Streitgespräch des Bucerius Law Journals und der Bucerius Law Clinic*
Es diskutierten Professor Dr. Daniel Thym (Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht und Kodirektor des Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht an der Universität Konstanz), Dr. Roland Bank (Leiter der Rechtsschutzabteilung der UNHCR-Vertretung für Deutschland), Professor Dr. Dr. Paul Tiedemann (Richter am VG Frankfurt a.M., Honorarprofessor Justus-Liebig-Universität Gießen) und Dr. Ali Fathi (Kommunikationswissenschaftler, Gründer des Vereins iranischer Flüchtlinge e.V.). Die Moderation übernahm Professor Dr. Michael Fehling (Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht mit Rechtsvergleichung, Bucerius Law School, Hamburg).
Fehling: Ein herzliches Willkommen zu diesem Streitgespräch. An mir ist es erstmal, Ihnen unsere Diskussionsteilnehmer vorzustellen. Ganz zu meiner Linken Herr Dr. Roland Bank. Er ist Leiter der Rechtschutzabteilung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Deutschland. Ich bin sicher, dass er viel Spannendes und wahrscheinlich auch Bedrückendes über die tatsächliche Situation der Flüchtenden berichten wird.
Direkt neben mir begrüße ich dann Herrn Professor Dr. Daniel Thym. Prof. Thym hat an verschiedenen Universitäten studiert, unter anderem in Paris, und hat einen Master am Kings College in London gemacht. Promoviert und habilitiert hat Prof. Thym in Berlin mit einer Arbeit zum Migrations-Verwaltungsrecht, insofern ist er schon tief in unserem Themenbereich verankert. Seit 2010 ist Prof. Thym Inhaber eines Lehrstuhls für Europarecht, Völkerrecht und öffentliches Recht an der Universität Konstanz.
Zu meiner Rechten sitzt Herr Professor Dr. Dr. – also nicht nur juristischer, sondern auch philosophischer Doktor – Paul Tiedemann. Herr Tiedemann ist hauptberuflich Verwaltungsrichter in Frankfurt am Main und gleichzeitig Honorarprofessor an der Universität Gießen. Publikationsmäßig ist er aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht bekannt, verfügt aber auch im Asylrecht über praktische und über publizistische Erfahrung.
Zu guter Letzt möchte ich Ihnen Herrn Dr. Ali Fathi vorstellen. Herr Fathi ist selbst von Flucht betroffen, geborenen im Iran, ist er 1985 als politisch Verfolgter nach Deutschland gekommen. Herr Fathi hat hier Publizistik, Soziologie und Politologie studiert und promoviert, ist Co-Gründer des Vereins iranischer Flüchtlinge e.V. und arbeitet als Coach und Trainer für interkulturelle Kompetenz.
Nach der Vorstellung unseres Podiums würde ich dann gerne mit dem ersten Themenkomplex einsteigen und fragen, wer überhaupt als Flüchtling zu uns kommt, kommen will und aus welchem Gründen? Was sind die Fluchtrouten und wie sehen die Motive aus? Meine Bitte an Herrn Bank wäre es, uns hierzu einführend etwas zu sagen.
Bank: Vielen Dank für die freundliche Einführung. Vor zwei Wochen hat im Mittelmeer eine furchtbare Tragödie stattgefunden, bei der fast 1000 Menschen ums Leben gekommen sind, ein paar Tage später weitere 100 Menschen. Insgesamt sind im Jahr 2015 über 1700 Menschen gestorben und möglicherweise noch mehr, von denen man nicht weiß. Es sind insgesamt 40.000 Überquerungen des Mittelmeers vorgenommen worden, so dass das Mittelmeer zu einer besonders wichtigen Fluchtroute nach Europa geworden ist. Das UNHCR schätzt, dass die Hälfte der Mittelmeerüberquerer vor Krieg und Verfolgung fliehen. Ein ganz erheblicher Teil der Personen hat also einen Bedarf nach internationalem Schutz.
Warum sind die Zahlen so hoch? Das hat zwei Gründe. Zum einen gibt es eine außergewöhnlich hohe Zahl an Fluchtursachen, insbesondere eine hohe Zahl bewaffneter Konflikte. Syrien ist täglich in den Medien, Somalia ist sicherlich auch noch allen präsent – Sudan, Süd-Sudan, Zentralafrikanische Republik: Diese Länder werden hier schon kaum noch wahgenommen. Das alles sind jedenfalls Konflikte, die eine hohe Zahl von Flüchtlingen hervorrufen, von denen allerdings ein erheblicher Teil in der jeweils betroffenen Region verbleibt. Man denke in Bezug auf Syrien nur an den kleinen Staat Libanon, wo auf vier Millionen Einwohner heute etwa eine Million Flüchtlinge im Land kommen. Wenn man das auf Deutschland umrechnnen würde, hieße das, dass wir zusätzlich zu unseren 80 Millionen Einwohnern, 20 Millionen Flüchtlinge hätten.
Der andere Grund für die steigenden Zahlen von Fluchtversuchen über das Mittelmeer – insbesondere wenn man die Route von Nordafrika nach Malta betrachtet – liegt darin, dass in Lybien ein staatliches Machtvakuum besteht und anders als vorher praktisch keine Grenzkontrollen mehr stattfinden. Vielmehr versuchen Milizen oder bewaffneten Banden die Situation auszuschlachten, indem sie die Leute gegen Zahlung erheblicher Geldsummen auf Boote bringen. Und wenn es dann soweit ist, dass ein kleines Boot zur Verfügung steht, so liest man, dass die Leute mit Waffengewalt auf die Boote gezwungen werden. Die Fluchthilfe ist hier also nicht gerade von altruistischen Motiven getrieben, vielmehr wird die Not der Leute ausgenutzt.
Fehling: Vielleicht noch eine kurze Nachfrage: Wie kommen die Leute zu uns? Wie viel Prozent der Flüchtlinge kommen
* Die Law Clinic beruht auf einer Kooperation der Bucerius Law School und der Diakonie Hamburg. Teams aus Hamburger Anwält/inn/en und Studierenden der Hochschule ermöglichen Menschen, die aufgrund ihrer finanziellen und persönlichen Situation nur einen eingeschränkten Zugang zu qualifizierter Rechtsberatung haben, eine Beratung im Arbeits-, Aufenthalts-, Familien- und Sozialrecht. Weitere Informationen unter: http://www.lawschool.de/deutsch/lehre-forschung/law-clinic.
jeweils auf dem Land-, dem Luft- oder Wasserweg nach Deutschland?
Bank: Also ich habe die genauen Zahlen nicht im Kopf, aber neben der Wanderungsbewegung über das Mittelmeer gibt es natürlich noch andere Routen, etwa über die Türkei, Bulgarien oder den Balkan. Dann gibt es auch – jedenfalls bis zum Beginn des Ukraine-Konflikts – den Weg über die Ukraine und die Slowakei nach Deutschland. Auch über Weißrussland oder Polen gibt es Wanderungsbewegungen: Also Flüchtlinge kommen mitnichten nur übers Mittelmeer. Und die Art und Weise, wie man dann reinkommt, ist wirklich sehr, sehr unterschiedlich. Das geht oft über LKW oder versteckt in Frachträumen; manche Leute kommen aber eben auch ganz \glqq normal\grqq auf dem Flugweg, über Flughäfen: Es gibt die unterschiedlichsten Wege!
Fehling: Vielen Dank! Herr Thym, können Sie uns – vielleicht „in a nutshell“ – etwas zu den grundlegenden Regelungen in diesem Bereich sagen? Welches Verfahren erwartet die Flüchtlinge, wenn sie in Europa ankommen, wie werden sie auf die verschiedenen Staaten verteilt, wer trägt welche Lasten? Wie ist dieses \glqq Grenzsicherungs-\grqq oder auch \glqq Abschreckungssystem\grqq rechtlich ausgestaltet?
Thym: Vielen Dank, Herr Fehling, ich werde das gerne versuchen. Den ersten Punkt hat Herr Bank dankenswerterweise indirekt schon angesprochen. Die meisten im Publikum sind relativ jung, aber einige Öltere werden sich noch an die Diskussion in den 90er Jahren erinnern. Damals wurde intensiv über die Frage diskutiert, wer Asyl bekommen soll. Ist Ihnen aufgefallen, dass diese Debatte heute in dieser Form nicht mehr existiert? Wir reden nur noch ganz am Rande darüber, nach welche Kriterien wir Asyl gewähren und das hat einen guten Grund: wir haben inzwischen vergleichsweise großzügige Standards auf europäischer Ebene hinsichtlich der Gewährung von internationalem Schutz. Es gibt verschiedene Abstufungen: Wir haben den Asylstatus nach dem Grundgesetz, den aber nur die allerwenigsten bekommen. Die meisten erhalten den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention und wieder andere, sogenannten „subsidiären Schutz.“ Zudem haben die Mitgliedstaaten komplementäre, humanitäre Mechanismen auf nationaler Ebene. √çnsgesamt sind die Kriterien für die Gewährung einer dieser Schutzstatus im internationalen Vergleich durchaus großzügig. Dies führt dazu, dass wir heute Anerkennungsquoten haben, die in Deutschland momentan bei 32% liegen. Das heißt, wir haben Kriterien, die dazu führen, dass bei Staaten, wo die meisten Leute sagen würden, dass dort – wie es die Genfer Flüchtlingskonvention formuliert – legitime „Furcht vor Verfolgung“ besteht, tatsächlich Schutz gewährt wird. Im Fall von Syrien und Eritrea, ist die Anerkennungsquote beinahe 100 %; bei anderen Ländern, etwa Pakistan, Afghanistan, Irak, haben wir Anerkennungsquoten, die über 70 % liegen. Damit ist als erster Punkt festzuhalten, dass die Kriterien, nach denen entschieden wird, ob jemand Asyl bekommt, heute vergleichsweise unstreitig sind. Der akuelle Streit geht nicht darum, wer Asyl bekommt, sondern wie man nach Europa kommt. Wir haben ein relativ großzügiges Schutzregime, unklar ist aber, wie man dazu Zugang erlangt.
