Anfechtungsklage, Revision, Verfassungsbeschwerde: Gemeinsamkeiten gerichtlicher Überprüfungsverfahren und Folgerungen für das verwaltungsrechtliche Gutachten

Prof.Dr.Philipp Reimer, LL.B.*

A. Eine zulässige Parallele?

Im Titel dieses Beitrags sind Dinge zusammengeführt, die sowohl in der rechtswissenschaftlichen Forschung als auch in der Lehre des Faches in aller Regel hübsch getrennt bleiben. Die Anfechtungsklage ist ein Thema des Verwaltungsprozessrechts (wobei man sich exemplarisch meist auf die VwGO beschränkt1); sie ist gegen Verwaltungsakte gegeben, die den Kläger möglicherweise in einem subjektiven Recht verletzen; und die Begutachtung ihrer Erfolgsaussichten bildet wohl in der Mehrzahl der Fälle den Gegenstand verwaltungsrechtlicher Prüfungsarbeiten. Mit der Verfassungsbeschwerde – als Thema des separat, nicht zuletzt auch oft von anderen Wissenschaftlern beforschten Verfassungsprozessrechts – werden Studierende meist noch deutlich früher konfrontiert; dieser Rechtsbehelf ist gegen staatliches Handeln gegeben, das den Beschwerdeführer möglicherweise in einem Grundrecht verletzt, und dürfte den Gegenstand wohl wenigstens jeder zweiten Staatsrechtsklausur bilden.

Demgegenüber führt die Revision, ungeachtet ihrer großen rechtspraktischen Bedeutung für die einheitliche Handhabung der Gesetzesauslegung, in Forschung und Lehre eher ein Schattendasein. Zur Erinnerung: Revision ist das grundsätzlich letzte und inhaltlich auf eine Rechtskontrolle beschränkte Rechtsmittel gegen gerichtliche Urteile; sie ist in allen deutschen Prozessordnungen bekannt, insbesondere in ZPO (§§ 542ff.), VwGO (§§ 132ff.) und StPO (§§ 333ff.). Vor der Zweiten Staatsprüfung ist die Revision höchstens einmal etwas für eine prozessuale Zusatzfrage.

Es wird hier also das Wagnis eingegangen, diese drei Rechtsbehelfe nach Art einer Binnenrechtsvergleichung2 miteinander in einen Zusammenhang zu bringen.3 Unter welchen Gesichtspunkten das möglich erscheint, wird sogleich erläutert (unten II). Daraus sollen schließlich Konsequenzen dafür gezogen werden, wie die Anfechtungsklage in Forschung und Lehre vielleicht noch systematischer behandelt werden könnte (unten III).

B. Drei Ansätze für die Zusammenschau

I. Historischer Aspekt: der hierarchische Rekurs

In einem ersten Schritt sei der geschichtliche Hintergrund der Rechtsbehelfe betrachtet. Die Revision erweist sich als der älteste der drei, schon allein deshalb, weil ihr institutioneller Kontext – die Justiz – die älteste ausdifferenzierte Staatsgewalt darstellt und ihr Verfahrensrecht – im Gegensatz zu dem der „politischen“ Gewalten – seit dem Mittelalter und unter dem Einfluss des kanonischen Rechts entwickelt und verfeinert worden ist.4 Zu den Rechtsmitteln findet sich dementsprechend auch zahlreiche Literatur bereits aus dem 17. und 18. Jahrhundert,5 als an ein Verwaltungsrecht noch nicht zu denken war.6 Während zunächst noch verschiedene Rechtsmitteltypen miteinander konkurrierten,7 namentlich im französischen Einflussgebiet die sogenannte Kassation


* Der Verfasser ist Universitätsprofessor für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Für Anmerkungen dankt er Frau Prof. Dr. Suzan Denise Hüttemann, M.Res., Herrn PD Dr. Simon Kempny, LL.M., und Herrn Lukas Schefer.

1 Das Besondere Verwaltungsprozessrecht ist in vielen Punkten gleich strukturiert wie die VwGO und sieht insb. auch eine Anfechtungsklage vor (§§ 40 I FGO, 54 I SGG).

2 Vgl. Reimer, Verfahrenstheorie, 2015, 155–157.

3 Zur Verwandtschaft von Anfechtungsklage und Revision vgl. immerhin bereits Wacke, AöR 79 (1953), 158 (163–170); Menger, System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, 1954, 134–165; Bettermann, FS Wacke, 1972, 233 (252–255); Kaiser, Die Kommunikation der Verwaltung, 2009, 98, 288f.

4 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, 71–80.

5 Exemplarisch: Gebhard/Cocceji, Disputatio inauguralis iuridica de revisoriis iudiciis cum in genere tum in specie statuum Imperii, 1687; Jäger, von dem Rechtsmittel der Revision und Actenversendung, 1788 (mwN. 12f.). Umfassende Darstellung bei Linde, Handbuch des deutschen gemeinen bürgerlichen Prozesses, Bd. 4, 1831; Bd. 5, 1840.

6 Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, 334–338.

7 Zur Entwicklung in Zivilsachen seit dem römischen Recht: Gilles, Rechtsmittel im Zivilprozeß, 1972, 200–225; s.a. (historisch-vergleichend) Kolotouros, Der Rechtsmittelgegenstand im Zivilprozeß, 1992, §§ 13–51.

