Man lebt nur zweimal?

Die (kodifizierte) Tarifeinheit zwischen althergebrachter betrieblicher Ordnungsfunktion und zeitgenössischer Praxisferne

Stephan Sura *

A. Einführung

Die Tarifeinheit bei Tarifpluralität anhand des Prinzips „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ ist seit Mitte 2015 in § 4a TVG gesetzlich verankert, nachdem das BAG seinen dahin gehenden Rechtsprechungsgrundsatz im Jahre 2010 aufgab. Ihre Wiedereinführung auf Gesetzesebene war dabei vor allem auch politisch bedingt: Wegen der Erstarkung kleinerer Berufsgruppengewerkschaften mit Mitgliedern in betrieblichen Schlüsselpositionen und daraus resultierenden, teilweise ausartenden Arbeitskämpfen mit Einzelarbeitgebern wurde ihre Rückkehr sowohl von Arbeitgeber- als auch von Industriegewerkschaftsseite unmittelbar forciert – und infolgedessen im Herbst 2013 logischer Konsens bei der Regierungsbildung zwischen CDU/CSU und SPD zur gerade zu Ende gegangen Legislaturperiode. Nicht nur die jahrzehntelange Judikatur des BAG unterlag indes fast ebenso langer, insbesondere massiver verfassungsrechtlicher Kritik, vielmehr übertrug sich diese in der Folge auch auf den entstandenen Gesetzesentwurf, der die Belange von Minderheitsgewerkschaften zwar explizit berücksichtigen wollte, dies abgesehen von marginalen Beteiligungsrechten jedoch versäumte.

Mit Urteil vom 11.7.2017 hat das BVerfG das sog. „Tarifeinheitsgesetz“ gleichwohl als „weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar“ eingestuft.1 Nicht nur aufgrund zweier gegenteiliger Sondervoten ist den Karlsruher Richtern ihr verfassungsrechtliches wie arbeitspolitisches Unbehagen allerdings deutlich anzumerken, wenn sie das Gesetz nur unter erheblichem Auslegungs- und Nachbesserungsbedarf billigen. Als existierten für dessen Anwendung nicht bereits genug offene Fragen, ergeben sich aus der Entscheidung dementsprechend mehr neue Probleme als Antworten – es verwundert insgesamt kaum, dass das Tarifeinheitsgesetz bis heute kein einziges Mal angewendet wurde. Die kodifizierte Tarifeinheit im Betrieb: Weitgehend verfassungsgemäß, aber auch weitgehend der Wirklichkeit entrückt?

B. Rückblick: Der Grundsatz der Tarifeinheit

I. Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität

Der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb regelt seit über 60 Jahren die Fälle, in denen auf die Arbeitsverhältnisse in einem Betrieb mehrere Tarifverträge Anwendung finden können. Hierbei sind zwei Konstellationen zu unterscheiden: Sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichzeitig an mehrere Tarifverträge mit sich überschneidenden Regelungsbereichen gebunden, liegt Tarifkonkurrenz vor.2 In einem solchen Fall sind mindestens zwei Tarifnormkomplexe auf ein und dasselbe Arbeitsverhältnis anwendbar, z.B. durch das Nebenbeinander eines Verbands- und eines Haustarifvertrags, in der Nachbindungsphase gem. § 3 Abs. 3 TVG oder dann, wenn neben einem bestehenden Haus- oder Verbandstarifvertrag ein weiterer Tarifvertrag nach § 5 Abs. 1 TVG für allgemeinverbindlich erklärt wird.

Sofern ein Betrieb von mehreren Tarifverträgen erfasst wird, die mit unterschiedlichen Gewerkschaften geschlossen wurden, besteht im Gegensatz dazu Tarifpluralität.3 Dabei ist entscheidend, dass im Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien zueinander jeweils nur ein Tarifvertrag gilt. Mögliche Ursachen hierfür sind ebenfalls der Abschluss eines Haustarifvertrags, während der Arbeitgeber kraft Mitgliedschaft bereits an einen Verbandstarifvertrag gebunden ist, die Allgemeinverbindlicherklärung eines weiteren Tarifvertrags oder ein Verbandswechsel, allerdings stets im Zusammenspiel mit unterschiedlichen Gewerkschaften. Weder Tarifkonkurrenz noch Tarifpluralität liegt vor, wenn der Tarifabschluss darauf abzielt, den bereits bestehenden Tarifvertrag zu ergänzen, zu ändern, aufzuheben oder abzulösen.4

II. Auflösung

Das TVG enthielt ursprünglich keine Regelung für die beiden Konstellationen. Zur Auflösung einer Tarifkonkurrenz oder Tarifpluralität entwickelte das BAG daher den Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb, der bei Tarifkonkurrenzen auch weiterhin unverändert angewendet wird. Nach dem in diesen Fällen geltenden Spezialitätsprinzip setzt sich beim Aufeinandertreffen verschiedener Tarifverträge derjenige Tarifvertrag durch, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten steht und somit dessen Erfordernissen und Eigenheiten am ehesten gerecht wird.5 Danach geht insbesondere ein Haus- einem Verbandstarifvertrag vor.6 Ebenso gilt bei einem Verbandswechsel des Arbeitgebers der von seinem aktuellen Verband geschlossene Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1 TVG anstelle des vorherigen Tarifvertrags, der nur noch kraft Nachbindung wirksam ist.7 Im Fall gleicher Sachnähe bestimmt(e) hilfsweise der Organisationsgrad bzw.


Der Autor ist Student der Rechtswissenschaften mit Schwerpunkt Arbeits- und Sozialrecht sowie Examenskandidat an der Universität zu Köln. Daneben ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Ar- beitsrecht bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft am Standort Köln.

1 BVerfG, NZA 2017, 915, 916 ff.

2 Soweit ersichtlich erstmals bewertet in BAG, NJW 1957, 845; dazu insgesamt statt vieler Braun, in: Thüsing/Braun (Hrsg.), Tarifrecht, 2. Aufl. 2016, 6. Kap. Rn. 119 f.

3 Erstmals wohl BAG, NJW 1957, 1006; instruktiv Greiner, in: Henssler/Moll/Bepler (Hrsg.), Der Tarifvertrag, 2. Aufl. 2016, Teil 9 Rn. 101 f.

4 Vgl. nur jüngst BAG, NZA 2015, 950, 952.

5 Für die Tarifkonkurrenz anschaulich BAG, NZA 2005, 1003, 1004; für die Tarifpluralität sowie das langjährige Festhalten am Grundsatz der Tarifeinheit auch dort siehe BAG, NZA 1991, 202, 203; AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 28.

6 Siehe etwa BAG, NZA 2001, 1085, 1086 f.

7 Dazu BAG, AP TVG § 3 Nr. 3.

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die Repräsentativität den Vorrang.8 Begründet wurde der Grundsatz der Tarifeinheit vor allem mit dem Erfordernis, eine tarifliche Ordnung im Betrieb zu gewährleisten und damit Widersprüchlichkeiten bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen vorzubeugen.9 Nach dem Prinzip „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ wurde weitgehend aus Gründen der Praktikabilität, der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit immer nur einem Tarifvertrag Geltung zugesprochen; alle sachferneren Tarifverträge wurden verdrängt, nahezu immer solche kleinerer Gewerkschaften. Für die Tarifkonkurrenz schließt sich auch das überwiegende Schrifttum dieser Rechtsprechung bis heute an.10

III. Kritik für die Anwendung bei Tarifpluralität

In Fällen der Tarifpluralität lehnte dagegen nahezu die gesamte Literatur die Anwendung des Grundsatzes der Tarifeinheit von jeher ab. Allem voran wurde dafür der Verstoß gegen die in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte individuelle und kollektive Koalitionsfreiheit der betroffenen Gewerkschaft bzw. ihrer Mitglieder angeführt, deren Tarifverträge verdrängt werden.11 Da diese Verdrängung nicht gleichzeitig eine anderweitige, rechtsbegründende Wirkung habe, fielen sie zudem auf den Status von Nicht-Organisierten zurück.12 Auch die vom BAG angenommene Regelungslücke im TVG existiere nicht, vielmehr stehe die Auflösung der Tarifpluralität in einem offenen Widerspruch zu den §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG, welche die Koalitionsmitgliedschaft zur Grundlage und Legitimation der Tarifnormgeltung machen. Die betriebseinheitliche Geltung von Tarifnormen sei im System des TVG explizit nur für Betriebsnormen (§ 3 Abs. 2 TVG) vorgesehen.

C. Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit

I. Die Beschlüsse des BAG vom 27.1.2010 und 23.6.2010

Seitdem das BAG die Tarifeinheit bei Tarifpluralität nach und nach relativierte,13 indem es etwa auch bei Betriebsübergängen14 oder im Geltungsbereich des AEntG15 anfing, von seinem Grundsatz in immer neuen Facetten Abstand zu nehmen, und so gerade die pauschalen Argumente der Rechtssicherheit und Administrationseffizienz widersinnig machte, wurde indes auch ein Rechtsprechungswechsel immer wahrscheinlicher. Schlussendlich leitete der für das Tarifrecht zuständige 4. BAG-Senat im Jahre 2010 die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit bei Tarifpluralität ein, der sich der 10. Senat anschloss.16 Tragende Begründung war nunmehr, dass die Rechtsnormen eines Tarifvertrags in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen eines Betriebs als kollektiv ausgeübte Privatautonomie eine Geltendmachung von Grundrechten darstellen. Diese Grundrechtsausübung würde weitgehend entwertet, wenn ein von Grundrechtsträgern ausgehandelter Tarifvertrag nicht zur Anwendung kommen könne.17 Nur zum Schutz gleichwertiger verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter oder aus Gemeinwohlerwägungen könne darin ohne Gesetzesvorbehalt eingegriffen werden. Hieran fehle es beim Grundsatz der Tarifeinheit allerdings, da rein tatsächlich nicht erkennbar sei, dass eine generelle Tarifeinheit zur Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erforderlich wäre. Insgesamt bilde die Verdrängung eines Tarifvertrags einen nicht gerechtfertigten Eingriff sowohl in die kollektive als auch in die individuelle Koalitionsfreiheit und sei daher unvereinbar mit Art. 9 Abs. 3 GG; ferner ergebe sich im Umkehrschluss aus § 3 Abs. 2 TVG gar, dass die Tarifpluralität unmittelbar im TVG angelegt sei.18

II. Konsequenzen

Die Erfurter Richter erkannten die langwierige Kritik damit schließlich gar vollends an und übernahmen die entsprechenden Argumente für ihre Rechtsprechungsänderung, Tarifpluralitäten keiner Auflösung mehr zuzuführen. Dogmatisch zutreffend, blieben allein die Folgen des Paradigmenwechsels für die Praxis besorgniserregend, gerade, da Spartengewerkschaften mit Beschäftigten in beruflichen Schlüsselpositionen bereits seit geraumer Zeit damit begannen, Ambitionen für eine bedeutendere Eigenrolle im Tarifgeschehen zu entwickeln.19i etwa an den vom Marburger Bund organisierten umfangreichen Ärztestreik in den Jahren 2005 und 2006, der letztlich zu einem arztspezifischen Tarifvertrag und zur Loslösung von den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes sowie des durch ver.di vertretenen nicht-ärztlichen Krankenhauspersonals führte, vgl. resümierend „Einigung im Ärztestreik – Krankenhäuser bitten Bund um Hilfe“, 20

Die Annahme, kollidierende Rechtsgüter des Arbeitgebers von gleichem Rang oder Gemeinwohlbelange seien rein tatsächlich nicht gefährdet, schränkte das BAG in seinen Entscheidungserwägungen im Jahre 2010 wohlweislich als „derzeit“ ein.21 Was damals noch als rein potenziell eingestuft wurde, manifestierte sich in den Jahren danach in quantitativ nie dagewesenen tariflichen Auseinandersetzungen zwischen Berufsgruppengewerkschaften und einzelnen Unternehmen, die nicht nur zu enormen wirtschaftlichen Schäden beim jeweiligen Arbeitskampfgegner führten, sondern vielerorts auch zu einer Entzweiung der Solidargemeinschaft in der Belegschaft und zu erheblichen Beeinträchtigungen für


8 Für die Tarifkonkurrenz eher theoretischer Natur, siehe daher auch nur im obiter dictum BAG, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 16; mit Einführung von § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ferner ausschließlich für die Tarifpluralität geregelt und somit für die Tarifkonkurrenz damit wohl auch offiziell obsolet, vgl. Löwisch/Rieble, TVG, 4. Aufl. 2017, § 4a TVG Rn. 347.

9 Siehe nur BAG, NZA 1991, 202, 204.

10 Vgl. bspw. Wendeling-Schröder, in: Kempen/Zachert (Hrsg.), TVG, 5. Aufl. 2014, § 4 TVG Rn. 208; Wank, in: Wiedermann (Hrsg.), TVG, 7. Aufl. 2007, § 4 TVG Rn. 298; Franzen, in: ErfK, 17. Aufl. 2017, § 4a TVG Rn. 31.

11 Siehe z.B. Braun, in: Thüsing/Braun (Fn. 2), 6. Kap. Rn. 134; Wendeling-Schröder, in: Kempen/Zachert (Fn. 10), § 4 TVG Rn. 213; Dieterich, in: ErfK (Fn. 10), Art. 9 GG Rn. 85; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, 1999, S. 451 ff.; a.A. nur etwa Kania, DB 1996, 1921, 1922; Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1, 8 f.

12 Löwisch/Rieble (Fn. 8), § 4a TVG Rn. 19; Wank, in: Wiedemann (Fn. 10), § 4 TVG, Rn. 287.

13 Siehe z.B. schon für die alleinige Bindung des Arbeitgebers an den spezielleren Tarifvertrag BAG, NZA 1994, 667, 669.

14 BAG, NZA 1997, 1066, 1070; NZA 2001, 1318, 1323.

15 BAG, NZA 2007, 1111, 1116.

16 BAG, NZA 2010, 645; nachfolgend NZA 2010, 778 und finale Rechtsprechungsänderung in NZA 2010, 1068.

17 BAG, NZA 2010, 645, 650.

18 BAG, NZA 2010, 645, 651.

19

20 FAZ v. 18.8.2006, 1.

21 BAG, NZA 2010, 645, 656 f.

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die Allgemeinheit.22 Das BAG war sich diesen Schwierigkeiten im Betriebsverfassungs- und Arbeitskampfrecht zwar ausdrücklich bewusst, verwies sie aber zur Lösung in die Rechtsbereiche selbst.23 Nicht zuletzt gingen mit dem (vorzeitigen) Ende der Tarifeinheit auch neue individualarbeitsrechtliche Probleme einher, z.B. zur Zulässigkeit des Fragerechts nach der Gewerkschaftszugehörigkeit,24 ganz zu schweigen von den Konsequenzen für das Streikrecht und die Friedenspflicht einzelner Tarifverträge.25

III. Resonanz

Als erste und wohl auch erstaunlichste Reaktion auf die geänderte Rechtslage bildete sich ein Zusammenschluss aus den Spitzenverbänden von Arbeitgebern und Gewerkschaften, die einhellig für die gesetzliche Wiedereinführung der Tarifeinheit plädierten.26 Abgesehen vom offensichtlichen Interesse der Arbeitgeber an der Vermeidung von nie mehr endenden Arbeitskämpfen mit einer Vielzahl von Spezialgewerkschaften lag die Allianz gleichwohl auch von Seiten der Industriegewerkschaften nahe, mussten diese doch (neben dem ohnehin schon fortschreitenden Mitgliederschwund im Allgemeinen27) nunmehr einen deutlichen Bedeutungsverlust ihrer Tarifverträge fürchten. Kernforderung des Bündnisses war die schlichte Wiederherstellung des vorherigen Rechtszustands durch eine gesetzliche Regelung, nach der bei Tarifpluralität nur der Tarifvertrag Anwendung findet, an den die Mehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb gebunden ist.

Alternativ dazu (und von einem naturgemäß objektiveren Standpunkt) wurde die sog. „Professoreninitiative“28 zur gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit ins Leben gerufen, die an das Arbeitskampfrecht anknüpfte und zwar auch ein Mehrheitsprinzip vorsah, dieses aber nur im Überschneidungsbereich der konkurrierenden Tarifwerke Anwendung finden lassen wollte. Einer Minderheitsgewerkschaft sollte danach keine Arbeitskampfmaßnahme erlaubt sein, wenn der angestrebte Tarifvertrag vollkommen verdrängt würde. Begleitet wurde der Entwurf von einem Gesetzesvorschlag zur Regelung von Streiks in der Daseinsvorsorge,29 wie sie in vielen anderen europäischen Ländern bereits existiert. Trotz der besseren verfassungsrechtlichen Aussichten und praktischen Handhabbarkeit fand jedoch keines davon Anklang.

D. Die gesetzliche Rückkehr der Tarifeinheit

I. Das „Tarifeinheitsgesetz“

Entgegen aller schon gegen den Rechtsprechungsgrundsatz der Tarifeinheit bei Tarifpluralität erhobenen Argumente avancierte ihre gesetzliche Wiederverankerung anhand eines betriebsbezogenen Mehrheitsprinzips zu einer Herzensangelegenheit der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD in der gerade ausgelaufenen 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages, schließlich stellte sie auch das einvernehmliches Kernanliegen der jeweiligen Hauptinteressensgruppen hinter den Parteien dar.30 Kurz und klar erfolgte daher schon im Koalitionsvertrag der Parteien die Ankündigung, die „Tarifeinheit gesetzlich zu regeln, um den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken“.31 Wie von BDA und DGB angestrebt, sollte der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb „nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern festgeschrieben“ und „durch flankierende Verfahrensregelungen den verfassungsrechtlich gebotenen Belangen von Minderheitskoalitionen Rechnung tragen werden“ – lediglich ohne irgendeine Konkretisierung, wie gerade die Einschränkung der Tarifautonomie kleinerer Gewerkschaften verfassungskonform ausgeglichen werden könnte.

Nichtsdestotrotz trat das „Tarifeinheitsgesetz“ exakt gemäß dem Vorhaben am 10.7.2015 in Kraft.32 Prägender Teil des Gesetzes ist die Einführung von § 4a TVG, dessen Zweck nach § 4a Abs. 1 TVG die Vermeidung von Tarifkollisionen im Betrieb zur Sicherung der Schutz-, Verteilungs-, Befriedungs- und Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrags ist. Pathetisch formuliertes Ziel nach der Gesetzesbegründung ist dabei, die „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu sichern“.33 Inhaltlich ordnet § 4a Abs. 2 TVG ein Repräsentativitätsprinzip an: Nach § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG kann ein Arbeitgeber zwar grundsätzlich an mehrere Tarifverträge mit unterschiedlichen Gewerkschaften gebunden sein; soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge überschneiden, sind im Betrieb sodann aber nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat, § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG. Kollidieren die Tarifverträge erst zu einem späteren Zeitpunkt, ist dieser für die Mehrheitsfeststellung maßgeblich.

Der Gesetzgeber knüpft damit tatsächlich allein am Geltungsbereich und nicht, wie beim Tarifvorrang des § 77


22 Exemplarisch dienen die beiden parallelen Tarifkonflikte bei der Deutschen Lufthansa AG im Jahre 2015, bei denen die durch die Vereinigung Cockpit (VC) organisierten Piloten der Fluglinie insgesamt 13 Arbeitskämpfe abhielten, während das durch die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO) vertretene Kabinenpersonal wiederum etwa bis zu siebentätige Streiks ausrichtete, siehe „Der Preis der Härte“, SZ v. 10.11.2015, 17, bzw. „Kaputtstreiken“, SZ v. 14.11.2015, 4.

23 BAG, NZA 2010, 645, 655.

24 Bspw. und dabei fast schon symbolisch genau während des Gesetzgebungsverfahrens zum Tarifeinheitsgesetz abgelehnt durch BAG, NZA 2015, 306, 309.

25 Erste Bewertungen damals bei Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 1313, 1314 ff.; speziell zum Arbeitskampfrecht Henssler, RdA 2010, 65, 68 ff.

26 BDA/DGB, Gemeinsames Eckpunktepapier: Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern – Tarifeinheit gesetzlich regeln v. 4.6.2010, veröffentlicht auch in RdA 2010, 315.

27 Vgl. dazu die aktuelle Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Gewerkschaftliche Mitgliederstrukturen im europäischen Vergleich, IW-Trends 3.2017, S. 25 ff., nach der auf Datenbasis des European Social Surveys im Jahr 2014 nur noch ca. 15,6 % der deutschen Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert waren.

28 Bayreuther/ Franzen/ Greiner/ Krause/ Oetker/ Preis/ Rebhahn/ Thüsing/ Waltermann, Tarifpluralität als Aufgabe des Gesetzgebers, 2011.

29 Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge – Gesetzesentwurf, 2012.

30 Vgl. auch „Tarifeinheit soll Gewerkschaften befrieden“, FAZ v. 17.9.2013, 13.

31 CDU/CSU & SPD, Deutschlands Zukunft gestalten – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD v. 27.11.2013, S. 50.