Und auf Grundlage dessen, was ich gerade zu den Anerkennungsvoraussetzungen sagte, nun mein zweiter Punkt: Anerkennungs- oder Schutzquoten in Deutschland von 32 % sind sehr schön, aber es gibt eben auch die Gegenseite: die 68 % der Flüchtlinge, die nicht anerkannt werden. Wir haben momentan in Deutschland und auch im Rest der Europäischen Union, eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ im Asylsystem. Wir hatten in den ersten drei Monaten diesen Jahres in Deutschland 85.000 Asylanträge.Davon kamen beinahe 55 % aller Flüchtlinge aus fünf Ländern des westlichen Balkans, wo die Anerkennungsquoten bei nahe 0 % liegen. Das heißt, in der politischen Diskussion steht – neben der Frage, wie man mit den syrischen Flüchtlingen umgeht – auch immer die Frage im Raum, wie man politisch in Deutschland auf rund 50 % der Anträge reagiert, die aus Ländern kommen, wo keine begründete „Furcht vor Verfolgung“ existiert. Und das hat dann durchaus greifbare Auswirkungen. Es wird derzeit viel darüber diskutiert, ob man zur Verhinderung illegaler Fluchtbewegungen über das Mittelmeer legale Zugangswege nach Europa eröffnen soll. Ein Instrument in diesem Sinn heißt „Resettlement“. Dabei werden Personen mit Unterstützung des UNHCR in Flüchtlingslagern im Libanon oder auch in der Türkei ausgewählt und dann proaktiv nach Deutschland geholt. Eventuell wäre die Bereitschaft der deutschen Politik zum Ausbau des Resettlements größer, wenn man in der Rechtspraxis nicht die Frage jener Asylanträge aus dem westlichen Balkan hätte, die keinen Erfolg haben.
Und weil Sie die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas angesprochen hatten: Ein direktes Verteilungssystem wie in Deutschland nach dem „Königsteiner Schlüssel“ gibt es in der Europäischen Union bislang nicht. Europa kennt bislang nur das Dublin-System, das Sie alle kennen. Das Dublin-System enthält eine Reihe von Kriterien, nach denen bestimmt wird, in welches Land ein Flüchtling kommt. Wenn beispielsweise in einem Land ein Mitglied der Kernfamilie wohnt, also irgendwo bereits die Eltern sind und man selber minderjährig ist, dann hat man ein Recht darauf, in dieses Land zu kommen. Das greift allerdings nur in den allerwenigsten Fällen; in den meisten Fällen gilt die subsidiäre Auffangregel des Dublin-Systems, das die Verantwortung dem „Staat der Einreise“ zuweist, soweit der Reiseweg nachgewiesen werden kann. Das führt theoretisch in der Tat dazu, dass die Mittelmeeranrainer-Staaten wie Italien oder Griechenland, aber auch Bulgarien und Ungarn derzeit die Hauptlast zu tragen haben.
Wenn man sich jetzt allerdings die Zahlen anschaut, wer wie viele Personen in den genannten Ländern tatsächlich einen Antrag stellen, stellt man schnell fest, dass die Wirklichkeit anders aussieht. Wir haben eine krasse Ungleichverteilung von Flüchtlingen in Europa, allerdings nicht unbedingt nach dem Motto „Grenzstaaten versus Binnenstaaten“. Zu den Staaten, die momentan überlastet sind gehört ganz sicherlich Malta, neuerdings auch Italien, sowie Griechenland, Bulgarien und seit zwei oder drei Jahren auch Ungarn. Zu nennen sind außerdem Schweden, Deutschland, Belgien und Österreich: Das sind die Länder, die momentan die absolute Hauptlast tragen und daneben haben wir Länder wie etwa Spanien und auch Großbritannien oder Frankreich, die, gemessen an dem relativen Gewicht, das ihnen in der Europäischen Union zukommt, wenige Leute aufnehmen. Ich hatte das mal mit meinem Lehrstuhl ausgerechnet; Sie können das Ergebnis
auf unserer Homepage anschauen: Es gibt in Deutschland den „Königsteiner Schlüssel“, der zur Verteilung der Flüchtlinge zu einem Drittel auf die Bevölkerungszahl abstellt und zu zwei Drittel auf die Wirtschaftskraft. Wenn man das auf Europa überträgt, stellt man fest, dass von den 28 Mitgliedstaaten momentan nur sieben Staaten mehr Flüchtlinge aufnehmen, als es der Schlüssel erfordern würde. Das heißt, es gibt sehr viele Mitgliedstaaten, die weniger aufnehmen, als sie nach einem durchaus plausiblen Verteilungsschlüssel aufnehmen müssten. Das erklärt auch, warum das Nachdenken über Önderungen im Dublin-System politisch so ungemein schwierig ist, weil es eine große Anzahl an Mitgliedstaaten gibt, die momentan gar kein Interesse daran haben, dass das System sich ändert, weil sie dann mehr Flüchtlinge aufnehmen müssten. Und den meisten Mitgliedstaaten ist es vielfach lieber, wenn die Flüchtlinge woanders sind, als bei ihnen.
Fehling: Jetzt wissen wir ja aus vielen Medienberichten, dass die Lebensbedingungen der Flüchtlinge in den verschiedenen Aufnahmestaaten durchaus unterschiedlich sind und dass gerade die Mittelmeer-Anrainer-Staaten, von denen Sie ja sagten, dass die im Prinzip schon logistisch überfordert sind, auch noch Staaten sind, die selbst andere wirtschaftliche Probleme mehr oder minder großer Art haben. Wenn dort also die Aufnahmebedingungen so schlecht sind, entsteht das Problem, was wir mit den Flüchtlingen machen sollen, die sich sozusagen weiter in andere europäische Staaten „durchkämpfen“, beispielweise nach Deutschland. Wenn ich es recht sehe, gibt es im Dublin-System das grundsätzliche Problem, dass ein zweiter Asylantrag, meinetwegen in Deutschland, gar nicht mehr geprüft werden kann und direkt zurückgeschoben werden muss. Dann gibt es andererseits aber auch wieder Entscheidungen vor dem europäischen Gericht, die das relativieren: Wie ist der aktuelle Stand? Und dann gebe ich das gleich in die weitere Diskussion: Funktioniert das Dublin-System oder ist es auch eine Ursache des Übels?
Thym: In der Theorie haben Sie die Lage richtig beschrieben. Nach der Konzeption der Dublin-Verordnung sollte Deutschland Flüchtlinge zurücküberstellen, wenn sie die Europäische Union über einen anderen Mitgliedstaat betreten haben. In der Praxis funktioniert das aber nur in den wenigsten Fällen. Wir haben in Deutschland zwar 50.000 Dublin-Anträge bei 170.000 Erstanträgen insgesamt, das heißt pro Jahr 50.000 Fälle, in denen Deutschland versucht, einen anderen Mitgliedstaat in die Pflicht zu nehmen, einen Flüchtling wieder aufzunehmen. Aber die Zahlen, in denen dann tatsächlich eine Überstellung stattfindet, sind sehr gering. Diese Fälle gibt es, aber wenn wir uns die Gesamtanzahl der Asylanträge in Deutschland betrachten, dann reden wir nicht über die große Masse, sondern nur etwa 2,5 bis 3 % aller Asylanträge, in denen es tatsächlich zu einer Dublin-Abschiebung kommt. Über die rechtlichen Probleme, die dahinter stehen, kann man lange diskutieren, das wäre ein Thema für sich, weil sie sich ausführlich mit den einschlägigen EGMR- und EuGH-Urteilen befassen müssten, was ich den Studierenden hier sehr ans Herz legen kann: Es ist eine spannende Diskussion, aber das würde jetzt wahrscheinlich zu weit führen‚Ķ
Fehling: Drei bis vier Sätze würden uns auch reichen!