Reimer, Überprüfungsverfahren94

stattfand,8 führten die Reichsjustizgesetze von 1877 in Deutschland für Zivil- und Strafgerichtsbarkeit die Revision als Rechtsmittel ein.9

Die prozessrechtliche Idee des Instanzenzugs zu einer höheren Stelle wurde später übertragen auf die neuerdings verrechtlichten Gewalten. Mit der institutionellen Ablösung von der Justiz, die in den deutschen Ländern wesentlich im Laufe des 19. Jahrhunderts erfolgte, war die Verwaltung erst einmal „justizfrei“ gestellt; Aufsicht und Kontrolle hatten sich innerhalb der Verwaltung abzuspielen, im Ausgangspunkt als hierarchischer Rekurs: man bittet die nächsthöhere Stelle um Abänderung der Entscheidung. Die kontrollierenden Stellen arbeiteten sich aber langsam als gerichtliche Verwaltungsbehörden und dann als Verwaltungsgerichte aus der vollziehenden Gewalt heraus.10 Prozessuale Begriffe wie „Klage“ und „Beschwerde“ fanden Anwendung. Das preußische Landesverwaltungsgesetz von 1883 gibt einen guten Eindruck davon, wie ein Zug solcher Rechtsmittel instanzen unmittelbar in die Verwaltungsorganisation integriert wurde.11 Bis vor Kurzem hatte diese Regelungstechnik noch in Österreich Bestand.12

Die Verfassungsbeschwerde schließlich war 1951 ein Novum,13 das mit dem Namen „Beschwerde“ aber ebenfalls an prozessuale Rechtsmittel anschloss (vgl. §§ 567 ZPO, 146 VwGO, 304 StPO).

II. Verfahrenstheoretischer Aspekt: das juridische Überprüfungsverfahren

Von einem theoretischen Standpunkt weisen die Rechtsbehelfe, wie sich schon im historischen Durchgang andeutete, erhebliche Gemeinsamkeiten auf. Alle drei leiten gerichtliche Überprüfungsverfahren ein,14 worin – auf den verfahrenseinleitenden Antrag hin – Abschlussentscheidungen einer vorangegangenen Instanz an einem bestimmten juridischen Maßstab gemessen und ggf. rechtsaktförmig aufgehoben werden sollen.15 Alle drei sind insofern „Anfechtungsmittel“.16 Diese Überprüfungsverfahren lassen sich kontrolltheoretisch zusammenführen:17 durch ihre Anordnung wird ein Kontrollverhältnis geschaffen zwischen einem Gericht als Kontrolleur und einer anderen Stelle als Kontrolliertem bezüglich einer bestimmten Entscheidung dieser Stelle als Kontrollgegenstand, und zwar mit einer Rechtmäßigkeitsfrage als Kontrollmaßstab.18 Wird diese Frage verneint (Kontrollergebnis), so knüpft sich daran die Pflicht des Gerichts zur Aufhebung der Entscheidung (Kontrollergebnisfolge). Diese Struktur ist den drei betrachteten Rechtsbehelfen gemeinsam – auch wenn sie sich bezüglich des jeweils Kontrollierten (Behörde, Vorderrichter, Fachgericht/Gesetzgeber) und des genauen Kontrollmaßstabs (Rechtsverletzung, Gesetzesverletzung, Grundrechtsverletzung) voneinander unterscheiden mögen und ihnen teilweise zusätzliche objektive Funktionen beigelegt werden.19

III. Dogmatischer Aspekt: geltendrechtliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Diese theoretischen Befunde spiegeln sich in der geltenden Rechtslage wider. In mehrerlei Hinsicht lassen sich entsprechende Gemeinsamkeiten zeigen; die verbleibenden Diskrepanzen dürfen freilich auch nicht verschwiegen werden. Alle drei Rechtsbehelfe …

1. … weisen das traditionelle Charakteristikum des Devolutiveffekts auf

Eine andere, dadurch als höherrangig erscheinende Stelle übernimmt die Kontrollaufgabe, so dass sich ein Devolutiveffekt ergibt,20 der nach traditionellem Verständnis die Rechtsmittel kennzeichnet.21 Anfechtungsklage und Revision verbindet überdies auch der Suspensiveffekt (§§ 80 I VwGO, 705 ZPO,22 343 I StPO); im Falle der Verfassungsbeschwerde23 kann das Gericht diesen Effekt durch einstweilige Anordnung zumindest im Einzelfall herbeiführen (§ 32 BVerfGG) – abgesehen davon, dass ihr in der Praxis eine „faktische Suspensivwirkung“ zukommt.24


8 Vgl. mit Abgrenzungen Breuning, Über die Cassationsinstanz und das Rechtsmittel der Cassation in der Gesetzgebung der Rheinlande, 1820.

9 Drittinstanzlich nach §§ 507ff. Civilprozeßordnung v. 30.01.1877 (RGBl., 83); zweit- oder drittinstanzlich nach §§ 374ff. Strafprozeßordnung v. 01.02.1877 (RGBl., 253). Zur bewussten Abgrenzung gegenüber der französischen Kassation s. Hahn (Hg.), Die gesamten Materialien zur Civilprozeßordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben, Bd. 1, 1880, 141–143, 372f.

10 Vgl. Sydow, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, 2000, bes. 11–65.

11 G v. 30.07.1883 (GS, 195).

12 Vgl. §§ 63ff. Allgemeines Verwaltungsgesetz idF. Wiederverlautbarung v. 31.01.1991 (öst. BGBl 1991/51). Erst seit 2014 gibt es dort Verwaltungsgerichte erster Instanz: Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 v. 05.06.2012 (öst. BGBl 2012/51).

13 Sieht man ab von § 126 Buchst. g FRV; dazu Kempny, Die Staatsfinanzierung nach der Paulskirchenverfassung, 2011, 50f.

14 Das gilt auch für die Revision, deren Effekt besser als neues Verfahren denn als „Verfahrensfortsetzung“ begriffen wird; dazu Gilles (Fn. 7), 7–18, 49–51; s.a. Reimer (Fn. 2), 57.

