Politische Bildung als Ziel der Rundfunkregulierung

Jakob Rehder*

A. Einführung

Hat sich der Rundfunk zum „Medium und Faktor seiner Verdummung und kommunikativen Verwahrlosung“1 entwickelt? Der Eindruck liegt nicht fern, scheinen doch Casting-Shows oder Unterhaltungssendungen wie „Big Brother“ – anstelle von kulturell und politisch bildenden Formaten – die Rundfunkprogramme zu dominieren. Im Kampf um Publikum und Reichweite droht in den Hintergrund zu treten, was das BVerfG in ständiger Rechtsprechung betont: Die demokratische Funktion des Rundfunks für die öffentliche (politische) Meinungsbildung.2

Die politische Meinungsbildung erfordert insbesondere sachliche Informationen. Je weniger Rundfunkprogramme sachliche Informationen bereitstellen, desto eher verlieren diese Informationen im politischen Diskurs an Bedeutung – desto eher droht die Gefahr, nicht sachliche, sondern „gefühlte Wahrheiten“ zur Meinungsgrundlage werden zu lassen. Gefühlte Wahrheiten sind immer öfter Gegenstand der politischen Berichterstattung, beispielsweise im Kontext der Flüchtlingskrise oder der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten.3 Es besteht die Sorge, Fakten spielten keine Rolle mehr. Schlagwortartig werden diese Tendenzen als „postfaktisch“ bezeichnet.

Ohne Fakten als Grundlage droht der politische Diskurs zu verarmen, aber auch manipuliert zu werden. Ein nur unterhaltender Rundfunk scheint dagegen nicht viel ausrichten zu können. Vor dem Hintergrund der demokratischen Funktion des Rundfunks aber auch aufgrund jüngster Reformbemühungen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als solchen abzuschaffen,4 stellt sich die Frage, inwieweit Rundfunkprogramme ihr Publikum (politisch) bilden sollten. Diese Frage steht im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Sein Ziel ist es, politische Bildung als Regulierungsziel im privaten und öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu untersuchen.

Erstens soll anhand der prägenden verfassungspolitischen Paradigmen analysiert werden, inwieweit dieses Regulierungsziel rechtlich und praktisch verankert ist (B.). Zweitens soll ermittelt werden, inwieweit postfaktische Tendenzen dieses Regulierungsziel beeinflussen (C.), wobei folgende Fragen im Mittelpunkt stehen: Was beschreiben postfaktische Tendenzen? Inwieweit sind sie rechtlich problematisch? Was sind mögliche Ursachen? Daran anknüpfend werden die Ergebnisse bewertet (D.) und zukünftige Reformperspektiven skizziert (E.).

B. Politische Bildung als Ziel der Rundfunkregulierung

I. Konzeptioneller Ursprung

Die Rundfunkordnung nach dem Grundgesetz lässt sich als eine bewusste Reaktion auf das Dritte Reich verstehen.5 In der Nachkriegszeit wurde sie staatsfern, aber mit öffentlich-rechtlicher Rechtsstruktur als Public Service organisiert.6 Aus dem Public-Service-Modell ergibt sich politische Bildung als Regulierungsziel (im Folgenden: Bildungsauftrag).7 Denn im Zentrum der Rundfunkfreiheit steht die Gewährleistung einer freiheitlichen gesellschaftlichen politischen Meinungsbildung. Nach dem BVerfG kommt dem Rundfunk dabei im Gegensatz zur Presse eine besondere Bedeutung zu: Er ist aufgrund seiner Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft „mehr als nur ‚Medium’ der öffentlichen Meinungsbildung; er ist ein eminenter ‚Faktor’der öffentlichen Meinungsbildung.“8

1. Demokratische Bedeutung des Bildungsauftrags

Gesetzliche Regelungen müssen deshalb neben möglichst breiter und vollständiger Meinungsvielfalt auch umfassende Information gewährleisten.9 Denn Grundlage jeder Individualität ist Wissen und Information: Eine Demokratie fußt auf dem Wissen und der Urteilskraft ihrer Bürger.10 Die von der Rundfunkfreiheit geschützte Meinungsbildung umfasst neben politischen auch kulturelle Bereiche.11 Kulturbeiträge vermitteln Wissen und Werte, die für die Mündigkeit eines Bürgers grundlegend sind.12 So wird im Rundfunk neben der Schulbildung das wichtigste Mittel zur Kulturverbreitung gesehen.13 Damit besitzt der Bildungsauftrag auch eine kulturelle Komponente (Bildungs- und Kulturauftrag).


* Der Autor ist Alumnus der Bucerius Law School, Hamburg.

1 Stock, in: FS Badura 2004, S. 781, 793.

2 Vgl. BVerfGE 31, 315, 325; 57, 295, 320; 73, 118, 152-153; 90, 60, 88.

3 Vgl. Davies, nytimes.com v. 24.08.2016, abrufbar unter: http://nyti.ms/2xomfEP (Stand: 22.04.2018); Schneider, sueddeutsche.de v. 07.09.2016, abrufbar unter: http://bit.ly/2bXH7uJ (Stand: 22.04.2018).

4 Beispielsweise die jüngste Volksabstimmung in der Schweiz, vgl. faz.de v. 04.03.2018, abrufbar unter: http://bit.ly/2FeeGVI (Stand: 22.04.2018).

5 Hesse, Rundfunkrecht, 2003, 1. Kapitel, Rn. 23; Hoffmann-Riem, Regulierung der dualen Rundfunkordnung, 2000, S. 23.

6 Ausführlich zur Rundfunkentwicklung Hermann/Lausen, Rundfunkrecht, 2004,§ 4 Rn. 23-159.

7 Ausführlich Rossen-Stadtfeld, Arbeitspapiere des Instituts für Rundfunkökonomie der Universität Köln, Heft 201, 2005, 9-10.

8 Vgl. BVerfGE 12, 205, 259, 31, 314, 325; 90, 60, 87; 97, 228, 256; 103, 44, 74; 114, 371, 387.

9 Vgl. BVerfGE 57, 295, 319-320; 73, 118, 153; 74, 297, 323 f.; 83, 238, 295 f.; 87, 181, 197; 90, 60, 87; 121, 30, 59.

10 Vgl. ausführlich zum Informationsauftrag Wolf, Der Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2010, S. 244-260.

11 Vgl. schon BVerfGE 12, 205, 229.

12 Vgl. Grimm, VVDStRL 42, (1984), S. 76, vgl. Lewke, Der verfassungsrechtliche Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2007, S. 144 ff.; Wolf (Fn. 10), S. 244.

13 Zum Kulturauftrag im Rundfunk vgl. Grimm, VVDStRL 42, (1984), S.47, 72.

Rehder, Politische Bildung als Ziel der Rundfunkregulierung18

2. Der Bildungsauftrag als Teil einer Systemdebatte

Die Entwicklungslinien des Bildungsauftrags sind eng mit einer allgemeinen rechtspolitischen Systemdebatte verwoben. Dabei lassen sich vereinfacht zwei Pole herausarbeiten: Auf der einen Seite steht ein wirtschaftspolitisch und ökonomisch liberales Marktverständnis des Rundfunksystems. Demgegenüber steht ein gemeinwohlorientiertes Integrationsverständnis. Mit der Einführung des Privatrundfunks veränderte sich zunehmend die (verfassungs-)politische Bedeutung des Rundfunks: Die im Monopol typische Betonung von kulturpolitischen Funktionen trat im Wesentlichen hinter wirtschaftspolitische Argumente zurück.14 In der Folge hat sich der Privatrundfunk einem Marktverständnis angenähert. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde zum zentralen Garanten für eine integrative Kommunikationsordnung, jedoch nicht ohne von Marktzwängen befreit zu bleiben.

3. Verfassungsrechtliche Konzeption

Grundsätzlich bezieht sich der Bildungsauftrag auf den gesamten Rundfunk.15 Im Gegensatz zum privaten trägt der öffentlich-rechtliche Rundfunk die wesentliche verfassungsrechtliche Last als Treuhänder der Gesellschaft.16 Da aber auch die Rundfunkfreiheit privater Veranstalter der öffentlichen Meinungsbildung dient, bleibt die private Säule nicht vollkommen von der verfassungsrechtlichen Rundfunkgewährleistung befreit.17 Innerhalb der privaten Programme muss ein „Grundstandard gleichgewichtiger Vielfalt“18 gewährleistet werden. Dieser Grundstandard umfasst einen angemessenen Anteil von Information, Kultur und Bildung. Insoweit wohnt dem Grundstandard auch ein – sehr viel schwächer ausgeprägter – Bildungsauftrag inne.19

a) Grundversorgungs- und Funktionsauftrag

Das BVerfG hat dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk den Auftrag der „Grundversorgung“ zugewiesen.20 Das meint keine Minimal-, sondern eine Maximal- und flächendeckende Versorgung der gesamten Bevölkerung in voller Breite und Vielfalt.21 Aufgrund der Mehrdeutigkeit dieses Begriffs wird er zunehmend als „Funktionsauftrag“ bezeichnet.22 Der Bildungsauftrag ist Teil des Funktionsauftrags. Deshalb richten sich Inhalt und Umfang des Bildungsauftrags funktional nach den Zielen für den gesamten Rundfunk aus.23

b) Konzeptionelles Dilemma

Trotz öffentlich-rechtlicher Beitragsfinanzierung befinden sich beide Säulen seit der Einführung der dualen Rundfunkordnung in einem Wettbewerb um Publikum und Reichweite. Denn ohne ein ausreichend großes Publikum kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinem Funktionsauftrag nicht gerecht werden. Das stellt Bildungsauftrag und öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor enorme (publizistische) Herausforderungen: Der verfassungsrechtlich hohe Anspruch an den Bildungsauftrag bildet genau wie eine breite gesellschaftliche Akzeptanz vor allem aufgrund der Beitragsfinanzierung die politische Legitimationsstütze des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Der Bildungsauftrag verlangt publizistisch anspruchsvolle (und typischerweise quotenärmere), die Beitragsfinanzierung massenattraktive Programme.

Diese widersprüchlichen Zielsetzungen manifestieren sich in Form eines Dilemmas zwischen Qualität und Quote. Sollte der öffentlich-rechtliche Rundfunk den Bildungsauftrag zu sehr verfolgen, läuft er Gefahr, erhebliche Teile der Bevölkerung als kulturelles Nischenprogramm nicht mehr zu erreichen. Sollte er zu sehr auf Massenattraktivität setzen, droht eine Verflachung des Programmniveaus in Form einer Selbstkommerzialisierung.24

II. Konkrete Ausprägung des Regulierungsziels

An diese abstrakt-konzeptionelle Einordnung knüpft sich die Frage, anhand welcher konkreten Ausprägungen sich der Bildungsauftrag als Regulierungsziel praktisch nachvollziehen lässt. In quantitativer Hinsicht kann das programmliche Verhältnis von Informations- und Bildungs- auf der einen sowie Unterhaltungsformaten auf der anderen Seite angeführt werden. Qualitativ lassen sich vor allem Formate auf den Bildungsauftrag zurückführen, die komplexe oder voraussetzungsvolle Themen (z.B. im Zusammenhang mit dem aktuellen Tagesgeschehen) mithilfe von Schaubildern und fachlichen Experten erklärend aufarbeiten.

III. Ausgestaltung des Bildungsauftrags im dualen System

1. Gesetzliche Ausgestaltung

Die einfachgesetzliche Entwicklung im Privatrundfunk ist durch den Rückzug staatlicher Steuerung seit der Einführung der dualen Ordnung geprägt.25 Heute findet der Bildungsauftrag nur wenige normative Anknüpfungspunkte: § 25 RStV


14 Vgl. grundlegend Hoffmann-Riem (Fn. 5), S. 49; Hoffmann-Riem, Erosionen des Rundfunkrechts, 1990, S. 25, 69.

15 Die Legislative verfügt insoweit über einen weiten Ausgestaltungsspielraum, vgl. BVerfGE 12, 205, 262; 57, 295, 321-322; 83, 238, 296, 315-316, 324; 90, 60, 94.

