Regina Wigand*
A. Einleitung
Nur wenige Wochen nach Inkrafttreten der 9. GWB-Novelle1 berichtete der Spiegel über den womöglich größten Kartellfall der deutschen Industriegeschichte. Den fünf führenden Autoherstellern Audi, BMW, Daimler, Volkswagen und Porsche wird vorgeworfen, sich seit den 1990er Jahren kartellrechtswidrig über technische Normen abgestimmt zu haben.2 Aufgedeckt wurden die Absprachen infolge eines Kronzeugenantrags des Autokonzerns Daimler, der dem Mitkartellanten VW im Wettlauf zur Kartellbehörde zuvorgekommen war.
Der Fall verdeutlicht, welche Schlüsselrolle der Kronzeuge in der Kartellrechtsdurchsetzung einnimmt. Für eine effektive Verfolgung von geheimen Kartellverstößen sind die Kartellbehörden auf Hinweise kooperierender Kartellanten angewiesen, die die Behörde mit internen Informationen versorgen. Insofern verwundert es nicht, dass der Kronzeuge zuweilen sogar als „heilige Kuh des Kartellrechts“3 bezeichnet wird.
Im Gegenzug müssen dem Kronzeugen Anreize für seine Kooperation gesetzt werden – doch in welchem Umfang und zu wessen Lasten? Vor der 9. GWB-Novelle hatte man diesbezüglich allein auf eine öffentlich-rechtliche Privilegierung des Kronzeugen in Form von Bußgeldbefreiungen und -reduktionen gesetzt. Das allein reicht aber nicht: Denn durch seine Einlassung exponiert sich der Kronzeuge nicht nur im behördlichen Bußgeldverfahren, sondern macht sich auch zur Zielscheibe privater Schadensersatzkläger.4 Wenn dem potentiellen Kronzeugen im Anschluss an seine Einlassungen zwar das Bußgeld erlassen wird, er aber mit horrenden Schadensersatzzahlungen rechnen muss, steht zu befürchten, dass er von einem Kronzeugenantrag absieht.
Um diese Anreizminderung bei gleichzeitiger Stärkung der Rechte von Kartellgeschädigten zu kompensieren, hat der deutsche Gesetzgeber in Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie5 neben der öffentlich-rechtlichen auch eine zivilrechtliche Privilegierung des Kronzeugen eingeführt.6 Seit der 9. GWB-Novelle sehen die §§ 33a – 33h GWB ein ausdifferenziertes Haftungssystem vor, das den Kronzeugen umfangreich vor privater Inanspruchnahme schützt.
Die vorliegende Arbeit untersucht die Privilegierung des Kronzeugen nach der 9. GWB-Novelle in rechtsdogmatischer und rechtspolitischer Hinsicht: Wie sind die neuen Vorschriften auszulegen und anzuwenden? Was hat sich im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage geändert? Und können diese Veränderungen das Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung – sofern ein solches besteht – auflösen?
Zur Einordnung der Neuregelungen in den Gesamtkontext der öffentlichen und privaten Kartellrechtsdurchsetzung wird zunächst die Funktionsweise des dualen Systems unter Ausblendung eines etwaigen Kronzeugen umrissen (B). Auch wenn es sich bei Fällen ohne Beteiligung eines Kronzeugen nicht um den statistischen Regelfall handelt,7 ist es doch der Grundfall des Regelungssystems. Im Hauptteil der Arbeit werden sodann die Besonderheiten durch die Privilegierung eines Kronzeugen herausgearbeitet und kritisch hinterfragt (C). Sofern sich dabei Beanstandungspunkte zeigen, werden Regelungsalternativen vorgeschlagen.
Untersuchungsgegenstand der aufgeworfenen Fragen ist deutsches Recht. Auf Europarecht wird nur insoweit zurückgegriffen, als dies die Auslegung der deutschen Vorschriften erfordert.
B. Das duale System der Kartellrechtsdurchsetzung
Das deutsche Kartellrecht verfügt über ein duales System der öffentlichen und privaten Kartellrechtsdurchsetzung.8
I. Öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung
Zentrales Instrument der öffentlichen Kartellrechtsdurchsetzung sind Geldbußen (§ 81 GWB), deren Höhe kontinuierlich zunimmt.9 Dennoch bleiben die Bußgeldbeträge
* Die Autorin ist Studentin der Bucerius Law School, Hamburg.
1 Neuntes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BGBl. I 2017, S. 1416.
2 Dohmen/Hawranek, Das Auto-Syndikat, in: Der Spiegel 30/2017, S. 12, 14.
3 Milde, Schutz des Kronzeugen im Spannungsfeld von behördlicher Kartellrechtsdurchsetzung und privaten Schadensersatzklagen, S. 292.
4 Krüger, Kartellregress, Der Gesamtschuldnerausgleich als Instrument der privaten Kartellrechtsdurchsetzung, 2010, S. 298; Milde (Fn. 3), S. 24, 33; Bien, EuZW 2011, 889, 890; Vollrath, NZKart 2013, 434, 443.
5 Richtlinie 2014/104/EU vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl. EG L 349, S. 1.
6 BT-Drucks. 18/10207, S. 59 ff.; Richtlinie 2014/104/EU (Fn. 5), Erwägungsgrund 38.
7 Laut einer Email-Auskunft des BKartA vom 9. August 2017 beruhen aktuell gut die Hälfte aller Kartellverfahren auf Hinweisen von Kronzeugen.
8 Der Vollständigkeit halber seien auch strafrechtliche Sanktionen von Kartellverstößen erwähnt, die sich in Deutschland auf die Ausführung wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen beschränken (§ 298 StGB). Sie gehören daher nicht zum „Standardinstrumentarium“ bei Kartellrechtsverstößen, so Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, S. 300 (dortige Fn. 18).
9 BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, Nutzen für Wirtschaft und Verbraucher, 2016, S. 8; Emmerich, Kartellrecht, Ein Studienbuch, 2014, § 43 Rn. 20, 24.
hinter den vermuteten volkswirtschaftlichen Schäden durch Kartelle zurück, sodass sich Kartelle nach wie vor „lohnen“10 – wäre da nicht die private Kartellrechtsdurchsetzung.
II. Private Kartellrechtsdurchsetzung
Neben die behördliche Aufsicht tritt die private Kartellrechtsdurchsetzung, die als zweite tragende Säule der Kartellrechtsdurchsetzung zunehmend an Bedeutung gewinnt.11
Im Kontext der 9. GWB-Novelle spielt der kartellrechtliche Schadensersatzanspruch nach § 33a I GWB eine besondere Rolle. Er wurde maßgeblich durch die sog. Jedermann-Rechtsprechung12 des EuGH geprägt, der im Fall Courage den Grundsatz entwickelte, dass jedermann für seine Kartellschäden entschädigt werden soll.13 Das Urteil markiert den Beginn einer Aufwertung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung in Europa.14 Zuletzt wurden auch im Zuge der 9. GWB-Novelle diverse Neuregelungen eingeführt, um die Position des Schadensersatzklägers zu stärken.