15 Zu diesen Klassifizierungsdimensionen vgl. Reimer (Fn. 2), 33–63.

16 Begriff: Gilles (Fn. 7), 13 und passim; ähnlich die Analyse von Kolotouros (Fn. 7), §§ 4–6, 57–68a.

17 Zur Begrifflichkeit Kempny, Verwaltungskontrolle, 2017, 16–26.

18 In Bezug auf die verwaltungsgerichtliche Revision aber überzeugende Differenzierung bei Kempny (Fn. 17), 95f.: keine Kontrolle, soweit nach der Vorentscheidung eingetretene Rechtsänderungen berücksichtigt werden.

19 Für die Revision: Einheitlichkeit der Rechtsprechung, s. Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier (Hg.), VwGO, Vor § 124 Rn. 8 (2015); für die Verfassungsbeschwerde: Wahrung und Fortbildung des Verfassungsrechts, s. BVerfGE 33, 247 (259); Limbach, Aufgabe und Bedeutung der Verfassungsbeschwerde, 1997, 7.

20 Dies kann man entgegen Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 5. Aufl., 2017, Rn. 23, auch für das BVerfG sagen; die Veränderung des Verfahrensgegenstands ist insoweit kein Gegenargument, sondern bei all diesen Kontrollverfahren zu beobachten.

21 Das wird überzeugend problematisiert von Gilles (Fn. 7), 176–180, 225. Einem älteren Revisionskonzept fehlte der Devolutiveffekt, vgl. Jäger (Fn. 5), 14 mwN., und Linde (Fn. 5), Bd. 5, 1840, 383; das überschnitt sich mit der „Supplikation“, vgl. Carstens, Das Rechtsmittel der Supplication, 1820, 1f.

22 Hier ist die aufschiebende Wirkung freilich durch das Instrument der vorläufigen Vollstreckbarkeit (§§ 708, 709 ZPO) stark abgeschwächt, worauf Schmidt, Die Anfechtung gerichtlicher Entscheidungen mit der Verfassungsbeschwerde gemäß §§ 90ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1957, 20, hinweist.

23 Vgl. BVerfGE 93, 381 (385); 107, 395 (413).

24 Zuck (Fn. 20), Rn. 21.

Reimer, Überprüfungsverfahren95

2. … finden nur auf Antrag statt

Die Abhängigkeit von einem Antrag25 legitimiert die gerichtliche Entscheidung nicht nur gegenüber den Verfahrensbeteiligten, es kennzeichnet sie geradezu als eine gerichtliche.26 Ohne einen solchen „Verfahrensanstoß“27 wäre die Interessenlage eine andere, es ginge um die Einmischung einer höheren Stelle in eine eigentlich abgeschlossene Sache.

Einen zulässigen Antrag kann nicht jeder stellen. Beschränkungen ergeben sich bei allen drei Rechtsbehelfen durch das Erfordernis einer (Klage- oder Beschwerde-)‌Befugnis bzw. Beschwer,28 bei der Revision außerdem durch die Reduktion auf einen bestimmten Personenkreis.

(1) Die Befugnis und ihr funktionales Äquivalent der Beschwer sichern den Zusammenhang mit der materiellrechtlichen Ebene und schließen auf diese Weise die gefürchtete „Popularklage“ aus.29 Anders als beim innerprozessualen Rechtsmittel, wo die Beschwer teilweise einfach formell anhand der Abweichung von Antrag und Entscheidung im vorangegangenen Verfahren bestimmt wird,30 kommt für die Anfechtungsklage im Rahmen von § 42 II VwGO ebenso wie für die Verfassungsbeschwerde im Rahmen von § 90 I BVerfGG nur eine materielle Beschwer in Betracht.31

(2) Mit der „Formalität“ der Befugnis/ Beschwer eng verbunden ist die Frage nach dem berechtigten Personenkreis. Eine Anfechtungsklage und eine Verfassungsbeschwerde kann jeder erheben, der sich durch den betreffenden Rechtsakt verletzt sieht (§§ 42 II VwGO, 90 I BVerfGG); das kann also auch jemand sein, den der Kontrollierte nicht selbst zum Adressaten seiner Entscheidung gemacht hat. Während dies bei Anfechtungsklagen nicht selten ist (Stichwort Drittanfechtung, etwa im Nachbarschafts- oder Konkurrentenstreit), ist es bei Verfassungsbeschwerden auf die angesichts Art. 19 IV GG eher theoretische Situation beschränkt, dass gegen die Vorentscheidung kein Rechtsweg gegeben ist (vgl. § 90 II BVerfGG). Demgegenüber gibt es bei der Revision kaum Möglichkeiten für Dritte, zu diesem Zeitpunkt noch in den Rechtsstreit einzusteigen – das Rechtsmittel ist grundsätzlich nur den Beteiligten von Ausgangsverfahren und -entscheidung gegeben (s. § 132 I VwGO); auch hier finden sich aber Ausnahmen (vgl. § 395 IV StPO: Anschluss als Nebenkläger auch nach dem Urteil, um Rechtsmittel einzulegen).

3. … veranlassen eine Rechtskontrolle

In allen Fällen ist die Sachentscheidung nach einem juridischen Maßstab zu treffen.32 Die Anfechtungsklage verlangt die Prüfung von Rechtswidrigkeit und Rechtsverletzung (§ 113 I 1 VwGO); die Revision ist begründet, wenn das Urteil auf einer Verletzung des Rechts (§§ 545 ZPO, 137 I VwGO) bzw. des Gesetzes (§ 337 StPO) beruht; die Verfassungsbeschwerde setzt erkennbar voraus,33 dass durch die Maßnahme ein verfassungsbeschwerdefähiges Recht verletzt wurde (§ 90 I BVerfGG). Es wird also grundsätzlich die Vorentscheidung nicht ersetzt (die Baugenehmigung vom Verwaltungsgericht erteilt, die Strafsache vom Bundesverfassungsgericht abgeurteilt), wie es zumindest ursprünglich beim Rechtsmittel der Berufung die Idee war,34 sondern auf Rechtsfehler kontrolliert.35