16 Vgl. Hoffmann-Riem, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1994, § 7 Rn. 100.

17 Vgl. BVerfGE 73, 118, 157; 121, 30, 51.

18 BVerfGE 73, 118, 159.

19 Das betonend vgl. Deetz, Recht der Jugend und des Bildungswesens (RdJB) 1996, 12, 16; ebenso Ehmann, RdJB 1996, 3, 5 ff. Freilich schließt diese Verpflichtung die Möglichkeit ein, geringere Anforderungen an private als an öffentlich-rechtliche Programme zu stellen, vgl. BVerfGE 57, 295, 319; 73, 118, 158-159.

20 Vgl. BVerfGE 73, 118, 157-158; 83, 238, 297; Beater, Medienrecht, 2016,§ 4 Rn. 231-232.

21 Zuletzt BVerfGE 119, 181, Rn. 122.

22 Zur ausführlichen terminologischen Eingrenzung Thum, Einfachgesetzliche Präzisierung des verfassungsrechtlichen Funktionsauftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2007, S. 90-91.

23 BVerfGE 74, 297, 326; Gersdorf, Grundzüge des Rundfunkrechts, 2003, Rn. 310, Thum (Fn. 22), S. 83; zusammenfassend Held, Online-Angebote öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, 2008, S. 121-122.

24 Vgl. dazu insgesamt Stock, Das deutsche duale Rundfunksystem, 2004, S. 62.

25 Vgl. grundlegend zur Entwicklung Hoffmann-Riem, Media Perspektiven (MP) 1988, 57, 60 ff.; Bullinger, in: Kirchhof/Isensee (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 2009, § 163 Rn. 100-110; von Danwitz, ZUM 2002, 769, 771-777, Janik, AfP 2002, 105, 114; Stock (Fn. 1), S. 781,793-799; vgl. ebenfalls Dörr, in: Hartstein/Ring/Kreile/Stettner/Dörr/Cole/Wagner (Hrsg.), Kommentar zum RStV, Bd. II, 2017, § 25 Rn. 4.

Rehder, Politische Bildung als Ziel der Rundfunkregulierung19

legt ein grundsätzliches außenpluralistisches System fest, in dem die allgemeinen Programmgrundsätze nach §§ 3, 41 II RStV gelten.

Bei der Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags befindet sich der Gesetzgeber im Spannungsfeld zwischen Staatsferne und Gesetzesvorbehalt: Das Programm darf einerseits nicht staatlich aufgegeben sein (Rundfunkfreiheit als Programmfreiheit).26 Andererseits ordnet Art. 5 I S. 2 GG („gewährleistet“) die Schaffung einer gesetzlichen Ausgestaltung an. Diese zuwiderlaufenden Normziele werden durch ein abgestuftes Regelungssystem zwischen verfassungsrechtlichen, einfach- und untergesetzlichen Normen in Einklang gebracht, bei dem die Konkretisierung des Bildungsauftrags hauptsächlich über Verfahrens- und Organisationsrecht sichergestellt wird.27

2. Programmliche Ausgestaltung

Auch programmlich lässt sich die Annäherung des Privatrundfunks an ein Marktverständnis nachvollziehen. Da Unterhaltungsformate typischerweise höhere Einschaltquoten als Bildungsprogramme generieren, dominieren sie die privaten Rundfunkvollprogramme. Informative und politisch bildende Programme finden indes nur vereinzelt Platz.28

Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben sich Unterhaltungsformate ebenfalls etabliert. Deswegen wird u.a. beklagt, die Angebote würden den anspruchsvollen Anforderungen des Bildungsauftrags nicht gerecht.29 Zum einen würden zuschauerarme Kultur- und Bildungsformate in Spartenprogramme verdrängt (Verspartung). Zum anderen fänden fast ausschließlich massenattraktive Unterhaltungsprogramme zu den zuschauerstärksten Zeiten statt.30 Teilweise lassen sich diese Entwicklungen empirisch bestätigen.31 Allerdings ergeben sich zwischen den öffentlich-rechtlichen und privaten Programm- und Imageprofilen weiterhin erkennbare Unterschiede.32 Besonders qualitativ können sie den Anforderungen des Bildungsauftrags durch Formate gerecht werden, die komplexe Zusammenhänge veranschaulichen, um bestimmte Konflikte nachvollziehen zu können.33 Darüber hinaus werden sie (generationenübergreifend) als fundamental unterschiedliche Programmanbieter wahrgenommen.34 Auch das BVerfG stellte „deutliche Unterschiede“35 in den Programmprofilen heraus. Gleichzeitig wird auch die Zurückdrängung von Bildungsprogrammen sichtbar.

IV. Gegenwärtige Regulierung des Bildungsauftrags

Heute steht der Bildungsauftrag als Regulierungsziel normativ und programmlich nicht im Vordergrund. Auch zeigt sich, dass eine alleinige Stärkung des Bildungsauftrags im öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Gefahr birgt, kontraproduktiv zu wirken, indem Zuschaueranteile verloren gehen. Deshalb bietet es sich an, eine eventuelle Regulierung nicht auf eine Säule zu beschränken, sondern auch am Privatrundfunk anzusetzen.36

C. Einfluss postfaktischer Tendenzen

Anlass für eine stärkere Regulierung bieten insbesondere die immer öfter diskutierten postfaktischen Entwicklungen der öffentlichen Diskussionskultur. Ihr Einfluss auf den Bildungsauftrag wird im Folgenden untersucht, indem ausgehend von einer Begriffsbestimmung nach der rechtlichen Relevanz und möglichen Ursachen gefragt wird.

