucherschutzniveau angelegt. Freilich ist der intendierte Anwendungsbereich des CESL in doppelter Hinsicht beschränkt, denn erfasst sein sollen zum einen nur grenzüberschreitende Verträge und zum anderen außer Verbraucherverträgen nur solche Verträge zwischen Unternehmern, von denen mindestens einer ein kleines oder mittleres Unternehmen betreibt.
Der vorliegende CESL-Entwurf ist in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, insbesondere in Deutschland, sehr kritisch aufgenommen worden. Bemängelt werden, unter anderem: ein überkompliziertes Anwendungsregime, das eine Fülle von Problemen schafft; die Beschränkung des Anwendungsbereichs, die die von der Kommission ins Auge gefassten Rationalisierungseffekte teilweise konterkariert; die unreflektierte Perpetuierung, teilweise sogar „Verbesserung“, des bestehenden Verbraucherschutzniveaus; die nach wie vor mangelhafte Integration von acquis communautaire und acquis commun; die erstaunliche inhaltliche Unvollständigkeit des vorliegenden Textes (wichtige Regelungsbereiche des allgemeinen Vertragsrechts bleiben ausgespart); und ebenso erstaunliche technische wie inhaltliche Mängel und Inkonsistenzen.
Wie es weitergehen wird, ist derzeit nicht sicher. Das 2011 in Wien gegründete European Law Institute hat eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen gemacht; diese sind jedenfalls teilweise in einem revidierten Text des CESL-Entwurfs berücksichtigt worden, der im Februar diesen Jahres vom Europäischen Parlament in erster Lesung verabschiedet worden ist. Die neue Kommission unter Vorsitz von Jean-Claude Juncker ist erst seit ein paar Tagen im Amt, und ob die neue Justizkommissarin sich des Dossiers „Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung“ mit derselben Verve annehmen wird wie ihre Vorgängerin Viviane Reding, lässt sich nicht vorhersagen. Auch muss der sogenannte „Trilog“ zwischen Europäischem Parlament, Rat und Kommission erst noch stattfinden; und was die Meinungsbildung im Rat betrifft, so scheinen dem CESL nach wie vor eine Reihe von Staaten grundsätzlich ablehnend gegenüberzustehen, darunter Großbritannien und wohl auch Frankreich. Doch was auch immer das politische Schicksal des vorliegenden CESL-Entwurfs sein mag, er wird für künftige Diskussionen über das Vertragsrecht in Europa einen zentralen Referenztext bilden. Darüber sollten die vorangegangenen Textstufen nicht vergessen werden. Denn eine vergleichende Würdigung von PECL und PICC und eine kritische Analyse des Weges von diesen Ursprungstexten bis hin zum CESL-Entwurf steht noch aus. Weitgehend aus dem Blick geraten ist angesichts des ganz erheblichen zeitlichen Druckes, unter dem Texte wie ACQP, DCFR, Machbarkeitsstudie und CESL entstanden sind, die Rückkopplung an die nationalen Privatrechtsordnungen, die nach wie vor im Zentrum der Aufmerksamkeit von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis in den Mitgliedstaaten der EU stehen. Wessen es im Grunde bedürfte, ist ein historisch-vergleichender Kommentar, der das spezifische Profil der europäischen Rechtstexte vor dem Erfahrungshintergrund der nationalen Rechtsordnungen deutlich werden lässt. Die dadurch ermöglichte gegenseitige Spiegelung und kritische Inbezugsetzung sollte sowohl der Weiterbildung der nationalen Rechtsordnungen als auch der Verbesserung der europäischen Texte dienen.
Zur Vertiefung: Reinhard Zimmermann, Europäisches Privatrecht – Irrungen, Wirrungen, in: Begegnungen im Recht – Ringvorlesung der Bucerius Law School zu Ehren von Karsten Schmidt (2011), 321-350; idem, „Wissenschaftliches Recht“ am Beispiel des europäischen Vertragsrechts, in: Christian Bumke und Anne Röthel (Hg.), Privates Recht (2012), 21-48; Horst Eidenmüller, Nils Jansen, Eva-Maria Kieninger, Gerhard Wagner, Reinhard Zimmermann, Der Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, JZ 2012, 269-289; Gerhard Wagner und Reinhard Zimmermann (Hg.), Sondertagung der Zivilrechtslehrervereinigung zum Vorschlag für ein Common European Sales Law, AcP 212 (2012), 467-852; Hein Kötz, Europäisches Vertragsrecht, 2. Aufl. (2015), § 1; und die einschlägigen Einträge in Jürgen Basedow, Klaus J. Hopt, Reinhard Zimmermann (Hg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), etwa: Acquis Principles, Common Frame of Reference, Europäisches Privatrecht, Europäisches Zivilgesetzbuch, Principles of European Contract Law, Rechtswissenschaft, UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts.