Rote-Kreuz-Schwestern als Arbeitnehmer?

Leonhard Sonner*

A. Einleitung

Ob bei der jährlichen Impfung, nach dem unglücklichen Ende eines Fußballspiels oder bei der Blutabnahme – aus dem Alltag vieler Bürger, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sind die Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) nicht wegzudenken. Dennoch machen sich nur wenige Gedanken über den rechtlichen Status der schätzungsweise 25.000 DRK-Schwestern.1 Das verwundert nicht weiter, ist die im Krankenhaus tätige DRK-Schwester doch meist nicht von anderen Krankenschwestern zu unterscheiden. Ihr Rechtsstatus birgt allerdings Besonderheiten in sich. DRK-Schwestern wurden bisher nicht als Arbeitnehmer, sondern bloß als Vereinsmitglieder ihrer „Schwesternschaft“ gesehen. Infolgedessen blieb ihnen arbeitsrechtlicher Schutz verwehrt. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat demgegenüber in einer neueren Entscheidung DRK-Schwestern als Leiharbeitnehmerinnen eingestuft. Angesichts dieser Entwicklung entfaltet die Frage nach der Arbeitnehmereigenschaft von DRK-Schwestern aktuell Relevanz; persönlich für jede einzelne Schwester und strukturell für das Geschäftsmodell der Schwesternschaften im Ganzen.

B. DRK-Schwestern als Arbeitnehmer

I. „Schwesternschaften“

1. Organisation in Schwesternschaften

Die Schwesternschaften des DRK sind eingetragene Vereine i.S.d. §§ 21 ff. BGB.2 Nach eigener Darstellung verfolgen die Schwesternschaften gemeinnützige und mildtätige Zwecke (z.B. Hilfeleistung für Menschen in Not)3 und werden selbstlos tätig (verfolgen also nicht primär eigenwirtschaftliche Zwecke).4 Vereinsorgane einer Schwesternschaft sind der Beirat, die Mitgliederversammlung und der Vorstand.5

2. Stellung und Tätigkeit der Schwestern

Jede Schwester ist Mitglied einer Schwesternschaft.6 Nach Ablauf einer einjährigen Einführungszeit7 kann ein Mitglied nur noch aus der Schwesternschaft ausgeschlossen werden, wenn ein wichtiger Grund vorliegt.8 Die Schwestern werden in vereinseigenen oder externen Einrichtungen tätig. In externen Einrichtungen erfolgt die Tätigkeit auf Grundlage von „Gestellungsverträgen“.9 Beide Einsatzarten begründen laut Satzung kein Arbeits- oder Dienstverhältnis.10 Die Rechte und Pflichten der Mitglieder sollen sich nur nach der Satzung und Mitgliederordnung richten.11 Die Mitglieder müssen ihre volle Arbeitskraft zur Verfügung stellen und dürfen neben der Schwesternschaft nicht hauptberuflich tätig sein.12 Wird eine Schwester einer Einrichtung überlassen, unterliegt sie den fachlichen und organisatorischen Weisungen der dort zuständigen Stellen.13 Für die Verrichtung der Tätigkeit erhält das Mitglied eine Vergütung und hat Anspruch auf Erholungsurlaub. Absichernde Regelungen für den Fall einer durch Unfall oder Krankheit verursachten Arbeitsunfähigkeit sind in der Mitgliederordnung vorgesehen.14 Die Satzung gewährt den Mitgliedern Stimmrechte in der Mitgliederversammlung, die je nach Status des Mitglieds (ordentlich, außerordentlich, in Ausbildung) variieren.15 Zudem können sich Mitglieder der Schwesternschaft in den Beirat wählen lassen.16

II. Vereinsmitglied oder Arbeitnehmer?

Auf den ersten Blick erscheint das Geschäftsmodell der Schwesternschaften befremdlich. Angesichts der Ausgestaltung des mitgliedschaftlichen Verhältnisses stellt sich die Frage, ob nicht ein Arbeitsverhältnis zwischen der Schwesternschaft und der Schwester vorliegt. In diesem Fall wären DRK-Schwestern Arbeitnehmer und könnten von der Anwendung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften profitieren.17

1. Rechtsprechungsübersicht

In einer frühen Entscheidung (1956) verneinte das BAG den Arbeitnehmerstatus unter Hinweis auf den überwiegend karitativen Aspekt der Tätigkeit.18 1975 argumentierte das Gericht, neben der alle Rechte und Pflichten umfassenden Mitgliedschaft in der Schwesternschaft könne ein besonderes Arbeitsverhältnis schon „denkgesetzlich“ nicht bestehen.19 Mit gleichem Ergebnis urteilte das BAG auch 1995, jedoch unter abweichender Begründung. Als maßgeblich erachtete das Gericht, dass zwischen Schwester und Schwesternschaft


* Der Autor ist Student der Bucerius Law School, Hamburg.

1 Rotkreuzschwestern.de, Verband der Schwesternschaften vom DRK e.V., https://bit.ly/2qYkMUY, zuletzt abgerufen am 23.04.18.

2 Vgl. Württembergische Schwesternschaft vom Roten Kreuz e.V. (WSSRK), Satzung, § 1 I, https://bit.ly/2Hre2t9, zuletzt abgerufen am 23.04.18; näher zum Verein Koch, Gesellschaftsrecht10, 2017, § 26 Rn. 2.

3 WSSRK (Fn. 2), § 3.

4 Vgl. WSSRK (Fn. 2), § 2.

5 Vgl. WSSRK (Fn. 2), § 9.

6 Vgl. WSSRK (Fn. 2), § 4 ff.

7 WSSRK (Fn. 2), § 6 I.

8 Vgl. WSSRK (Fn. 2), § 8 I 1.

9 Näher Kortstock, in: Kortstock (Hrsg.), Nipperdey Lexikon Arbeitsrecht30, 2016, Gestellungsvertrag.

10 Schwesternschaften des DRK, Mitgliederordnung, Art. 2 Nr. 2, https://bit.ly/2Jq2brE, zuletzt abgerufen am 23.04.17.

11 WSSRK (Fn. 2), § 4 II; vgl. auch Schwesternschaften vom DRK (Fn. 10), Präambel.

12 WSSRK (Fn. 2), § 7 I.

13 Mestwerdt, NZA 2014, 281, 282.

14 Schwesternschaften vom DRK (Fn. 10), Art. 2.

15 WSSRK (Fn. 2), § 12.

16 WSSRK (Fn. 2), § 25.

17 Schöne, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht1, 2016, § 611 BGB Rn. 50; Müller-Glöge, in: Säcker u.a. (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch7, 2016, § 611 Rn. 165; zu weiteren Folgen instruktiv Preis, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht18, 2018, § 611a BGB Rn. 50 ff.

18 Vgl. BAG, Beschluss v. 19.02.1956 – 2 AZR 294/54 (juris) Rn. 6.

19 BAG, Beschluss v. 03.06.1975 – 1 ABR 98/74 (juris) Rn. 21.

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kein privatrechtlicher Vertrag besteht. Rechtsgrundlage des Verhältnisses sei nur die Mitgliedschaft im Verein. Die von den Schwestern in persönlicher Abhängigkeit geleisteten Dienste seien der Mitgliedsbeitrag i.S.v. § 58 Nr. 2 BGB.20 Wenn aber DRK-Schwestern nur aufgrund der Vereinssatzung zur Leistung von Arbeit verpflichtet sind, dürfe dies nicht dazu führen, dass zwingende arbeitsrechtliche Schutzvorschriften umgangen werden.21 Eine solche Umgehung verneinte das BAG angesichts der Mitgliedschaftsrechte der Schwestern. Die Schwester könne die „Geschicke des Vereines“ und die Arbeitsorganisation beeinflussen.22 Diese Ansicht hat das BAG im Wesentlichen auch in späteren Entscheidungen beibehalten.23

2. Stellungnahme zur Rechtsprechung

Die Linie der Rechtsprechung weicht im Ergebnis nicht voneinander ab. Die Argumentation des Gerichts vollzieht jedoch ab der ersten Entscheidung einen erheblichen Wandel.24 Wohingegen anfangs der karitative Aspekt im Vordergrund stand, fokussiert sich das BAG nunmehr auf die Rechtsgrundlage der Leistung. Hinsichtlich der Rechtsgrundlage baut die Entscheidungsfindung des Gerichts auf zwei Grundannahmen auf: Erstens sei das Verhältnis zwischen DRK-Schwester und Schwesternschaft nicht arbeits-, sondern vereinsrechtlicher Natur. Weiter würden durch die in der Satzung vorgesehenen Rechte und Pflichten der Schwestern keine zwingenden arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften umgangen.

a) Vereins- oder Arbeitsrecht

Bei der Bestimmung der Arbeitnehmereigenschaft von DRK-Schwestern handelt es sich um eine Frage der Abgrenzung zwischen Vereins- und Arbeitsrecht. Dienstleistungen werden zwar üblicherweise auf Grundlage eines Arbeitsvertrages erbracht, können aber auch den Mitgliedsbeitrag eines Vereins i.S.v. § 58 II darstellen.25 Eine Kollisionslage zwischen beiden Rechtsgebieten entsteht, wenn die Tätigkeit der DRK-Schwestern äußerlich einem gelebten Arbeitsverhältnis ähnelt.26 Zunächst ist zu klären, wie die Abgrenzung vorzunehmen ist.

aa) Auflösung der Kollision von Vereins- und Arbeitsrecht

Zwischen dem Arbeits- und dem Vereinsrecht gibt es kein pauschales Vorrangverhältnis.27 Um die bestehende Kollisionslage aufzulösen, könnte man zunächst mit dem BAG eine Umgehung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften prüfen.28 Demgegenüber ließe sich ebenso der klassische Arbeitnehmerbegriff heranziehen,29 mithin wäre die tatsächliche Erscheinungsform maßgeblich.30 Es bietet sich an, beide Ansätze zu kombinieren. Im Folgenden wird auf erster Stufe geprüft, ob DRK-Schwestern potentiell „Arbeitnehmer“ i.S.v. § 611a BGB sind. In einem zweiten Schritt werden das arbeits- und das vereinsrechtliche Schutzniveau verglichen. Unter Berücksichtigung der Vereinsautonomie ist der vereinsrechtlichen Rechtsgrundlage Vorrang zu gewähren, wenn keine Umgehung zwingender arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften vorliegt.31

bb) Tatsächliche Erscheinungsform

Gemäß § 611a I S. 1 BGB wird der Arbeitnehmer durch den Arbeitsvertrag im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet.32 Eine DRK-Schwester wird im Rahmen eines Gestellungsvertrages weisungsgebunden und fremdbestimmt tätig und ist persönlich abhängig. Fraglich ist nur, ob der Leistungserbringung ein Arbeitsvertrag zugrunde liegt. Der Arbeitsvertrag ist ein gegenseitiger Vertrag auf privatrechtlicher Grundlage, der den Arbeitnehmer zur Leistung von Arbeit und den Arbeitgeber zur Zahlung der vereinbarten Vergütung verpflichtet.33 Das BAG umgeht die Frage, ob ein privatrechtlicher Vertrag vorliegt, indem es diesen Schritt „überspringt“ und sogleich die Umgehung möglicher Schutzvorschriften prüft. Als Rechtsgrundlage kommt der Beitrittsvertrag zwischen neuem Mitglied und Verein in Betracht.34 Der Beitrittsvertrag müsste dem Wesen des Arbeitsvertrages entsprechen, also auf einen Austausch von Arbeit und Vergütung gerichtet sein. Dem ersten Anschein nach regelt der Beitrittsvertrag nur die Begründung der Mitgliedschaft. Im Rahmen der Aufnahme unterschreibt allerdings jede Schwester das Folgende:

„Ich erkenne hiermit (…) die Satzung, die Mitgliederordnung (…) als für mich verbindlich an (…).“35


20 Vgl. BAG, Beschluss v. 06.07.1995 – 5 AZB 9/93 (juris) Rn. 25 f.

21 BAG, Beschluss v. 06.07.1995 – 5 AZB 9/93 (juris) Rn. 27.

22 BAG, Beschluss v. 06.07.1995 – 5 AZB 9/93 (juris) Rn. 28.

23 BAG, Beschluss v. 20.02.1986 – 6 ABR 5/85 (juris) Rn. 17; BAG, EuGH-Vorlage v. 17.03.2015 – 1 ABR 62/12 (A) (juris).

24 Diller, Anmerkung zu AP ArbGG 1979 § 5, Nr. 22.

25 BAG, Beschluss v. 03.06.1975 – 1 ABR 98/74 (juris) Rn. 21; BAG, Beschluss v. 06.07.1995 – 5 AZB 9/93 (juris) Rn. 25; Preis, in: Erfurter Kommentar (Fn. 17), § 611a BGB Rn. 141 f.; Wank/Maties, NZA 2007, 353, 355; Diller, Anmerkung zu AP ArbGG 1979 § 5, Nr. 22.