I. Begriffsbestimmung

Im Allgemeinen beschreibt „postfaktisch“ gesellschaftliche Umstände, unter denen objektive, dem Beweis zugängliche Tatsachen einen geringeren Einfluss auf das Zustandekommen öffentlicher Meinungen haben als Appelle an das Gefühl oder persönliche Sichtweisen.37

In einem postfaktischen Meinungsstreit kommt es darauf an, inwieweit dargebotene Erklärungsmodelle eine Nähe zur Gefühlswelt der Diskutierenden aufweisen.38 Offensichtlich falsche Tatsachen sind nicht automatisch wertlos, sondern können als „alternative Fakten“ umschrieben werden. Personen setzen sich über etabliertes Wissen und wissenschaftliche Erkenntnisse hinweg. Grundlage des öffentlichen Diskurses sind in der Folge weniger Tatsachen als opportune Narrative (gefühlte Wahrheiten). Fakten und deren Belege verlieren ihre Autorität, treten gar hinter den emotionalen Effekt einer Behauptung zurück.

Bei genauerer Betrachtung geht es nicht nur um gezieltes Lügen: Entscheidend ist, dass eine Person (ob einfacher


26 Vgl. BVerfGE 74, 297, 324; 90, 60, 88; 121, 30, 52.

27 Vgl. Schultze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2013, Art. 5 GG Rn. 239.

28 Bei den privaten Fernsehsendern RTL, VOX, RTL II, Sat.1, Pro Sieben, und Kabel Eins überwiegt das Unterhaltungssegment im Jahr 2016 eindeutig: Außer bei RTL (22 % Anteil des Programms bilden Fernsehpublizistik) sind 85-95 % der Programmangebote Unterhaltungsformate, siehe Die Medienanstalten (Hrsg.), Content-Bericht 2016, S. 34-40, vgl. dazu auch (mit ähnlichen Ergebnissen im Jahr 2012) Krüger, MP 2016, 166, 167-168.

29 Vgl. Fehling, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2013, § 59 Rn. 57.

30 Vgl. Brenner, Zur Gewährleistung des Funktionsauftrages durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, 2002, S. 148 ff., vgl. außerdem m.w.N. Wolf (Fn. 10), S. 5-6.

31 Vgl. Reese, Der Funktionsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vor dem Hintergrund der Digitalisierung, 2006, S. 148 f., m.w.N. Wolf (Fn. 10), S. 5; vgl. außerdem Krüger, MP 2016, 166, 167.

32 Vgl. Krüger, MP2016, 166, 184.

33 Exemplarisch dafür steht das Format \#kurzerklärt der ARD im Rahmen der Tagesschau, abrufbar unter: https://bit.ly/2HRnumu (Stand: 22.04.2018).

34 Vgl. Rühle, MP 2016, 286, 286 f.; vgl. außerdem Krüger, MP 2017, 344, 362.

35 BVerfGE 119, 181, 217-218.

36 In diese Richtung ebenfalls Stock, Arbeitspapiere des Instituts für Rundfunkökonomie der Universität Köln, Heft 204, 2005, 8.

37 Der Begriff „postfaktisch“ wurde 2016 zum internationalen (Oxford English Dictionary, Word of the Year 2016, abrufbar unter: http://bit.ly/2l2ISgs (Stand: 22.04.2018) und deutschen (Gesellschaft für deutsche Sprache e.V., Wort des Jahres, abrufbar unter: http://bit.ly/2hnzGBf (Stand: 22.04.2018) Wort des Jahres 2016 gewählt.

38 Vgl. Kittlitz, zeit.de v. 28.08.2016, abrufbar unter: http://bit.ly/2vkT4kJ (Stand: 22.04.2018). Während sich im deutschsprachigen Raum der Begriff “postfaktisch” durchgesetzt hat, wird im Englischen vornehmlich der (im Übrigen inhaltsgleiche) Begriff „post truth“ verwendet.

Rehder, Politische Bildung als Ziel der Rundfunkregulierung20

Bürger oder politischer Akteur) dem Wahrheitsgehalt der eigenen und anderen Aussagen gleichgültig gegenübersteht. Ob sich eine Behauptung beweisen lässt, spielt deshalb keine Rolle.39 Unter solchen Umständen geraten zunehmend falsche Tatsachenbehauptungen in Umlauf. Diese stammen nicht nur von Politikern, sondern können beliebig über soziale Netzwerke und Foren im Internet produziert und verbreitet werden. Deshalb werden durch den Begriff nicht nur Handlungsweisen von politischen Akteuren, sondern auch ein Zustand beschrieben, der Zustand einer Demokratie, Gesellschaft, oder sogar ein neues Zeitalter.40 Im Rahmen dieser Untersuchung werden „postfaktische Tendenzen“ als ein Phänomen der gesamtgesellschaftlichen „Entwertung von Tatsachen“ verstanden.41

An Aktualität und Relevanz gewannen postfaktische Tendenzen insbesondere im Zusammenhang mit dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2016.42 In Deutschland wird der Begriff vor allem in Verbindung mit der Flüchtlingskrise verwendet.

Das Problem von Wahrheit und Lüge ist in der Politik aber nicht neu. Denn politische Kommunikation dient in erster Linie nicht der Wissensfindung, sondern gerade dazu, sich gegenüber anderen zu behaupten. Neu scheint aber die Häufigkeit, Radikalität und die Methoden, mit denen politische Akteure in der Öffentlichkeit falsche Tatsachen verbreiten und bei relevanten Bevölkerungsteilen auf keinerlei Widerspruch stoßen.

II. Rechtliche Relevanz für den Bildungsauftrag

Doch inwieweit sind postfaktische Tendenzen für den Bildungsauftrag des Rundfunks relevant? Das hängt davon ab, inwieweit postfaktische Tendenzen eine Gefahr für die öffentliche Meinungsbildung darstellen.