Thym: Wir haben ein Strukturproblem, das darin begründet ist, dass der EuGH abstraktes Europarecht auslegt und es beim EGMR Jahre dauert, bis eine Entscheidung fällt. Das bedeutet, wir haben zwar abstrakte Kriterien, aber bis wir mit ausreichender Gewissheit wissen, ob etwa Bulgarien als sicher gilt oder nicht, geht viel Zeit ins Land. In Deutschland ist die große Rechtsunsicherheit auch damit zu erklären, dass das Rechtsmittelrecht im einstweiligen Rechtsschutz in Asylfragen weitgehend ausgeschaltet ist. Das heißt, wir haben eine Situation, in der wir mangels rechtzeitiger, zügiger, schneller und differenzierter Intervention von Höchstgerichten zu den einzelnen Ländern dutzende verwaltungsgerichtliche Einzelentscheidungen haben, die sehr unterschiedliche Aussagen treffen, zumal die abstrakten Kriterien von EuGH und EGMR nicht so klar ausgelegt werden, wie man sich das wünschte. Hierin gründet ein Strukturproblem, das für Personen in der Praxis, zum Beispiel in der Hamburger Refugee Law Clinic oder als Richter, mit den Themen befasst sind, eine Unzufriedenheit bewirkt. Jenseits der Rechtspraxis besteht das zugrundeliegende rechtspolitische Problem meines Erachtens in der Frage, wie wir es schaffen, für alle Länder in der EU einen wirksamen Flüchtlingsschutz zu etablieren. Das gelingt in Deutschland recht gut – nicht so sehr wegen Herr de Maizi√®re oder Frau Merkel oder der Opposition, sondern weil die Kommunalpolitiker vor Ort sich die Mühe machen, Heime oder Unterbringungsmöglichkeiten zu organisieren. Das sind Leute vor Ort, die – oft mit ehrenamtlicher Unterstützung – eine unglaublich gute Arbeit leisten, die es schaffen in Deutschland das Asylsystem am Laufen zu halten. Das kann die Bundesregierung und können auch die Bundesländer für sich genommen nicht verorten. Und wahrscheinlich fehlt in einigen anderen Ländern der Europäischen Union diese Verwaltungskultur, vielleicht auch der politische Wille auf höchster Ebene, diese Unterbringung so gut zu gewährleisten, wie das in Deutschland der Fall ist. Die maßgeblichen EU-Richtlinien geben dies zwar vor, es besteht aber ein Umsetzungsdefizit. Wie bringt man Italien dazu, als Land mit 60 Millionen Einwohnern 54.000 Asylanträge im letzten Jahr – in Deutschland waren es 170.000 –genauso gut zu versorgen wie Deutschland als Land mit 80 Millionen Einwohnern? Das ist eine Frage, die auch ein Europäischer Rat nicht klären kann. Es braucht in Italien bei den Kommunen dieselbe Bereitschaft zum Tätigwerden, die es in Deutschland gibt.
Fehling: Gut, aber es gibt in Italien auch viele „Hotspots“ wie Lampedusa, wo die Menschen ankommen, was schon einmal ein logistisches Problem darstellt. Und dann darf man natürlich auch die völlig unterschiedlichen finanziellen Rahmenbedingungen in den zwei Ländern nicht vernachlässigen, oder wird im europäischen Rahmen die Lastenverteilung so ausgeglichen, wie es eigentlich sein sollte?
Thym: Also wir haben auf europäischer Ebene auch Ausgleichsmechanismen, die gar nicht so marginal sind, beispielsweise Gelder, die über den Asyl-, Migrations- und Immigrationsfonds fließen. Auch im Rahmen von Frontex und dem entsprechenden „Innere Sicherheits-Fonds“ fließen durchaus beachtliche Summen, die aber nicht ausreichen, um die Unterbringung von Flüchtlingen an sich zu finanzieren. Ob da eine Überlastung vorliegt hängt natürlich auch davon ab, wie eine faire Quote aussieht. Und da dürfte auch Deutschland seinen Beitrag gegenüber den anderen Ländern entsprechend einfordern. Aber insgesamt ist das auch ein Grundproblem
der Europäischen Union: Regeln, die an sich ok sind, die aber in manchen Ländern besser eingehalten werden als in anderen.
Fehling: Herr Tiedemann, Herr Thym hatte ja bereits auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit hingewiesen, wie sehen Sie die Funktionsfähigkeit des Dublin-Systems aus verwaltungsrechtlicher Sicht?
Tiedemann: Das Dublin-System ist eine Sache, die sehr typisch für das Flüchtlingsrecht ist, nämlich, dass die Regelungen selbst oder ihre Auslegung auch durch den EuGH oder den EGMR dunkel sind. Die entsprechenden Entscheidungen enthalten viele Worte, aber am Ende wissen Sie nicht, was sie damit anfangen sollen. Das gilt auch für die Regeln selbst: In der Dublin-Verordnung steht beispielsweise, dass die Bundesrepublik ein Ersuchen an den Staat stellen muss, der verpflichtet ist, das Asylverfahren für die entsprechende Person durchzuführen. Dann ist auch ausdrücklich geregelt, dass wenn dieser Staat in einer bestimmten Frist nichts erwidert, der Fall als übernommen gilt, also der ersuchte Staat damit stillschweigend zum Ausdruck gebracht hat, dass er bereit ist, das Verfahren für diese Person zu übernehmen. Nun ist es aber so, dass in Italien systematisch keine Antwort mehr gegeben wird. Gleichzeitig hat der EGMR gesagt, dass eben diese Fiktion der Annahme durch Schweigen nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, weil nämlich die Verhältnisse in Italien nicht mehr so sind, dass aus rein quantitativen Gründen davon auszugehen ist, dass jeder der zurückgeschickt wird, auch nach den Standards unterkommt, die das Unionsrecht vorsieht. Deshalb verlangt der EGMR in Straßburg, dass für jeden einzelnen Fall eine Garantieerklärung eingeholt wird, dass für diese betreffende Person eine Unterkunft sichergestellt ist, mit Informationen darüber, wo diese Unterkunft ist, dass diese Unterkunft auch eventuell besonderen Bedingungen entspricht, wenn es sich beispielsweise um Kinder handelt oder Personen die krank sind oder etwaige sonstige Bedürfnisse haben. Das muss dann ebenfalls gewährleistet sein. Man kann also sagen, dass der EGMR die genannte Fiktionsregelung faktisch abgeschafft hat. Wie soll man damit nun praktisch umgehen? Meine Erfahrung ist, dass die meisten Verwaltungsgerichte gelernt haben, dass man das Gesetz ernst nehmen soll und deshalb bemühen sie sich auch weiterhin, das Gesetz ernst zu nehmen, was zunehmend schwerer wird.
Auch wenn man die Auslegungen betrachtet, die die obersten Gerichtshöfe, insbesondere die internationalen Gerichtshöfe dazu liefern, dann wird es wirklich zunehmend schwieriger, das noch ernst zu nehmen. Ich habe gerade vor ein paar Tagen – das hat jetzt nichts mit dem Verfahren zu tun, aber nur mal als Beispiel – eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gelesen, zu der Frage, unter welchen Umständen jemand Schutz bekommen kann, der den Kriegsdienst verweigert hat. Eine Entscheidung, die über Seiten und Seiten und Seiten geht, man muss also endlos viel lesen – und wenn man sich dann zur Hälfte durchgearbeitet hat und einmal kurz innehält und fragt, was habe ich jetzt eigentlich gelernt, stellt sich eigentlich heraus – eigentlich noch nichts. Das waren somit alles Vorbemerkungen. Und so geht das eigentlich bis hintenhin – da kommt dann irgendein Ergebnis, aber man weiß eigentlich nicht genau, was jetzt das Ergebnis mit den Erwägungen zu tun hat, die vorher standen, und außerdem sind die Erwägungen wieder so allgemein gehalten, dass man im Grunde alles damit machen kann, und so steht es dann in der Entscheidung, dass das letztlich die nationalen Gerichte zu beurteilen hätten.
Fehling: Wenn ich das zusammenfassen darf: Es bleibt in dem ganzen System sehr viel Rechtsunsicherheit, was dann letztlich auch Sand ins Getriebe streut und wahrscheinlich auch die Verfahren verlängert bzw. schwieriger macht.