32 BGBl. I 2015, S. 1130.

33 BT-Drs. 18/4062, S. 8.

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Abs. 3 BetrVG, am sachlichen Regelungsgegenstand der konkurrierenden Tarifverträge an. Der generelle Vorrang von Tarifverträgen der Mehrheitsgewerkschaft erfasst folglich ebenso Sachfragen, welche diese noch nicht geregelt hat. Ein Tarifvertrag einer Minderheitsgewerkschaft wird nur dann nicht verdrängt, wenn die Mehrheitsgewerkschaft ausdrücklich ergänzende Tarifregelungen durch andere Gewerkschaften zulässt; ihr Vorrang findet somit auch bei gewillkürter Tarifpluralität Anwendung. Minderheitsgewerkschaften erhalten gem. § 4a Abs. 4 Satz 3 TVG lediglich ein Nachzeichnungsrecht, durch das der Mehrheitstarifvertrag für ihre Mitglieder ebenfalls unmittelbar und zwingend gelten kann. Bei beginnenden Tarifverhandlungen trifft den Arbeitgeber bzw. den Arbeitgeberverband eine Bekanntgabepflicht, andere tarifzuständige Gewerkschaften haben außerdem ein Anhörungsrecht (§ 4a Abs. 5 Satz 1 und 2 TVG).34

II. Neuerliche Kritik und Fortlauf

Wie bereits an der Rechtsprechung zur Tarifeinheit gab es auch an § 4a TVG immense Kritik, zum einen wie gehabt verfassungsrechtlicher Natur35 – und das, obwohl das BAG diese quasi bestätigt hat –, zum anderen aufgrund zahlreicher praktischer Probleme, etwa bei der Ermittlung der Mehrheitsgewerkschaft, der eindeutigen Abgrenzung des Betriebs oder der Bewertung der Rechtmäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen.36 Auch weiterhin stelle die Verdrängung der Tarifverträge anderer Gewerkschaften vor allem eine Aushöhlung von Art. 9 Abs. 3 GG dar, die der mit dem Gesetz verfolgte Zweck nicht rechtfertigen könne, gerade, da die Handlungsfähigkeit im Tarif- und Streikgeschehen die Substanz einer Koalition ausmache. Der Tarifabschluss für Minderheitsgewerkschaften werde jedenfalls faktisch unmöglich gemacht, was insgesamt gar deren Existenz bedrohe.37 Hieran änderten weder die Rechte in § 4a Abs. 4 und 5 TVG noch die Möglichkeiten zu Abgrenzungsvereinbarungen oder Tarifgemeinschaften etwas, da diese auch bereits zuvor bestanden.38 Letztere dürften ohnehin durch den neuen, teilweise aggressiven Koalitionspluralismus realitätsfremd geworden sein. Nicht zuletzt sei die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Koalitionsfreiheit zugeordnet und somit schon grundsätzlich originäre Aufgabe der Koalitionen selbst – auch der Gesetzgeber habe daher jedenfalls stets die Garantie der Koalitionsbetätigung zu beachten.39 Dieser hätte sich insgesamt in keiner leichten Situation befunden,40 gerade auch wegen des öffentlichen Drucks; die in diesem Zusammenhang aber vielmehr benötigten Schranken für das Streikrecht zur Schaffung einer gemäßigteren Arbeitskampfmentalität, etwa durch zeitliche Grenzen für Warnstreiks oder die Einführung einer gesetzlichen Pflicht zur Durchführung eines Schlichtungsverfahrens,41 seien gleichwohl vollkommen ignoriert worden.

Nicht überraschend waren umgehend mehrere Verfassungsbeschwerden gegen § 4a TVG anhängig. Schon korrespondiere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Gesetz blieben allerdings erfolglos, da laut BVerfG nicht feststellbar gewesen sei, dass die zwischenzeitliche Fortgeltung des Gesetzes für die beschwerdeführenden Berufsgruppengewerkschaften oder für Dritte zu den notwendigen gravierenden, nicht revidierbaren Nachteilen führten.42

III. Verfassungsmäßigkeit des Tarifeinheitsgesetzes

1. Das Urteil des BVerfG vom 11.7.2017

Trotz der Beständigkeit aller Argumente stuften die Karlsruher Richter das Tarifeinheitsgesetz letztlich auch in den Hauptsachen als verfassungskonform ein – zumindest „weitgehend“.43 Dem BVerfG zufolge schütze Art. 9 Abs. 3 GG zwar auch den Bestand von Koalitionen, der sich gerade durch Tarifabschlüsse auszeichne und deren Verdrängung daher einen Eingriff in die Tarifautonomie darstelle. Zudem gingen damit auch grundrechtsbeeinträchtigende Vorwirkungen einher, etwa für das Werben von Mitgliedern, ihren Verbleib oder ihre Arbeitskampfbereitschaft.44 Dennoch seien diese Beeinträchtigungen weitgehend zu rechtfertigen. Der Gesetzgeber verfolge das legitime Ziel, zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie auch das Verhältnis von konkurrierenden Gewerkschaften untereinander zu regeln. Die Koalitionsfreiheit beinhalte in diesem Zusammenhang weder ein Recht auf absolute tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht, noch eine generelle Bestandsgarantie. Gerade für das Gemeinwohl sei es möglich, Paritätsstörungen gesetzlich zu regulieren, wofür der Gesetzgeber über einen weiten Handlungsspielraum verfüge. Die Einschränkungen des Tarifeinheitsgesetzes seien dafür überwiegend zumutbar, wenn ihnen durch eine restriktive Auslegung der Verdrängungsregelung, ihre verfassungsrechtliche Einbindung sowie durch eine weite Interpretation des Nachzeichnungsrechts Schärfen genommen würden.45

2. Verfassungskonformer Auslegungsbedarf

Zur Rechtfertigung statuiert das BVerfG bestimmte Auslegungsmaßstäbe für die Kollisionsauflösung. Hierzu gehöre zunächst die Beachtung der Minderheitsrechte in § 4a Abs. 4 und 5 TVG: Insbesondere das Nachzeichnungsrecht sei


34 Dazu insgesamt Twardy, RdA 2016, 357.

35 Statt vieler Henssler, RdA 2015, 222, 222 f.

36 Näher Bayreuther, NZA 2013, 1395, 1396 f.; Löwisch, DB 2015, 1102, 1102 f.

37 Richardi, NZA 2014, 1233, 1235; Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1, 6, 12 f.; Rüthers, ZRP 2015, 2, 4.