26 Vgl. Wank/Maties, NZA 2007, 353, 355.

27 Vgl. Maties, in: Benecke (Hrsg.), beck-online Großkommentar, 2017, § 611 BGB Rn. 48; Wank/Maties, NZA 2007, 353, 355.

28 Kritisch Diller, Anmerkung zu AP ArbGG 1979 § 5, Nr. 22; vgl. auch Diller, Gesellschafter und Gesellschaftsorgane als Arbeitnehmer, 1994, S. 386 ff.

29 Diller, Anmerkung zu AP ArbGG 1979 § 5, Nr. 22.

30 Wank/Maties, NZA 2007, 353, 356.

31 Wank/Maties, NZA 2007, 353, 356; vgl. ferner zur Vereinsautonomie Schöpflin, in: Bamberger u.a. (Hrsg.), Beck’scher Onlinekommentar45, 2017, § 21 BGB Rn. 55; vgl. Waldner/Wörle-Himmel, in: Sauter/Schweyer/Waldner, Der eingetragene Verein20, 2016, Rn. 39.

32 § 611a BGB weicht insoweit nicht ersichtlich von der bisherigen Rechtsprechung ab, st. Rspr. vgl. BAG, Beschluss v. 21.02.2017 – 1 ABR 62/12 (juris) Rn. 26; BAG, Beschluss v. 17.09.2014 – 10 AZB 43/14 (juris) Rn. 18; vgl. BAG, Beschluss v. 06.07.1995 – 5 AZB 9/93 (juris) Rn. 16; vgl. BAG, Beschluss v. 03.06.1975 – 1 ABR 98/74 (juris) Rn. 14; vgl. BT-Drs. 18/10064, S. 4; vgl. auch BT-Drs. 18/9232, S. 31; Weidenkaff, in: Palandt77, 2017, § 611a BGB Rn. 2; Wank, AuR 2017, 140, 141.

33 Schöne, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau (Fn. 17), § 611 BGB Rn. 1; Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht (Fn. 17), § 611a BGB Rn. 1.

34 BAG, Beschluss v. 21.02.2017 – 1 ABR 62/12 (juris) Rn. 32; BGH, Urteil v. 29.06.1987 – II ZR 295/86 (juris) Rn. 7; Dörner, in Schulze u.a. (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch9, 2017, § 39 Rn. 2; Arnold, in: MüKo BGB7, 2015, § 38 Rn. 57.

35 Vgl. Schwesternschaften vom DRK (Fn. 10), Unterschriftenformular.

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Sieht man darin eine Bezugnahmevereinbarung, könnte ein Arbeitsvertrag durch Streichung der Leistungspflicht nachträglich entfallen.36 Vorzugswürdig ist deshalb anzunehmen, dass mittelbar eine Tätigkeitspflicht der Schwestern vereinbart wird.37 Die Schwestern müssten den Beitrittsvertrag auch im Hinblick auf die Gegenseitigkeit von Leistung und Vergütung abgeschlossen haben. Dies ist durch Auslegung zu ermitteln, wobei insbesondere der Zweck des Vertrages zu berücksichtigen ist.38 Der Wandel der Rechtsprechung verdeutlicht, dass das karitative Element der schwesterlichen Tätigkeit nicht mehr entscheidend ist. DRK-Schwestern werden nach den „für die jeweilige Tätigkeit üblichen Kriterien“ vergütet.39 Demnach entspricht die Höhe der Vergütung dem Einkommen eines Arbeitnehmers. Weiterhin fällt in einer Gesamtschau von Satzung und Mitgliederordnung ein starker Fokus auf die Tätigkeitspflichten und die korrespondierenden Vergütungsansprüche auf. Schwestern treten damit der Schwesternschaft bei, um eine Tätigkeit zu verrichten und so einen Anspruch auf Vergütung zu erhalten.40 Es handelt sich um einen echten Erwerbsberuf.41

cc) Umgehung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften

Der Beitrittsvertrag kann als Arbeitsvertrag ausgelegt werden (s.o.). Dennoch hätte das Vereinsrecht Vorrang, wenn keine arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften umgangen werden.42 Nach der Rechtsprechung des BAG liegt eine Gesetzesumgehung vor, wenn der Zweck einer zwingenden Regelung dadurch vereitelt wird, dass missbräuchlich (d.h. ohne sachlich berechtigten Grund) andere rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten verwendet werden.43 Folglich ist zu prüfen, ob durch den Ausschluss eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses in der Vereinssatzung44 der Zweck zwingender arbeitsrechtlicher Rechtsnormen vereitelt wird. Wird durch die vereinsrechtliche Grundlage ein vergleichbares Schutzniveau hergestellt, unterliegt die Wahl der rechtlichen Grundlage der Schwesternschaft.45

(1) Bestandsschutz

In Betracht kommt zunächst eine Umgehung des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes. Bestandsschutz wird im Arbeitsrecht durch den Kündigungsschutz gewährleistet, der dem Erhalt des Arbeitsplatzes46 und damit der Einnahmequelle des Arbeitnehmers dient.47

(1) Zusammenspiel von Einführungszeit und Kündigungsgrund

DRK-Schwestern müssen eine einjährige Einführungszeit durchlaufen und können danach nur noch bei Vorliegen eines wichtigen Grundes aus der Schwesternschaft ausgeschlossen werden. Das BAG wertet das Erfordernis eines wichtigen Grundes im Rahmen der Umgehungsprüfung positiv.48 Auf den ersten Blick trifft die Annahme des Gerichts zu, denn nach dem Wortlaut von § 1 KSchG rechtfertigen schon „Gründe“ in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers die Kündigung. Dabei verkennt das Gericht jedoch, dass die Länge der satzungsmäßigen Einführungszeit (ein Jahr) von der gesetzlich vorgesehenen Wartezeit49 von 6 Monaten negativ abweicht.50 Durch die 6 Monate längere Wartefrist werden die Schwestern schlechtergestellt.51 An dieser Stelle lässt sich jedoch eine sachliche Rechtfertigung andenken. So ist die DRK-Schwester zwar zunächst einer längeren Einführungszeit ausgeliefert, „profitiert“ dafür aber von einer potentiell lebenslangen Mitgliedschaft in der Schwesternschaft. Nach der Einführungszeit ist ein der ordentlichen Kündigung gleichstehendes Instrument nicht vorgesehen.52 Eine „Kompensation“ der Schlechterstellung wäre aber nur denkbar, wenn die lebenslange Mitgliedschaft auch unter Erhalt der Vergütung garantiert ist.

