Ein Vergleich der Kriterien der Entscheidung BGH, GRUR 2012, 58 – Seilzirkus mit der aktuellen EuGH-Judikatur zum Werkbegriff, insbesondere den Entscheidungen EuGH, GRUR 2009, 1041 – Infopaq, GRUR 2011, 220 – BSA/Kulturministerium und GRUR 2012, 386 – Dataco/Yahoo
von Jan Henrik Weischede*
A. Einführung
Klettergerüste, Zusammenfassungen von Zeitungsartikeln, Software und Fußballspielpläne haben zwei entscheidende Gemeinsamkeiten: Sie dienen erstens einem Gebrauchszweck und sind damit Gebrauchsgegenstände1 und werfen zweitens in ihrer Eigenschaft als Gebrauchsgegenstände die Frage auf, ab welcher Grenze ihnen und ihrer Gattung urheberrechtlicher Schutz zukommen soll. Diese Gegenstände, die in ihrer Formgestaltung zwischen Funktionalität und Kreativität stehen, nennt das Urheberrechtsgesetz2 angewandte Kunst (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG).3
Urheberrechtlicher Schutz für Gebrauchsgegenstände ist nicht selbstverständlich. Gebrauchsgegenstände sind – im Gegensatz zur zweckfreien Kunst – Teil des technischen Fortschritts und müssen der Allgemeinheit zugänglich sein, um technologischen Fortschritt zu ermöglichen. Sie unterfallen deshalb zunächst dem patentrechtlichen Schutz, der höhere Schutzanforderungen als das Urheberrecht stellt4 und vor allem eine kürzere und damit gemeinwohlverträglichere Schutzzeit als das Urheberrecht vorsieht5. Da aber viele Gebrauchsgegenstände nicht nur auf ihre Funktion beschränkt sind, sondern auch das Ergebnis eines kreativen Schaffensprozesses sein können, stellt sich die Frage nach ihrem Urheberrechtsschutz. Die Aufgabe, einen urheberrechtlichen Schutzmaßstab zu bilden, fällt dem Werkbegriff zu. Er entscheidet als „Eingangstor“6 zum Urheberrecht über die Schutzfähigkeit eines Gegenstands.
Ziel der Arbeit ist es, den Werkbegriff des BGH und des EuGH für Gebrauchsgegenstände anhand von vier Entscheidungen herauszuarbeiten und zu systematisieren. Nach einer Einführung in die europäische Werkkonzeption (B.) folgt die Analyse der Entscheidungen (C.). Daraufhin sind die Urteile in ihren schutzniveaurelevanten Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu vergleichen (D.), um abschließend auf die Konsequenzen der Unterschiede für das deutsche Urheberrecht eingehen zu können (E.).
B. Trend zur Harmonisierung – Die europarechtliche Entwicklung des Werkbegriffs
Die europäische Konzeption des Werkbegriffs in den betreffenden Richtlinien birgt in sich bereits die Ursache für die zunehmende Rechtsprechung des EuGH zum Werkbegriff. Die unterschiedlichen Traditionen im Werkverständnis der Mitgliedstaaten sollten im Wege der europäischen Harmonisierung in Einklang gebracht werden.7 Dieses Anliegen scheiterte. Der Harmonisierungsstand ist lückenhaft.
Lediglich für drei Werkarten sind europäisch autonome Schutzanforderungen in den jeweiligen Richtlinien aufgestellt: Für Computerprogramme in der Richtlinie 2009/24/EG8 (Computer-RL), für Datenbanken in der Richtlinie 96/9/EG9 (Datenbank-RL) und für Fotografien in der Richtlinie 93/98/EWG10 (Schutzdauer-RL). Trotz unterschiedlicher Schutzgegenstände hat der Richtliniengeber den Werkbegriff in den drei Richtlinien auf die einheitliche Formel der „eigenen geistigen Schöpfung“11 bringen können. In der Übereinstimmung der Definitionen deutete sich bereits die Entwicklung hin zu einem autonomen Werkbegriff für sämtliche Werkarten an12 – ein Ausgangspunkt, den der EuGH bereitwillig aufgriff, um vom Werkbegriff dieser Richtlinien auf ein werkübergreifendes Werkverständnis zu schließen.