Bei näherem Hinsehen verwischt diese Idee der bloßen Überprüfung einer Vorentscheidung freilich etwas,36 wenn etwa das Revisionsgericht nachträgliche tatsächliche oder rechtliche Entwicklungen noch berücksichtigt.37 Der Kontrollcharakter der Anfechtungsklage wird relativiert, wenn ein nachträgliches „Rechtswidrigwerden“ oder „Rechtmäßigwerden“ von Verwaltungsakten für möglich gehalten wird.38

4. … führen im Erfolgsfall (zumindest) zur Kassation

Ist das Kontrollergebnis negativ, so kommt es zu einem gerichtlichen Gestaltungsakt (nicht nur einer Feststellung oder Verpflichtung), der den Rechtsakt des Kontrollierten unmittelbar aufhebt (§§ 113 I 1 VwGO, 562 I ZPO, 144 III 1 Nr. 2 Teil 1 VwGO,39 353 StPO, 95 II Hs. 1 BVerfGG). Revision und Verfassungsbeschwerde haben gemeinsam, dass in diesen Fällen eine Zurückverweisung der Sache an den Kontrollierten in Betracht kommt (§§ 563 I, IV ZPO, 144 III 1 Nr. 2 Teil 2 VwGO, 354 II StPO, 95 II Hs. 2 BVerfGG);


25 Vgl. Kempny (Fn. 17), 156f.

26 Das Fehlen eines Antragsgegners bei der Verfassungsbeschwerde (betont von Dörr, Die Verfassungsbeschwerde in der Prozeßpraxis, 2. Aufl., 1997, Rn. 6) fällt nicht ins Gewicht; iÜ. ist auch bei der Revision die kontrollierte Vorinstanz nicht mehr beteiligt.

27 Baur, in: Summum ius summa iniuria, 1963, 97 (109).

28 Die Staatsanwaltschaft hat eine Sonderstellung, vgl. Allgayer, in: MünchKomm-StPO, Bd. 2, 2016, § 296 Rn. 48.

29 Vgl. Reimer (Fn. 2), 462–466.

30 Aus dem Gesetz folgen die Maßstäbe nicht unmittelbar. Vgl. je mwN. Rimmelspacher, in: MünchKomm-ZPO, Bd. 2, 5. Aufl., 2016, Vor § 511 Rn. 16–20; Rudisile, in: S/S/B (Fn. 19), Vor § 124 Rn. 40–42 (2016); Gericke, in: KK-StPO, 7. Aufl., 2013, § 337 Rn. 41. Entgegen Rudisile, aaO., Rn. 41, und ganz im Sinne Rimmelspachers, ist die formelle Beschwer auch beim Beklagten möglich, weil und soweit dieser einen (Abweisungs-)Antrag stellt; s.a. M. Stürner, Die Anfechtung von Zivilurteilen, 2002, 140–142.

31 Tatsächlich lässt sich für das Verwaltungsprozessrecht die Konstellation einer Abweichung von Antrag und Entscheidung bei der Versagungsgegenklage wiederfinden, die sich ebenfalls als Überprüfung einer Behördenentscheidung darstellt und insofern ebenfalls als revisionsähnlich rekonstruiert werden könnte. Das kann hier nicht weiter ausgeführt werden.

32 Dazu im Zusammenhang Reimer (Fn. 2), 332–341; Kempny (Fn. 17), 177–181; s.a. Schmidt (Fn. 22), 20 (Revision/Verfassungsbeschwerde).

33 Vgl. Kempny, Der Staat 53 (2014), 577 (614) mN.; s.a. Miebach, Zur Willkür- und Abwägungskontrolle des Bundesverfassungsgerichts bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile, 1990, 31, der ebenfalls mit § 113 VwGO vergleicht (und mit der Revision, 34).

34 Vgl. kritisch Gilles (Fn. 7), 70f., 191–194 mN.; vergleichend Kolotouros (Fn. 7), §§ 18–25.

35 Gegen Rechtsmittelcharakter der Verfassungsbeschwerde Giebelmann, Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen der Zivil-, Verwaltungs- und Verfassungsgerichte, 1956, 132–136. Allerdings kann man die Verfassungsbeschwerde bezüglich der Grundrechtsnormen durchaus als „Superrevision“ bezeichnen, vgl. mwN. Zuck (Fn. 20), Rn. 27.

36 Vgl. etwa Kempny (Fn. 17), 94–96.

37 Wie ausdrücklich § 354a StPO. Zur VwGO: stRspr. seit BVerwGE 1, 291 (298–300), dazu mwN. Kempny (Fn. 17), 95 Fn. 176; zur ZPO: Krüger, in: MünchKomm-ZPO (Fn. 30), § 559 Rn. 24–33.

38 Vgl. Schenke, VwProzR, 15. Aufl., 2017, Rn. 798–804b.

39 § 144 III VwGO nennt die Aufhebung nicht für den Fall der Sachentscheidung des Revisionsgerichts, diese enthält aber sicher ebenso eine Gestaltung in Bezug auf die Vorentscheidung; vgl. Eichberger/Bier, in: S/S/B (Fn. 19), § 144 Rn. 64 (2016).