(b) Lebenslange Mitgliedschaft unter Wegfall der Vergütung?

Angesichts des Zwecks des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes hätte die lebenslange Mitgliedschaft im Vergleich nur Gewicht, wenn auch lebenslang die Einnahmequelle bestehen bliebe. Das ist fraglich, weil von der Vergütung unter anderem „inaktive“ Mitglieder ausgenommen sind:

„Mitglieder, die ohne Wechsel in den Ruhestand oder ohne Wahrnehmung der Elternzeit mehr als sechs Monate nicht mehr für die Schwesternschaft tätig sind und die auch sonst ihren Beruf nicht mehr ausüben, (…) werden inaktives Mitglied.“53

Somit haben Schwestern, die als „inaktives Mitglied“ gelten, keinen Vergütungsanspruch. Der Zweck des Bestandsschutzes ist dabei in Fällen betroffen, in denen das Verschulden für die ausgebliebene Tätigkeit der Schwester auf Seiten der Schwesternschaft (also vergleichbar auf „Arbeitgeberseite“) liegt.54 Weber bezweifelt das realistische Auftreten dieser


36 Weber, Ist die Rotkreuzschwester Arbeitnehmerin ihrer Schwesternschaft?, 2009, S. 39.

37 Wie vorstehend Weber (Fn. 36), S. 39 f.

38 Schöne, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau (Fn. 17), § 611 BGB Rn. 150; vgl. zur fehlenden Erwerbsabsicht BAG, Urteil v. 29.08.2012 – 10 AZR 499/11 (juris) Rn. 16.

39 Schwesternschaften vom DRK (Fn. 10), Art. 2, Nr. 3 lit. a).

40 Ähnlich auch Mestwerdt, NZA 2014, 281, 283.

41 Siehe zum religiösen/karitativen Charakter Trümner, in: Däubler/Kittner/Klebe/Wedde (Hrsg.), Betriebsverfassungsgesetz15, 2016, § 5 Rn. 182; Mestwerdt, NZA 2014, 281, 283; a.A. Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht (Fn. 17), § 611a BGB Rn. 142; Weidenkaff, in: Palandt (Fn. 32), Einf. v. § 611 BGB Rn. 7.

42 BAG, Beschluss v. 06.07.1995 – 5 AZB 9/93 (juris) Rn. 27; vgl. zum arbeitsrechtlichen Rechtsformzwang Diller (Fn. 28), S. 390; vgl. Wank/Maties, NZA 2007, 353, 356.

43 BAG, Beschluss v. 06.07.1995 – 5 AZB 9/93 (juris) Rn. 27; vgl. BAG, Urteil v. 19.08.1981 – 7 AZR 252/79 (juris) Rn. 13.

44 WSSRK (Fn. 2), § 7 II.

45 Nachfolgender Aufbau orientiert sich teilweise an den von Wank/Maties, NZA 2007, 353, 356, unter Rückgriff auf Krause, Mitarbeit in Unternehmen, 2002, S. 416 ff. aufgestellten Kriterien.

46 Näher zum Zweck des KSchG Vossen, in: Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht5, 2017, § 1 Rn. 1.

47 Wank/Maties, NZA 2007, 353, 357.

48 BAG, Beschluss v. 06.07.1995 – 5 AZB 9/93 (juris) Rn. 28.

49 Zum Begriff der „Wartezeit“ Vossen, in: Ascheid/Preis/Schmidt (Fn. 46), § 1 Rn. 22.

50 Wie vorgehend Mestwerdt, NZA 2014, 281, 283 f.

51 Vgl. zur Zulässigkeit einer Verlängerung der Wartefrist Vossen, in: Ascheid/Preis/Schmidt (Fn. 46), § 1 Rn. 23.

52 So auch Weber (Fn. 36), S. 206 f.

53 Schwesternschaften vom DRK (Fn. 10), Art. 2 Nr. 3 lit. a) i.V.m. WSSRK (Fn. 2), § 4 VIII.

54 Zum Vorstehenden Weber (Fn. 36), S. 208 m.w.N.

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Situation und verweist auf das weite Netzwerk der Schwesternschaften, zwischen denen ein Mitgliederaustausch möglich sei. Zudem stützt sie sich darauf, dass die Schwester „auch sonst ihren Beruf nicht mehr ausübt“, bevor sie als inaktiv eingestuft wird. Dieser Nebensatz enthalte laut Weber die Prognose, dass die Schwester nicht mehr bereit oder in der Lage ist, ihren Beruf auszuüben. Sei die Schwester aber weiterhin willig, ihren Beruf auszuüben, entfalle die Vergütung im Umkehrschluss nicht.55 Dieser Sichtweise ist nicht zu folgen. Ein „Überschuss“ an Schwestern, die nicht eingesetzt werden können, ist angesichts der Größe der Organisation jederzeit möglich. Zudem sind die Schwesternschaften hauptsächlich von externen Einrichtungen abhängig. Findet sich kein Kooperationspartner für Gestellungsverträge, kann die Schwesternschaft einen Großteil der Schwestern nicht einsetzen.56 Auch der von Weber bemühte Wortlaut bietet keinen Anhaltspunkt. Auf einen „Willen“ der betroffenen Schwester kommt es nach der Satzung nicht an. Darüber hinaus entfaltet der Nebensatz schon keine eigene Relevanz, da die Satzung selbst eine hauptberufliche Tätigkeit neben der Tätigkeit für die Schwesternschaft untersagt.