1. Kartellverstoß
Der deliktsrechtliche Schadensersatzanspruch aus § 33a I GWB setzt einen schuldhaften Kartellverstoß, also wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Unternehmen, voraus (§§ 33a I, 33 I GWB i.V.m. § 1 GWB, Art. 101 AEUV).
2. Schaden
Da der Nachweis des Schadens für den Kartellgeschädigten regelmäßig mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, erleichtert die 9. GWB-Novelle die Beweisführung durch die widerlegliche Vermutung, dass Kartelle (§ 33a II 2, 3 GWB) einen Schaden verursachen. Vermutet werden also die Existenz eines Schadens und dessen Verursachung durch ein Kartell (Kausalität), nicht aber die Schadenshöhe.15
3. Gesamtschuldnerische Haftung
Bei Kartellschadensersatzansprüchen haften die Kartellanten gemäß § 33d I 1 GWB als Gesamtschuldner. Der Geschädigte kann sich also für den gesamten Ausgleich seines Schadens den solventesten Kartellanten aussuchen, der dann die Mitkartellanten in Regress nimmt. Dies unterstreicht das Ziel der Effektivierung des kartellrechtlichen Schadensersatzes:16 Die für das Kartellrecht typische Vielzahl von Verfahrensbeteiligten beeinträchtigt nicht die Durchsetzung der Ansprüche des Geschädigten.
Im Innenausgleich unter den Kartellanten (Kartellregress) bestimmen sich die gesetzlichen Haftungsanteile nach den Umständen und insbesondere nach dem Maß der Schadensverursachung (§ 33d II 1 GWB).17 Bei einer einzelfallbezogenen Gesamtschau sind in europarechtskonformer Auslegung die Kriterien Umsatz, Marktanteil und Rolle im Kartell18 der Kartellschadensersatzrichtlinie (Art. 11 V 1 RL 2014/104/EU) heranzuziehen.19
III. Wechselwirkung
Die öffentliche und private Kartellrechtsdurchsetzung stehen nicht etwa alternativ nebeneinander, sondern bedingen, fördern und ergänzen sich gegenseitig. Das zweispurige System kann zielgenau und flexibel auf unterschiedliche Kartellverstöße reagieren und dabei von den spezifischen Vorzügen der jeweiligen Durchsetzungsvariante profitieren:
Über die Bindungswirkung aus § 33b GWB profitieren private Kläger von vorausgehenden Behördenentscheidungen, da ihnen der schwierige Nachweis eines Kartellverstoßes erspart bleibt.20 Die Vorschrift ebnet den Weg für sog. follow-on-Klagen, die von Geschädigten im Anschluss an Bußgeldentscheidungen der Kartellbehörden erhoben werden.21
Umgekehrt können auch Behörden von den Hinweisen Privater profitieren, die als Marktakteure besonders gut in der Lage sind, Veränderungen im Marktgeschehen zu erkennen. Zudem haben Private ein vitales Eigeninteresse an der Kompensation ihrer wirtschaftlichen Nachteile und werden daher keine Bemühungen scheuen, Verletzungen zu erkennen und geltend zu machen22 – Private sind immer noch „die besten Kartellwächter“.23 In dieser zwangsläufig doppelten Wirkweise privater Ansprüche liegt der Grundgedanke des private enforcement: Obwohl private Schadensersatzkläger zunächst nur die Kompensation individueller wirtschaftlicher Nachteile erstreben,24 erhöhen sie zugleich auch die Durchsetzungskraft des öffentlichen Wettbewerbsrechts.25 Das öffentliche Interesse wird mit den Mitteln des Privatrechts verfolgt.26
10 So Emmerich (Fn. 9), § 43 Rn. 20, 24.
11 Emmerich (Fn. 9), § 7 Rn. 8; Lübbig, in: Bornkamm/Montan/Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), Band II, 2015, § 33 Rn. 1.
12 EuGH, Rs. C.253/00 – Courage und Crehan, Slg. 2001, I-2697; Rs. C-295−298/04 – Manfredi, Slg. 2006, I-6619.
13 EuGH, Courage und Crehan (Fn. 12), Rn. 26.
14 EuGH, Manfredi (Fn. 12), Rn. 60 f., 90 f.; BGHZ 190, 145; Europäische Kommission, Weißbuch: Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, 2008, S. 2 ff.; Siebtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BGBl. I 2005, S. 1954.
15 Kersting, in: Kersting/Podszun (Hrsg.), Die 9. GWB-Novelle, Kartellschadensersatz – Digitale Ökonomie – Fusionskontrolle – Bußgeldrecht – Verbraucherschutz, 2017, Kap. 7 Rn. 46.
16 Krüger, NZKart 2013, 483; Vollrath, NZKart 2013, 434, 443.
17 Dworschak/Maritzen, WuW 2013, 829, 841f.; Kersting/Preuß, WUW1211285, L1, L6.
18 Zu einer detaillierten Bewertung dieser und anderer Kriterien siehe: Legner, WRP 2014, 1163, 1164 f.; Schwenke, NZKart 2015, 383, 385 ff.; Gänswein, NZKart 2016, 50, 51ff.
19 Legner, WRP 2014, 1163, 1167; Kersting/Preuß, WUW1211285, L1, L6.
20 Alexander (Fn. 8), S. 302, 306; Klumpe/Thiede, NZKart 2017, 332, 333.
21 Vor einer Bußgeldentscheidung der Kartellbehörde besteht die Möglichkeit, eine sog. stand-alone-Klage zu erheben.
22 Alexander (Fn. 8), S. 304.
23 Emmerich (Fn. 9), § 40 Rn. 3.
24 Hösch, Der schadensrechtliche Innenausgleich zwischen Kartellrechtsverletzern, 2015, S. 52; Europäische Kommission, Weißbuch 2008 (Fn. 14), S. 3.
25 EuGH, Courage und Crehan (Fn. 12), Rn. 26 f.
26 Hösch (Fn. 24), S. 52.
Schließlich gilt: Je größer das Bündel möglicher Sanktionen, desto größer der Abschreckungseffekt.27
Wenngleich die Herausforderung der gegenseitigen Abstimmung bleibt,28 zeigt diese erste Bestandsaufnahme, dass öffentliche und private Kartellrechtsdurchsetzung grundsätzlich harmonisch interagieren und sich dabei sogar fördern und ergänzen. Es bleibt abzuwarten, wie sich dieses Zusammenspiel verändert, wenn es um die Privilegierung eines Kronzeugen geht.