38 Einhellig Schliemann, NZA 2014, 1250, 1252; Gaul, ArbRB 2015, 15, 17; Henssler, RdA 2015, 222, 225.

39 Dazu anschaulich Ulber, NZA 2016, 619, 619 f.; siehe auch Greiner, in: Henssler/Moll/Bepler (Fn. 3), Teil 9 Rn. 168 f.; Ewer, NJW 2015, 2230, 2232; a.A. Papier/Krönke, ZfA 2011, 807, 827 ff. und Giesen, ZfA 2011, 1, 13 ff., die lediglich die Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit durch den Gesetzgeber annehmen; vermittelnd Braun, in: Thüsing/Braun (Fn. 2), 6. Kap. Rn. 156 sowie v. Steinau-Steinrück/Reiter, NJW-Spezial 2015, 434, 434, die § 4a TVG zumindest für den Bereich der Daseinsvorsorge als notwendig ansehen, da dort zudem nicht die tarifliche Leistungsfähigkeit im Vordergrund stehe.

40 Mit der „Quadratur des Dreiecks“ auf den Punkt gebracht von Hromadka, NZA 2014, 1105.

41 Henssler, RdA 2015, 222, 222 f.; so auch zur BDA/DGB-Initiative schon Lehmann, DB 2010, 2237, 2241 f.; näher zu Lösungsansätzen im Arbeitskampfrecht Hufen, NZA 2014, 1237, 1238 f.; zur Neuverteilung des Arbeitskampfrisikos Kalb, RdA 2015, 226.

42 BVerfG, NZA 2015, 1271, 1273.

43 BVerfG, NZA 2017, 915, 916 ff.; umfassende Analyse bei v. Steinau-Steinrück/Gooren, NZA 2017, 1149.

44 BVerfG, NZA 2017, 915, 917.

45 BVerfG, NZA 2017, 915, 922 f.

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danach so auszulegen, dass es sich auf den gesamten verdrängenden Tarifvertrag bezieht.46 Daneben hebt das Gericht die Nutzung der Regelungsmöglichkeiten unter den Betroffenen selbst hervor, etwa im Hinblick auf die Tarifdispositivität von § 4a TVG oder die Ergänzung mit Bestimmungen aus dem verdrängten Tarifvertrag. Des Weiteren gebiete eine verfassungskonforme Handhabung des Gesetzes ein Verbot der Verdrängung existenzrelevanter tariflicher Inhalte, z.B. zur Alterssicherung oder Arbeitsplatzgarantien, also solcher Leistungen, auf die sich Beschäftigte in ihrer Lebensplanung typischerweise einstellen.47 Darüber hinaus hätten die Arbeitsgerichte bei Anwendung der Haftungsregeln sicherzustellen, dass bei Unsicherheit über ein potenzielles Haftungsrisiko weder bei klaren noch bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen ein solches für Arbeitskampfmaßnahmen begründet werden könne.48 Über einzelne, noch offene Fragen hätten ansonsten die Fachgerichte zu entscheiden, die überdies angehalten seien, die prozessrechtlichen Möglichkeiten zu nutzen, um die Offenlegung der Mitgliederstärke zu vermeiden.49

3. Nachbesserungsauftrag und Sondervoten

Unvereinbar mit dem Grundgesetz sei das Tarifeinheitsgesetz nur insoweit, als Vorkehrungen dagegen fehlten, dass die Belange von Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge einseitig vernachlässigt werden, etwa durch eine wirksame Vertretung in der Mehrheitsgewerkschaft bei der Verdrängung. Der Gesetzgeber habe daher bis Ende 2018 entsprechende Neuregelungen vorzunehmen.50 Bis dahin dürfe ein Tarifvertrag nur verdrängt werden, wenn dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.

Erwähnenswert sind zuletzt die Sondervoten der Richter Paulus und Baer, die dem Urteil in der Bewertung, der Weitergeltung des Gesetzes sowie der Überantwortung grundrechtlicher Probleme an die Fachgerichte nicht folgen.51 Inhaltlich sei das Ziel der Sicherung der Tarifautonomie zwar legitim, das Mittel der Verdrängung aber zu scharf. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Gesetz gar heftigere Konkurrenzen und Statuskämpfe in einzelnen Betrieben provoziere, sei hoch, die Geeignetheit zur Erreichung des Ziels daher fraglich. Auch die Annahme einheitlicher Arbeitnehmerinteressen durch Betonung der Bedeutung des Nachzeichnungsrechts sei fehlgeleitet. Sofern die Kollisionsregel nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei, wenn auch nur teilweise, dann könne sie nicht fortgelten.

E. Offene Probleme

Unabhängig von der Beurteilung der Entscheidung bedingen dessen Anforderungen an den Umgang mit dem Gesetz neue Baustellen für kommende Tarifkonflikte, obwohl das Tarifeinheitsgesetz diese eigentlich befrieden sollte. Problematisch erscheint dies gerade vor dem Hintergrund, dass es ohnehin bereits diverse offene Anwendungsfragen gibt.