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bei der Anfechtungsklage kann das unterbleiben,40 weil die Verwaltung – anders als ein Gericht – bezüglich des Obs einer neuen Entscheidung frei bleibt. Während Anfechtungsklage und Verfassungsbeschwerde sich aber auf die kassatorische Wirkung beschränken,41 zeichnet sich die Revision dadurch aus, dass das Gericht zusätzlich42 auch eine reformatorische Entscheidung treffen kann, das heißt: eine solche, die sich ihrem Regelungsthema nach selbst an die Stelle der Vorentscheidung setzt. Hierzu kann das Revisionsgericht verpflichtet sein (§§ 563 III ZPO, 354 I StPO), ihm kann aber auch ein Auswahlermessen eingeräumt sein (§§ 144 III VwGO, 354 Ia 2 StPO).43

IV. Zwischenfazit, Caveat, weiteres Programm

Klar dürfte nach dem Vorstehenden geworden sein, dass eine voreilige Gleichsetzung der betrachteten Rechtsbehelfe verschiedener rechtlicher Provenienz nicht in Frage kommt. Besonders deutlich ist das auf der positivrechtlichen Ebene: der Gesetzgebung steht es (im Rahmen der verfassungsrechtlichen Determinanten des Verfahrensrechts44) selbstverständlich frei, sie unterschiedlich auszugestalten, und so haben sich denn auch einige Differenzen gezeigt. Dies vorausgeschickt, erscheint es angesichts der funktionalen Parallelen aber doch als ein sinnvolles Unterfangen, die Rechtsbehelfe zu vergleichen; und im Rahmen der Auslegungsspielräume (Rechtserzeugungsanteile) bei der Anwendung der verschiedenen Verfahrensordnungen ist es dann durchaus möglich, etwaige Parallelen fruchtbar zu machen, die aus der gemeinsamen Funktion als „Anfechtungsmittel“ resultieren.

Der entsprechende Vergleich von Verfassungsbeschwerde und Revision ist gelegentlich gezogen worden. Eine „Ausfüllung von Lücken“ der §§ 90ff. BVerfGG durch Zuhilfenahme des Revisionsrechts wurde von einem scharfen Beobachter bald vorgeschlagen, nachdem die Verfassungsbeschwerde als neuartiger Rechtsbehelf eingeführt worden war.45 Und auch später hat man versucht, die mitunter undurchsichtig erscheinenden Begründetheitsmaßstäbe der Verfassungsbeschwerde durch Anleihen aus dem Revisionsrecht (etwa: „Verstoß gegen die Denkgesetze“) zu präzisieren.46

Vergleichbaren Überlegungen soll nun anhand der verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage weiter nachgegangen werden.

C. Dogmatischer Ertrag für die Anfechtungsklage

Ebenso, wie die Rechtsmitteldogmatik von der Anfechtungsklage lernen kann (etwa: die Revision eher als eigenständiges Anfechtungsmittel denn als bloße Prozessfortsetzung zu deuten47), lassen sich auch Vorschläge formulieren, womit die Verwaltungsprozessrechtsdogmatik vom Rechtsmittelrecht angeregt werden könnte. Exemplarisch sollen hier zwei skizziert werden, einer bezogen auf das gerichtliche Vorgehen zur Sachverhaltsermittlung, der andere auf den Maßstab der gerichtlichen Begründetheitsprüfung.

I. Sachverhaltsermittlung

Der erste Vorschlag lautet: Ähnlich wie ein Revisionsgericht sollte auch ein Anfechtungsgericht nur in engen Grenzen über „Tatfragen“ nachzudenken haben. Für die Rechtsprüfung, die den inhaltlichen Kern einer Revision bildet, sind die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz im Regelfall zugrunde zu legen – „außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind“ (§ 137 II VwGO), wenn also die Vorinstanz gerade bei diesen Feststellungen das (Verfahrens‑)‌Gesetz verletzt hat. Nicht ganz unähnlich verfährt auch tatsächlich normalerweise ein Verwaltungsgericht im Anfechtungsverfahren: Behörde und Kläger haben den Sachverhalt im vorangegangenen Verwaltungsverfahren typischerweise bereits erarbeitet, so dass der Sachverhalt hier seltener streitig ist als in Zivil- oder Strafsachen und die von der Behörde dem Gericht regelmäßig nach § 99 I VwGO weitergereichte Sachakte insofern Grundlage und Ausgangspunkt bilden kann. Entsprechend geringere Aufmerksamkeit wird denn auch dem verwaltungsgerichtlichen Beweisrecht (§§ 96–98 VwGO) meist zuteil.48

Dies alles scheint jedoch manchmal mit schlechtem Gewissen zu passieren, hat doch nach § 86 I VwGO ein Verwaltungsgericht ausdrücklich „den Sachverhalt von Amts wegen“ zu erforschen. Diese Vorschrift führt viele zu der Annahme, alles Tatsächliche, was der Verwaltungsentscheidung zugrunde lag, sei im Prozess noch einmal ganz neu zu ermitteln;49 nur ausnahmsweise dürfte die Grenze der Amtsermittlung – etwa im Sinne einer Mitwirkungslast – zurückgeschoben werden.50

Eine solche Lesart von § 86 I VwGO erscheint aber nicht zwingend. Schon der Umstand, dass die Vorschrift im übergreifend geltenden 9. Abschnitt des Gesetzes steht, weist darauf hin, dass sich ihre Bedeutung je nach Klageart unterscheiden kann. Bei einer allgemeinen Leistungsklage etwa, wo das Gericht grundsätzlich51 ohne vorgeschaltete Verwaltungsinstanz entscheidet, hat die volle Amtsermittlung dann ihren guten Sinn ebenso wie bei §§ 244 II StPO, 83 I 1 ArbGG.52 Die Ermittlungspflicht braucht aber nicht weiter zu reichen als für die zu entscheidende Rechtsfrage nötig,53 bei der Anfechtungsklage also die nach der Rechtswidrigkeit und Rechtsverletzung (§ 113 I 1 VwGO). Dies aber könnte man durchaus revisionsähnlich interpretieren: dann wäre vom


40 Am nächsten dran ist noch die Regelung des § 113 III VwGO; selbst hier steht die Verwaltung aber nicht unter einer Entscheidungspflicht, vgl. Gerhardt, in: S/S/B (Fn. 19), § 113 Rn. 52 (1996).