C. Die Privilegierung des Kronzeugen
Der Kronzeuge nimmt bei der Kartellrechtsaufklärung und daher auch im Sanktionssystem des Kartellrechts eine Sonderstellung ein. Als Anreiz für seine Aufklärungsbeiträge ist er jetzt sowohl bei der öffentlichen als auch bei der privaten Kartellrechtsdurchsetzung privilegiert: Konnte er bisher nur mit dem Erlass oder der Reduktion von Bußgeldern rechnen, so ist er seit der 9. GWB-Novelle auch umfangreich vor privater Inanspruchnahme durch Schadensersatzklagen geschützt.
I. Öffentlich-rechtliche Privilegierung
In Anlehnung an die Leniency Rules der Europäischen Kommission29 hat das Bundeskartellamt (BKartA) im Jahr 2000 die sog. Bonusregelung30 eingeführt. Diese sieht auf Grundlage des § 81 VII GWB Kronzeugenprogramme vor, durch die Bußgelder erlassen oder ermäßigt werden können.
Für einen vollen Bußgelderlass muss sich der Kronzeuge als erster Kartellbeteiligter an das BKartA wenden31 und darf weder Anführer des Kartells sein noch andere zur Teilnahme gezwungen haben.32 Zudem muss er das BKartA in die Lage versetzen, einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken33 oder, sofern dieser schon erfolgt ist, Beweismittel für den Nachweis der Tat liefern.34
Liegen die Voraussetzungen für einen Bußgelderlass nicht vor, kommt subsidiär eine Bußgeldreduktion in Betracht, wenn der Kronzeuge (nur) zusätzliche Beiträge zum Nachweis der Tat leistet. Der Umfang der Reduktion richtet sich nach dem Nutzen der Aufklärungsbeiträge und der Reihenfolge der Anträge und ist auf 50% der eigentlich zu entrichtenden Geldbuße begrenzt.35
Der Nutzen von Kronzeugenprogrammen ist inzwischen allgemein anerkannt.36 Auch aus praktischer Sicht erfüllen Kronzeugenprogramme die an sie gestellten Erwartungen. So hat sich die Zahl der durch das BKartA aufgedeckten Kartelle in den ersten zehn Jahren nach Einführung der Bonusregelung gegenüber den 1990er Jahren verdreifacht.37 Jüngst ergab eine Anfrage beim BKArtA, dass aktuell gut die Hälfte aller Kartellverfahren auf Hinweisen von Kronzeugen beruhen.38 Auch ökonomische Studien stellten in 23 OECD-Ländern signifikante positive Effekte der Kronzeugenregelung für die Wettbewerbsintensität fest.39 Die empirischen Daten bestätigen ein starkes öffentliches Interesse an einem möglichst umfassenden Schutz der Kronzeugen. Zivilrechtliche Folgen eines Kartellverstoßes bleiben aber von der Bonusregelung unberührt,40 sodass hier anderweitiger Regelungsbedarf besteht.
II. Zivilrechtliche Privilegierung nach der 9. GWB-Novelle
Im Zuge der 9. GWB-Novelle wurde die Privilegierung des Kronzeugen vom Bußgeldrecht auf das Kartellschadensersatzrecht ausgedehnt. Schwerpunktmäßig modifiziert § 33e GWB die gesamtschuldnerische Haftung sowohl im Außen- als auch im Innenverhältnis zugunsten des ersten Kronzeugen.41 Als Ausgangspunkt für die Anwendung der neuen Vorschrift ist auf Grundlage des Zielkonflikts der 9. GWB-Novelle ein Auslegungsmaßstab zu bestimmen. Auf Basis dieser Erwägungen werden die neuen Privilegierungen sodann in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt, rechtsdogmatisch analysiert und kritisch hinterfragt.
1. Zielkonflikt und Auslegungsmaßstab
Zur Ermittlung eines Auslegungsmaßstabs für die Kronzeugenprivilegierungen der 9. GWB-Novelle ist es unabdingbar, deren durchaus ambivalente rechtspolitische Zielsetzung zu durchdringen. Einerseits bezweckt die 9. GWB-Novelle die Stärkung der Durchsetzung privater Schadensersatzklagen,42 andererseits möchte sie ökonomische Anreize für Bonusanträge setzen.43
Die Entscheidung, einen Bonusantrag zu stellen, beruht auf wirtschaftlichen Erwägungen, die Kostenvorteile und -risiken gegeneinander abwägen.44 Daher besteht die berechtigte Sorge, dass der Anreiz der verminderten Bußgeldzahlung durch drohende Schadensersatzforderungen
27 Alexander (Fn. 8), S. 301; Europäische Kommission, Weißbuch 2008 (Fn. 14), S. 3.
28 Näher dazu: Alexander (Fn. 8), S. 302.
29 Inzwischen: Europäische Kommission, Mitteilung 2006/C 298/11 über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen.
30 Inzwischen: BKartA, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen, Bonusregelung vom 7. März 2006.
31 BKartA, Bonusregelung (Fn. 30), Rn. 3 Nr. 1, Rn. 4 Nr. 1.
32 BKartA, Bonusregelung (Fn. 30), Rn. 3 Nr. 3, Rn. 4 Nr. 3.
33 BKartA, Bonusregelung (Fn. 30), Nr. 2.
34 BKartA, Bonusregelung (Fn. 30), Rn. 4 Nr. 2.
35 BKartA, Bonusregelung (Fn. 30), Rn. 5.
36 EuGH, RS C–360/09 – Pfleiderer, Slg. 2011, I-5161, Rn. 25, Hempel, EuZW 2013, 586, 590; BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung (Fn. 9), S. 9.
37 BKartA, Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit in den Jahren 2009/2010 sowie über die Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet, S. 16.
38 Email-Auskunft des BKartA vom 9. August 2017.
39 Klein, Cartel Destabilization and Leniency Programs Empirical Evidence, ZEW Discussion Paper No. 10-107, 2010, S. 13 ff.
40 BKartA, Bonusregelung (Fn. 30), Rn. 24.
41 Daneben schützt § 33g IV GWB Kronzeugenerklärungen umfangreich vor privater Einsichtnahme, indem er sie von dem Herausgabe- und Auskunftsanspruch aus § 33g GWB ausschließt.