Tiedemann: Ja, aber ich glaube, das ist geradezu typisch für das Flüchtlingsrecht. Wenn man die Geschichte des Flüchtlingsrechts von Beginn an nachverfolgt – das ging im Jahr 1905 mit einem englischen Flüchtlingsgesetz los – kann man sagen, dass diese Gesetze bis zum heutigen Tage meistens diffus und unklar sind. Und wenn man sich die Frage stellt, wie das eigentlich kommt, dann hat das meiner Erkenntnis nach, etwas damit zu tun, dass die Haltung zum Flüchtling überhaupt oder zu der eigenen Verpflichtung eines Staates, Flüchtlinge aufzunehmen, sehr ambivalent ist. Diese Ambivalenz wird schon in den Parlamentsdebatten in den Jahren 1903 bis 1905 in England deutlich. Auf der einen Seite sagt man, wir können nicht hier Millionen oder Hunderttausende von verarmten Juden aus Russland aufnehmen – das war damals das Thema – auf der anderen Seite müssen wir aber uns selbst gegenüber dafür einstehen, dass wir niemandem Schutz verweigern, der verfolgt wird. Und das sind Dinge, die nicht miteinander vereinbar sind, denn Juden, die den Pogromen in Russland entgangen sind, waren unter anderem deswegen arm, weil sie in Russland verfolgt worden sind – das kann man voneinander nicht trennen. Insofern zeigt sich in diesem Gesetz schon eine Ambivalenz, die sich bis zum heutigen Tage durchhält. Es ist zum Beispiel so, dass es mehrere Status gibt, die man im Asylrecht erreichen kann: Den Status des Asylberechtigten sowie den des Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention, dann noch den sogenannten subsidiären Status und so weiter. Wenn man sich nun einmal fragt, was eigentlich der Unterschied ist und wozu man diese verschiedenen Status überhaupt braucht, so stellt sich heraus: Wer den subsidiären Status hat, der muss dreimal hintereinander zur Ausländerbehörde, um seine Aufenthaltserlaubnis verlängern zu lassen, und der, der den Flüchtlingsstatus hat, muss das nur einmal machen, dann erh‰lt er nämlich eine unbefristete Niederlassungserlaubnis. Aber warum ist das so? Der Unterschied ist dann der, dass nach dem einschlägigen Tatbestand im Flüchtlingsrecht der eine in seinem Leben und in seiner Existenz bedroht ist, weil er zum Beispiel aus einem Bürgerkriegsgebiet geflüchtet ist, und der andere von aus politischen oder religiösen Gründen gezielt verfolgt wird. Aber das, was den Menschen droht, ist immer dasselbe und das Schutzbedürfnis ist auch dasselbe. Warum muss jetzt der eine zwei- oder dreimal zur Ausländerbehörde, um seine Aufenthaltserlaubnis verlängern zu lassen, und der andere nur einmal? Das ergibt einfach überhaupt keinen Sinn, aber verkompliziert die Sache und ist für mich eigentlich deutlicher Ausdruck dafür, dass wir selber überhaupt nicht wissen, wie wir mit diesem Phänomen ‚ÄöFlüchtling‚Äò eigentlich umgehen sollen.
Fehling: Ja, danke! Herr Fathi, wie sehen Sie das? Quasi stellvertretend für die Betroffenen und ja auch als Betroffener – wenn auch in anderen Zeiten sind diese Aspekte der Rechtsunsicherheit und der Schwierigkeiten mit dem
Fluchtweg relevante Probleme, die die Betroffenen auch nach der Flucht noch berühren oder beschäftigt sie dann eher die Auseinandersetzung mit unserer Verwaltung und unseren Gerichten?
Fathi: Vielen herzlichen Dank zunächst für die Einladung. Verschiedene Gedanken beschäftigen mich, wenn ich der Debatte hier folge. Ich selbst bin nach Deutschland gekommen, weil ich im Iran politischen Repressalien ausgesetzt war. Damals gehörte der Iran zu den Ländern, wo nach den Bestimmungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erst einmal viele Flüchtlinge anerkannt worden sind, es gehörte also nicht zu den Ländern, aus denen Flüchtlinge nur mit Duldungungen ausgestattet wurden und jahrelang ohne Rechte in diesem Land weilen mussten. Durchschnittlich – habe ich mal die Presse verfolgt – dauerte es bei Geduldeten zehn bis zwölf Jahre, bis sie überhaupt das Recht bekamen zu arbeiten, diese Menschen hatten erstmal nur das Recht zu ¸berleben. Ich hingegen gehörte zu den politischen Flüchtlingen aus dem Iran, war also damals privilegiert. Amnesty International kannte mich, so dass ich in einem kurzen Verfahren innerhalb von zwei bis drei Monaten mein Asyl bekommen konnte. Im Normalfall dauerten Asylverfahren zur damaligen Zeit aber zwei bis drei Jahre.
Zur Frage des Fluchtwegs und der Fluchtgründe: Menschen entscheiden – aus welchen Gründen auch immer – selber, ob sie den Ort wechseln. Ich habe das Wort Armut gehört, aber teilweise auch von sogenannten „bewaffneten Konflikten“ etc. – in allen Fällen treffen Menschen die Entscheidung, von Ort A nach Ort B zu gehen. Die Staaten nehmen sich das Recht, dies zu regeln. Wenn ich mir Fluchtursachen anschaue – und ich würde mich freuen, auch in dieser Runde ein paar Worte dazu zu hören – haben wir Europäer denn nicht auch eine Verantwortung für Fluchtbewegungen? Wir sollten einmal innehalten und schauen, wie diese bewaffneten Konflikte überhaupt zustande gekommen sind. Als Waffenexporteur steht die Bundesrepublik Deutschland weltweit an zweiter Stelle. Ich lebe hier in Deutschland mit Privilegien, die wirtschaftliche Bezüge zu den Ländern haben, aus denen sich viele Flüchtlinge auf den Weg machen, um ihr Leben zu retten. Das heißt: Hat Europa eine Verantwortung? Die Antwort auf diese Frage ist immer auch ein politisches Zeichen, das habe ich in den 90er-Jahren erlebt – in den 80ern, als ich hierher kam, war das Thema noch nicht so brisant. Aber in den 90er-Jahren sagte unser damaliger Kanzler Helmut Kohl „Das Boot ist voll“ – und dann sind Flüchtlingsheime verbrannt, Menschen verbrannt. Heutzutage erlebe ich eine wahnsinnige Solidarität in europäischen Gesellschaften. Ich gehöre zu einigen, die sich ehrenamtlich in Stellingen um Flüchtlinge kümmern und ein afghanischer Flüchtling sagte neulich zu mir: „Das deutsche Militär wollte für uns in Afghanistan Sicherheit gewährleisten. Das ist für meine Familie nicht der Fall gewesen, ich bin über den Iran, Türkei und Griechenland hier hergelangt. Nun habe ich kein Recht, mich auch nur 18 Kilometer zu bewegen. Ich habe kein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr, ich bin in meinem Heimatland im letzten Semester meines Jura-Studiums gewesen und musste das Studium abbrechen. Ich merke, dass die Regelungen, die hier in diesem Lande für mich gelten, mich langsam in den Tod treiben: Nicht wie in Afghanistan mit den Waffen, sondern passiv. Dort habe ich Angst vor den Waffen und hier vor diesen Regelungen, die mich treffen.“
Das heißt, wenn ich verschiedene Zeitepochen vergleichen will, schaue ich zunächst, welche Zeichen Politik, Justiz und die Bevölkerung setzen. Wenn ich mir die Unterstützungswelle in der Bundesrepublik Deutschland, vor allem in Hamburg, anschaue, habe ich nicht den Eindruck, dass Justiz und Politik tatsächlich der Solidarität der Bevölkerung entsprechend handeln. Und bezüglich des diffusen englischen Flüchtlingsrechts von 1905: Die Bundesrepublik Deutschland hat aufgrund ihrer Geschichte einen wunderbaren Artikel, nämlich Artikel 16 des Grundgesetzes. Ich bin einer von denen, die ihr Leben sozusagen diesem Artikel zu verdanken haben, nämlich der Formel: Politisch Verfolgte genießen Asyl.
Fehling: Aber das war ja noch in der alten Fassung damals!
Fathi: Ja, genau! Dann in den 90er Jahren, als „das Boot voll“ war, hat man mit den zwei großen Parteien angefangen, an dem Artikel 16 rechtlich rumzufummeln, um letztlich wieder die diffuse Rechtslage von 1905 zu erreichen. Mit der rechtlichen Sache kenne ich mich nicht aus, aber ich denke, jeder von uns hat die Verantwortung, dass wir nicht auf Kosten anderer leben, und versuchen müssen, dieser Verantwortung für eine globale Gerechtigkeit in diesem Lande mit jedem Schritt und Tritt gerecht zu werden. Die Gründe für Flucht müssen beim Namen genannt werden. Welchen Anteil haben wir als Bundesrepublik Deutschland daran?
Fehling: Ja, vielen Dank! Ihre Stichworte aufgreifend: Verantwortung in Europa, Verantwortung von Europa und damit auch Verantwortung für die Flüchtlinge. Da müssen wir jetzt in der Tat über die Frage des Grenzschutzes sprechen: Wie kommt man überhaupt \glqq rein\grqq in die Europäische Union? Sie sagen, Herr Thym, dass wir eine vorsichtige Erweiterung des Füchtlingsbegriffs erlebt haben; dass wir von einem ganz engen Begriff der politischen Verfolgung – wie wir ihn mal früher hatten – weg sind. Aber ist es nicht so, dass wir zwar einen etwas erweiterten Flüchtlingsbegriff haben, aber doch vieles dafür tun, dass er nicht zur Anwendung kommt? Ist es nicht so, dass wir versuchen, möglichst viele Leute durch ein entsprechendes Grenzregime, unzureichende Rettungsmaßnahmen auf dem Mittelmeer und bürokratischen Dschungel abzuschrecken und dafür zu sorgen, dass möglichst wenige Menschen diesen etwas großzügigeren Flüchtlingsbegriff in Anspruch nehmen können? Oder übertreibe ich? Wie würden Sie das sehen?