41 Ausnahme: § 113 II VwGO (geldbetragsbezogene Verwaltungsakte).

42 Vgl. Kolotouros (Fn. 7), § 81; Stürner (Fn. 30), 39; zur VwGO beachte Fn. 39.

43 Zu dieser Ermessenskonstellation vgl. Reimer (Fn. 2), 340.

44 Vgl. Reimer (Fn. 2), 76–82.

45 Schmidt (Fn. 22), 21.

46 Miebach (Fn. 33), 71–74.

47 Vgl. wiederum Gilles (Fn. 7).

48 Für die Praxis: Kothe, Beweisantrag und Amtsermittlung im Verwaltungsprozess, 2012; Vierhaus, Beweisrecht im Verwaltungsprozess, 2011.

49 Stellvertretend: Dawin, in: S/S/B (Fn. 19), § 86 Rn. 15f. (2016).

50 Vgl. zB. Köhler-Rott, Der Untersuchungsgrundsatz im Verwaltungsprozeß und die Mitwirkungslast der Beteiligten, 1997; Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz und Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2002, 352 („apokryphe Wechselbeziehung“ zwischen Gericht und Beteiligten). Zur Parallele im Verwaltungsverfahrensrecht Kobor, Kooperative Amtsermittlung im Verwaltungsrecht, 2009.

51 Ausgenommen im Beamtenrecht, s. § 126 II BBG, § 54 II BeamtStG.

52 Zur Funktion vgl. Reimer (Fn. 2), 206f.

53 Im Grundsatz ebenso Dawin, in: S/S/B (Fn. 19), § 86 Rn. 49a (2016).

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Verwaltungsgericht der Verwaltungsakt zu untersuchen (1) auf Verfahrensfehler54 einschließlich solcher bei der Sachverhaltsermittlung und (2) auf materiellrechtliche Fehler unter Zugrundelegung des behördlich ermittelten Sachverhalts. An die Stelle einer vollen Sachverhaltsaufarbeitung durch das Verwaltungsgericht könnte man sich insofern beschränken auf eine Überprüfung der Sachverhaltsermittlung der Behörde.55 Das Problem der Einhegung der Amtsermittlungspflicht (durch Mitwirkungslasten usf.) würde sich dadurch weitgehend erledigen.

II. Begründetheitsprüfung

Zweiter Vorschlag: Auch den Begründetheitsmaßstab der Anfechtungsklage, wovon eben schon die Rede war, kann man in Parallele zu den Bestimmungen zur Begründetheit der Revision(en) lesen. Für letztere ist maßgeblich, dass das Urteil auf einer Rechts- oder Gesetzesverletzung beruht (§§ 545 ZPO, 137 I VwGO bzw. 337 StPO). Das wird gelesen als eine doppelte Voraussetzung: (1) einem objektiv vorliegenden Verstoß der Vorinstanz gegen eine Norm, worauf die Vorentscheidung auch beruht, und (2) der subjektiven Berechtigung des Revisionsführers, gerade diesen Verstoß auch zu rügen. Die Übertragung auf die Voraussetzungen des § 113 I 1 VwGO – Rechtswidrigkeit und Rechtsverletzung – drängt sich förmlich auf.

1. Zum Verständnis der „Rechtswidrigkeit“

Der Ausdruck „rechtswidrig“ bedeutete dann: auf der unterbliebenen oder unrichtigen Anwendung einer Rechtsnorm beruhend.

a) Unterbliebene oder unrichtige Anwendung einer Rechtsnorm

Rechts- und Gesetzesverletzung werden im Zivil- bzw. Strafprozessrecht darüber bestimmt, dass „eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden“ sein muss (§§ 546 ZPO, 337 II StPO); diese Definition kann über § 173 S. 1 VwGO auch auf das Verwaltungsprozessrecht bezogen werden, das sie für die Revision nicht ausdrücklich enthält.56 Da hier direkt der Rechtsnormbegriff verwendet wird, helfen für die nähere Bestimmung dieses Maßstabs die Definitionen aus §§ 12 EGZPO, 7 EGStPO nicht weiter. Wie dort wird unter einer Rechtsnorm aber – wie für das deutsche positive Recht üblich57 – nur das Außenrecht verstanden, also alle „Gesetze im materiellen Sinn“.58

Genau dieses Verständnis bildet auch für die Anfechtungsklage den Grundsatz. Erfasst sind damit vor allem Verfassungs-, Parlamentsgesetzes-, Verordnungs- und Satzungsbestimmungen über Inhalt und Vorbereitung der Verwaltungsentscheidung. Ein Verstoß etwa gegen Verwaltungs- oder Dienstvorschriften genügt grundsätzlich nicht;59 höchstens vermittelt über einen Gleichheitssatz wie Art. 3 I GG können diese einmal zum Tragen kommen, soweit die Vorschriften nicht durch extensive Gesetzesauslegung ausnahmsweise zu „normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften“ erhoben wurden.60