42 BT-Drucks. 18/10207, S. 1 ff.
43 BT-Drucks. 18/10207, S. 70.
44 Schwalbe/Höft, in: FS Möschel, S. 597, 623 f.
konterkariert wird.45
Dieser Abschreckungseffekt setzt sich aus zwei Komponenten zusammen:46 Für den Kronzeugen besteht nicht nur das Risiko, überhaupt, sondern auch zuerst, also vor den anderen Kartellbeteiligten, in Anspruch genommen zu werden (first mover disadvantage47 ). Tatsächlich stellt der Kronzeuge regelmäßig das bevorzugte Klageziel dar, da die Tatsachengrundlage und Beweislage ihm gegenüber am belastbarsten ist und mit Bestandskraft der Behördenentscheidung die Bindungswirkung für den Zivilprozess frühzeitig eintritt.48 Zwar hat der Kronzeuge Freistellungs- und Regressansprüche gegen seine Mitkartellanten, doch muss er als (bisher) unbeschränkt haftender Gesamtschuldner zunächst in Vorlage treten und trägt damit deren Ausfallrisiko.49
Diese Abschreckungswirkung wird durch die Stärkung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung durch die 9. GWB-Novelle (§§ 33a II 1, 33c II, IV, 33g I, II, X GWB) noch einmal verstärkt, denn je einfacher die Durchsetzung privater Kartellschadensersatzansprüche, desto geringer die Attraktivität der Kronzeugenprogramme.50
Es besteht also der dringende Bedarf nach einer zivilrechtlichen Privilegierung durch den Kronzeugen. Fraglich ist aber, zu wessen Lasten diese Privilegierung ausfallen soll. Die diskutierten Ansätze der durch die Privilegierung eines Gesamtschuldners gestörten Gesamtschuld sehen eine Lösung zu Lasten des Haftungsbegünstigten, der Geschädigten oder der Mitschädiger vor.51
Für das Verhältnis zwischen Kronzeuge und Kartellgeschädigtem kommt der Zielkonflikt innerhalb der 9. GWB-Novelle zum Tragen: Das im Grundsatz harmonische Zusammenspiel von privater und öffentlicher Kartellrechtsdurchsetzung wandelt sich bei Hinzutreten eines Kronzeugen zu einem Spannungsverhältnis. Vollumfängliche Schadensersatzansprüche beschränken durch eine Abschreckungswirkung die Kartellrechtsaufdeckung mithilfe von Kronzeugen, umgekehrt stellt jede Kronzeugenprivilegierung einen erheblichen Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützten Rechte der Geschädigten dar (Art. 14 GG).52
Paradoxerweise besteht der Zielkonflikt nicht nur zwischen den beiden Ebenen der Kartellrechtsdurchsetzung, sondern auch innerhalb jeder einzelnen Durchsetzungsebene: Auf öffentlicher Ebene sollen Unternehmen nicht nur repressiv durch Bußgelder sanktioniert, sondern auch präventiv durch die Abschreckungswirkung privater Schadensersatzklagen von Kartellabsprachen abgehalten werden.53 Umgekehrt ist der Kronzeugenantrag auch auf privater Ebene ein Erfolgsfaktor für follow-on-Klagen, da diese für die Geltendmachung ihrer Ansprüche auf die Bindungswirkung behördlicher Feststellungen von Kartellverstößen angewiesen sind (§ 33b GWB). So geht ein Absinken der behördlichen Kartellaufdeckungsquote nicht nur zulasten der Wettbewerbsbehörden, sondern auch zulasten der Kartellgeschädigten.54
In diesen Spannungsfeldern gilt es, eine möglichst weitreichende Kronzeugenprivilegierung bei minimaler Beeinträchtigung der Rechte Geschädigter zu erreichen.
Wie beide Ziele im Rahmen der gesamtschuldnerischen Haftung optimal verwirklicht werden können, liegt auf der Hand: Die Mitkartellanten des Kronzeugen sind bereits durch ihre Beteiligung an dem Kartell das Risiko eines Kronzeugenantrags eingegangen und ohnehin als Mitschädiger weit weniger schutzwürdig als die Kartellgeschädigten.55 Ihnen ist es daher zumutbar, auch die gesamten Kosten der Kronzeugenprivilegierung zu tragen.56 Die 9. GWB-Novelle scheint eher einen Mittelweg zu gehen und die Lasten auf mehrere Schultern zu verteilen.57 Daher sind Privilegierungen zumindest dahingehend auszulegen, dass sie zulasten der nicht privilegierten Mitschädiger und nicht zulasten der Geschädigten ausfallen.58 Mit anderen Worten: Privilegierungen im Außenverhältnis sind restriktiv und solche im Innenverhältnis extensiv auszulegen.
2. Haftungsprivilegierung (§ 33e GWB)
Für die Haftungsprivilegierung nach § 33e GWB ist der Begriff Kronzeuge definiert als die Person, der „im Rahmen eines Kronzeugenprogramms der vollständige Erlass der Geldbuße gewährt wurde“ (§ 33e I 1 GWB). Geschützt ist also nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip nur der erste Antragsteller. Damit weicht die Haftungsprivilegierung zwar von der abgestuften Privilegierung bei der Bußgeldbemessung ab,59 wahrt aber das Gebot der Erforderlichkeit. Während das Kartell ohne den ersten Kronzeugen nicht aufdeckt werden kann, bringen die anderen nur zusätzliches Beweismaterial und sind daher nicht unerlässlich.60
45 Mackenrodt, in: Kersting/Podszun (Hrsg.), Die 9. GWB-Novelle, Kartellschadensersatz – Digitale Ökonomie – Fusionskontrolle – Bußgeldrecht – Verbraucherschutz, Kap. 8 Rn. 25; Krüger (Fn. 4), S. 298; Milde (Fn. 3), S. 25.
46 Dworschak/Maritzen, WuW 2013, 829, 840 f.
47 Krüger (Fn. 4), S. 298; Milde (Fn. 3), S. 33.
48 Krüger (Fn. 4), S. 298; Milde (Fn. 3), S. 33; Bien, EuZW 2011, 889, 890; Schwalbe/Höft (Fn. 44), S. 597, 626 f.; Vollrath, NZKart 2013, 434, 443.
49 Mackenrodt (Fn. 45), Kap. 8 Rn. 25.
50 Bien, EuZW 2011, 889, 889.
51 Grüneberg, in: Palandt (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch mit Nebengesetzen, 2017, § 426 Rn. 18; Gänswein, NZKart 2016, 50, 54.
52 Koch, JZ 2013, 390, 393; K. Schmidt, FS Roth, S. 520, 527; Krüger, WuW 2017, 229, 231.
53 Richtlinie 2014/104/EU (Fn. 5), Erwägungsgrund 38.
54 Milde (Fn. 3), S. 33, 291; Dworschak/Maritzen, WuW 2013, 829, 831; Krüger, NZKart 2013, 483, 483; Dose, VuR 2017, 297, 298.
55 Zur geschädigtenfreundlichen Tendenz des EuGH siehe: EuGH, Courage und Crehan (Fn. 12), Rn. 26; Manfredi (Fn. 12), Rn. 60 f., 90 f.; RS C–360/09 – Pfleiderer, Slg. 2011, I-5161, Rn. 28 ff.; dagegen nimmt Bien auch die Mitschädiger in Schutz, EuZW 2011, 889.
