Lange Tradition und kurzes Gedächtnis des polnischen Konstitutionalismus

von RA Dr. Arkadiusz Radwan *

Polen ist stolz auf seine über zweihundertjährige Tradition des Konstitutionalismus. Die berühmte Verfassung der Republik vom 3. Mai 1791 gilt als die älteste moderne Verfassung Europas im Sinne der Aufklärung bzw. die zweitälteste, wenn man die Verfassung Korsikas von 1755 mitberücksichtigt. Doch die schwierigen Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben dazu beigetragen, dass die Polen nach der Wende von 1989 die Kultur der Rechtsstaatlichkeit teilweise erneut zu lernen hatten. Die Altauflagen von Lehrbüchern und Gesetzeskommentaren aus der Zwischenkriegszeit (II Republik), insbesondere diejenigen der Lemberger und Krakauer Professoren, wovon viele den Krieg leider nicht überlebten, haben Anfang der 90er Jahre als wichtige Wegbegleiter der polnischen Transformationsgesellschaft fungiert. Diese überlieferte Rechtskultur war ein wichtiger Baustein des polnischen Rechtstaates der letzten 25 Jahre, trotz aller ebenfalls nicht zu vernachlässigenden Verformungen der kommunistischen Zeit. Diese Verzerrungen haben die Wende in Form von zahlreichen institutionellen Schwachstellen überlebt und sind auch heute noch, insbesondere in der Justiz und im Hochschulwesen, wohl den zwei letzten Bastionen des – wenn man so will – Ancien Régime, zumindest was bemerkenswerte Reformimmunität dieser beiden Bereiche betrifft, präsent. Mancher mag nun mit gewisser Überraschung feststellen, dass die Rechtstaatlichkeit heute von ganz anderer Seite bedroht wird, nämlich von denjenigen Politikern, deren Stimmen bezüglich der Reformbedürftigkeit – zugegebenermaßen des Öfteren zu Recht – am lautesten zu hören waren. Und das ist die seit Herbst 2015 regierende Partei PiS (die ironischerweise als Recht und Gerechtigkeit übersetzt wird); dieselbe Partei, die die nationale Identität, Tradition und Symbolik, darunter diejenige der Verfassung von 1791, so hoch schätzt und zum wesentlichen Punkt ihres Parteiprograms macht.

A. Zerfall der Demokratie?

Freiheit und Demokratie sind so wertvoll, und in diesem Teil von Europa sogar vielleicht noch wertvoller als sonstwo in der modernen Welt, dass man sie niemals als selbstverständlich hinnehmen sollte. Aber es würde zu weit gehen zu behaupten, dass ein Zerfall der Demokratie in Polen stattgefunden hätte. Solange es die Versammlungsfreiheit gibt, die es den Menschen garantiert, vereint zu protestieren und ihre Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern (was im Übrigen in den letzten Monaten in allen Landesteilen, teilweise massiv, geschieht), solange die Mainstream-Medien größtenteils sehr kritisch mit den von der PiS arrangierten Entwicklungen umgehen, solange die politischen Parteien die aktuelle Krise in spätere Wahlsiege umwandeln können oder dadurch Wahlniederlagen einstecken müssen, je nachdem, wie sie mit der heutigen Verfassungskrise umgehen – solange all das funktioniert, ist jede Behauptung des Untergangs der Demokratie nicht hinreichend begründet. Umso schlimmer ist es, dass dies zur Inflation der Worte führt und die Glaubwürdigkeit eventueller künftiger Alarmsignale schwächt. Zudem treibt dies symmetrische Gegendarstellungen an, die zu verschiedenen Konspirationstheorien neigen, um die knallharte Haltung der neu gewählten parlamentarischen Mehrheit hinsichtlich des Verfassungsgerichts als eine angebliche Redoute gegen das korrupte und indolente alte Regime in Gestalt der ehemaligen Regierungspartei PO (Bürgerplattform) zu rechtfertigen – eine Narration, die viele PiS-Anhänger gerne hören.

Man würde die gegenwärtige Lage betreffend das Verfassungsgericht nicht richtig einschätzen, würde man bestreiten, dass andere Länder und andere Zeiten mit ähnlichen Entwicklungen zu tun hatten. Insbesondere hat Ungarn unter der Orbán-Regierung „erfolgreich“ die Rolle des Verfassungsgerichts marginalisiert. Aber auch in Tschechien unter Präsident Klaus, oder in jüngster Zeit in Rumänien unter der Regierung


* Der Autor ist Präsident des Maurycy-Allerhand-Instituts, Krakau.

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von Premierminister Ponta, kam es zu Konfrontationen zwischen der Exekutive und dem Verfassungsgericht. In den vergangenen Jahrhunderten haben verfassungsrechtliche Streitigkeiten auch die amerikanische Politik und Gesellschaft angeknabbert, wenn man sich an Franklin D. Roosevelts berüchtigten Versuch des court packing erinnert, der den Zweck verfolgte, Kontrolle über den Supreme Court zu gewinnen und ihn so positiv gegenüber dem New Deal zu stimmen. Noch ähnlicher ist der Streit vom Anfang des 19. Jahrhunderts über die Ernennung von Richtern durch den aus dem Amt scheidenden Präsidenten Adams, die daraufhin von seinem Nachfolger Jefferson unterbunden wurde (berühmter Fall Marbury vs Madison). In jüngster Zeit nach dem unerwartetem Tode von Supreme-Court-Richter Antonin Scalia wurde in den Vereinigten Staaten die Diskussion geführt, ob Ihr(e) Nachfolger(in) von dem amtierenden Präsidenten Obama oder bereits von dem künftigen, 45. US-Präsidenten gewählt werden soll – eine versuchte Ausdehnung des lame Duck-Konzepts.

Gleichwohl will ich keinesfalls den Ernst der Lage um das polnische Verfassungsgericht bagatellisieren. Ganz im Gegenteil: das alles kann genauso gut ein Auftakt zu noch seriöseren Eingriffen in die heilige Sphäre der bürgerlichen Freiheitsrechte sein. All die oben genannten Grundpfeiler der Demokratie sind zu einem gewissen Grad von deren rechtlicher Basis in Form von verfassungsrechtlichen Garantien abhängig. Bei der Idee, das Verfassungsgericht aus dem Weg zu schaffen, verfolgt die PiS möglicherwiese eine Salamitaktik, wobei weitere Schnitte noch zu folgen haben. Diese Einschätzung wird zunehmend durch jüngste Entwicklungen belegt, i.A. das neue streitige Gesetz über Einschränkungen im Grundstücksverkehr, die Reform der Staatsanwaltschaft oder das neue Gesetz über öffentlich-rechtliche Medien.

B. Nicht zu vernachlässigende Nuancen: ein feine Unangebrachtheit der Richter und die verfassungsrechtliche Gier der Bürgerplattform

Genauso wie in einer Shakespeare-Tragödie ist die Geschichte der verfassungsrechtlichen Krise in Akte aufgeteilt. Jedoch anders als in einer typischen Tragödie, wo eine böse, eine gute und eine tragische Figur auftreten und man intuitiv der PiS Regierung, der Opposition und dem Gericht die jeweiligen Rollen zuschreiben kann, weicht die verfassungsrechtliche Krise in Polen von diesem klassischen Schema ab. Sie basiert eher auf einem Plot, wo jeder der Beteiligten, einschließlich des Verfassungsgerichts selbst, zumindest für einen Teil der Katastrophe verantwortlich zu machen ist. Mindestens zwei der Akte der verfassungsrechtlichen Tragödie haben sich abgespielt, bevor die PiS an die Macht kam. Zum einen lässt sich eine feine Unangebrachtheit bezüglich der Beteiligung von drei der amtierenden Richter an der Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs über das Verfassungsgericht nur schwer leugnen, zumal es um weitaus mehr als nur eine nebensächliche Mitwirkung ging – aus den Unterlagen des zuständigen Parlamentsausschusses ab 2013 geht hervor, dass sie die ganze Zeit über am Gesetzgebungsverfahren aktiv mitgewirkt haben. Es geht nicht nur um die Vermengung der Rollen der Gesetzgebung und Rechtsprechung, sondern potentiell auch um die Tatsache, dass sich das Verfassungsgericht in die Position des iudex in causa sua stellt, sollte er je über die Verfassungsmäßigkeit dieses neuen Gesetzes zu entscheiden haben – eine Aussicht, die bald zur quälenden Wirklichkeit wurde. Was die Sache noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass der Grad, zu dem die Richter an den Arbeiten am Gesetzesentwurf beteiligt waren, sehr lange geheim gehalten wurde. Der Präsident des Verfassungsgerichts hat den Gesetzesentwurf samt den begleitenden Materialien nur widerwillig der Öffentlichkeit vorgestellt und dies erst, nachdem er durch eine Watchdog-NGO dazu gezwungen worden ist, die vor dem Obersten Verwaltungsgericht einen Sieg gegen das Verfassungsgericht errungen hat. Dies ist nur ein Teil der Hintergrundgeschichte, der keinesfalls eine Entschuldigung für die neuesten Ereignisse um das Verfassungsgericht sein soll. Dennoch kann es als ein Alibi der neuen Regierungspartei fürs Eingreifen angesehen werden. Ein wesentlich stärkerer Vorwand wurde leichtsinnig von der ehemaligen Regierungspartei PO und ihren verbündeten Ex-Präsidenten Komorowski geliefert. Der Auslöser für die Krise und ein Auftakt zu der künftigen Tragödie begann im Jahr 2013 und hatte seinen Höhepunkt im Sommer 2015. 2013 hat der damalige Präsident Bronisław Komorowski den oben genannten Gesetzesentwurf vorgelegt, der in enger Zusammenarbeit mit den Verfassungsrichtern, wenn nicht sogar ausschließlich von ihnen ausgearbeitet wurde. Diese Richter verdienen allerdings Anerkennung dafür, dass der Entwurf wichtige Verbesserungen bezüglich der Richterwahl enthielt, wodurch die Zusammensetzung des Gerichts qualitativ verbessert und der politische Einfluss geschwächt werden sollte. Die meisten der vorgeschlagenen Verbesserungen haben sich jedoch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens im von der PO kontrollierten Sejm nicht durchsetzen können. Stattdessen wurde gegen Ende der Amtszeit des damaligen Parlaments plötzlich eine neue, umstrittene Vorschrift eingeführt. Diese neue Norm, die technisch gesehen eine Übergangsnorm war, hat die scheidende Mehrheit dazu ermächtigt, in der letzten Minute fünf neue Verfassungsrichter, einen Drittel der Besetzung des Gerichts zu wählen, selbst wenn die zu ersetzenden, sich in Ruhestand begebenden Richter erst nach der Parlamentswahl am 25. Oktober 2015 ihre Amtszeit beenden sollten. Eine Usurpation, die der polnische Parlamentarismus in den nahezu 30 Jahren nicht gesehen hat. Der aus dem Amt scheidende Präsident Komorowski – nach der Wahlniederlage ganz klar ein lame Duck – hat das umstrittene Gesetz am 21. Juli 2015, d.h. in den letzten Tagen seiner Amtszeit, unterzeichnet. Kurze Zeit später wurde es bindendes Recht. Um die Ereignisse richtig darzustellen, muss betont werden, dass die umstrittene Vorschrift nicht Teil des ursprünglichen Entwurfs, der von den involvierten Verfassungsrichtern vorbereitet wurde, war, sondern dass sie lediglich am Ende des Gesetzgebungsverfahrens von Politikern dazu formuliert wurde. Die Suche nach irgendeiner Spur des Protests seitens der Richter, die an den Arbeiten am neuen Gesetzesentwurf beteiligt waren, bleibt jedoch fruchtlos. Basierend auf der umstrittenen Übergangsbestimmung hat die Wahl von allen fünf Richtern, am 8. Oktober 2015 während der allerletzten Sitzung des alten Sejm stattgefunden. Andrzej Duda, ein ehemaliges PiS-Mitglied und seit August 2015 Komorowskis Nachfolger als Präsident, hat sich allerdings geweigert, allen fünf Richtern den Amtseid abzunehmen. Die polnische Verfassung verleiht dem Sejm die alleinige Macht, Verfassungsrichter zu ernennen. Präsident


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Duda, der die Richter vereidigen sollte, machte aus einer reinen Formalität ein Mitbestimmungsrecht, ohne jegliche verfassungsrechtliche Grundlage dafür zu haben. Duda argumentierte, dass die Ernennung auf einem verfassungswidrigen Gesetz basierte. Durch seine Weigerung, den Richtern den Eid abzunehmen, hat der Präsident eigenwillig die Rolle des Verfassungsgerichts angenommen zu entscheiden, ob das Recht verfassungskonform ist oder nicht. Ganz am Rande sei zu erwähnen, dass das mangelnde Mitspracherecht des Präsidenten bei der Wahl der Verfassungsrichter rechtsvergleichend überraschend ist – fast alle Verfassungen, die, wie die polnische, eine direkte Wahl des Staatspräsidenten vorsehen und ihm dadurch eine starke demokratische verleihen, räumen dem Präsidenten auch Kompetenzen im Bereich der Richterwahl ein, die typologisch gesehen, entweder auf einem paritätischen Ernennungsrecht (z.B. ein Drittel des Gerichts) oder auf Mitbestimmungsrecht (z.B. die Wahl durch den Präsidenten muss noch von dem Parlament bestätigt werden, oder wählt der Präsident aus einer Mehrzahl von dem Parlament vorgeschlagenen Kandidaten) beruhen.

C. Die Spirale des Konflikts

Gleich nach der siegreichen Wahl hat die PiS beschlossen, mit der offensichtlichen Unterstützung von Duda einen kaum verschleierten Versuch zu unternehmen, sich das Verfassungsgericht zu unterwerfen. Die Ereignisse haben eine plötzliche und scharfe Wendung genommen. Die PiS hat ihren früheren Antrag auf Prüfung der Verfassungskonformität des vom alten Sejm verabschiedeten Gesetzes zurückgezogen. Nicht, dass sie plötzlich ihre Meinung hinsichtlich der Materie geändert hätten. Aber die Umstände haben sich geändert, und somit auch die Interessen. Getarnt als Hüter der Verfassung, ist die PiS der Entscheidung des Verfassungsgerichts zuvorgekommen und hat beschlossen, die Gesetzesänderungen nicht im Wege der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit durch das Verfassungsgericht, sondern im Wege eines Gesetzgebungsverfahrens, das von der Partei selbst kontrolliert wird, durchzubringen. Das neue Gesetz wurde am 19. November 2015 vom Parlament verabschiedet und am folgenden Tag von Präsident Duda unterschrieben. Der von der PiS kontrollierte Sejm hat so getan, als ob nichts passiert wäre und hat am späten Abend des 2. Dezember 2015 fünf neue Richter gewählt – einen Ersatz für die neu gewählten, jedoch nicht eingeschworenen Richter, deren Wahl vom neuen Parlament nun für nichtig erklärt wurde. Sofort danach, noch vor dem Morgengrauen des 3. Dezember, wurden vier der fünf neu gewählten Richter von Präsident Duda vereidigt und der fünften Richterin hat er sechs Tage später den Eid abgenommen. Die midnight judges, wie die Anfang des 19. Jahrhunderts im letzten Moment vom aus dem Amt scheidenden Präsident Adams bestellten Richter in den USA genannt wurden, sind in Polen des 21. Jahrhunderts zunächst als die in der letzten Sitzung vom alten Sejm gewählten Richter wiedergeboren und sind später in einem wörtlicheren Sinn auf der gegnerischen Seite des politischen Streits als Ersatz-Ersatzrichter wiedererschienen, die nach Sonnenuntergang gewählt und vor Sonnenaufgang vereidigt wurden. Wäre es aber legitim, Duda den neuen Jefferson zu nennen? Duda, der die in der letzten Minute seitens der PO erfolgte Wahl blockiert hat, genauso wie es Jefferson mit den Kandidaten seines Vorgängers Adams gemacht hat? Die Zeiten und der allgemeine Kontext verraten uns, dass dem nicht so ist.

Auf Antrag von der PO hat das Verfassungsgericht am 3. Dezember 2015 das erste Urteil über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über das Verfassungsgericht erlassen (Az.: K 34/15). Er hat festgestellt, dass der ehemalige Sejm das Recht hatte, lediglich drei neue Richter zu wählen, was bedeutet, dass die beiden anderen auf Grundlage von verfassungsrechtlich mangelhaften Vorschriften gewählt wurden. Darüber hinaus hat das Gericht festgestellt, dass der Präsident verfassungsrechtlich verpflichtet ist, unverzüglich den drei korrekt gewählten Richtern den Eid abzunehmen. Obwohl das Urteil endgültig, allgemeingültig und unanfechtbar sein soll, tritt es erst am Tag der Veröffentlichung in Kraft, welche unverzüglich zu erfolgen hat. Da jedoch die Regierung für das Amtsblatt zuständig ist, hat sie sich geweigert, das Urteil zu veröffentlichen. Durch den Missbrauch ihrer hilfsweisen, rein technischen Zuständigkeit hat die Regierung ohne jegliche verfassungsrechtliche Grundlage eine Superrevision des Urteils angestrebt. Schließlich hat die Regierung nachgegeben und das Urteil wurde am 16. Dezember 2015 – lange 2 Wochen nach seinem Erlassen – veröffentlicht. Aber dies geschah nicht, bevor ein neues Ass ausgespielt werden konnte, und zwar ein neues Änderungsgesetz, das von der PiS am 15. Dezember vorgelegt wurde.

Am 9. November hat das Verfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes vom 19. November 2015, das erst drei Wochen zuvor hastig von der PiS durchgebracht wurde und vom Präsidenten unterzeichnet wurde, entschieden (Az.: K 35/15). Das Änderungsgesetz wurde wortwörtlich vom Verfassungsgericht niedergemetzt. Die Veröffentlichung des Tenors wurde wieder verzögert und kam erst am 18. Dezember zu Stande.