(2) Einflussnahme

Arbeitnehmer können in ihrem Betrieb auf ihre tägliche Arbeitssituation Einfluss nehmen.57 Die Arbeitnehmer wählen einen Betriebsrat (vgl. § 1 BetrVG), der als kollektive Interessenvertretung wirkt und den einzelnen Arbeitnehmer an den ihn berührenden betrieblichen Abläufen teilhaben lässt.58 Der Betriebsrat ist mit abgestufter Intensität in sozialen Angelegenheiten, bei der Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung, in personellen Angelegenheiten und in wirtschaftlichen Angelegenheiten zu beteiligen.59 Die Satzung einer Schwesternschaft sieht keinen Betriebsrat vor. Nach Auffassung des BAG verfügen DRK-Schwestern dennoch über Mitgliedschaftsrechte, durch die sie die „Geschicke des Vereins und damit zugleich die Arbeitsorganisation beeinflussen können“.60 Im Folgenden ist zu erörtern, ob eine DRK-Schwester die Möglichkeit hat, in ihrer Schwesternschaft vergleichbar einem Arbeitnehmer Einfluss zu nehmen.61

(a) Schwesternbeirat

Aus struktureller Sicht kommt der Beirat dem Betriebsrat am nächsten. Ob der von den Schwestern gewählte Beirat62 den fehlenden Betriebsrat ersetzen kann, ist zweifelhaft. Der Beirat erfüllt eine vermittelnde Funktion im Gefüge der Schwesternschaft. Er soll die Bindung zwischen Mitglied und Vorstand verstärken und gibt dem Vorstand Empfehlungen in den Angelegenheiten der Mitglieder. Weiterhin ist er vor personellen Entscheidungen anzuhören und wirkt als Ansprechpartner für die Mitglieder. Allerdings besitzt der Beirat ausweislich des Satzungswortlauts nur „weich“ gestaltete Befugnisse: „gibt (…) Empfehlungen“, „sind Ansprechpartnerinnen“, „unterstützen“.63 Der Beirat hat keine echten Mitbestimmungsrechte, sondern erfüllt eine passiv beratende Funktion. Demgegenüber stehen die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates gemäß § 87 I BetrVG. Soweit in den dort geregelten Angelegenheiten keine gesetzliche oder tarifliche Regelung besteht, ist die Zustimmung des Betriebsrates erforderlich.64 Für sich genommen gewährleistet der Beirat keine ausreichende Einflussnahme durch die Schwestern.65

(b) Andere Möglichkeiten der Einflussnahme im Verein

DRK-Schwestern haben Einflussrechte, die über die Befugnisse des Schwesternbeirats hinausgehen. Zunächst hat jedes Mitglied ein Stimmrecht in der Mitgliederversammlung. Je gewichtiger die Aufgaben der Mitgliederversammlung sind, desto werthaltiger ist das Stimmrecht der Schwestern. Die Tätigkeit der Mitgliederversammlung lässt sich in passive und aktive Aufgaben einteilen. Passiv nimmt die Mitgliederversammlung Berichte verschiedener Vereinsorgane entgegen, aktiv übt sie diverse Beschluss- und Wahlrechte aus. Die Entlastung des Vorstands bringt eine wichtige Position in haftungsrechtlichen Fragen mit sich.66 Zudem regelt die Mitgliederversammlung die finanzielle Situation des Vereins, indem sie über die Wirtschaftsplanung für das Folgejahr Beschluss fasst. Vergleichsweise bedeutend ist außerdem das Recht, die Mitglieder des Vorstands (darin inbegriffen die Oberin) zu wählen. Die Machtverhältnisse innerhalb der Schwesternschaft konzentrieren sich maßgeblich auf den Vorstand. Er leitet die Schwesternschaft, führt deren Geschäfte und vertritt die Schwesternschaft nach außen.67 Durch ihr Wahlrecht können die Schwestern also mittelbar auf die Geschäftsführung und Leitung einwirken. In der Mitgliederversammlung werden weiterhin die Höhe des Mitglieds- bzw. des Gemeinschaftskostenbeitrages festgelegt.68 Letztlich kann die Mitgliederversammlung eine Satzungsänderung vornehmen und die Auflösung/ Umwandlung der Schwesternschaft beschließen. Über eine Änderung der Satzung können etwa die Verwendung der Vereinsmittel69 und die Rechte und Pflichten der Mitglieder beeinflusst werden.


55 Weber (Fn. 36), S. 208 f.

56 Diese Einschätzung wird bekräftigt durch aktuelle Presseberichterstattung, vgl. frontal21, „Rotkreuzschwestern ausgebeutet – Missbrauch bei der Leiharbeit, S. 1, https://bit.ly/2KmIIto, zuletzt abgerufen am 25.04.18.

57 Weber (Fn. 36), S. 215 stellt zutreffend fest, dass die Anwendbarkeit des MitbestG hohe Anforderungen stellt, die von einer Schwesternschaft regelmäßig nicht erfüllt sind.

58 Vgl. Koch, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht18, 2018, § 1 BetrVG Rn. 1.

59 Wie vorstehend Weber, Rotkreuzschwester, S. 213 ff.

60 BAG, Beschluss v. 06.07.1995 – 5 AZB 9/93 (juris) Rn. 28; BAG, Beschluss v. 03.06.1975 – 1 ABR 98/74 (juris) Rn. 27.

61 Ähnlich Krause (Fn. 45), S. 422 m.w.N.; Wank/Maties, NZA 2007, 353, 357.

62 WSSRK (Fn. 2), § 25.

63 Siehe zu Aufgaben und Befugnissen des Beirats WSSRK (Fn. 2), § 24.

64 Richardi, in: Richardi (Hrsg.), Betriebsverfassungsgesetz15, 2016, § 87 Rn. 54.

65 So Weber (Fn. 36), S. 216; ähnlich Mestwerdt, NZA 2014, 281, 283, der angesichts der Anwesenheit der Oberin in der Mitgliederversammlung die „unbeeinflusste Wahrnehmung der Interessen der Mitglieder“ bezweifelt.