56 Vgl. Alexander (Fn. 8), S. 422; Dworschak/Maritzen, WuW 2013, 829, 841; Kersting, JZ 2013, 737, 739.
57 Hösch (Fn. 24), S. 419.
58 Vgl. Krüger, WuW 2017, 229, 231.
59 Für eine Privilegierung sowohl bei Erlass als auch bei Reduktion plädiert Kersting, JZ 2013, 737, 739; Koch, JZ 2013, 390, 393.
60 Krohs, in: Busche/Röhling (Hrsg.), Kölner Kommentar zum Kartellrecht, Band I (§§ 1-34a GWB), 2017, GWB § 33 Rn. 298; Dworschak/Maritzen, WuW 2013, 829, 842; Krüger, NZKart 2013, 483, 486.
a) Außenverhältnis
Im Außenverhältnis erstreckt sich die Haftung des Kronzeugen auf denjenigen Schaden, der seinen Geschäftspartnern aus dem Verstoß entsteht (§ 33e I 1 GWB). Gegenüber allen anderen Geschädigten kommt nur eine Ausfallhaftung nach vergeblicher Inanspruchnahme der anderen Kartellanten in Betracht (§ 33e I 2 GWB). Da der deliktische Kartellschadensersatzanspruch daher ausnahmsweise nicht unabhängig von vertraglichen Beziehungen besteht,61 bietet es sich an, nach Personengruppen zu differenzieren.
aa) Geschäftspartner des Kronzeugen (§ 33e I 1 GWB)
Es ist umstritten, ob sich der Haftungsumfang des Kronzeugen gegenüber seinen mittelbaren und unmittelbaren Abnehmern oder Lieferanten vertrags- oder personenbezogen bestimmt. Erfasst § 33e I 1 GWB nur Schäden aus den konkreten Vertragsbeziehungen zum Kronzeugen oder sogar den Gesamtschaden des Geschäftspartners? Letztlich geht es darum, wer das Ausfallrisiko der anderen Kartellanten trägt.
Für eine personenbezogene Anknüpfung spricht bereits der klare Wortlaut des § 33e I 1 GWB in systematischer Abgrenzung zu § 33e III 1 GWB. Während Absatz 3 für die Haftungsbeschränkung im Innenverhältnis auf die Verursachung des Schadens durch den Kronzeugen abstellt, fordert Absatz 1 gerade unabhängig von etwaigen Verursachungsbeiträgen nur, dass aus dem Verstoß ein Schaden entstanden ist.62 Einer wortlautnahen Auslegung zufolge haftet der Kronzeuge im Außenverhältnis seinen Geschäftspartnern gegenüber für deren vollen Schaden, selbst wenn der Geschädigte zugleich Geschäftspartner eines Mitkartellanten ist.
Diesen Umstand greifen Befürworter einer vertragsbezogenen Anknüpfung für ein teleologisches Argument auf: Bereits eine einzige Austauschbeziehung zum Kronzeugen lasse dessen Privilegierung im Außenverhältnis vollständig entfallen.63 Ob ein Vertragspartner zufällig auch Vertragsbeziehungen zu Wettbewerbern unterhält, sei für einen potentiellen Kronzeugen unabsehbar und die Schadenshöhe daher nicht einzuschätzen.64 Die daraus resultierende Anreizminderung eines Kronzeugenantrags widerspräche dem Telos des in § 33e GWB, der gerade eine Stärkung der effektiven Kartellrechtsdurchsetzung bezwecke.65
Der Argumentationsansatz beruht auf berechtigten Erwägungen, verkennt aber den oben hergeleiteten Maßstab der restriktiven Auslegung von Privilegierungen im Außenverhältnis. Die Schutzwürdigkeit des geschädigten Geschäftspartners gebietet es, am Gläubigerwahlrecht (§ 33d I 1 GWB, § 421 BGB) festzuhalten,66 statt den Kronzeugen zulasten seiner geschädigten Geschäftspartner aus der in der Kartellschadensersatzrichtlinie67 explizit vorgesehenen Gesamtschuld herauszulösen. Geschädigte Lieferanten und Abnehmer sollen ihren gesamten Schaden von demjenigen Schuldner zurückverlangen können, auf dessen Zahlungsfähigkeit sie sich bei Vertragsschluss verlassen haben.68 Folglich haftet der Kronzeuge seinen Abnehmern gegenüber gemäß § 33e I 1 GWB ohne Privilegierung in voller Schadenshöhe. Die Berücksichtigung der Schadensverursachung im Innenregress bleibt davon freilich unberührt.
bb) Andere Geschädigte (§ 33e I 2 GWB)
Wie sich aus einem Gegenschluss zu § 33e I 2 GWB ergibt, ist der Kronzeuge gegenüber anderen Geschädigten als seinen Vertragspartnern grundsätzlich privilegiert. In systematischer Abgrenzung zu S. 1 handelt es sich dabei um Geschäftspartner der anderen Kartellbeteiligten oder um Preisschirmgeschädigte. Letztere sind Geschädigte, die kartellbefangene Ware zu einem überhöhten Preis von einem Kartellaußenseiter erworben haben, da wegen des Kartells die Preise im gesamten Markt gestiegen sind.
Nur ausnahmsweise können die Geschädigten subsidiär auch den Kronzeugen in Anspruch nehmen, wenn sie von den übrigen Rechtsverletzern keinen vollständigen Ersatz erlangen konnten (§ 33e I 2 GWB). Dies ist regelmäßig bei Insolvenz der Mitschädiger der Fall,69 nicht aber bei einer Verjährung der Ansprüche gegen die Mitkartellanten. Indem § 33e II GWB diesen Fall von dem Anwendungsbereich der Ausfallhaftung ausnimmt, verhindert er eine Umgehung der Privilegierung durch missbräuchliches „Verjährenlassen“ anderer Ansprüche.70 Umgekehrt stellt der späte Verjährungsbeginn der Ausfallhaftung nach § 33h VIII 1 Nr. 1 GWB sicher, dass der Anspruch der Geschädigten gegen den Kronzeugen nicht schon verjährt ist, wenn feststeht, dass sie von den übrigen Verletzern keinen Ersatz erlangen können.
(1) Teilweise Uneinbringlichkeit
Aus dem Attribut „vollständig“ geht hervor, dass die Ausfallhaftung bereits ausgelöst wird, wenn der Schaden nur teilweise uneinbringlich ist. Es stellt sich aber die Folgefrage, ob sich die Ausfallhaftung des Kronzeugen dann auf den vollen Schaden oder nur auf denjenigen Schaden erstreckt, der von den Mitkartellanten nicht erlangt werden konnte.