Den genannten werkspezifischen Richtlinien steht die Richtlinie 2001/29/EG13 (Infosoc-RL) gegenüber, die werkunabhängig die urheberrechtlichen Verwertungsrechte harmonisiert. Sie stellt damit zwar die bisher umfassendste
* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg.
1 Zum Begriff der angewandten Kunst, der inzident Aufschluss über den Begriff des Gebrauchsgegenstands gibt: vgl. Schulze, in: Dreier/Schulze (Hrsg.), Urheberrechtsgesetz3, 2008, § 2 Rn. 158.
2 Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) vom 09.09.1965 (BGBl. I S. 1273), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.07.2013 (BGBl. I S. 2586) mit Wirkung vom 01.08.2013.
3 Vgl. Schulze, in: Dreier/Schulze (Fn. 1), § 2 Rn. 158.
4 Das Patentrecht verlangt als zusätzliche Schutzvoraussetzung beispielsweise eine neue Erfindung (s. Osterrieth, Patentrecht4, 2010, Rn. 201 ff.)
5 Vgl. Schutzzeit in § 16 Abs. 1 S. 1 PatG: 20 Jahre und § 64 UrhG: 70 Jahre post mortem auctoris.
6 Bullinger, GRUR-Prax 2011, 536.
7 Vgl. First Evaluation of Directive 96/9/EC on the Legal Protection of Databases, Punkt 1.1, verfügbar unter: http://ec.europa.eu/internal_market/copyright/prot-databases/index_en.htm (letzter Abruf am 30.09.2013).
8 Richtlinie 2009/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.04.2009 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen, kodifizierte Fassung (ABl. EG Nr. L 111/16).
9 Richtlinie 96/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union vom 11.03.1996 über den rechtlichen Schutz von Datenbanken (ABl. EG 1996 Nr. L 77/20).
10 Richtlinie 93/98/EWG des Rates vom 29.10.1993 zur Harmonisierung der Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte (ABl. EG 1993 Nr. L 290/9).
11 Art. 1 Abs. 3 S. 1 Computer-RL; Art. 3 Abs. 1 S. 1 Datenbank-RL; Art. 6 S. 1 Schutzdauer-RL.
12 Vgl. Klauer, Europäisierung des Privatrechts, 1997, S. 320; Handig, Österreichische Blätter für Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (ÖBl.) 2010, 52; a.A.: Erdmann, in: FS Michael Loschelder, 2010, S. 61, 64 f.
13 Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.05.2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. EG 2001 Nr. L 167/10).
Harmonisierungsmaßnahme im Urheberrecht dar,14 eine Bestimmung des Werkbegriffs sucht man aber vergeblich. Diese Lücke war durch den jeweiligen nationalen Werkbegriff zu füllen – ein Umstand, der einem einheitlichen Urheberrechtsstandard zuwiderlief:15 Der nationale Werkbegriff als Lückenfüller war ein Fremdkörper im ohnehin unsystematischen „Flickenteppich“16 des europäischen Urheberrechts. Es verwundert daher nicht, dass der EuGH sich dazu berufen sah, den nationalen Werkbegriff mithilfe eines autonomen Werkverständnisses zu verdrängen.
C. Analyse der Entscheidungen
I. Die EuGH-Judikatur
Deutlich wird in der Analyse erstens, dass der Gerichtshof um die Verfestigung seiner Rechtsprechung zur Grundsatzentscheidung Infopaq bemüht ist. Zweitens zeigt sich in den darauffolgenden Entscheidungen auch eine sukzessive Präzisierung des Werkbegriffs.