66 Zur Wirkung der Entlastung Waldner/Wörle-Himmel, in: Sauter/Schweyer/Waldner (Fn. 31), Rn. 289.

67 WSSRK (Fn. 2), § 20.

68 WSSRK (Fn. 2), § 7 IV.

69 WSSRK (Fn. 2), § 2.

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(c) Kompensation des fehlenden Betriebsrats?

DRK-Schwestern können das Vereinsgefüge somit in finanzieller und organisatorischer Hinsicht beeinflussen. Ob die Rechte der Mitbestimmung aber ausreichen, den fehlenden Betriebsrat zu kompensieren, ist zweifelhaft. Einerseits besteht in der Theorie die Möglichkeit, durch Wahlrechte den Vorstand zu lenken. Auch könnte der Befugnis, die Satzung zu ändern, eine erhebliche Bedeutung für die einzelne Schwester zukommen. Andererseits relativiert eine nähere Betrachtung die scheinbar einflussreichen Mitbestimmungsrechte einer Schwester. Die Stimmrechte in der Mitgliederversammlung sind vom jeweiligen Status der Schwestern abhängig. Je nachdem, ob die Schwester ordentliches, außerordentliches oder auszubildendes Mitglied ist, variiert die Stärke des Stimmrechts. Zudem müssen die Wahlrechte unter Berücksichtigung der Vereinsgröße und eventueller Mehrheitserfordernisse betrachtet werden.70 Soweit das BAG pauschal auf die Wahlrechte verweist, folgt daraus nicht zwingend eine effektive Einflussmöglichkeit des Mitglieds. Wahlrechte ermöglichen nur eine mittelbare, zeitlich nachgeschaltete Kontrolle des Vorstands. Auf die aktuelle Geschäftsführung des Vorstands kann eine Schwester hingegen nicht einwirken.71 Einflussreich erscheint letztlich das Recht der Satzungsänderung. Da die Satzung die Rechte und Pflichten der Mitglieder festlegt, könnte man annehmen, dass die Schwestern den Inhalt ihrer Leistungspflichten faktisch selbst bestimmen. Dabei würde allerdings vernachlässigt, dass hauptsächlich die Mitgliederordnung detaillierte Bestimmungen zur beruflichen Tätigkeit beinhaltet. Die Mitgliederordnung wird aber nicht von der Schwesternschaft selbst, sondern vom Verband der Schwesternschaften beschlossen.72 Ungeachtet dessen wird die Satzungsänderung selbst durch hohe bürokratische Hürden erschwert. Will die Mitgliederversammlung eine Satzungsänderung oder eine Umwandlung der Schwesternschaft vornehmen, ist eine ¾ Mehrheit erforderlich.73 Außerdem bedürfen Änderungen oder Ergänzungen der Satzung der Zustimmung des Verbandes der Schwesternschaften. Auch wenn man den Rechten der Schwestern im Vergleich einen höheren Stellenwert zumisst, muss die unterschiedliche Schutzrichtung der Betriebsratstätigkeit beachtet werden. Zentrale Beschäftigungspunkte eines Betriebsrats sind die tägliche Arbeitssituation der Arbeitnehmer und die soziale Situation innerhalb des Betriebs. Diese Bereiche unterliegen in der Vereinsstruktur der Schwesternschaften aber der Geschäftsführung bzw. dem Verband der Schwesternschaften.74 Die Schwestern können zwar über finanzielle und organisatorische Aspekte des Vereins mitbestimmen, auf ihre eigenen Arbeitsbedingungen haben sie aber nahezu keinen Einfluss.75

b) Zwischenfazit

Eine Umgehung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften liegt vor.76 DRK-Schwestern sind als Arbeitnehmer i.S.d. allgemeinen Arbeitnehmerbegriffs einzustufen.

3. Europäischer Einfluss – DRK-Schwestern als Leiharbeitnehmer?

Arbeitnehmer werden zusätzlich durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) geschützt.77 Eine Arbeitnehmerüberlassung (ANÜ) liegt gemäß § 1 I S. 1 AÜG vor, wenn ein Arbeitgeber als Verleiher einem Dritten (Entleiher) Arbeitnehmer (Leiharbeitnehmer) im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit überlässt. Schwesternschaften des DRK überlassen ihre Mitglieder externen Einrichtungen auf Grundlage von Gestellungsverträgen. Äußerlich ist das Geschäftsmodell der Schwesternschaften somit kaum von der ANÜ zu unterscheiden.78 Geht man mit dem BAG (entgegen der oben geäußerten Kritik) davon aus, dass DRK-Schwestern keine Arbeitnehmer sind, wäre das AÜG nur anwendbar, wenn der Arbeitnehmerbegriff des AÜG von § 611a I S. 1 BGB abweicht.79

a) Arbeitnehmerbegriff und Anwendungsbereich des AÜG

Eine etwaige Abweichung vom Arbeitnehmerbegriff des § 611a I S. 1 BGB ergibt sich vor dem historischen Hintergrund des AÜG. Das AÜG dient der Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie (Richtlinie 2008/104/EG80 ). Nationale Normen des AÜG sind deswegen im europäischen Licht auszulegen.81 Im Bereich des sekundären Unionsrechts, wie vorliegend der Leiharbeitsrichtlinie, kann sich der Arbeitnehmerbegriff vom klassischen deutschen Verständnis unterscheiden.82 Wird Arbeitsschutzrecht durch Richtlinien gewährleistet, bestimmt sich der Arbeitnehmerbegriff im Regelfall durch Verweis auf das nationale Recht.83 Gleiches gilt angesichts des Wortlauts von Art. 3 I lit. a) RL104 auch für die Leiharbeitsrichtlinie. Demnach ist Arbeitnehmer, wer im jeweiligen Mitgliedsstaat nach dem nationalen Arbeitsrecht als Arbeitnehmer geschützt ist.84


70 Krause (Fn. 45), S. 424.

71 Vgl. Weber (Fn. 36), S. 220.

72 Weber (Fn. 36), S. 222 f.

73 Vgl. WSSRK (Fn. 2), § 14 I Nr. 2.

74 Weber (Fn. 36), S. 222, bezeichnet die Situation als „paradox“, wertet die Kompetenzen der Mitgliederversammlung aber insgesamt stärker.

75 Siehe hierzu mit abweichendem Gesamtergebnis nach Interessenabwägung Weber (Fn. 36), S. 219 ff; Mestwerdt, NZA 2014, 281, 283, kritisiert zudem die fehlende Möglichkeit koalitionsmäßiger Betätigung.