I. Wirklichkeitsfremde Auslegungsweisungen des BVerfG

„Nicht zu übersehen“ sei nach dem Sondervotum der Richter Paulus und Baer, dass das Tarifeinheitsgesetz „auf einen einseitigen politischen Kompromiss […] zurückgehe“ und dazu „auf Einschätzungen der sozialen Wirklichkeit beruhe, an denen durchaus Zweifel bestehen“.52 Die beiläufigen Bemerkungen zu den Motiven des Gesetzes reflektieren auf die Konsequenzen des Urteils bezogen wiederum genau dessen Problemkern: Wo das BVerfG eigentlich eine klare Entscheidung für oder gegen die Geltung der Tarifeinheit bei Tarifpluralität fällen sollte, begründet es nun nur noch mehr Fragen. Fast künstlich versucht das Gericht, die Bedeutung der Minderheitenrechte in § 4a Abs. 4 und 5 TVG hervorzuheben, dabei erhält etwa das Nachzeichnungsrecht auch durch eine verfassungsrechtliche Akzentuierung für verdrängte Minderheitsgewerkschaften und ihre Mitglieder nicht mehr Gewicht. Wie die nachzubessernde, intensivere Berücksichtigung von deren Angehörigen im Mehrheitstarifvertrag konkret aussehen könnte, lassen die Karlsruher Richter ebenfalls offen. Gerade hier ignoriert die Entscheidung die betriebliche Realität, wo seit der Rechtsprechungsänderung des BAG in vielen Bereichen sowohl eine Entzweiung verschiedener Belegschaftsteile als auch Brüche innerhalb der gewerkschaftlichen Solidarität stattgefunden haben, die kaum darin münden werden, dass Großgewerkschaften manierlich-differenzierte Inhalte für Schlüsselberufe aushandeln, wie es die eigene Gewerkschaft für diese täte. Dass existenzrelevante Leistungen nicht verdrängt werden können, erscheint verfassungsrechtlich zwar angezeigt, kann aber ebenso zu vollkommen unterschiedlichen Arbeitsbedingungen innerhalb eines Betriebs führen, die vom Arbeitgeber zudem administrativ bewältigt werden müssen.

Durch den Auslegungsauftrag an die Arbeitsgerichte hinsichtlich des Haftungsrisikos bei Arbeitskämpfen erfährt der Karlsruher Rettungsversuch im Übrigen sein größtes Paradoxon: Was durch die Renaissance der Tarifeinheit gerade eingedämmt werden sollte, nämlich die immense Mehrung von Arbeitskampfmaßnahmen im Betrieb durch immer mehr Gewerkschaften, wird nun um ihre einzige Hemmschwelle erleichtert: das Haftungsrisiko bei Rechtswidrigkeit. Fraglich bleibt außerdem, was die Maßgabe bewirkt, die Gerichte sollen prozessrechtlich die Vertraulichkeit der Mitgliederzahlen gewährleisten, während das dazu eingeführte Beschlussverfahren bisher noch niemals durchgeführt wurde.53

II. Originäre Anwendungsfragen des Tarifeinheitsgesetzes

Fernab der entscheidungsimmanenten Probleme birgt das Tarifeinheitsgesetz dazu bereits in seinem genuinen Regelungsgehalt zahlreichen Klärungsbedarf. Ein wesentliches


46 BVerfG, NZA 2017, 915, 924 f.

47 BVerfG, NZA 2017, 915, 923.

48 BVerfG, NZA 2017, 915, 917 f.

49 BVerfG, NZA 2017, 915, 925.

50 BVerfG, NZA 2017, 915, 925, 927.

51 BVerfG, NZA 2017, 915, 929 f.

52 BVerfG, NZA 2017, 915, 925 & 928 f.

53 Zu diesem allgemein Löwisch, NZA 2016, 997.

Sura, Tarifeinheit123

Problemfeld von § 4a TVG bildet insbesondere die Umsetzbarkeit einer eindeutigen Ermittlung der Mehrheitsgewerkschaft. So irrelevant (weil offensichtlich) die Prüfung bei den in der Öffentlichkeit für Aufsehen erregenden Tarifkonflikten im öffentlichen Dienst oder Verkehrswesen sein mag, so eng kann sie in Spezialbetrieben mit überschaubaren Belegschaftsgrößen sein. Selbst bei freiwilliger Vorlage von Mitgliederlisten durch die Gewerkschaften, deren Vertraulichkeit indes auch das BVerfG nun nochmal betont, ist nicht unbedingt gewährleistet, dass diese auch zu einwandfreien Zuordnungen führen.54 Dabei darf ebenso wenig verkannt werden, dass Arbeitgeber und Mehrheitsgewerkschaft tarifvertraglich entsprechende Betriebszuschnitte vereinbaren können, um unliebsame Gewerkschaften in der Minderheit zu belassen.55 Nicht zuletzt können sich Mehrheitsverhältnisse während tariflicher Auseinandersetzungen verändern. Organisatorisches Chaos kommt außerdem auf Arbeitgeber dazu, die sich in hohem Umfang Bezugnahmeklauseln bedienen, bei denen nicht mehr klar ist, auf welche Tarifverträge sie verweisen. In der Literatur wurde dafür die Inanspruchnahme des Leistungsbestimmungsrechts des Arbeitgebers nach § 315 BGB in Betracht gezogen,56 was jedoch einen Verstoß gegen § 308 Nr. 4 BGB darstellen und zu dem Kuriosum führen könnte, dass so der Arbeitgeber für die Nicht-Organisierten vorgibt, welcher Tarifvertrag aus seiner Sicht am besten zum Betrieb passt.