D. Entmündigung des Verfassungsgerichts

Die Zeit, die mit dem Spiel mit der Verzögerung der Veröffentlichung gewonnen wurde, hat die PiS genutzt, um ein neues Manöver vorzubereiten. Und zwar wurde am 15. Dezember 2015 ein neuer Entwurf eines Änderungsgesetzes von der Regierungspartei vorgelegt. Ironischerweise wurde der Entwurf unter dem Arbeitstitel “Gesetz zur Sanierung des Verfassungsgerichts” angekündigt, da es angeblich aus dem toten Punkt ausbrechen sollte. Tatsächlich enthielt es aber eine Reihe von Bestimmungen, die das Verfassungsgericht weiter gefangen halten und es effektiv paralysieren sollten. Der Entwurf erntete weitgehende Kritik für seine Verfassungswidrigkeit. Trotz der Einwände hat die Mehrheitspartei das Gesetz in einem hastigen Verfahren durchgebracht und der Präsident hat es anschließend sofort unterzeichnet. Welche Änderungen hat das neue Gesetz eingeführt? Das aus 15 Richtern zusammengesetzte Gericht soll demnach überwiegend in voller Besetzung verhandeln, worunter die Anwesenheit von mindestens 13 Richtern verstanden wird. Dadurch wird das Gericht funktionsunfähig, es sei denn, es akzeptiert sofort die umstrittenen und eigentlich entlegitimierten Ersatz-Ersatzrichter, die von der PiS gewählt wurden und von Präsident Duda entgegen den Urteilen des Verfassungsgerichts vom 3. und 9. Dezember vereidigt worden sind. Ferner bedürfen die Entscheidungen einer Zweidrittelmehrheit und


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nicht wie bisher einer einfachen Mehrheit. Die Voraussetzung der qualifizierten Mehrheit ist nicht zufällig, da sie sehr schön mit der Blockademöglichkeit einhergeht, die die PiS durch ihre „Mitternachtsrichter“ erlangen wird. Des Weiteren sind die Fälle ungeachtet ihrer Dringlichkeit oder Wichtigkeit nach der Reihenfolge ihres Eingangs zu entscheiden. Ein Teil des Manövers war überdies, keine vacatio legis zu haben, m.a.W. soll das Gesetz am Tag seiner Verkündung in Kraft treten. Dadurch soll das Verfassungsgericht in einem Teufelskreis gefangen sein – die Prüfung des neuen Gesetzes soll gemäß diesem neuen Gesetz erfolgen und das Gesetz hat zum Ziel, solch eine Prüfung unmöglich zu machen. Die einzige Lösung wäre, das Verfassungsgericht unmittelbar auf Grundlage der Verfassung entscheiden zu lassen und das neue, auf den Prüfstand zu stellende Änderungsgesetz bei der Prüfung zu ignorieren. So hat auch das Verfassungsgericht getan und das „Sanierungsgesetz“ ungeachtet seiner Bestimmungen direkt aufgrund der Verfassung sowie des alten Gesetzes geprüft. Mit dem Urteil vom 9. März (Az.: K 47/15) hat das Gericht die Verfassungswidrigkeit des gesamten „Sanierungsgesetzes“ festgestellt. Die Regierung hat aber dem Beschluss die Qualifikation eines Urteils abgesprochen. Folglich wurde der Urteil nicht veröffentlicht. Das hat die Verfassungskriese auf eine neue Stufe gehoben. Direkte Konsequenz ist ein rechtlicher Chaos, das sich aus dem System-Dualismus ergibt – von nun an wird der Status aller künftiger Beschlüsse des Verfassungsgerichts streitig: die Regierung hält daran fest, es handele sich um keinen Urteil, während die Gerichte, darunter das Oberste Gericht und das Oberste Verwaltungsgericht die Befolgung dieses und aller künftiger verfassungsrechtlichen Urteile erklärt haben.