Eine Konstellation lässt sich im Lichte dieses Vergleiches hervorheben: wie steht es um die Fälle, wo sich die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts aus dessen Unvereinbarkeit mit einem früheren Individualrechtsakt zu ergeben scheint? Zu denken ist etwa an eine Zusicherung (§ 38 VwVfG*61 ) oder eine vertragliche Unterlassungsverpflichtung der Behörde (§ 54 VwVfG*). Für eine Revision lässt man derlei Rügen nicht durchgreifen, wohl aber nach hM bei der Anfechtungsklage.62 Manche Fälle mag man dabei lösen können, indem man auf die gesetzliche Ebene wechselt63 – Verstoß gegen die Zusicherung kann ein Verstoß gegen § 38 III VwVfG* sein, wenn die Behörde unrichtig diesen Erlöschenstatbestand angenommen hat. In den verbleibenden Konstellationen sollte man dagegen angesichts der Revisionsparallele überlegen, ob die Anfechtungsklage vielleicht doch nicht das richtige Rechtsschutzinstrument ist – eine vertragliche Verpflichtung, die entsprechend §§ 137 S. 2 BGB, 62 S. 2 VwVfG* das rechtliche Können der Behörde ja nicht einschränkt, ist auch sonst schließlich regelmäßig mit allgemeiner Leistungsklage durchzusetzen,64 die dann hier auf Aufhebung des vertragswidrigen Verwaltungsakts gerichtet wäre. Konzediert werden muss, dass wegen § 61 II 3 VwVfG* nur mit Zwangsgeld (§ 172 VwGO) vollstreckt werden könnte und nicht nach §§ 894 ZPO, 167 I 1 VwGO durch Fiktion der behördlichen Aufhebungsentscheidung, so dass der Rechtsschutz etwas weniger effektiv wäre als bei einem unmittelbar die Aufhebung bewirkenden (kassatorischen) Anfechtungsurteil.

b) Beruhen der Vorentscheidung auf dem Fehler

Die Vorentscheidung muss, damit eine Revision begründet ist, auch auf der unterbliebenen oder unrichtigen Anwendung der Rechtsnorm beruhen (§§ 545 I ZPO, 137 I VwGO, 337 I StPO). Diese Voraussetzung wird bei der Anfechtungsklage implizit mitgedacht, lässt sich aber unter Einsatz revisionsrechtlicher Kategorien präziser entfalten. Wenn die „Rechtswidrigkeit“ des Verwaltungsakts in „formelle“ und „materielle“ aufgespalten wird,65 so kann man das revisionsähnlich beziehen auf die Unterscheidung zwischen dem (Verwaltungs-)‌Verfahrensrecht und dem von der Behörde bei der Entscheidung anzuwendenden Sachrecht. Auf sachrechtlichen Fehlern beruht die Vorentscheidung immer, auf Verfahrensfehlern nicht unbedingt.

Zwar gilt bei der Anfechtungsklage keine Einschränkung der Verfahrensmängelprüfung, wie sie §§ 557 III 2 ZPO, 137 III VwGO,


54 Vgl. zu deren Sonderstellung Sachs, VerwArch 97 (2006), 573 (577–581); dens., in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl., 2012, § 31 Rn. 40–57.

55 AA. Breunig, in: BeckOK VwGO, 42. Ed., 2017, § 86 Rn. 30.

56 Eichberger/Buchheister, in: S/S/B (Fn. 19), § 137 Rn. 90 (2016).

57 Insoweit in Abweichung vom rechtstheoretischen Sprachgebrauch; vgl. zum Verhältnis Reimer, Jura 2014, 678 (680–682).

58 Gericke (Fn. 30), Rn. 8. § 137 I VwGO schließt dabei grundsätzlich Landesrecht aus; die im Landesrechtsverstoß liegende Verletzung der Gesetzesbindung nach Art. 20 III GG sollte dann ebenfalls unbeachtlich sein, so überzeugend Miebach (Fn. 33), 34.

59 Überholt insofern BGH, MDR 1970, 210.

60 Vgl. Reimer (Fn. 57), 684–687 mN.

61 Der Asteriskus soll anzeigen, dass neben dem VwVfG des Bundes auch die entsprechenden Landesgesetze (einschließlich des LVwG SH) gemeint sind.

62 Gerhardt, in: S/S/B (Fn. 19), § 113 Rn. 20 (1997).

63 Vgl. Krüger, in: MünchKomm-ZPO (Fn. 30), § 545 Rn. 3.

64 Vgl. Bonk/Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hg.), VwVfG, 8. Aufl., 2014, § 54 Rn. 206.

65 Etwa Schenke (Fn. 38), Rn. 731; kritisch Hufen, VwProzR, 10. Aufl., 2016, § 25 Rn. 3.

Reimer, Überprüfungsverfahren98

344 II 2 StPO bewirken; alle ersichtlichen Verfahrensfehler sind also für das Verwaltungsgericht beachtlich. Aber zu fordern, dass der Verwaltungsakt für das Prozessrecht auf dem Verfahrensfehler auch beruhen muss, ist damit nicht ausgeschlossen. Da die „formelle Rechtswidrigkeit“ nicht im Inhalt der getroffenen Entscheidung liegt, muss ihre Relevanz für deren Bestand ohnehin besonders konstruiert werden.66

Es fehlt für die Anfechtungsklage auch eine Entsprechung zu den „absoluten“ Verfahrensfehlern der §§ 547 ZPO, 138 VwGO, 338 StPO, wo das Beruhen unwiderleglich vermutet wird. Ein gewisses funktionales Äquivalent dazu enthält das geltende Verwaltungsrecht auf der materiellrechtlichen Ebene67 in § 44 II Nr. 1–3 VwVfG*, wonach bestimmte formelle Fehler den Verwaltungsakt nichtig machen.68

2. Zum Verständnis der „Rechtsverletzung“

Mit dem Merkmal „Rechtsverletzung“ enthält § 113 I 1 VwGO einen Gesichtspunkt ausdrücklich, der bei den Bestimmungen zur Revision fehlt: den subjektivrechtlichen Bezug zum Verfahrensinitiator. Der Anfechtungskläger muss durch die Rechtswidrigkeit der Vorentscheidung gerade „in seinen Rechten verletzt“ sein; hierin liegt ein Kernstück des deutschen Verwaltungsrechtsschutzsystems (und wird im Grunde zugleich das Merkmal „rechtswidrig“ redundant, denn ohnehin ist die objektive Verletzung einer Norm notwendige Voraussetzung der Verletzung eines subjektiven Rechts69 ).