1. EuGH, GRUR 2009, 1041 – Infopaq (C-05/08)
a) Das Urteil
Das dänische Unternehmen Infopaq International A/S bietet an, auf Stichwörter hin Zeitungsartikel zu suchen und für den Kunden ein Protokoll zu erstellen, das aus dem Suchwort sowie den fünf vorangehenden und den fünf nachfolgenden Wörtern in dem gefundenen Artikel besteht. Inzident musste der EuGH über die Frage entscheiden, ob dieses Protokoll urheberrechtlich schützenswert ist und hielt fest, dass das Protokoll als Werkteil den gleichen Regeln wie der Artikel als Gesamtwerk unterliegen müsse.17 Geradezu beiläufig18 setzt der EuGH dabei den Beginn einer nunmehr verfestigten Rechtsprechung19 zum europäischen Werkbegriff.
b) Schlussfolgerungen für den Werkbegriff
aa) Kreation eines einheitlichen europäischen Werkbegriffs
Mit lediglich zwei Sätzen erklärt der Gerichtshof die Grundsätze zum Werkschutz, die im Rahmen der Datenbank-RL, der Computerprogramm-RL sowie der Schutzdauer-RL gelten, auch in diesem Fall und damit für den allgemeinen Werkbegriff in der Infosoc-RL für anwendbar:20 Der Begriff der „eigene[n] geistigen Schöpfung“21 fristet damit nicht mehr länger ein Dasein im Sonderregelungsbereich, sondern beansprucht kraft höchstrichterlicher Rechtsfortbildung Allgemeinbegriff zu sein.22
Methodisch leitet der Gerichtshof den Werkbegriff aus dem völkerrechtlichen und europarechtlichen Zusammenhang her. Die Methode überzeugt, weil sie auf die etablierten23 Auslegungskategorien des Normzwecks, des gesetzgeberischen Ziels und der völkerrechtskonformen Auslegung zurückgreift.24 Ausgangspunkt ist die Berner Übereinkunft25 (RBÜ), die eine geistige Schöpfung als Schutzvoraussetzung verlangt.26 In „Gesamtanalogie“27 zum autonomen Werkbegriff der Richtlinien präzisiert der Gerichtshof den Werkbegriff auf die „eigene geistige Schöpfung ihres Urhebers“28. Kritikern, die den Schluss vom Werkbegriff der drei Richtlinien auf einen einheitlichen Werkbegriff infrage stellen, weil die drei Richtlinien abgeschlossene Sonderregelungen seien29, sind zwei Argumente entgegenzuhalten: Erstens gelten die Richtlinien als frühzeitiger, wenn auch in seinen Ansätzen stehengebliebener Entwurf eines einheitlichen Werkbegriffs des Richtliniengebers.30 Der EuGH setzt damit in seiner einheitlichen Begriffsbildung den Willen des Richtliniengebers fort. Zweitens zeigt der einheitliche Begriff der drei Richtlinien, dass trotz unterschiedlicher Werktypen (Software, Datenbanken und Fotografien) ein gemeinsamer Nenner gefunden wurde. Deshalb ist kein Grund ersichtlich, warum dieser nicht über die Regelungsgegenstände der Richtlinien hinaus anwendbar sein sollte.31
bb) Das Werkkriterium der Originalität
Bereits in Infopaq ist die Originalität als Schutzkriterium in der Definition erkennbar. Bei einem Schutzobjekt müsse es sich um ein „Original in dem Sinne handel[n], dass es eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers darstellt“32. Im engen Bezug zum unbestimmten Begriff der eigenen geistigen Schöpfung wird deutlich, wie offen das Originalitätskriterium in Infopaq noch gehalten ist. Es wird im Verlaufe der folgenden Entscheidungen deutliche Konturen annehmen. Auch wenn das Originalitätskriterium nach Infopaq keinen Gewinn an Unterscheidbarkeit bedeutet, ist doch ein Fortschritt darin zu sehen, dass nun auf europäischer Ebene ein „systemkonformes“33 Kriterium geschaffen wurde, das auch im Urheberrecht der Mitgliedstaaten das entscheidende Abgrenzungskriterium zwischen schutzfähigem Werk und nicht schutzwürdigem Allgemeingut darstellt.