E. Verfassungsrechtliche Umwege

Wegen des Prestiges des Verfassungsgerichts und dessen Macht, die Politik der Regierung zu beeinflussen, ist es verlockend, beides zu tun: einerseits die Sitze am Verfassungsgericht als einen weiteren politischen Trumpf zu besetzen und andererseits den möglichen negativen Effekt der Unabhängigkeit des Gerichts gegenüber des Spielraums der Regierung, jegliche Strategien oder Ziele zu verfolgen, zu neutralisieren. Die Schwächung des Verfassungsgerichts kann genauso gut ein bewusster Versuch sein, den Weg für die Umsetzung der sozialpolitischen Agenda der Partei zu ebnen. Leicht zu erkennen ist eine Analogie zu Roosevelts court packing von 1937, womit versucht wurde, die möglichen Risiken für den New Deal die seitens der Justiz befürchtet wurden, aus dem Weg zu schaffen. Aber der Reform- und Umbildungseifer der PiS-Führung beschränkt sich nicht auf sozialpolitische Fragen, wie die ersten Monaten der neuen Regierung haben erkennen lassen. Es werden auch andere Gebiete ins Visier genommen. Die Medien und der öffentliche Dienst gehörten zu den ersten, die eine weitgehende Reorganisation erfahren haben. Auch die bereits angesprochenen Einschränkungen des Grundstücksverkehrs, die Reform der Staatsanwaltschaft, die angestrebte Repolonisierung der Banken, Einführung von speziellen Steuern für (ausländische) Banken und großflächigen Einzelhandel können für rechtliche Kontroversen sorgen. Auch die Politik der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit – ein neuer Akt der Lustration, der Durchleuchtung, wird von manchen Vertretern der neuen Regierung angekündigt. Neue offensive umfasst auch den konservativen Kurs in der sittlichen Sphäre (Abtreibung, Home-ehe). Die Leitidee ist aber, die Sozialstruktur des Landes, wie sie durch die berühmten Gespräche des Runden Tisches und begleitende Verhandlungen, die zu einer friedlichen Transformation ab 1989 geführt haben, definiert wurde, neu zu gestalten und die vorgefundenen Macht- und Interessenverhältnisse zu revidieren. Diese Verhältnisse, oder Beziehungen, die durch Zusammenwachsen der Teile der post-kommunistischen und der Post-Solidaritätseliten entstanden und die auch klare Gewinner der Systemtransformation der letzten 25 Jahren geworden sind, werden als der układ bezeichnet, dessen Verurteilung seit Jahren zu Kaczynskis Rhetorik gehört. Der Versuch der Entlegitimierung der Gründungslegende der III. Republik Polen, der bislang in der öffentlichen Debatte unternommen wurde, findet nun ihre Fortsetzung in der institutionellen Umorganisierung. Der Umfang dieser Umorganisierung geht jedoch über das demokratische Mandat hinaus, das die PiS von den Wählern erhalten hat.

Betrachtet man den breiteren Zusammenhang, scheint eine Entwicklung parallel zur ungarischen Orbanisierung gar nicht so unrealistisch. Und hier sind wir wieder, zurück zur Demokratie und dazu, den Menschen zu geben, was sie wollen. Die Budapest-Analogie wurde von den polnischen Wählern gar nicht mit Entsetzen betrachtet; viele schätzen Orbáns kompromisslose Außenpolitik und kühne Haushaltsreformen. Die ungarische Parallele ist allerdings beschränkt. Obwohl der Erfolg der PiS in der Geschichte der polnischen Politik der vergangenen 25 Jahre beispiellos ist (zum ersten Mal amtiert in Warschau ein Einparteienkabinett), so hat Kaczyńskis PiS – anders als Orbáns Fidesz – keine verfassungsrechtliche Mehrheit erlangt. Keiner stellt die starke Legitimierung der PiS – einer Partei, die als Wahlversprechen weitgehende sozialpolitische und Systemreformen ankündigte – infrage. Dennoch gewährt die erlangte Mehrheit ihr nicht die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern, selbst nicht in Zusammenarbeit mit Kukiz’15, einer neuen, Anti-Establishment-Partei, die durch einen charismatischen Ex-Rocker ins Parlament geführt wurde. Obwohl Kaczyńskis Partei die qualifizierte Mehrheit verfehlt hat, versucht sie es nun auf zweifelhaften Umwegen, Ähnliches zu bewirken, als ob sie die verfassungsändernde Mehrheit erreicht hätten. So lässt sich auch die Marginalisierung des Verfassungsgerichts als wesentlicher Baustein dieser Strategie erklären. Der Preis für diese Tricks und Umwege ist aber hoch: das Niedertrampeln der Rechtsstaatlichkeit und das Ruinieren der politischen und verfassungsrechtlichen Kultur. In den letzten Wochen kommt zunehmende Alienation Polens in der EU, gefolgt durch die Drohung seitens der Kommission, die rechtlichen Maßnahmen gegenüber dem, die demokratischen Standards verletzendem Mitgliedstaat, in die Wege zu leiten