Für die öffentliche Meinungsbildung ist ein demokratischer Austausch von Meinungen elementar. Ein demokratischer Diskurs muss sachlichen Ansprüchen genügen. Seine Grundlage bilden vor allem belegbare Fakten (Validierungsfähigkeit als Teil der Diskursivität).43 Idealtypisch unterscheiden sich in einer Demokratie die politischen Wertungen, die sich auf der Grundlage von Fakten ableiten. Entzieht man diese Grundlage, wird die politische Verständigung erschwert, wenn nicht sogar untergraben. Im Rahmen postfaktischer Tendenzen stellen Fakten keine Diskurs-Grundlage, sondern eine bloße und beliebige Argumentationshilfe dar. Abstrakt drohen dadurch demokratische Prinzipien zu eruieren.44 Mangelndes Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Berichterstattungen kann auch Politikverdrossenheit befeuern.45 Nicht zuletzt wird schon in Bezug auf Kommerzialisierungstendenzen im gesamten Rundfunk eine „Konvergenz nach unten“ beklagt.46 Durch postfaktische Tendenzen würden derartige Entwicklungen verschärft. Auch insoweit gefährden postfaktische Tendenzen die öffentliche Meinungsbildung.

III. Mögliche Ursachen für postfaktische Tendenzen

Der Gebrauch von falschen Tatsachen ist im öffentlichen Diskurs aber grundsätzlich nicht neu. Deshalb muss zunächst gefragt werden, was mögliche Ursachen für die Entwicklung postfaktischer Tendenzen sind. Auch wenn verschiedene Ursachen in Betracht kommen, sollen in diesem Rahmen schwerpunktmäßig Formen der Informationsvermittlung im Internet betrachtet und im Anschluss mithilfe verhaltenspsychologischer Urteilsfehlern (Heuristiken47) dargestellt werden.

1. Beschaffung und Vermittlung von Nachrichten

Nachrichteninhalte werden immer öfter über soziale Netzwerke verbreitet und abgerufen.48 Jeder Nutzer sozialer Netzwerke kann zum Meinungsmacher werden, ohne Belege anbieten zu müssen. So verbreiten sich Verschwörungstheorien, populistische oder falsche Inhalte (Fake News) besonders gut im Internet.49 Verstärkt wird die Verbreitung durch das algorithmisierte Filtern von Beiträgen in sozialen Netzwerken, wie z.B. Facebook.50 Diese tragen dazu bei, dass Nutzer primär bis ausschließlich Beiträge von anderen Nutzern sehen, die eine ähnliche politische Grundeinstellung teilen (sogenannte Filterblasen, Echokammern). Nutzer, die mehrfach Internetseiten besuchen, die Falschmeldungen verbreiten, erhalten so immer häufiger ähnliche Beiträge. So verfestigen sich Anschauungen, die auf der Grundlage falscher Tatsachen gebildet wurden.51 Die Verwendung von Social Bots kann darüber hinaus bestimmten Meinungen


39 Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt stellte dies in seinem Werk „On Bullshit“ in den Mittelpunkt: Bullshit ist demnach eine Form leeren Geredes, vgl. Raritan Quarterly Review (1986/2), 86 ff.

40 Vgl. Weingart, Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 2017, 11, 11-12; vgl. Strong, U. PA. L. Rev. (2017/165), 137 ff.

41 Dieses Phänomen als „postfaktisch“ zu bezeichnen ist insoweit irreführend, als es – besonders im Englischen: „post truth“ – suggeriert, es gehe um den Verlust von oder den Kampf um „Wahrheiten“. Abstrakte (philosophische) Wahrheiten sind nicht dem empirischen Beweis zugänglich und deshalb nicht gemeint, vgl. dazu Hürter, APuZ 2017, 11, 11; zur philosophischen Dimension des Begriffs Kolmer, APuZ 2017, 40, 41.

42 Vgl. Davies, nytimes.com v. 24.08.2016, abrufbar unter: http://nyti.ms/2xomfEP (Stand: 22.04.2018).

43 Vgl. dazu Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1990, S. 352 ff. Nicht umsonst geht das BVerfG davon aus, dass unwahre Tatsachenbehauptungen nicht zur Meinungsbildung beitragen und somit unter Art. 5 I S. 1 GG nicht schützenswert sind, vgl. zuletzt BVerfGE 114, 339, 352.

44 Vgl. Hürter, APuZ 2017, 23, 24.

45 Vgl. Marschall, APuZ 2017, 17, 22.

46 Vgl. dazu insgesamt Stock (Fn. 24), S. 62; Stock (Fn. 1), S. 781, 799.

47 Als Heuristiken bezeichnet man einfache Denkstrategien für effizientere Urteile, vgl. Kahneman, Schnelles Denken, Langsames Denken, 2011, S. 127-128; zu weiteren verhaltenspsychologischen Bewertungen in Zusammenhang mit postfaktischem Handeln Oxera Consulting (Hrsg.), The policy of truth? Deception in markets and in public policy, 2017, S. 1 ff.

48 Dies trifft vor allem auf junge Menschen zu, vgl. Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (Hrsg.), Grunddaten Jugend und Medien, 2017, S. 4 ff.

49 Zum Zusammenhang zwischen Fake News und dem Wahlerfolg des US-Präsidenten Solon, theguardian.com v. 10.11.2016, abrufbar unter: http://bit.ly/2fhSwYB (Stand: 22.04.2018).