Bank: Sie legen den Finger in die Wunde! Die Frage ist, wie kann man Wege schaffen, die ein Sterben auf dem Mittelmeer verhindern? An erster Stelle muss da ein eindeutiges Bekenntnis zur Seenotrettung stehen. Das ist auch eine Forderung im Kontext der jüngsten Tragödien. Die Überlegung der Europäischen Union in Reaktion auf die Seenotrettung sind die Richtung gegangen, dass man sagt, die Frontex-Operation, die es in diesem Bereich gibt, soll finanziell aufgestockt und mit mehr Hubschraubern, mehr Schiffen und so weiter ausgestattet werden. Sie ersetzt „mare nostrum“, die italienische Operation vom letzten Jahr, aber immer noch nicht, weil sie nicht die gleiche Zielrichtung oder den gleichen operativen Rahmen hat. Natürlich ist Frontex in der Lage, Seerettungs-
missionen durchzuführen oder jedenfalls zu organisieren. Man sieht das ja – ich habe die konkreten Zahlen nicht im Kopf – an der sehr hohen Zahl an Menschen, die durch die Operation Triton aus Seenot gerettet worden sind. Aber Grundansatz der Frontex-Mission ist Grenzsicherung und jedenfalls im Einzugsbereich der lybischen Hoheitsgewässer und wohl auch in der sog. Search-and-Rescue-Zone, also dem Gebiet, in dem Lybien für die Seenotrettung zuständig ist, gibt es da wohl erhebliche Problem mit der Seenotrettung. In dieser Hinsicht muss noch nachgebessert werden und auch eine klarere Ausrichtung auf Seenotrettung erkennbar sein.
Dann muss man schauen, welche legalen Zuwanderungsmöglichkeiten geschaffen werden können für die Personen, die in ihrer Verzweiflung – aus welchen Gründen auch immer – heute Veranlassung sehen, sich kriminellen Schleppern anzuvertrauen und in völlig seeuntüchtige Boote zu steigen. Man muss die legalen Möglichkeiten der Einwanderung wesentlich ausweiten. Ein Aspekt davon wurde bereits angesprochen, nämlich die proaktive Aufnahme von Schutzbedürftigen, was auch die Bundesrepublik in Hinsicht auf syrische Flüchtlinge gemacht hat. Es sind insofern Aufnahmeplätze für 30.000 Syrer geschaffen worden. Das ist im Verhältnis zu Staaten wie dem Libanon immer noch sehr wenig im europäischen und weltweiten Vergleich ist es leider einsame Spitze. Hier wäre es extrem wichtig, dass die anderen europäischen Länder auch aktiv werden. Leider hat die Bundesregierung da ein politisches Junktim aufgestellt und gesagt, wir nehmen erst dann proaktiv weitere Syrer auf, wenn sich andere europäische Staaten hier einklinken. Und dann muss man natürlich weiter sehen, was es sonst noch für legale Einreisemöglichkeiten gibt. Nur um mal ein Beispiel zu nennen: Frankreich hat im letzten Jahr irgendwann in der zweiten Jahreshälfte die Möglichkeit für Iraker eingeführt, zum Zweck der Asylantragsstellung in Frankreich im Irak ein Visum zu beantragen. Allein in den letzten Monaten des Jahres 2014 konnten so schon 800 Personen ein Visum bekommen, um legal einzureisen und dort ein Asylverfahren durchzuführen. Das wäre noch ein weiterer Weg, über den man nachdenken könnte. Es wird auch immer wieder empfohlen, über eine Ausweitung der legalen Arbeitsmigration nachzudenken, aber das geht jetzt ja über den unmittelbaren Zuständigkeitsbereich des UNHCR hinaus und ist eine Frage des Zuwanderungsrechts. Ein wichtiger Punkt ist schließlich die Familienzusammenführung, da darf man sich nicht nur auf die Kernfamilie beschränken, sondern muss auch die Großfamilie in den Blick nehmen.
Fehling: Danke! Herr Thym, können sie uns ein wenig über Frontex schlau machen? Ist das eine Organisation, die sich primär um die Rettung von Flüchtlingen kümmert oder ist es eine Organisation, die sich nur der Verhinderung des illegalen Grenzübertritts verpflichtet sieht? Oder versucht sie einen Spagat zwischen beidem? Und halten sie Frontex für ein positives System oder ist es dringend reformbedürftig?
Thym: Vielen Dank, das werde ich gerne tun. Vorher will ich noch kurz zum Einwurf von Herrn Fathi etwas sagen. Ich fand nämlich, er hat hier mit einer überraschenden und auch erfrischenden Ehrlichkeit eine Position bezogen, die in Deutschland momentan sehr verbreitet ist, nach dem Motto: „Kein Mensch ist illegal!“ Wer hier ist, der soll hier bleiben, soll ein Bleiberecht bekommen. Ich finde, das ist eine sehr ehrliche Position, weil sie relativ klar sagt, was sie nicht will. Sie sagt, auf Fluchtursachen, auf die Gründe, wieso die Menschen ein Land verlassen, soll es nicht ankommen: Es ist egal, ob die Leute aus wirtschaftlichen Gründen kommen oder aus anderen Gründen. Das ist für viele eine legitime Position in der öffentlichen Debatte. Ich würde aber dennoch sagen, dass es moralisch einen Unterschied macht, ob jemand vor Verfolgung im weiteren Sinne flieht oder ob er aus rein wirtschaftlichen Gründen, so nachvollziehbar sie im Einzelfall sein mögen, zu uns kommt.
Fehling: Gut, wenn wir die Menschenwürde zu Grunde legen, dann würde man sicherlich sagen müssen: Wenn die wirtschaftliche Not so groß ist, dass das eigene Überleben nicht mehr zu sichern ist, dann wäre das sicherlich eine Menschenwürdebeeinträchtigung, die im Ergebnis derjenigen aus politischer Verfolgung gleichkommen kann. Wenn es nur um das sog. „bessere Leben“ geht, dann sähe das vielleicht anders aus.
Thym: Das kann man gerne alles erwägen. Der Stand der Dinge, was das Flüchtlingsvölkerrecht, vor allem was die Genfer Flüchtlingskonvention anbelangt, ist das aber nicht. Die Fluchtgründe, die in diesen Rechtsakten anerkannt werden, wurden in den letzten Jahren nicht nur etwas ausgeweitet, vielmehr ist eigentlich praktisch jede Situation, die in den letzten zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren von NGO als legitimer Fluchtgrund bezeichnet wurde, heute vom Flüchtlingsrecht im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention oder von der Europäischen Qualifikationsrichtlinie umfasst. Das gilt für die geschlechtsspezifische Verfolgung, ebenso wie für die nicht-staatliche Verfolgung, die Verfolgung wegen Homosexualität oder – unter bestimmten Voraussetzungen – die Verfolgung wegen Kriegsdienstverweigerung. Also all das, was NGOs jahrelang gefordert haben, ist heute im Regelfall von der Flüchtlingsdefinition, wie wir sie auf europäischer Ebene auslegen, umfasst. Das Flüchtlingsrecht ist also, im Vergleich zur Situation im Deutschland der 70er- und 80er-Jahre, erheblich ausgeweitet worden.
Aber man ist davor bisher zurückgeschreckt auch in wirtschaftlich motivitierten Fluchtsituationen humanitären Schutz zu gewähren, soweit die Konstellation nichts mit „forced migration“ im klassischen Sinne zu tun hat. Und das hat vielleicht sogar sein Gutes, weil eine noch stärkere Ausweitung des Fluchtbegriffs natürlich auch immer die Gefahr birgt, dass für den Schutz der Verfolgten im klassischen Sinne nachher die Ressourcen fehlen. Gerade diese Menschen zu schützen sollte aber moralisch im Vordergrund stehen. Ich fand das sehr ehrlich, wie Sie, Herr Fathi, sich geäußert haben, auch erfrischend. Aber ich glaube, man muss sich bewusst machen, was es im Ergebnis bedeutet, wenn man sagt: „Jeder, der nach Europa kommt, soll ein moralisches Recht haben, hier zu bleiben.“ Das ist aber nicht der Stand des Völkerrechts und das ist wahrscheinlich auch nicht der Stand der rechtspolitischen Diskussion.
Fehling: Gut, wir hatten in der Wochenzeitung DIE ZEIT vor ein oder zwei Wochen eine große Diskussion, die genau das thematisiert hat. Aber jetzt muss ich Sie doch noch einmal auf Frontex festlegen!