Diesbezüglich lässt sich der oben erörterte Auslegungsmaßstab einer engen Ausgestaltung des Kronzeugenprivilegs im Außenverhältnis auf den Ausgleichsanspruch übertragen. Bereits die Existenz der Ausfallhaftung spricht dafür, dass der Gesetzgeber hier dem Kompensationsinteresse des Geschädigten Vorrang gegenüber der Privilegierung des Kronzeugen einräumt. Offenbar soll der Kronzeuge statt des Geschädigten das Ausfallrisiko der Mitkartellanten tragen und dies sogar, wo sein Regressanspruch gegen die von dem Geschädigten bereits vergeblich in Anspruch genommenen
61 Mackenrodt (Fn. 45), Kap. 8 Rn. 42; Krüger, NZKart 2013, 483, 484.
62 Vgl. Krüger, NZKart 2013, 483, 484.
63 Mackenrodt (Fn. 45), Kap. 8 Rn. 28 f., 40; Krüger, NZKart 2013, 483, 484.
64 Europäische Kommission, Weißbuch 2008 (Fn. 14), S. 12.
65 Krüger, NZKart 2013, 483, 484 f.; Schwenke, NZKart 2015, 383, 387 f.
66 Krüger, NZKart 2013, 483, 486.
67 Richtlinie 2014/104/EU (Fn. 5), Art. 11 IV.
68 Vgl. BGH, NZKart 2013, 425, 429; Krüger (Fn. 4), S. 320; Krüger, NZKart 2013, 483, 486.
69 Krohs, in: Busche/Röhling (Fn. 60), GWB § 33 Rn. 299; Krüger, NZKart 2013, 483, 484; Legner, WRP 2014, 1163, 1166.
70 Krohs, in: Busche/Röhling (Fn. 60), GWB § 33 Rn. 300; Mackenrodt (Fn. 45), Kap. 8 Rn. 51; Kersting/Preuß, WUW1211285, L1, L9.
Mitkartellanten regelmäßig keinen Erfolg haben wird.71 Dafür spricht auch der klare Wortlaut „wenn“,72 der im Gegensatz zu dem in Absatz 2 verwendeten „soweit“ auf eine Erstattung des vollen Betrags hindeutet.73
Somit entfällt die Privilegierung bereits und zwar vollständig, wenn der Schaden von den übrigen Schädigern nur teilweise uneinbringlich ist.
(2) Beweislast
§ 33e I 2 GWB legt die Beweislast für die (teilweise) Uneinbringlichkeit des Schadens dem Geschädigten auf. Laut der Gesetzesbegründung muss er zumindest einmal eine Zwangsvollstreckung gegen jeden nicht privilegierten Schädiger versuchen.74 Im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit des Geschädigten stößt diese Beweislastverteilung auf Bedenken.
Gerade in Anbetracht der strukturellen Informationsasymmetrie scheint es unzumutbar, dem Geschädigten das Ermittlungsrisiko der finanziellen Leistungsfähigkeit der Mittäter aufzubürden.75 De facto macht die Beweislast es den Geschädigten nämlich unmöglich, den Kronzeugen in Anspruch zu nehmen. Von den Geschädigten zu verlangen, zuerst eine Vielzahl von Prozessen auszufechten und zu gewinnen, nur um dann auf Vollstreckungsebene Insolvenz festzustellen, ist praxisfern und unbillig.76 Der Klagemarathon aus aussichtslosen Prozessen wird die Geschädigten faktisch ganz von einer Inanspruchnahme des Kronzeugen abhalten und damit die Ausfallhaftung wieder aufheben.77
Da die Kartellschadensersatzrichtlinie den Mitgliedstaaten bezüglich der Beweislastverteilung einen Umsetzungsspielraum78 gewährt, wäre es ein Leichtes gewesen, die Beweislast durch eine Negativ-Formulierung dem Kronzeugen aufzuerlegen und damit die Privilegierung im Außenverhältnis um ein weiteres Stück zurückzudrängen.79
b) Innenverhältnis
Auch im Innenverhältnis nimmt der Kronzeuge eine haftungsrechtliche Vorzugsposition ein (§ 33e III GWB), sodass die in § 33d II 1 GWB vorgesehene Innenhaftung unter den Kartellanten modifiziert wird.
Die Haftungsbeschränkung soll sicherstellen, dass die im Außenverhältnis bestehende Privilegierung nicht durch den Innenregress wirtschaftlich unterlaufen und damit die Anziehungskraft von Kronzeugenprogrammen konterkariert wird.80 Um die im Außenverhältnis gewährten Privilegierungen zu erhalten, müssen jene im Innenverhältnis mindestens deckungsgleich sein. Fallen die Innenprivilegierungen hinter den Außenprivilegierungen zurück, wird die Privilegierung quasi wieder aufgehoben. Gehen die Außenprivilegierungen dagegen über die Innenprivilegierungen hinaus, so wahren sie den Schutz der Geschädigten und stärken gleichzeitig die Anreizwirkung.
Ein Schwerpunkt der folgenden Analyse liegt demnach darauf, Parallelen und Unterschiede zur Privilegierung im Außenverhältnis und deren Auswirkungen aufzuzeigen. Demgemäß ist auch hier zwischen den Personengruppen zu differenzieren, von denen die Mitkartellanten zuvor im Außenverhältnis in Anspruch genommen wurden. Zur Verdeutlichung komplexer Rechts- und Rechenprobleme des Kartellregresses dient folgendes Fallbeispiel:81
S1, S2 und K treffen eine Preisabsprache, die unter anderem bei G einen Kartellschaden hervorruft. Infolge eines Kronzeugenantrags gewährt das BKartA dem K vollständigen Bußgelderlass. Nach Eintritt der Bestandskraft der Bußgeldbescheide nimmt G S1 auf vollen Schadensersatz in Höhe von 100 000 € in Anspruch. Die nach § 33d II 1 GWB errechneten Haftungsanteile betragen für S1 50%, für S2 10% und für K 40%. G sei zunächst Kunde des K (Variante 1), dann Preisschirmgeschädigter (Variante 2) und schließlich Kunde des S1 (Variante 3).
aa) Geschäftspartner des Kronzeugen (§ 33e III 1 GWB)
Bezüglich seiner eigenen Lieferanten und Abnehmer richtet sich der Ausgleichsbetrag, den der Kronzeuge dem in Anspruch genommenen Gesamtschuldner erstatten muss, grundsätzlich nach dem Haftungsanteil aus § 33d II GWB. Er ist aber gemäß § 33e III 1 GWB auf den Schaden begrenzt, den der Kronzeuge in der jeweiligen Vertragsbeziehung verursacht hat, also auf die Schadenshöhe, die dem relativen Lieferanteil des Kronzeugen an den vom konkreten Geschädigten erhaltenen kartellierten Produkten entspricht.82
Damit wird der in § 33d II GWB und der Kartellschadensersatzrichtlinie83 vorgesehene Strauß von Kriterien zur Ermittlung des Haftungsanteils allein auf das Verursachungskriterium beschränkt, sofern die nach allgemeinen Kriterien auf den Kronzeugen entfallende Haftungsquote nicht geringer als der Verursachungsanteil ist.84 Im Gegensatz zum Außenverhältnis bestimmt sich die Höhe des vom Kronzeugen zu ersetzenden Schadens im Innenverhältnis also nicht personen-, sondern vertragsbezogen. Der Kronzeuge kommt
71 Mackenrodt (Fn. 45), Kap. 8 Rn. 46, 75.
72 Die Formulierungen der Kartellschadensersatzrichtlinie sind diesbezüglich inkonsequent: Während die deutsche Fassung („wenn“) und die französische Fassung („lorsque“) für einen vollen Ausgleich sprechen, deutet die englische Fassung („only where“) darauf hin, dass die Haftung des Kronzeugen auf den ausgefallenen Betrag beschränkt ist.