50 Siehe dazu Hoffmann-Riem, AöR 2017, 1, 11-14; eine anschauliche Erläuterung bietet Drexl, ZUM 2017, 529, 532-533.

51 Genauer dazu Drexl, Max Planck Institute for Innovation and Competition Research Paper No. 16-16, 2017, S. 5 f.

Rehder, Politische Bildung als Ziel der Rundfunkregulierung21

schneller mehr Resonanz innerhalb eines Netzwerkes verschaffen und so Meinungsbilder verzerren.52 Das eröffnet gewaltige Möglichkeiten der politischen Einflussnahme.53 Während im Internet geteilte Beiträge auf der einen Seite die Meinungsbildung anheizen, führt diese Informationsvermittlung auf der anderen Seite dazu, dass das Vertrauen in Nachrichtenquellen grundsätzlich sinkt. Dazu erhalten falsche Tatsachenbehauptungen häufig mehr Aufmerksamkeit.54

2. Verhaltenspsychologischer Erklärungsansatz

Die schnelle Verbreitung von falschen Tatsachenbehauptungen durch Filterblasen im Internet kann verhaltenspsychologisch anhand der Affektheuristik erklärt werden. Sie besagt, dass Individuen dazu neigen, jenen Tatsachen Glauben zu schenken, die den bereits bestehenden Einstellungen entsprechen.55 Demnach ist der Einzelne einem emotionalen Widerspruch zwischen seinen Einstellungen und der Faktenlage ausgesetzt. Das hat zur Folge, dass, erst nachdem eine wertende Grundhaltung festgelegt wurde, eine (dieser Haltung möglichst nicht widersprechende) „Auswahl“ von Fakten vorgenommen wird.56

Auch die Häufigkeit, mit der Falschmeldungen Gegenstand der Berichterstattung sind, birgt Risiken. Denn als falsch gekennzeichnete Meldungen sind dazu geeignet, die öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen. Das zeigt die Verfügbarkeitsheuristik. Sie besagt: Je häufiger eine bestimmte Nachricht oder Meinung wahrgenommen wird, desto wahrscheinlicher ist es, sie für wahr zu halten.57

IV. Postfaktische Tendenzen in Deutschland

Postfaktische Tendenzen werden primär mit Bezug auf das politische Geschehen in den USA thematisiert. In welchem Ausmaß sie als gesamtgesellschaftliche Entwertung von Tatsachen in Deutschland vorliegen, kann empirisch schwer festgestellt werden. Die Untersuchung möglicher Ursachen ergibt, dass das Potenzial für die Entwicklung von postfaktischen Tendenzen in Deutschland nicht besonders stark ausgeprägt ist: Die mit der Nutzung sozialer Netzwerke verbundenen Effekte können in Deutschland (noch) nicht belegt werden. Auf Basis von empirischen Befunden wird davon ausgegangen, dass es sich dabei nicht um Breitenphänomene handelt, sondern sich diese Effekte hauptsächlich auf die Ränder des politischen Spektrums und damit einen kleinen Bevölkerungsteil beschränken.58

D. Bewertung

Trotz der noch geringen Ausprägung besteht zukünftig die Gefahr einer Verschärfung dieser Tendenzen. Anders als der Begriff postfaktisch suggeriert, muss aber berücksichtigt werden, dass der Umgang mit Fakten im Rahmen der öffentlichen Meinungsbildung nicht erst in jüngster Zeit ein Problem darstellt und deshalb nicht überdramatisiert werden sollte. Da der Rundfunk selbst mithilfe einer normzielgerechten Regulierung als solcher zukünftig maßgeblich an Relevanz verlieren könnte, liegt mit Blick auf mögliche Reformen ebenfalls eine Regulierung von Internet-Intermediären (Twitter, Facebook etc.) nahe59, die in diesem begrenzten Rahmen nicht näher erfolgen kann.

Die beschriebenen Tendenzen sind aber für die Rundfunkregulierung nicht von geringerer Bedeutung. Denn der Grundsatz des BVerfG, dass sich im Rundfunk bereits eingetretene Fehlentwicklungen kaum nachträglich korrigieren lassen,60 muss beachtet werden. Zu diesen Fehlentwicklungen gehört aber nicht nur eine Tatsachenentwertung, sondern auch die Entstehung einer paternalistischen Medienlandschaft. Der beschriebene Rückgang staatlicher Regulierung, der sich auch grundrechtsdogmatisch durch die subjektiv-rechtliche Rundfunkunternehmerfreiheit und das Gebot der Staatsferne untermauern lässt, muss insoweit positiv herausgestellt werden. Vor diesem Hintergrund sollte der Rundfunk so ausgerichtet werden, dass er (unter Berücksichtigung der Staatsferne) neuen Entwicklungen in der Informationsübermittlung gewachsen ist.

Dabei gibt die abstrakte Gefahr einer gesellschaftlichen Entwertung von Tatsachen Anlass dazu, den Bildungsauftrag so weit zu verstehen, dass er praktisch als Hüter der demokratischen Meinungsbildung erhalten bleibt. Das lässt sich aus seiner funktionalen Ausrichtung ableiten und betrifft besonders den klassischen Journalismus. Er verknüpft den Akt der Publikation mit der Prüfung von Relevanz und Faktizität.61 Je weniger journalistische Beiträge im Rundfunk gefördert werden, desto mehr leidet die individuelle und öffentliche Meinungsbildung – desto mehr ist sie anfällig für postfaktische Tendenzen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss deshalb eine TorwächterFunktion62 als Orientierungshilfe und Gewährleister eines vielfältigen, gut recherchierten


52 Zu Social Bots und ihrer rechtlichen Regulierung in Verbindung mit der Nachrichtenweiterverbreitung siehe Drexl, ZUM 2017, 529, 536 ff.; sowie Dankert/Dreyer, K&R 2017, Heft 2, S. 73 ff.

53 Vgl. in Bezug auf den amerikanischen Wahlkampf Grassegger/Krogerus, dasmagazin.ch v. 03.12.2016, abrufbar unter: http://bit.ly/2h4MBHS (Stand: 22.04.2018).

54 Typischerweise erhalten unbegründete Verschwörungsbehauptungen mindestens genauso starke Aufmerksamkeit wie (überprüfbare) Tatsacheninformationen, Karsai et al., Computers in Human Behavior (2015/51), S. 1198 ff.

55 Vgl. Kahneman (Fn. 47), S. 103.

56 Vgl. Oxera Consulting (Fn. 47), S. 4.

57 Vgl. zur Verfügbarkeitsheuristik Kahneman (Fn. 47), S. 129-135; in Verbindung mit „Fake News“ vgl. Oxera Consulting (Fn. 47), S. 4.