Thym: Zu Frontex: Die Situation hat Herr Bank vollkommen richtig beschrieben. Nach der Aufgabenbeschreibung von Frontex, aber auch nach der Aufgabenbeschreibung von Triton, dienen diese Operationen dem Grenzschutz. Nun ist Grenzschutz, wie jedes öffentliche Handeln, selbstverständlich an die Grundrechte gebunden und dementsprechend fühlen sich Frontex und Triton nach eigenem Kundtun dafür verantwortlich, auch Seenotrettung zu betreiben. (Ob die Europäische Union überhaupt eine eigene Seenotrettungsagentur errichten dürfte, ist nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung zweifelhaft.) Die EU hat keine originäre Kompetenz für die Seenotrettung. Ihre Kompetenz betrifft den Grenzschutz, in Übereinstimmung mit menschenrechtlichen Anliegen. Und wir sind dazu längst übergegangen, spätestens seit einer entsprechenden Verordnung vor zwei, drei Jahren, Grenzschutz nicht territorial zu definieren. Das heißt, das Einsatzgebiet im engeren Sinne von Triton beschränkt sich nicht auf das italienische Küstenmeer und die Anschlusszone sind, sondern wir sind durchaus auch dazu bereit zu sagen: „Frontex darf nach außen gehen, darf die Grenze im territorialen Sinne verlassen.“ Frontex geht, auch im Rahmen von Triton, soweit ich weiß, in libysches Hoheitsgewässer, (wobei streng genommen umstritten ist, was genau libysches Hoheitsgewässer ist, weil Libyen für sich ein sehr weites Küstenmeer in Anspruch nimmt). Triton patrouilliert zwar nicht ständig überall im Mittelmeer, aber Triton geht raus, wenn es Hinweise gibt. Und das ist inzwischen, soweit ich informiert bin, relativ gut organisiert. Die Schlepper, auch die Flüchtlinge, in Kooperation mit den NGOs vor Ort, auch in Libyen, sind inzwischen so gut vernetzt, dass – wie ich gehört habe – relativ schnell Notrufe abgesetzt werden. Anderenfalls wäre es auch nicht möglich gewesen, dass Triton am vergangenen Wochenende wohl 7000 Leute in Kooperation mit Handelsschiffen aus Seenot gerettet hat. Ich habe in den Medien gelesen, dass die Operation teilweise sogar relativ nah an der libyschen Küste, eventuell sogar in den erweiterten libyschen Gewässern stattfand.
Es gibt aber noch eine ganz andere Frage und die kann man am besten nochmal am Begriff „mare nostrum“ [Hinweis der Redaktion: Mare Nostrum war eine Operation der italienischen Marine und Küstenwache zur Seenotrettung von Flüchtlingen aus meist afrikanischen Ländern, die am 31.10.2014 beendet wurde] festmachen, der ja höchst unglücklich gewählt wurde. Wenn Gaddafi noch lebte, hätte er diese Bezeichnung als Neokolonialismus gebrandmarkt. Das Mittelmeer ist natürlich längst kein „mare nostrum“ der Italiener oder auch der Europäer mehr. Libyen hat eine eigene Seenotrettungszone, wo Libyen kraft Völkerrecht für Seenotrettung sorgen muss. Das fällt nur derzeit aus, weil der libysche Staat nicht mehr existiert. Deshalb ist es wahrscheinlich legitim, dass die Europäische Union diese Lücke füllt und versucht, im lybischen Zuständigkeitsbereich eine Seenotrettung zu gewährleisten. Aber wenn man das jetzt konsequent zu Ende denken würde, dass sozusagen europäische Schiffe vor der libyschen Küste patrouillieren, ist das wahrscheinlich auch nicht das, was die Afrikanische Union unbedingt möchte. Vielleicht auch gerade deswegen, weil sie afrikanische Anliegen nicht von Italienern oder Deutschen geregelt haben will.
Zu den erleichterten Zugangsoptionen: Ich persönlich finde diese Pläne sehr gut, aber ich glaube, man muss sich zwei Sachen bewusst machen. Erstens: Die deutsche Politik wird nicht bereit sein bei 300.000 Asylerstanträgen in diesem Jahr zwanzig-, dreißig- oder vierzigtausend Resettlementplätze zusätzlich zur Verfügung zu stellen. Wenn Sie die Zahl legaler Zugangswege in das europäische Asylsystem – sei es durch Resettlementprogramme, humanitäre Visa oder ähnliches – substantiell erhöhen wollen, müssen sie realpolitisch gesprochen zugleich auch eine Situation erreichen, wo die Zahl der Asylanträge insgesamt nicht mehr so hoch ist. Das gilt insbesondere für Flüchtlinge, die keine realistische Schutzoption haben. Und ein zweiter Punkt ist: Glauben Sie nicht, dass legale Zugangsmöglichkeiten die Situation lösen werden. Das wird nicht der Fall sein. Aus dem ganz einfachen Grund: Die Europäische Union wird nie allen Leuten, die über das Mittelmeer wollen, solche legalen Zugangsmöglichkeiten eröffnen. Und vor allem werden diese legalen Zugangsmöglichkeiten dann wahrscheinlich auch nur für Flüchtlinge im Sinne der GFK gelten oder subsidiär Geschützte. Sie werden aber nicht 50 % der Menschen erreichen, die nach den etablierten Regeln des Flüchtlingsvölkerrechts, ergänzt um den subsidiären Schutz, keine Schutzoption haben. Also nochmal: Mit legalen Zugangsoptionen werden Sie nicht alle erreichen, weil die Zugangswege nie ausreichend sein werden und Sie werden wahrscheinlich nicht wollen, dass Libyen eine europäische Kolonie wird, wo die Europäische Union alles übernimmt. Wir sind also in gewisser Weise auch dazu verdammt immer nur zu reagieren. Solange Frontex oder die Seenotrettung nicht an der lybischen Küste präsent ist und sozusagen überall Leuchttürme baut, wird man immer nur reagieren können. Und es sind große Gebiete des Mittelmeeres, um die es da geht. Also man kann das Problem mildern, aber das Problem beseitigen wird man wahrscheinlich nicht.
[Zwischenruf aus dem Publikum: Frankreich hat kürzlich ein Programm mit humanitären Visa initiiert und damit eine Lösung für das Problem aufgezeigt.]
Thym, in Erwiderung auf den Zwischenruf: Also ich kenne die genauen Zahlen nicht, aber ich glaube Frankreich hat ein-, zwei- oder fünftausend humanitäre Visa ausgestellt. Das kann man machen. Man kann auch Visa für 100.000 Flüchtlinge ausstellen, Sie können sie auch für alle 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien ausstellen, aber trotzdem werden Sie nicht alle Flüchtlinge erreichen, die in Libyen sitzen und sei es nur deswegen, weil darunter derzeit 50 % Westafrikaner sind, von denen die meisten nicht im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention politisch verfolgt werden. Jetzt können Sie sagen: Denen geben wir legale Zugangsmöglichkeiten als Saisonarbeitnehmer und so weiter. Alles möglich, aber Sie werden das zugrundeliegende Problem dadurch nicht beseitigen. Die Leute werden wahrscheinlich in größeren Zahlen kommen wollen, als sie humanitäre Visa bereitstellen können.
Fehling: Wollen Sie dann direkt darauf reagieren?
Fathi: Frontex oder die Europäische Polizei, diese gesamte restriktive Politik, die eigentlich schon mit dem Schengener Abkommen angefangen hat, hat die Aufgabe, Europa zu schützen. Ich frage mich, inwieweit es überhaupt möglich ist, so einem Abwehrsystem, wenn man es jahrelang aufgebaut hat, plötzlich die gegenteilige Aufgabe zu geben. Das
Gegenteilige braucht auch eine entsprechende Ausbildung, das Gegenteilige braucht eine entsprechende Einstellung. Das gleiche Problem des Systems hatten wir auch in den 1990er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland: Die Ausländerbehörde war ausgebildet, alle Mitarbeiter dort waren ausgebildet, im Prinzip „Nicht-Aufenthaltsstatus“ zu vermitteln, weil „das Boot voll war“. Auf jeden Fall waren die politischen Richtlinien für die Verwaltung so. Und jetzt verlangen sie von denselben Beamten plötzlich, dass sie jetzt großzügiger an ihrem Schreibtisch Entscheidungen treffen sollen. Wir denken, mit der gleichen Ausbildung könnten wir im Prinzip sowohl das eine als auch das andere erledigen. In der restriktiven europäischen Asylpolitik haben wir es heute mit Institutionen zu tun, die eigentlich darauf eingerichtet waren, diesen Kontinent zu schützen, damit „keiner reinkommt“.
Auf der anderen Seite gibt es momentan einen moralischen Druck und eine mit den Flüchtlingen solidarische Bewegung. Es ist eine globale Verantwortung da und zugleich eine Spiegelung dieser globalen Verantwortung in jeder der Migrationsgesellschaften. Wir müssen uns die Frage stellen, welche Verantwortung wir überhaupt tragen. Ansonsten gebe ich Ihnen Recht, wenn die Politik das so will, wird einfach ein Beschluss gefasst und es werden viele Flüchtlinge aufgenommen. Ich erinnere mich an die 80er-Jahre, als viele iranische Flüchtlinge in der Türkei waren und das Komitee Cap Anamur sich dafür eingesetzt hat, dass 300 iranische Flüchtlinge aus der Türkei ins Land geholt wurden. Das heißt, es gibt diese Aktionen, es gibt diesen politischen Druck, und teilweise gibt es auch politische Reaktionen darauf. Wie weit sind wir oder unser System und unsere Institutionen bereit, das zu tun, was die Situation und diese globale Verantwortung verlangt? Ich bezweifle, dass die vorhandenen europäische Institutionen, die seit dem Schengener Abkommen zustande gekommen sind, eine gemeinsame Asylpolitik beschließen können, weil sie sich in viele Unterschiedlichkeiten und Auseinandersetzungen versteigern, sodass wir nicht weiter kommen.