73 Kersting/Preuß, WUW1211285, L1, L8.
74 BT-Drucks. 18/10207, S. 60.
75 Klumpe/Thiede, NZkart 2017, 332, 335.
76 Laut Krüger müsste der Geschädigte durchschnittlich mehrere Dutzend Prozesse führen, bevor er den Kronzeugen in Anspruch nehmen kann, NZKart 2013, 483, 486 (dortige Fn. 44).
77 Kersting/Preuß, Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie, Ein Gesetzgebungsvorschlag aus der Wissenschaft, 2015, Rn. 128; Krüger, NZKart 2013, 483, 486; Kersting/Preuß, WUW1211285, L1, L9.
78 Kersting/Preuß (Fn. 77), Rn. 127; Kersting/Preuß, WUW1211285, L1, L8.
79 Kersting/Preuß (Fn. 77), Rn. 127.
80 Mackenrodt (Fn. 45), Kap. 8 Rn. 55; Kersting/Preuß, WUW1211285, L1, L9; BT-Drucks. 18/10207, S. 60.
81 Das Beispiel ist angelehnt an: Mackenrodt (Fn. 45), Kap. 8 Rn. 71; Gänswein, NZKart 2016, 50, 53.
82 Schwenke, NZKart 2015, 383, 387 f.
83 Richtlinie 2014/104/EU (Fn. 5), Art. 11 V 1.
84 Schwenke, NZKart 2015, 383, 387 f.; Gänswein, NZKart 2016, 50, 53.
also nicht für den gesamten Schaden, sondern nur für seinen Verursachungsbeitrag auf.
In Variante 1 würde K dem S1 eigentlich Innenregress in Höhe von 40% des Gesamtschadens, also 40 000 € schulden. Hat er aber nur 30% des Schadens von G verursacht, ist seine konkrete Haftungsquote auf 30 000 € begrenzt (§ 33e III 1 GWB).
Damit besteht im Innenverhältnis auch bei Schäden der Geschäftspartner des Kronzeugen eine (Teil-)Privilegierung – nicht zulasten der Geschädigten, sondern zulasten der Mitschädiger.
bb) Preisschirmgeschädigte (§ 33e III 2 GWB)
Nach § 33e III 2 GWB gilt die Haftungsbegrenzung aus S. 1 gerade nicht für Preisschirmschäden.
In Variante 2 haftet der nicht privilegierte K also ganz normal in Höhe seines Haftungsanteils (40%). Somit schuldet er S1 Innenregress in Höhe von 40 000 €. Hätte G im Außenverhältnis K statt in S1 in Anspruch genommen, würde dieser allenfalls subsidiär für den Ausfall von S1 oder S2 haften (§ 33e I 2 GWB).
Somit wird die Privilegierung im Außenverhältnis wirtschaftlich im Innenverhältnis wieder aufgehoben. Ein minimaler Anreiz der Außenprivilegierung bleibt zwar erhalten, da der Kronzeuge immerhin nicht das Prozesskosten- und Insolvenzrisiko des Innenregresses tragen muss.85 Dennoch erscheint es widersinnig und willkürlich, die Privilegierung des Kronzeugen von der zufälligen Entscheidung des Preisschirmgeschädigten abhängig zu machen, an welchen der Kartellanten er sich zuerst wendet.
Hier hätte der (europäische) Gesetzgeber besser damit getan, den Kronzeugen auch im Innenverhältnis zu privilegieren.86 Damit hätte er, ohne die Rechte der Preisschirmgeschädigten zu beschneiden, die Rechtssicherheit und damit die Anreizwirkung für Kronzeugen wesentlich erhöht.
cc) Geschäftspartner der Mitkartellanten (§ 33e III 1 GWB)
Die Abnehmer und Lieferanten der Mitkartellanten finden in dem den Innenregress betreffenden Absatz 3 gar keine Erwähnung. Gerade dies gibt Aufschluss über eine vom Gesetzgeber intendierte Privilegierung.87 Denn Absatz 3 führt alle Personengruppen auf, für deren Schäden der Kronzeuge überhaupt Innenregress schuldet – entweder in vollem oder in begrenztem Umfang. Soll der Kronzeuge selbst für Schäden seiner eigenen Geschäftspartner nur in Höhe seines Verursachungsbeitrags haften, so ergibt sich im Gegenschluss, dass er bezüglich der unerwähnten Geschäftspartner seiner Mitkartellanten gar nicht haftet.88
In Variante 3 schuldet der privilegierte K also keinen Innenregress.
Die Privilegierung im Innen- und Außenverhältnis laufen hier also, abgesehen von der Ausfallhaftung nach § 33e I 2 GWB, parallel. Eine solche ist für den innenprivilegierten Kronzeugen nicht spezialgesetzlich vorgesehen, sodass die Privilegierung den Kronzeugen auch vor der allgemeinen Ausfallhaftung nach § 33d II 2 GWB i.V.m. § 426 I 2 BGB schützt.89
Auch hier greift die Innenprivilegierung also berechtigterweise etwas weiter als die Außenprivilegierung, da die Ausfallhaftung im Außen- und Innenverhältnis unterschiedliche Schutzfunktionen hat. Soll sie im Außenverhältnis den Geschädigten davor bewahren, gar keinen Ersatz zu erlangen, so geht es im Innenverhältnis nur um die Verteilung des Ausfallrisikos unter den restlichen Mitschädigern.
dd) Innenausgleich der nicht privilegierten Gesamtschuldner
Fällt der Kronzeuge wegen einer Privilegierung ganz oder teilweise aus dem Innenregress heraus, erfährt die Innenhaftung der übrigen Gesamtschuldner eine Modifikation.