58 Siehe dazu ausführlich Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen/Forschungsschwerpunkt Medienkonvergenz der Universität Mainz (Hrsg.), Informationsintermediäre und Meinungsbildung, 2016, S. 180-181.

59 So spricht Drexl Intermediären wie Facebook eine „Gatekeeper-Funktion“ in Bezug auf die Auswahl von Nachrichten zu, vgl. Drexl, ZUM 2017, 529, 536. Darüber hinaus wird immer mehr wird deutlich, dass sich die (Manipulation der) Bildung der öffentlichen Meinung immer mehr auf das Internet verlagert, weshalb u.a. Kreile eine Regulierung zur Vielfaltssicherung gegenüber Suchmaschinen fordert, vgl. Kreile, ZUM 2017, 268, 270-278.

60 Dies betont das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, BVerfGE 57, 295, 323; 121, 30, 52.

61 Vgl. Pörksen, in: Die Medienanstalten (Hrsg.), Content-Bericht, 2016, S. 170.

62 Das bedeutet, dass sie die maßgebliche Auswahl von Informationen vornehmen, die als Grundlage der Meinungsbildung herangezogen werden.

Rehder, Politische Bildung als Ziel der Rundfunkregulierung22

Angebots einnehmen.63 Nur so kann der gesamte Rundfunk die Meinungsbildung medial ermöglichen (Forumsund Integrationsfunktion64).

Um diese Funktion erfüllen zu können, dürfen öffentlich-rechtliche Anstalten zukünftig keine weiten Teile der Bevölkerung als Zuschauer verlieren. Dies droht aber insbesondere, soweit man eine programmliche Begrenzung mit dem Hinweis fordert, der öffentlich-rechtliche solle nur Defizite des privaten Rundfunks ausgleichen (i.E. sein Programm entsprechend auf bildende und informative Formate beschränken).65 Eine solche Begrenzung könnte die duale Ordnung in ein System mit dualem Publikum umwandeln.66 Zwar würde so der Spagat des öffentlichen Rundfunks zwischen Niveaupflege und Massenattraktivität entschärft. Der gesamte Rundfunk verlöre aber an Bedeutung für die politische Meinungsbildung; der Bildungsauftrag an Wirkungskraft.

Für das Internet gilt das umso mehr. Denn das Internet ist Musterbeispiel eines außenpluralen, aber nicht per se qualitativ hochwertigen Mediums, das die Durchschlagskraft und Breitenwirkung des klassischen Rundfunks einschränkt.67 Da im Rahmen der Entwicklungsgarantie die Aufgabe des Rundfunks davon abhängig sein muss, auf welche Weise die individuelle und öffentliche Meinungsbildung erfolgt,68 sollte der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Internet-Zeitalter gestärkt werden.69 Konkret geht es darum, journalistische Qualitätsstandards zu verankern und hochzuhalten (Vorbildfunktion).70

E. Reformperspektiven

Um den Bildungsauftrag des gesamten Rundfunks zu stärken, verspricht eine gemeinsame Regulierung beider Säulen am meisten Erfolg.

I. Privater Rundfunk

Im Privatrundfunk geht es konkret um quantitativ höhere Informations- und Bildungsanteile in Vollprogrammen, wohingegen es der Aufgabenverteilung der dualen Ordnung zuwiderliefe, hier qualitative Vorgaben legislativ zu normieren.

Da das Instrumentarium der Landesmedienanstalten nach geltendem Recht dafür kaum ausreichend ist71, kommt de lege ferenda in Betracht, die materiellrechtlichen Vorgaben zu verschärfen, insbesondere die Programmgrundsätze oder Zulassungsvoraussetzungen zu konkretisieren. Da aber normative Programmstandards die Strukturschwäche des dualen Systems nur beschränkt überwinden können, sind diese Maßnahmen in ihrer Wirkung begrenzt.72 Auf Vollzugsebene ist es den Landesmedienanstalten bislang nicht gelungen, sich den kommerziellen Veranstaltern geschlossen als durchsetzungsfähige Kontrollinstanz entgegenzustellen.73 Zum einen scheinen sie sich teilweise als Förderer des privaten Rundfunks anstatt als kritische Aufsichtsinstanz zu verstehen.74 Zum anderen trägt eine offenbar nicht beizulegende dysfunktionale und medienpolitisch geprägte Standortkonkurrenz zu einer Selbstbeschränkung bei.75 Deshalb sind Strukturreformen notwendig. Den Landesmedienanstalten fehlt die für die Durchsetzung einschneidender Maßnahmen notwendige politisch-gesellschaftliche Unterstützung.76 Insoweit ist ein parteipolitisches und gesellschaftliches Umdenken erforderlich. Außerdem sollten den Landesmedienanstalten mehr verwaltungsrechtliche Aufsichtsinstrumente zur Verfügung gestellt und, soweit Programmgrundsätze konkretisiert wurden, Verstöße dagegen in den Ordnungswidrigkeitenkatalog des § 41 I S. 1 RStV aufgenommen werden. Darüber hinaus können Medienforscher und binnenplural zusammengesetzte gesellschaftliche Gremien stärker in die Programmaufsicht einbezogen werden.77

II. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Im öffentlich-rechtlichen Bereich sollten vor allem Informations- und Bildungsformate nicht mehr in Spartenprogramme oder Randzeiten verdrängt werden.

Zum einen kann das durch eine nähere Präzisierung des Bildungsauftrags geschehen.78 Materielle Ausgestaltungen (wie eine engere gesetzgeberische Auftragsdefinition nach § 11 I S. 4 RStV) sind ihrer Steuerungswirkungskraft aber begrenzt, da sie aufgrund der zu wahrenden Staatsferne


63 Vgl. Paulus/Nölscher, ZUM 2017, 177, 186.

64 Nach dem BVerfG muss der Rundfunk möglichst viele verschiedene gesellschaftliche Kräfte im Gesamtprogramm zu Wort kommen lassen, vgl. BVerfGE 12, 205, 206, 261-262. Außerdem soll er eine integrierende Funktion für das Staatsganze erfüllen (vgl. BVerfGE 31, 314, 329; ähnlich BVerfGE 35, 202, 222) und gesellschaftlich als Vermittler tätig werden (vgl. BVerfGE 57, 295, 320; 83, 238, 296; 90, 60, 87).