76 So im Ergebnis auch Schmitt, Zesar 2017, 167, 170.

77 Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe im Europäischen Arbeitsrecht, 2010, S. 252 f.

78 So Mestwerdt, NZA 2014, 281, 284.

79 Das Folgende basiert mit dem BAG auf der Prämisse, dass DRK-Schwestern keine Arbeitnehmer sind.

80 Im Folgenden RL104.

81 Kock, in: Rolfs u.a. (Hrsg.), Beck’scher Onlinekommentar AÜG47, 2018, § 1 AÜG Rn. 6; Ulrici, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht1, 2016, § 1 AÜG Rn. 2.

82 Gallner, FA 2015, 289; Siehe hierzu auch den Überblick von Ziegler (Fn. 76), S. 491 ff.

83 Vgl. Junker, EuZA 2016, 184, 186 f.; vgl. Ziegler (Fn. 76), S. 493 ff.

84 Schmitt, Zesar 2017, 167, 172; wohl im Ergebnis auch die bisherige Literatur, siehe Ziegler (Fn. 76), S. 260; Vgl. Wank, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht18, 2018, § 1 AÜG Rn. 5; Lorenz, in: Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath, Arbeitsrecht4, 2017, § 1 AÜG Rn. 9.

Sonner, Rote-Kreuz-Schwestern als Arbeitnehmer?60

b) Aktuelle Rechtsprechung

Anlässlich einer Vorlagefrage des BAG hat sich der EuGH mit dem persönlichen Anwendungsbereich des AÜG befasst.85 Das BAG hatte den Fall einer DRK-Schwester zu beurteilen, die in einem Krankenhaus auf Grundlage eines Gestellungsvertrages für unbestimmte Zeit tätig werden sollte. Der Betriebsrat verweigerte die Zustimmung zur Einstellung aufgrund eines Verstoßes gegen das AÜG.86 Im Rahmen des vom Krankenhaus eingeleiteten Zustimmungsersetzungsverfahrens war unklar, ob der Arbeitnehmerbegriff i.S.v. § 1 I S. 1 AÜG sich nach nationalem Recht richtet.87

Der EuGH konkretisierte daraufhin den Arbeitnehmerbegriff i.S.d. Leiharbeitsrichtlinie. Ausgehend von Art. 3 I lit. a) RL104 sei jede Person Arbeitnehmer, die eine Arbeitsleistung erbringt und in dieser Eigenschaft in dem betreffenden Mitgliedsstaat geschützt ist.88 Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses bestehe darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt und im Gegenzug eine Vergütung erhält.89 Unerheblich sei wiederum die rechtliche Einordnung des Verhältnisses nach nationalem Recht, die Art der Rechtsbeziehungen und die Ausgestaltung des Verhältnisses.90 Aus Art. 1 I und Art. 3 I lit. c) RL104 folge, dass man die Leiharbeitsrichtlinie auch auf Personen anwenden müsse, die in einem „Beschäftigungsverhältnis“ stehen.91 Deswegen könne man DRK-Schwestern nicht schon wegen des fehlenden Arbeitsvertrags vom Anwendungsbereich der Leiharbeitsrichtlinie ausnehmen.92 Der Hinweis in Art. 3 II RL104, dass nationales Recht in Bezug auf den Arbeitnehmerbegriff unberührt bleibt, sei unerheblich. Dieser solle den Mitgliedsstaaten nicht erlauben, den persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie selbst festzulegen.93 Mitgliedstaaten könnten sonst beliebig bestimmte Personengruppen aus dem Schutz der Richtlinie ausnehmen.94

Unter Berücksichtigung dieser Konkretisierung wies das BAG das Zustimmungsersetzungsgesuch nach unionsrechtskonformer Auslegung von § 1 I S. 1 AÜG a.F ab.95

c) Stellungnahme zur Rechtsprechung

aa) EuGH

Angesichts des Richtlinienwortlauts stellt sich die Frage, ob der EuGH zu Recht von einem euroautonomen Arbeitnehmerbegriff ausgegangen ist. Relevant ist diese Bewertung, da nach Rechtsprechung des BAG DRK-Schwestern keine Arbeitnehmer sind.

Praktisch gewährt der EuGH durch seine Entscheidung ein gewisses Maß an Rechtssicherheit bezüglich des Anwendungsbereichs des AÜG.96 Indem er aber in augenscheinlichem Widerspruch zum Richtlinienwortlaut an den europäischen Arbeitnehmerbegriff anknüpft, könnten Verweise auf das nationale Recht generell an Bedeutung verlieren. Richtlinien würden praktisch weniger berechenbar.97 Nach Ulrici hat jedoch der EuGH den Verweis nicht sehenden Auges vernachlässigt. Vielmehr habe das BAG die Vorlagefrage suggestiv verfasst, weswegen der EuGH sich auf formalistische Aspekte konzentriert und inhaltlichen Fragen nicht ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet hat.98

Im Ergebnis kann die Entscheidung aber überzeugen. Der Verweis auf nationales Recht ist in Anbetracht der Rechtsprechung des EuGH als bedingter Verweis unter Vorbehalt des Effet-utile zu verstehen.99 Auch wenn sich die Definition nach nationalem Recht richtet, wirkt das Unionsrecht begrenzend – die praktische Wirksamkeit der Richtlinie und der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts muss gewahrt werden.100 Ein Mitgliedsstaat darf ungeachtet des Charakters der Verweisung nicht unter Verletzung der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie nach seinem Belieben bestimmte Personalkategorien von dem durch die Richtlinie bezweckten Schutz ausnehmen.101 Der Ausschluss darf nur bei einem erheblichen Wesensunterschied des betreffenden Verhältnisses zum nationalen Arbeitsverhältnis erfolgen.102 Im Ergebnis lag es somit am BAG zu prüfen, ob DRK-Schwestern aufgrund ihrer Arbeitsleistung geschützt sind, was wiederum der Prüfung einer Rechtsumgehung entspricht.103

bb) BAG

Die Entscheidung des BAG ist im Hinblick auf den EuGH konsequent. Das BAG weicht nicht von seiner ständigen Rechtsprechung zu DRK-Schwestern ab.104 Im Rahmen der vorgegebenen Prüfung, ob DRK-Schwestern sich wesentlich von Arbeitnehmern unterscheiden, prüft das BAG den Schutz anhand eines selbst gebildeten Maßstabs (mit Verweis auf EuGH). Es genüge ein:

„Schutz (…), der dem eines Arbeitnehmers zumindest in Teilen entspricht oder gleichwertig ist, ohne mit diesem identisch sein zu müssen.“105

Die Schutzprüfung ähnelt dabei früheren Entscheidungen. Bezeichnend ist allerdings, dass das BAG den Schutz in „wesentlichen“ Bereichen bejaht, dabei aber ausdrücklich


85 BAG, EuGH-Vorlage v. 17.03.2015 – 1 ABR 62/12 (A) (juris).

86 BAG, EuGH-Vorlage v. 17.03.2015 – 1 ABR 62/12 (A) (juris), Rn. 5.

87 BAG, EuGH-Vorlage v. 17.03.2015 – 1 ABR 62/12 (A) (juris) Rn. 15.

88 EuGH, Urteil v. 17.11.2016 – C 216/15 (juris) Rn. 26.

89 Mit Verweis auf ständige Rechtsprechung, EuGH, Urteil v. 17.11.2016 – C 216/15 (juris) Rn. 27; EUGH, Urteil v. 11.11.2010, C-232/09 (juris) Rn. 39 m.w.N.

90 EuGH, Urteil v. 17.11.2016 – C 216/15 (juris) Rn. 29.

91 EuGH, Urteil v. 17.11.2016 – C 216/15 (juris) Rn. 28.

92 EuGH, Urteil v. 17.11.2016 – C 216/15 (juris) Rn. 29.

93 EuGH, Urteil v. 17.11.2016 – C 216/15 (juris) Rn. 31 f.

94 EuGH, Urteil v. 17.11.2016 – C 216/15 (juris) Rn. 37.

95 In der bis zum 31.03.2017 gültigen Fassung.

96 Hildebrand, ArbRB 2016, 354, 355.

97 Ulrici, Anmerkung 1 zu jurisPR-ArbR 1/2017; Hermann, ArbRAktuell 2017, 220; Hildebrand, ArbRB 2016, 354, 355.

98 Ulrici, Anmerkung 1 zu jurisPR-ArbR 1/2017; Ulrici, EuZW 2017, 68, 71.

99 Heuschmid/Hlava, AuR 2017, 121, 122 mit Verweis auf EuGH, Urteil v. 01.03.2012 – C-393/10 (juris) Rn. 34.

100 EuGH, Urteil v. 01.03.2012 – C-393/10 (juris) Rn. 36.

101 Mestwerdt, ArbAktuell 2017, 8, 9; EuGH, Urteil v. 01.03.2012 – C-393/10 (juris) Rn. 36.

102 EuGH, Urteil v. 01.03.2012 – C-393/10 (juris) Rn. 42.

103 Schmitt, Zesar 2017, 167, 173.

104 BAG, Beschluss v. 21.02.2017 – 1 ABR 62/12 (juris) Rn. 26.

105 BAG, Beschluss v. 21.02.2017 – 1 ABR 62/12 (juris) Rn. 39.

Sonner, Rote-Kreuz-Schwestern als Arbeitnehmer?61

auf die Prüfung der Einflussrechte verzichtet.106 Nach hier vertretener Ansicht stellt aber gerade der Bereich der Einflussnahme in der Schwesternschaft ein aus Sicht der einzelnen Schwester prägendes Recht dar. Auch bestehen in diesem Bereich erhebliche Zweifel, ob die DRK-Schwester gleich einem Arbeitnehmer geschützt ist (s.o.). Das BAG weicht einer erneuten Prüfung der Mitbestimmungsrechte wohlweislich aus. Insbesondere wegen der Einführung von § 611a BGB und angesichts der langen Zeitspanne zur letzten Umgehungsprüfung wäre eine erneute Prüfung jedoch angebracht gewesen.

III. Fazit

Die vereinsrechtliche Organisation der Schwesternschaften stellt DRK-Schwestern im Hinblick auf den Bestandsschutz und den Einfluss auf die eigenen Arbeitsbedingungen schlechter. Insoweit ist eine Umgehung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften anzunehmen.107 Entgegen der Auffassung des BAG sind DRK-Schwestern als Arbeitnehmer i.S.d. allgemeinen Arbeitnehmerbegriffs einzustufen. Die Ansicht des BAG hat dazu geführt, dass DRK-Schwestern jahrzehntelang trotz Ähnlichkeiten im Geschäftsmodell nicht in den Schutzbereich des AÜG einbezogen wurden. Die jüngst ergangene Entscheidung des BAG hebt diese lang praktizierte Sonderbehandlung auf. Zwar bleibt das BAG seiner ständigen Rechtsprechung treu, erklärt aber dennoch im Hinblick auf den EuGH das AÜG für anwendbar.

IV. Konsequenzen der Rechtsprechung

Angesichts der Regelungen zur Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten (§ 1 I S. 4 und I b AÜG) stand das bisherige Geschäftsmodell der Schwesternschaften vor dem Ende. Um dem entgegenzuwirken108 wurde mit Wirkung vom 25.07.2017 das DRK-Gesetz um § 2 IV ergänzt. Demnach gilt das AÜG mit der Maßgabe, dass § 1 I S. 4 und I b AÜG nicht anwendbar sind. Ob es jedoch europarechtskonform ist, die DRK-Schwestern entgegen dem EuGH-Urteil durch eine Ausnahmeregelung dem Schutzbereich des AÜG teilweise wieder zu entziehen, ist zu bezweifeln.109


106 BAG, Beschluss v. 21.02.2017 – 1 ABR 62/12 (juris) Rn. 48.

107 So im Ergebnis auch Schmitt, Zesar 2017, 167, 170.

108 Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Pressemitteilung, Einigung zum Erhalt der Schwesternschaften vom DRK, https://bit.ly/2wd2nHt, zuletzt abgerufen am 25.04.18.

109 So schon Schmitt, Zesar 2017, 167, 175; näher siehe m.w.N. Düwell, Anmerkung 1 zu jurisPR-ArbR 36/2017; Wank, EuZW 2018, 21, 30.