F. Parteigeist frisst Konstitutionalismus

Wenn man jedoch die Moral und die Ästhetik, geschweige denn die Legalität der hartnäckigen Einstellung der Partei gegenüber dem Verfassungsgericht beiseitelegt, stellt sich die Frage, ob diese eigensinnige Haltung auf irgendeine Weise effektiv sein wird, wenn man die Effektivität am Grad des Erreichens der zugrunde liegenden Programmziele misst. Mit Sicherheit vertieft diese Haltung die tribalistische Spaltung


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der polnischen Gesellschaft, den Hauptantrieb der Wahlsiege des letzten Jahrzehnts: zunächst des der PiS (2005), dann des der PO (2007 u. 2011) und neulich wieder der PiS (2015). Der Konfrontationskurs und die ablehnende Rhetorik machen aus einer politischen Konkurrenz einen Krieg der Welten und das Verfassungsgericht wird darin sowohl zur Kriegsbeute als auch zum Instrument des politischen Kampfes. Die im Herbst 2015 unternommenen Versuche der rechtlich und moralisch zweifelhaften Besetzung des Verfassungsgerichts, zunächst durch die PO und später – mit noch größerer Unverschämtheit – durch die PiS sind jedoch einmalig in der nahezu dreißigjährigen Geschichte des polnischen Verfassungsgerichts. Erst aber die Ablehnung der Veröffentlichung des verfassungsgerichtlichen Urteils vom 9. März 2016 hat die Krise in eine ganz neue Dimension gebracht.

Es lässt sich nicht abstreiten, dass ein skrupelloser politischer Kampf stattfindet, und die unangenehme Verfassungskrise ist beides, ein Ergebnis des Kampfes und ein Mittel, den Kampf zu gewinnen. Die sozio-institutionelle Basis der Krise ist in einer schwachen verfassungsrechtlichen Kultur der Politiker auf beiden Seiten und in der sich vertiefenden Spaltung der Weltanschauung der polnischen Gesellschaft zu sehen. Der Riss an der Verfassung ist eine Verlängerung des Bruchs der polnischen Gesellschaft. Der Streit über das Verfassungsgericht passt zu der Logik der tribalistischen Spaltungen, die anhand der Einstellung gegenüber der Systemtransformation nach 1989 und deren Bewertung definiert wird. Die PiS-Anhänger bewerten diese Transformation mit kritischen Augen, als Erzeugnis des Bündnisses der neuen und alten Eliten, die ihre Einflüsse stärken und sich immer mehr von der Gesellschaft entfremden. Die Tonlage der unterlegenen PO und des Ex-Präsidenten Komorowski, die sich auf dem wirtschaftlichen Erfolg Polens konzentrierte, stimmte zwar mit der Wahrnehmung Polens im Westen überein, widersprach aber dem Gefühl zahlreicher sozialer Gruppen, die an diesem Erfolg nur unzureichend teilgenommen haben. Der Unterschied bei der Bewertung der Transformation und ihrer politischen Bedingtheit wurde zum Hauptpunkt der Spaltung der Gesellschaft. Das Anheizen dieser Spaltung ist in den Augen der Führungen der meisten polnischen Parteien, nicht nur von der PiS, eine lohnende politische Strategie. Die Polarisierung zerstört den Ton der öffentlichen Debatte und steigert den Populismus. Im Wettrennen um Ausdrucksstärke kommt es zur Devaluation von Begriffen. Deswegen sprechen die Parteien des Streits über das Verfassungsgericht im Grunde nicht dieselbe Sprache, obwohl sie ähnliche Ausdrucksformen verwenden.

Diese Diagnose wäre aber nicht vollständig, wenn man übersehen würde, dass PiS ein dem „Sanierungsgesetz” ähnliches Gesetzesentwurf bereits Mitte 2007 fertig hatte. Damals vor knapp 10 Jahren, als die Partei zum ersten Mal an Regierung war, hat PiS schlicht nicht geschafft, sein Vorhaben durchsetzen. All dies belegt, dass es bei dem Streit nicht wirklich um die Sitze am Verfassungsgericht geht, also nicht, oder zumindest nicht nur darum, wer wie viele Richter ernennen darf. Es muss vielmehr als eine gewisse Fortsetzung des Streits zwischen Carl Schmitt und Hans Kelsen verstanden werden – der Konfrontation des politischen Dezisionismus mit der Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese Spur hat in der jüngsten Zeit ein Krakauer Politologe Krzysztof Mazur verfolgt und sie auf Kaczynskis formative Studienzeit zurückgeführt, als dieser durch seinen akademischen Lehrer Stanisław Ehrlich, den Warschauer Rechtstheoretiker und Anhänger von Dezisionismus, beeinflusst wurde.