Auch hierzu gibt es eine revisionsrechtliche Parallele, die allerdings – soweit ersichtlich – nur in Strafsachen erörtert wird und auch dort nicht unumstritten ist: nämlich die sogenannte „Rechtskreistheorie“, wonach die verletzte Rechtsnorm gerade den Revisionsführer schützen muss.70 Hierin kann man durchaus eine Gemeinsamkeit der auf subjektiven Rechtsschutz ausgerichteten Rechtsbehelfe sehen, die bei den gleichermaßen erstinstanzlichen Verfahren von Verwaltungsbehörde und Strafgericht besonders virulent wird, wo nicht selten die Rechtsstellung Dritter mitbetroffen wird.

Gleichwohl wird der Punkt „Rechtsverletzung“ bei der Anfechtung eines belastenden Verwaltungsakts normalerweise ganz klein gemacht und auf bloßes Abhaken reduziert: wenn eine Belastung rechtswidrig ist, ergibt sich daraus nach hM sofort die Rechtsverletzung. Relevante Fälle sind hier fast nur, dass ein anderer als der Adressat klagt (zB Nachbaranfechtung) oder das materielle Recht die Rügbarkeit eines Fehlers ausdrücklich beschränkt (zB § 46 VwVfG*71 ).

3. Konsequenzen für den Prüfungsaufbau

Aus dem Vorstehenden lassen sich einige Schlussfolgerungen dafür ziehen, wie die Begründetheitsprüfung nach § 113 I 1 VwGO ausgehend vom Gesetz systematisch strukturiert werden könnte. Wenn unter „Rechtswidrigkeit“ die Verletzung einer Rechtsnorm verstanden wird, so liegt es nahe, die Begründetheitsprüfung – statt als „formelle oder materielle Rechtswidrigkeit im Hinblick auf die Rechtsgrundlage“ – als einen Durchgang aller möglicherweise verletzten Rechtsnormen anzulegen. Hier sollte dann jeweils sowohl das Beruhen des Verwaltungsakts auf der etwa bejahten Normverletzung als auch die subjektive Betroffenheit des Klägers dadurch untergebracht werden.72

Die Reihenfolge der betrachteten Normen ist dabei im Grunde eine Frage der Zweckmäßigkeit, so dass am Bekannten und Bewährten weitgehend festgehalten werden kann. Beginnen kann man durchaus mit Zuständigkeits- und Verfahrensnormen. Die größte Bedeutung wird bei belastenden Verwaltungsakten typischerweise dem grundrechtlichen Vorbehalt des Gesetzes mit der Frage zukommen, ob die Maßnahme von einem Gesetz getragen wird; in diesem Rahmen wären die Tatbestandsvoraussetzungen einer Befugnisnorm zu prüfen. Hinzu träten diejenigen einfach- und untergesetzlichen Bestimmungen, die nicht zu den Voraussetzungen der Befugnisnorm zählen, aber ebenfalls den Verwaltungsakt „rechtsverletzend“ machen können, wie etwa die Gebote der Bestimmtheit (§ 37 I VwVfG*) oder der Ermessensfehlerfreiheit (§ 40 VwVfG*).73

Die inhaltliche Verwandtschaft von Anfechtungsklage und Revision lässt einen derart strukturierten Prüfungsaufbau umso plausibler erscheinen.

D. Schlussbetrachtung: Taktik und Praxis

Vorgeschlagen wurde eine veränderte Perspektive auf die VwGO-Anfechtungsklage. Für die gerichtliche Praxis verändert sie nicht viel: der Urteilsstil lässt, strenggenommen (wie in der Ziviljustiz), das Aufbauschema „Rechtsgrundlage–formell–materiell“ ohnehin eigentlich nicht zu. Für die Prüfung bis zum Ersten Staatsexamen hat sich dieser Aufbau allerdings etabliert und wird meist erwartet; aber wenn ein Prüfling doch wie hier vorgeschlagen verfährt, sollte man das mE. nicht beanstanden. Darauf kann man derzeit freilich (noch) nicht vertrauen.

Ganz anders liegt es für die Forschung: diese mögen die vorstehenden Überlegungen weiter anregen, unorthodoxe Beziehungen herzustellen und fruchtbare Vergleiche auch über eingefahrene Grenzen hinweg zu versuchen.


66 Sachs (2006, Fn. 54), 580f.

67 Vgl. Reimer, Die Verwaltung 50 (2017), 395.

68 Ähnlich Bettermann, FS Ipsen, 1977, 271 (283f.).

69 Ebenso Weyreuther, FS Menger, 1985, 681 (688); Schenke (Fn. 38), Rn. 730 mit Fn. 1; Hufen (Fn. 65), § 25 Rn. 48.

70 StRspr. seit BGHSt 11, 213; differenziert befürwortend etwa Frisch, in: Wolter (Hg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, 173 (bes. 188–200); s.a. Bauer, NJW 1994, 2530; vgl. Gericke (Fn. 30), Rn. 44 mwN. auch zur Gegenauffassung.

71 Die Funktion dieser Bestimmung wird von der Regierungsbegründung, BT-Drucks. 7/910, 66, tatsächlich (wenn auch unter etwas anderem Gesichtspunkt) revisionsähnlich erklärt.

72 Ähnlich offenbar Gerhardt, in: S/S/B (Fn. 19), § 113 Rn. 25 (2016).

73 Während Ermessensnicht- und -fehlgebrauch als „ermessensspezifische Fehler“ iSv. Alexy, JZ 1986, 701 (713–716) grundsätzlich nur § 40 VwVfG* verletzen, beinhaltet eine Ermessensüberschreitung zwangsläufig die Verletzung auch noch einer anderen gesetzlichen Bestimmung. Durch eine solche Fehler-verdoppelnde Betrachtung wäre indes nicht viel gewonnen (vgl. schon Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, 387); diese anderen Rechtsnormen sollten deshalb als selbständige Gesichtspunkte angesehen werden, die die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts schon für sich begründen können.