Der verbleibende, vom Kronzeugen nicht zu zahlende Betrag ist von den verbleibenden Gesamtschuldnern zu tragen, aber nicht „zu gleichen Anteilen“, wie es die allgemeinen Vorschriften zur Gesamtschuld für den Wegfall eines Mitschädigers vorsehen (§ 426 I 1 BGB). Dieses sog. Kopfteilprinzip nimmt § 33d II 2 GWB, der gerade nicht auf § 426 I 1 BGB verweist, bewusst aus.90 Somit bleibt es bei einer Aufteilung des Restbetrags nach den gemäß § 33d II 1 GWB errechneten relativen Haftungsanteilen.
In Variante 1 ist der Haftungsbeitrag des K in Höhe von 10 000 € entfallen und wächst daher den übrigen Gesamtschuldnern anteilig an. Das Verhältnis der Haftungsanteile von S1 (50%) und S2 (10%) beträgt 5 zu 1. Damit trägt S1 fünf Sechstel der entfallenen 10 000 € (8 333,34 €) und S2 ein Sechstel (1 666, 67 €). Insgesamt schuldet S2 dem S1 also 11 666,67 €. S1 selbst trägt 58 333,34 € des Schadens.
Für Variante 2 ergeben sich mangels Privilegierung des K keine Besonderheiten für den Innenausgleich, jeder haftet in Höhe seines Haftungsanteils.
Variante 3 liegt wie Variante 1: Die wegen der vollen Privilegierung des K entfallenen 40 000 € verteilen sich anteilig auf S1 und S2. S1 trägt daher insgesamt 83 333,34 € und S2 16 666,67 € des Gesamtschadens.
c) Bewertung
§ 33e GWB modifiziert das Haftungssystem des § 33a GWB erfolgreich dahingehend, dass die Privilegierung des Kronzeugen weitgehend zulasten der nicht privilegierten Mitkartellanten ausfällt.
85 Mackenrodt (Fn. 45), Kap. 8 Rn. 63.
86 Krüger, NZKart 2013, 483, 487.
87 So auch BT-Drucks. 18/10207, S. 60.
88 Mackenrodt (Fn. 45), Kap. 8 Rn. 65.
89 Mackenrodt (Fn. 45), Kap. 8 Rn. 77.
90 Kersting/Preuß, WUW1211285, L1, L6.
Zu beanstanden ist insbesondere die Beweislastverteilung bezüglich des Eintritts der Ausfallhaftung im Außenverhältnis (§ 33e I 2 GWB) und die volle Haftung für Preisschirmschäden im Innenverhältnis (§ 33e III 1 GWB). Während erstere die Geschädigten übermäßig belastet, hebt letztere die Außenprivilegierung gegenüber Preisschirmgeschädigten faktisch wieder auf.
Darüber hinaus leuchtet nicht ein, dass die Privilegierung nach Personengruppen differenziert.91 Wenngleich Abnehmer und Lieferanten in besonderem Maße auf die Zahlungsfähigkeit ihres Geschäftspartners vertraut haben, kommt es im Deliktsrecht gerade nicht auf Vertragsbeziehungen an. Vielmehr sollte sich jedermann92 zum Ersatz seiner Kartellschäden den solventesten Schuldner aussuchen können.93 Um die Rechtstellung aller Geschädigten unberührt zu lassen, wäre es daher vorzugswürdig, die Kronzeugenprivilegierung allein auf das Innenverhältnis zu beschränken.94 Der Kronzeuge würde dann im Außenverhältnis den gesamten Schaden begleichen und im Innenverhältnis vollständig Regress nehmen, also letztlich nichts zahlen. Er trüge lediglich das Ausfallrisiko der Mitkartellanten. Als angenehmer Nebeneffekt würde dies auch die Abwicklung der Schadensersatzansprüche deutlich vereinfachen.
D. Fazit
Abschließend ist auf die Anfangsfragen zurückzukehren: Besteht ein Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung und wenn ja, kann es die 9. GWB-Novelle auflösen?
Ein Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung entsteht, sobald ein Kronzeuge das eigentlich harmonische Zusammenspiel der beiden Ansätze durcheinanderbringt. Dann gilt es, Anreize für einen Kronzeugenantrag zu schaffen und diese trotz der Stärkung privater Schadensersatzklagen zu erhalten. Der Kronzeuge muss vor allen Risiken bewahrt, also sowohl öffentlich- als auch zivilrechtlich privilegiert werden. Für den Kartellgeschädigten entsteht eine regelrechte Hassliebe95 in Bezug auf Kronzeugenprogramme: Einerseits möchte er den Kronzeugen nicht als Gesamtschuldner verlieren, andererseits ist er für seine follow-on-Klage auf den Erfolg der öffentlichen Kartellrechtsaufdeckung mithilfe des Kronzeugen angewiesen.
Um dieses Spannungsverhältnis für alle Seiten zufriedenstellend aufzulösen, sollte der Kronzeuge maximal privilegiert und der Geschädigte minimal beeinträchtigt werden. Das gelingt der 9. GWB-Novelle fast: Haftungsprivilegierungen im Außenverhältnis sind eher eng und solche im Innenverhältnis etwas weiter gefasst (§ 33e GWB).
Abgesehen von einzelnen Unstimmigkeiten96 findet die 9. GWB-Novelle einen angemessenen Ausgleich zwischen der Privilegierung des Kronzeugen und der Entschädigung der Kartellgeschädigten. Ein Kompromiss ist in dieser Sonderkonstellation der gesamtschuldnerischen Haftung aber gar nicht nötig, weil die weniger schutzbedürftigen Mitschädiger den gesamten Schaden tragen könnten. Die bessere und einfachere Variante wäre daher es gewesen, eine reine Innenprivilegierung einzuführen. Der Kronzeuge würde dann nur noch das Ausfallrisiko seiner Mitkartellanten tragen.
Trotz der Kritik macht die 9. GWB-Novelle einen ambitionierten und wichtigen Schritt, um mithilfe des Kronzeugen sowohl die öffentliche als auch die private Kartellrechtsdurchsetzung zu verbessern. „Der Siegeszug der Kronzeugenregelungen ist unaufhaltsam!“97
91 Hösch (Fn. 24), S. 419; eine Differenzierung befürwortet dagegen Mackenrodt (Fn. 45), Kap. 8 Rn. 84.
92 Vgl. EuGH, Courage und Crehan (Fn. 12), Rn. 26.
93 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es sich gerade beim Kronzeugen um den solventesten Schuldner handelt, weil dieser keine hohen Bußgeldzahlungen zu leisten hat.
94 Alexander (Fn. 8), S. 422; Dworschak/Maritzen, WuW 2013, 829, 841; Kersting, JZ 2013, 737, 739.
95 Dose, VuR 2017, 297 (298).
96 Diese betreffen insb. die Beweislastverteilung bezüglich des Eintritts der Ausfallhaftung im Außenverhältnis (§ 33e I 2 GWB) und die volle Haftung für Preisschirmschäden im Innenverhältnis (§ 33e III 1 GWB).
97 Stockmann, ZWeR 2012, 20 (29).