Eine zweite Bemerkung: Ich erinnere mich, dass ich Mitte der 80er Jahre gelesen habe, dass der europäische Fleischüberschuss für 30 Pfennige pro Kilo in Afrika verkauft worden ist und deshalb viele Bauern aus Ghana geflüchtet sind, weil deren Kühe einfach entwertet waren. Sie konnten ihr Fleisch nicht vermarkten. Sie kamen dann hierher, wo das Bundesamt für die Anerkennung der ausländischen Flüchtlinge Ihnen anhand der Länderliste erklärt hat, dass ghanaische Flüchtlinge hier als Armutsflüchtlinge gelten. Man muss sich darüber klar werden, dass wir in diesem Land mit diesen Privilegien leben, weil es Länder wie Ghana gibt. Und ich glaube, wenn man diese kolonialen oder neo-kolonialen Zustände erst mal offen anspricht, wäre es auch möglich, Herrscher wie Gaddafi, dem übrigens auch Waffen geliefert wurden, in Anspruch zu nehmen und humanitäre Hilfe dort hineinzubringen. Das heißt, ich glaube, diese Themen dürfen wir nicht tabuisieren, wir leben in einer neo-kolonialen Zeit. Wer Macht hat, bestimmt zunächst auch, wo überhaupt die Grenzen sind. [Applaus]
Fehling: Herr Tiedemann, jetzt haben wir von zwei unterschiedlichen Seiten die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen im Sinne des Völkerrechtrechs und sog. Wirtschafts- oder Armutsflüchtlingen thematisiert bekommen. Wie gut funktioniert diese Unterscheidung in der verwaltungsgerichtlichen Praxis? Macht das Schwierigkeiten? Hat man das Gefühl, man kann eine gute Trennlinie ziehen? Wie ist die Beweislage?
Tiedemann: Ich habe mal einen Fortbildungskurs für Pressereferenten gemacht, da hat man gelernt, wie man vortäuscht, auf eine Frage zu antworten, aber in Wirklichkeit etwas anderes sagt: Das werde ich jetzt mal versuchen! [allgemeines Lachen] Ich würde nämlich noch mal gerne auf das Statement von Herrn Thym eingehen und zwar auf zwei Aspekte, zwischen denen ich einen Zusammenhang sehe. Einmal hat er gesagt, Europa könne nicht agieren, sondern nur reagieren. Und zweitens hat er darauf hingewiesen, dass die Schutztatbestände nach Inkrafttreten des europäischen Asylrechts deutlich erweitert worden sind. Ich will mal mit dem letzteren anfangen, das hat aber etwas mit dem ersteren zu tun: Die Vorstellung: Wir haben engere Schutztatbestände und deswegen weniger Flüchtlinge bzw. wir haben weitere Schutztatbestände und deswegen mehr Flüchtlinge, ist eine pure Illusion. Es ist ein Zaubertrick, mit dem man etwas durch die Schaffung bestimmter Regeln unsichtbar machen kann. Denn auch schon unter dem alten nationalen Recht waren natürlich sehr viele Flüchtlinge in Deutschland, die nicht anerkannt werden konnten. Die waren aber deshalb nicht nicht da, sondern sie waren nach wie vor da, bekamen aber keinen Status und wurden bestenfalls geduldet. Und Duldung bedeutet, dass man sich hier illegal aufhält, nur dass die Abschiebung nicht vollzogen wird. Es herrschte dann die Vorstellung: Wenn es illegal ist, dann gibt es das auch nicht, weil in unserem Land alles legal ist. Also indem wir jemanden zum Illegalen machen oder ihn in der Position des Illegalen festhalten, ist er auch schon weg, und dann müssen wir uns nicht weiter sorgen. Die Folge war die, dass man irgendwann, etwa um das Jahr 2000 oder vielleicht schon ein bisschen früher, plötzlich festgestellt hat, dass es Unmengen an illegalen Einwohnern in Deutschland gibt und dass das auf Dauer ein Problem wird. Man musste dann versuchen, mit Bleiberechtsregelungen diese Flüchtlinge nachträglich zu legalisieren. Dieser Druck, nachträglich zu legalisieren, ist durch die europäische Regelung weggefallen. Das heißt, wir sind jetzt ein bisschen realistischer, als wir es vielleicht vorher waren.
Aber wir kommen damit zu dem zweiten Punkt, wir könnten nur reagieren und nicht agieren. Man kann durch rechtliche Regelungen auf dem Gebiet des Ausländer-, des allgemeinen Zuwanderungs-, aber auch des Asylrechts die Tatsachen nicht verändern. Und wenn wir einfach erklären, dass bestimmte Menschen keine Flüchtlinge sind – durch Legaldefinition –, heißt das nicht, dass sie deshalb weg sind. Sie sind natürlich immer noch da und sie werden kommen. Es geht also nicht darum, ob wir durch Reaktion das Problem lösen können oder ob wir überhaupt das Problem lösen können, sondern: Das Problem ist einfach da. Und ich bin ganz sicher, dass wir zumindest diese Armutszuwanderung nicht wirklich lösen können, in dem Sinne, in dem man heutzutage Lösung normalerweise versteht, nämlich, dass es irgendwann einmal aufhört. Dies wäre nur anders, wenn bestimmte Theorien richtig wären, die von bestimmten Ökonomen aufgestellt werden. Und die sagen, es gebe sozusagen einen natürlichen Sättigungsgrad von Fluchtbewegungen und der hat damit etwas zu tun, dass Immigranten von dem, was sie hier in Europa
verdienen das meiste oder zumindest sehr viel in die Heimat zurückschicken können und damit dort die wirtschaftliche Entwicklung soweit fördern, dass sich irgendwann sozusagen ein Gleichgewicht ergibt und der Strom von selbst aufhört.
Fehling: Von dem wir aber wahrscheinlt entfernt wären.
Tiedemann: Das weiß ich nicht, die These ist umstritten, da gibt es auch jede Menge Gegenbeispiele. Entweder ist das nur eine Hoffnung, die wir zumindest einmal haben könnten. Oder wir sollten alle Hoffnung fahren lassen. Jedenfalls ist eines nicht möglich, nämlich dass man par ordre du mufti oder durch ein Gesetz diesen Zuwanderungsdruck auf Europa eindämmen oder abschaffen könnte.
Fehling: Nun könnte man doch argumentieren, dass es doch zumindest theoretisch möglich wäre, wieder energischer abzuschieben und zumindest die zurückschicken, die in unser Raster der politischen Verfolgung oder der Verfolgung im weiteren Sinne nicht hineinpassen. Würde das auch in der verwaltungsgerichtlichen Praxis funktionieren?
Tiedemann: Sie können natürlich versuchen, ein sinkendes Schiff mit einem Eimer zu retten, indem sie versuchen das Wasser herauszukippen, das von allen Seiten hineinströmt. Und das ist die Situation, die wir haben. Rechtlich glaube ich nicht, dass man das Problem wirklich lösen kann. Vielleicht müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, alle Probleme lösen zu können. Vielleicht sollten wir ein bisschen demütiger werden und sagen, was die Zukunft bringt, wissen wir nicht, versuchen wir uns einfach anständig zu verhalten und geben wir nicht unsere Moral auf, um damit Ziele zu erreichen, von denen wir vernünftigerweise wissen können, dass sie nicht erreichbar sind. Es gibt ja manchmal gute Gründe zum Schweinehund zu werden, aber es müssen wirklich gute Gründe sein. Und wenn man die nicht hat, sollte man auf das Schweine-Hund-Werden verzichten. [Applaus]
Fehling: Das war ein sehr schönes Zwischenwort. An dieser Stelle würden wir gerne die Diskussion für das Publikum öffnen.
Felix Eggers (Publikum): Herr Bank, meine Frage ist, welche wirtschaftliche Bedeutung es für die Herkunftsländer hat, wenn hauptsächlich junge, gut ausgebildete Männer auswandern, die noch dazu über die nötigen Mittel verfügen, sich eine Überfahrt leisten zu können? Für die wirklich Örmsten der Armen ist die Flucht ja gar keine Möglichkeit?
Bank: Dahinter stehen völlig unterschiedliche Motive und Idealbilder davon, was man in seinem Leben erreichen will. Wenn es jemand schafft, dann meistens finanziert durch die Familie. Daraus entsteht dann oft der Zwang für den Flüchtling, in Europa nicht zu scheitern. Das hat man oft auch innerhalb von Gesellschaften, wo Fluchtbewegungen oder Migrationsbewegungen vom Land in die Städte passieren, die mit Vorstellungen von einem besseren Leben verbunden sind. Letztlich muss man die Frage, die Herr Tiedemann gestellt hat, wie folgt zuspitzen: Was muss man denn jetzt machen, oder was kann man denn jetzt machen? Man kann sicher nichts, da gebe ich Herrn Thym Recht, lösen im Sinne: „Man beschließt jetzt drei oder vier Maßnahmen und hat im nächsten Jahr keine Toten mehr im Mittelmeer.Äú Ganz so einfach ist das nicht. Aber es hängt auch davon ab, was man für ein Volumen an Alternativen zur Verfügung stellt. Und da ist eine unverbindliche Absichtserklärung der Europäischen Union in Reaktion auf die jüngsten Tragödien doch ein bisschen wenig.