Die Verdrängung eines Minderheitstarifvertrags kann ferner tarifrechtliche Konsequenzen haben: Mit der fehlenden Durchsetzung eigener Tarifverträge kann der Verlust der Tariffähigkeit einhergehen, wenn die Mehrheitsverhältnisse keine signifikanten Veränderungen in naher Zukunft anzeigen. Eine Koalition, die – trotz Mitgliedern in beruflichen Schlüsselpositionen – schon deshalb nicht zum Aushandeln eines Tarifvertrags in der Lage ist, weil von vorneherein klar ist, dass dieser keine Geltung erlangt, fehlt es womöglich an der notwendigen Durchsetzbarkeit gegenüber dem Tarifpartner.57 Das BVerfG geht diesbezüglich zwar auf die substanzielle Gefahr für den Mitgliederbestand ein, nicht jedoch auf die weitreichenderen Folgen für den möglichen Verlust der Gewerkschaftseigenschaft.

III. Anwendungshemmungen in der Praxis

Das übergeordnete Problem der kodifzierten Tarifeinheit besteht schließlich in ihrer bisher nur theoretischen Natur: Wohl nicht nur wegen seiner erst jüngst geklärten Verfassungsmäßigkeit, sondern gerade auch ob der aufgezeigten Begleitfragen wurde § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG bis heute kein einziges Mal angewendet.58 Dabei ist vor allem zu beachten, dass entgegen des medialen Eindrucks aufgrund der extremen Konflikte bei wichtigen Unternehmen für das Allgemeinwohl die tatsächliche Reichweite der Vorschrift nur einen geringen Bereich des Tarifwesens erfasst59 – und dort mithin auch ein Auflösungsbedürfnis bestehen muss. In einem der tariflichen Hauptbrennpunkte der letzten Jahre, dem Konflikt zwischen der Deutschen Bahn AG und der GDL, welcher insofern einen der seltenen möglichen Anwendungsfälle darstellte, wurde zur Vermeidung weiterer Eskalationen darüber hinaus gar die Nichtanwendung des Gesetzes diskutiert,60 bevor kurz vor dessen Inkrafttreten eine Tarifeinigung erzielt wurde.61 Da das BVerfG jetzt auch explizit auf die Tarifdispositivität der Regelungen hinweist, könnte dies in Anbetracht der explodierenden Arbeitskampfstatistik während der Entstehung des Tarifeinheitsgesetzes62 gar Vorbildcharakter haben und Auseinandersetzungen dort entschärfen, wo das eigentlich dafür geschaffene Gesetz nur neue Konfliktherde schafft.

F. Fazit

Wegen diverser Anwendungsfragen sowie aufgrund des durch das BVerfG angeordneten Auslegungsbedarfs gehen mit dem Tarifeinheitsgesetz samt seiner mehrheitsbezogenen Kollisionsauflösung mehr Probleme einher, als dass das Gesetz Antworten für eine klare Rechtslage liefert. Wenigstens bis zu ersten Entscheidungen der Arbeitsgerichte bewegen sich tarifplurale Konflikte demnach in einem Vakuum der Rechtsunsicherheit. Deren Beseitigung kann wiederum erst durch die tatsächliche Anwendung des Gesetzes erfolgen, die in Anbetracht des begrenzten Anwendungsbereichs sowie gewisser diplomatischer Restanstrengungen der Konfliktparteien jedoch bisher ausgeblieben ist. Gleichwohl lebt die gesetzliche Manifestation der Tarifeinheit – zumindest in der Theorie. Jenseits aller rechtlicher Fragen muss sich eine Gesellschaft, die sich arbeitspolitisch wesentlich über die Stärke und Ausgewogenheit ihrer Tarifautonomie definiert, im Endeffekt aber vielleicht auch schlicht mit den Beeinträchtigungen der Tarifpluralität abfinden und diesbezüglich auf die Vernunft der Tarifpartner vertrauen, wenn diese frei von politischen oder gesetzgeberischen Hintergrundaktivitäten agieren.


54 So auch schon Bayreuther, NZA 2013, 1395, 1396; Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1, 8 f.

55 Dazu umfänglich Löwisch/Rieble (Fn. 8), § 4a TVG Rn. 37 ff.; ebenso Gaul, ArbRB 2015, 15, 16.

56 Löwisch/Rieble (Fn. 8), § 3 TVG Rn. 642; Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 1313, 1315.

57 So auch schon Bayreuther, DB 2010, 2223, 2223; Ewer, NJW 2015, 2230, 2232.

58 Vgl. „Verfassungsgericht klärt Zukunft des Streikrechts“, FAZ v. 11.7.2017, 17.

59 Zu den genauen Eingrenzungen abermals Löwisch/Rieble (Fn. 8), § 4a TVG Rn. 44 ff.

60 Siehe „Tarifeinheitsgesetz erhitzt die Gemüter“, Handelsblatt Online v. 6.7.2015, verfügbar unter http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/gdl-streik-gesetz-tarif\linebreak einheitsgesetz-erhitzt-die-gemueter/12017814.html (zuletzt abgerufen am 11.11.2017).

61 Diese genießt infolgedessen Bestandsschutz, § 13 Abs. 3 TVG.

62 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Streikstatistik – Berichtsjahr 2015, nach der 2015 fast zehn Mal so viele Gesamtarbeitstage wegen Arbeitskämpfen ausfielen als im Vorjahr (verfügbar unter https://statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/201512/iiia6/strei\linebreak k/streik-d-0-201512-xls.xls, zuletzt abgerufen am 11.11.2017).