65 Vgl. Schoch, VVDStRL 57 (1998), S. 158, 193; Gersdorf, Legitimation und Limitierung von Onlineangeboten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2009, S. 43.

66 Vgl. Stock (Fn. 1), S. 781, 798.

67 Vgl. Fehling (Fn. 29), § 59 Rn. 8.

68 Vgl. Papier/Schröder, Verfassungsfragen des Dreistufentests, 2011, S. 75.

69 In diese Richtung gehend auch das Sondervotum des Richters am BVerfG Paulus, vgl. BVerfGE 136, 9, 68.

70 Nach der Vorbildfunktion soll der öffentliche Rundfunk die Qualität des privaten gewissermaßen „hochziehen“, dazu vgl. Bullinger, Die Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 1999, S. 11, 14. Das BVerfG spricht davon nicht ausdrücklich, geht aber inhaltlich in diese Richtung, vgl. BVerfGE 74, 297, 332, 335.Vgl. konkret in Bezug auf zukünftige Entwicklungen im Ergebnis Drexl (Fn. 51), S. 23.

71 Vgl. zu den gegenwärtigen Gestaltungsoptionen auf abstrakt-genereller und auf Einzelaktsebene Hain, K&R 2010, 638, 641-642; Schulz/Held, Regulierung durch Anreize, 2011, S. 42.

72 Vgl. Rossen-Stadtfeld, in: Hahn/Vesting (Hrsg.), Kommentar zum Rundfunkrecht, 2018,§ 25 RStV Rn. 68.

73 Vgl. Rossen-Stadtfeld (Fn. 72) § 25 RStV Rn. 72; Möllers/Zwiffelhoffer, MMR 2015, 161, 164-165 sprechen von einer „Laxheit beim Vollzug der Programmregeln“; Fehling von einer Kapitulation vor der „normativen Kraft des Faktischen“, Fehling (Fn. 29), § 59 Rn. 94.

74 Hoffmann-Riem (Fn. 5), S. 51; vgl. Rossen-Stadtfeld (Fn. 79), § 25 RStV Rn. 72; Möllers/Zwiffelhoffer, MMR 2015, 161, 164-165; Fehling (Fn. 29), § 59 Rn. 94, 144.

75 Schuler-Harms, Rundfunkaufsicht im Bundesstaat, 1995, S. 56; Rossen-Stadtfeld (Fn. 72), § 25 RStV Rn. 72.

76 Zum damit vergleichbaren sogenannten „agency capturing“ in Bezug auf die USA vgl. grundlegend Bernstein, Regulating Business by Independent Commission, 1955, S. 74 ff.

77 Dies könnte organisatorisch z.B. mittels einer externen Kommission vergleichbar mit der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) umgesetzt werden.

78 Zur Übersicht gesetzgeberischer Handlungsoptionen vgl. Thum (Fn. 22), S. 176-182.

Rehder, Politische Bildung als Ziel der Rundfunkregulierung23

restriktiv auszugestalten sind.79 Im Rahmen einer formellen Ausgestaltung kommt in Betracht, den Drei-Stufen-Test (§ 11f III-VI RStV) auf sämtliche öffentlich-rechtliche Angebote auszudehnen.80 Der Drei-Stufen-Test ist darauf ausgerichtet, dass öffentlich-rechtliche Angebote im Marktvergleich einen publizistischen Mehrwert leisten. So könnte der Drei-Stufen-Test auch für klassische Rundfunkprogramme die Marginalisierung von Informations- und Bildungsformaten aufhalten. Zum anderen sollte § 11e II RStV durch verschärfte externe Rechenschaftspflichten gegenüber Parlament und Öffentlichkeit ergänzt werden.81 Denn Ziel muss es sein, mit der Öffentlichkeit in einen strukturierten Dialog über die Programmerfüllung einzutreten. Das bezweckt eine strengere Selbstüberprüfung der Anstalten hinsichtlich ihrer Programmgestaltung und stärkt ihre öffentliche Akzeptanz. Rechenschaft müsste insbesondere in Bezug auf den (qualitativen) Abstand zu privaten Formaten und den (quantitativen) Anteil zwischen informativen und unterhaltenden Formaten zu zuschauerarmen und -starken Zeitfenstern abgelegt werden. Ferner sollte die Öffentlichkeit eingehend über die Programmentwicklungsplanung informiert werden.82

F. Fazit

Es kann – trotz unterhaltungslastiger Privatprogramme und öffentlich-rechtlicher Marktanpassung – weder von Verdummung, noch von kommunikativer Verwahrlosung des Rundfunks gesprochen werden. Während die öffentlich-rechtliche Säule zentraler Garant für die Erfüllung des Bildungsauftrags ist, treffen den Privatrundfunk niedrigere Anforderungen. Postfaktische Tendenzen sind zwar in Deutschland noch nicht besonders ausgeprägt, verdeutlichen aber, wie gefährlich eine programmliche Meinungsarmut für die öffentliche Meinungsbildung sein kann. Deshalb muss der politische und kulturelle Bildungsauftrag weit verstanden und in Zukunft entsprechend reguliert werden.


79 Vgl. Fehling (Fn. 29), § 59 Rn. 69; vgl. Eifert, in: Hahn/Vesting (Hrsg.), Kommentar zum Rundfunkrecht, 2018, § 11 RStV, Rn. 5 ff.

80 Bislang gilt der Drei-Stufen-Test nur für Telemedienangebote.

81 Vgl. dazu Bullinger (Fn. 70), S. 112; Hoffmann-Riem (Fn. 5), S. 290.

82 Vgl. dazu Hoffmann-Riem (Fn. 5), S. 290-291.