G. “Entzauberung” des Verfassungsgerichts durch einen überparteilichen Kompromiss?

Die Intensität und die Natur der Krise macht eine „Entzauberung“ des Verfassungsgerichts erforderlich. Und es geht nicht nur um den Pragmatismus, d.h. den juristischen Rahmen und den ungelösten Streit über die Richterwahl. Auch steht die symbolische Macht des Verfassungsgerichts auf dem Spiel. Das Ansehen, das das polnische Verfassungsgericht vor dem Ausbruch der Krise genossen hat, selbst wenn es ein wenig schwächer ausfiel als das des deutschen Bundesverfassungsgerichts oder des amerikanischen Supreme Court, war immer noch bemerkenswert hoch. Dies kam noch deutlicher zum Vorschein, wenn man das Vertrauen des Volkes in das Verfassungsgericht dem Vertrauen in die allgemeine Justiz gegenüberstellte – hier entstand eine positive Spanne, die in Polen viel größer war als in Deutschland oder den USA, wo das Vertrauen in die allgemeine Justiz nicht so stark abweicht vom Vertrauen in das deutsche Bundesverfassungsgericht bzw. den amerikanischen Supreme Court. Und obwohl ich die Qualität der bisherigen Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichts absolut nicht idealisieren möchte, glaube ich, dass die symbolische Bedeutung des Gerichts ein nicht zu vernachlässigender Wert an sich ist. Diese symbolische Bedeutung und die überpolitische Anerkennung durch das Volk ist nun vorbei.

Nur ein vorbildliches Gesetzgebungsverfahren, das vollkommen transparent ist und unter der Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Lehre stattfindet, könnte die Lage retten und helfen, das Vertrauen der Bürger in die Rechtsstaatlichkeit wiederaufzubauen sowie die Legitimität des Verfassungsgerichts zu stärken, nachdem es einen Vertrauensverlust aufgrund der letzten Ereignisse erlitten hat. Paradoxerweise kann die Tatsache, dass alle Streitparteien, das Verfassungsgericht nicht ausgenommen, zumindest für einen Teil des Zusammenbruchs verantwortlich zu machen sind, als eine Prämisse für einen zukünftigen überparteilichen Kompromiss angesehen werden. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass dies ohne dauerhaften Druck seitens der Öffentlichkeit und ohne Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die einen unparteiischen Standpunkt beziehen und für die Sache anstatt für Politik kämpfen, geschehen wird. Die Politisierung des aktuellen bürgerlichen Widerstands und Versuche seitens aktiver politischer Führer, die Bewegung für sich einzunehmen, wie es zunehmend geschieht, wird die Spaltung nur vergrößern. Die Entwicklung der letzten Tage hat gezeigt, dass das polnische Volk gewillt ist, auf die Straßen zu gehen, wenn die Justiz bedroht wird. Allerdings sollten sie sich nicht an die Seite der ehemaligen Attentäter stellen. Ebenfalls sollten internationale Organisationen und ausländische Regierungen die Komplexität des Falls nicht übersehen und auch seine Nuancen und Hintergründe nicht ignorieren. Ansonsten wird ihre Glaubwürdigkeit zumindest in den Augen eines wesentlichen Teils der Bevölkerung schwinden, für die sie als Anhänger einer bloßgestellten


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„kosmopolitischen Elite“, die mithilfe fremder Intervention versucht, die vom Volk anvertraute demokratische Legitimation den „reformatorischen Patrioten“ aus den Händen zu reißen, gelten werden. So motivierte Versuche der Unterstützung durch den Westen werden, selbst wenn sie von den besten Absichten geleitet sind, ein Teil des tribalistischen Streits werden und werden gleichzeitig die nationalistische und antieuropäische Rhetorik anheizen. Der Schlüssel für die Bewältigung der Krise wird eine Änderung des Paradigmas der politischen Konkurrenz sein, vom Konfrontations- zum Schlichtungskurs. Damit solch ein neues Paradigma angenommen werden kann, muss es als ein win-win-Lösung für die am Streit beteiligten Parteien konstruiert werden. Denn erst die richtige Erkennung der gesellschaftlichen Bedingungen und faktografischen Nuancen des Streits ermöglicht die Arbeit an Lösungsvorschlägen. Jegliche besorgte Stimmen von außen, insbesondere aus Deutschland, die diese Bedingungen und Nuancen ignorieren, können mehr Schaden anrichten als Gewinn bringen. Eine überparteiliche Verständigung, die auf verfassungsrechtlichen Werten, und nicht lediglich auf Interessen beruht, ist ein gewisses Ideal, wozu man nicht glaubwürdig aufrufen kann, ohne eine korrekte Diagnose der Genese der Krise zu stellen.