Thym: Ich wollte nochmal unterstreichen, was Herr Tiedemann davor gesagt hat. Die Volkswirte nennen das einen „migration hump“. Die Migration aus einem Land steigt, je mehr es sich entwickelt und irgendwann gehts dann wieder zurück. Bei den meisten Subsahara-Ländern sind wir allerdings momentan noch in einem Stadium, in dem der „hump“, dieser Gipfel, noch nicht erreicht ist. Das heißt, wenn wir nun zur Problembekämpfung im Mittelmeer versuchen, diese Länder zu entwickeln – was wir im Übrigen seit 50 Jahren erfolglos versuchen, was auch an der europäischen Politik liegen mag siehe europäisches Hühnerfleisch in Afrika – dann wird es nicht sofort zum Rückgang von Migration führen, sondern umgekehrt erst einmal zu einem Anstieg. Denn mehr Wohlstand führt dazu, dass mehr Menschen die Flucht wagen werden.
Aus eben diesem Grund ist es schwierig, eine Antwort zu finden. Und aus eben diesem Grund ist es wichtig, an der Illusion oder Vorstellung von Steuerung festzuhalten. Erstens wird die Politik ohne diese Steuerungsillusion kein Resettlement-Programm einrichten, das wird rechtspolitisch nicht durchsetzbar sein. Da bin ich persönlich aber sehr dafür. Insbesondere, da man auf dem Wege des Resettlements andere Personen erreicht, als diejenigen, die heute auf den Booten sitzen. Wenn Sie sich die Asylzahlen anschauen, stellen Sie fest, dass 70 % aller Asylsuchenden in Europa Männer sind. Frauen und Kinder kommen auch, aber in sehr geringem Umfang. Im Resettlement kann man das ändern. Im Resettlement kann man an Frauen, Kinder, Alte und Kranke, an die besonders Schutzbedürftigen herangetreten. Und bei Wirtschaftsflüchtlingen ist es noch einmal krasser: Aus Gambia kommen laut aktuellen Zahlen der Europäischen Union derzeit 95 % Männer. Das heißt, wir reden unter Gender-Gesichtspunkten über einen anderen Personenkreis, den man über legale Zuwanderungswege erreichen kann.
Jasper Castell (Publikum): Eine Frage, die sich mir immer stellt, ist, warum es so schwierig ist, die anderen europäischen Mitgliedstaaten anzuhalten, mehr zu tun.
Bank: Es gibt verschiedene Ebenen. Und schon auf der Ebene, wo es verbindliche rechtliche Regelungen gibt im europäischen Asyl-System, braucht es einen langen Umsetzungsprozess, bis die europäischen Regeln in allen Mitgliedstaaten der Union laufen. Beispielsweise inhaftiert Ungarn, jeden, der nach dem Dublin-System zurückgeführt wird. Das ist im Prinzip ein klarer Rechtsverstoß gegen europäisches Recht. Bis sich dieser Habitus auflöst, bedarf es aber einiger Verurteilungen durch die europäischen Höchstgerichte, bis das dann durchsickert. Ansonsten ist das leider brutales politisches Geschäft, wo manche europäische Länder, insbesondere mit – vorsichtig ausgedrückten – rechts-nationalen Regierungen relativ wenig Interesse daran haben, das Engagement im Flüchtlingsbereich hochzuschrauben.
Niklas Dehio (Publikum): Was Herr Tiedemann geschildert hat von diesem illegalen Aufenthalt ist ja extrem kontraproduktiv. Dann müsste man ja besser sagen: Entweder legalisiseren wir konsequent alle Aufenthalte oder wir schieben konsequent ab. Wie ist denn die hiesige Regelung, müssen die zahlreichen Flüchtlinge, die keinen Schutz erhalten, abgeschoben werden oder kann man diese Aufenthalte auch durch eine rechtliche „Hintertür“ doch noch legalisieren?
Tiedemann: Viele Rückführungen finden nicht statt, obwohl sie nach den Dublin-Regeln stattfinden müssten. Personen, deren Asylanträge endgültig gescheitert sind, können teilweise allein deshalb nicht abgeschoben werden, weil sie keine Papiere haben oder keine Papiere kriegen. Und wenn sich eine Abschiebung anbahnt, dann stellen Sie einen Asylfolgeantrag, was das Verfahren erstmal wieder unterbricht und so weiter. Wir haben nach wie vor nicht nur verschiedene legale Aufenthaltstatus, sondern wir haben auch noch die Situation, dass am Ende eine signifikant große Zahl von Ausländern in der Bundesrepublik lebten, die aber keinen Status haben, also illegal sind. In der Vergangenheit hat sich das regelmäßig bis zu einer gewissen Größe aufgebaut, bis es der Politik aufgefallen ist, die dann jeweils eine Art ad-hoc-Regelung geschaffen hat √° la: „Alle, die sich sechs Jahre hier aufgehalten haben und nie straffällig wurde und noch weitere Bedingungen erfüllen, werden jetzt legalisiert und kriegen eine Aufenthaltsgenehmigung!“ Und dann geht das Spiel wieder von vorne los.
Thym: Ich habe die Zahlen gerade hier: In Deutschland wurden im Jahr 2014 – wenn man alle rechtlich relevanten Abschiebungen zusammenzählt – 22.225 Personen abgeschoben, einschließlich Dublin-Überstellungen. Bei ca. 80.000 abgelehnten Asylanträgen sind das natürlich wenige. Einige Flüchtlinge aus den West-Balkan-Staaten reisen auch freiwillig aus. Und genaue Zahlen zu den Personen, die sich derzeit ohne Aufenthaltsberechtigung mit einer Duldung oder wie auch immer hier aufhalten, gibt es nicht. Aber zu den Abschiebezahlen nur noch einmal im Vergleich. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben im Jahr 2013 438.000 Personen abgeschoben, das sind 20-mal so viel wie in Deutschland, wenn man eine relative Zahl bildet. Auch andere europäische Staaten haben sehr viel höhere Abschiebequoten als Deutschland.
Corinna Coupette (Publikum): Man kann mehr Flüchtlinge aufnehmen und als Gesellschaft tragen, wenn sie besser integriert sind. Und das wird aus Laienperspektive zum Beispiel dadurch erschwert, dass die Flüchtlinge nicht arbeiten dürfen, beispielsweise, weil sie residenzpflichtgebunden sind. Was kann konkret getan werden, um die Integration zu verbessern?
Fathi: Mein Vorschlag wäre, die Unterstützung und Solidarität weiter fortzusetzen und sich überlegen, was in diesem Land nicht funktioniert. Politik und Behörden müssen auf die Missstände aufmerksam werden.
Bank: Bei der Integration von Asylsuchenden gab es ein paar rechtliche Fortschritte, etwa im Sinne der Aufhebung der Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit nach den ersten drei Monaten und verbessertem Arbeitsmarktzugang. Wie gut das funktioniert, wird man in nächster Zeit sehen werden. Entscheidend dürfte aber die Forderung nach einem zügigen und effizienten Verfahren sein, insbesondere, da die Zahlen in letzter Zeit deutlich gestiegen sind.
Judith Büschleb (Publikum): Ist es zwingend, dass Flüchtlinge gleich Last bedeuten und könnten vielleicht alle Diskutanten in ihrem Abschlussstatment einen positiven Aspekt von Flucht darstellen, sei es finanzieller, kultureller oder gesellschaftlicher Art?
Tiedemann: Das Positive an Flucht ist meiner Meinung, dass wir Zuwanderung brauchen, um unser Lebensniveau zu erhalten. Ich finde es unfair, dass man diejenigen, die bereits eine hohe Ausbildung haben aus dem Ausland, aus anderen Ländern abfischt und die dortigen Investitionen in Bildung quasi raubt, um sie hier nutzbar zu machen. Ich fände es fairer, wenn man Menschen ins Land ließe, die noch keine Ausbildung haben und dann hier in unserem Land eine Ausbildung bekommen. Und da sind die Flüchtlinge das richtige Klientel. Aus meiner Sicht sind Flüchtlinge äußerst nützlich und schaden nicht.
Thym: Ich mache es auch kurz: Flüchtlinge aufzunehmen und zu schützen ist ein moralisches und ethisches Gebot, allein deswegen ist es gut. Aber aus diesem Grund möchte ich auch ein funktionierendes Flüchtlingssystem, das den Personen Schutz gewährt, die ihn benötigen. Wie man so ein wirksames Asylsystem tatsächlich erreicht, ist dann leider schwierig zu beantworten.
Bank: Die Frage „Flüchtlinge als Last oder Vorteil“ stellt sich so nicht. Der Kernpunkt ist, dass es eine völkerrechtliche, grundrechtliche und moralische Verpflichtung ist, Flüchtlinge aufzunehmen.
Fehling: Ich danke allen Teilnehmern der Podiumsdiskussion und den Besuchern für ihr Kommen.
Das Bucerius Law Journal bedankt sich bei den Diskutanten und allen Zuschauern. Für die finanzielle Unterstützung des Streitgesprächs bedanken wir uns außerdem bei unserem Sponsor Morgan, Lewis & Bockius LLP, dem Thalia Theater und bei allen Helfern sowie der Bucerius Law Clinic.