14 Vgl. McGuire, in: Gebauer/Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2010, S. 1085 Rn. 135.
15 Vgl. Metzger, GRUR 2012, 118, 121.
16 Schack, in: Leistner (Hrsg.), Europäische Perspektiven des Geistigen Eigentums, 2010, S. 173, 175.
17 EuGH, GRUR 2009, 1041 Rn. 38 – Infopaq.
18 Auf die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Sequenz von elf Wörtern schützenswert ist, geht die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen nicht ein; siehe Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache C-5/08 (Infopaq) vom 12.02.2009, verfügbar unter: http://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?language=de&jur=C,T,F&num=C-5/08&td=ALL, letzter Abruf am 30.09.2013 (zitiert nach Schlüter, in: FS D. Stauder,, 2011, S. 239 Fn. 8).
19 Vgl. die folgenden Entscheidungen mit ausdrücklichem Bezug zu Infopaq: EuGH, GRUR 2011, 220 Rn. 45 – BSA/Kulturministerium; EuGH, GRUR 2012, 386 Rn. 37 f. – Dataco/Yahoo.
20 EuGH, GRUR 2009, 1041, 1044 – Infopaq.
21 Art. 1 Abs. 3 Computer-RL; Art. 3 Abs. 1 Datenbank-RL; Art. 6 Schutzdauer-RL.
22 Vgl. Handig, ÖBl 2010, 52, 53.
23 Siehe dazu Anweiler, Auslegungsmethoden, 1997, S. 376 f.
24 Vgl. auch Metzger, GRUR 2012, 118, 121 („methodisch kaum angreifbar“); vgl. allgemein zur Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Werkbegriff auch Berger, ZUM 2012, 353, 361 („methodisch gesichertes Rüstzeug“).
25 Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst vom 09.09.1886, überarbeitet in Paris am 24.07.1971, englische Version verfügbar unter: http://www.wipo.int/treaties/en/ip/berne (letzter Abruf am 30.09.2013).
26 EuGH, GRUR 2009, 1041, 1044 – Infopaq.
27 Metzger, GRUR 2012, 118, 121.
28 EuGH, GRUR 2009, 1041 Rn. 37 – Infopaq.
29 So Erdmann (Fn. 12), S. 61, 64 f.
30 Vgl. Klauer, (Fn. 12), S. 320.
31 Vgl. Metzger, GRUR 2012, 118, 121: „Die Unterschiedlichkeit der Regelungsgegenstände belegt, wie breit die Basis für den Induktionsschluss […] ist.“
32 EuGH, GRUR 2009, 1041 Rn. 37 – Infopaq.
33 Handig, ÖBl. 2010, 52, 54.
c) Auswirkungen auf das Schutzniveau von Gebrauchsgegenständen
Wie hoch die Anforderungen an die Individualität eines schutzfähigen Gegenstands nach dem Begriff der „eigenen geistigen Schöpfung“ sind, ist der Definition nicht zu entnehmen. Aufschlussreich für die Beurteilung des Schutzniveaus ist deshalb nicht die autonome Werkdefinition, sondern vielmehr der Ansatz einer Subsumtion des Gerichtshofs. Die Entscheidung, ob das aus elf Wörtern bestehende Protokoll nach Maßgabe des entwickelten Werkbegriffs ein urheberrechtlich schützenswertes Sprachwerk ist, überlässt der Gerichtshof zwar dem nationalen vorlegenden Gericht.34 Er setzt aber voraus, dass das Protokoll als schützenswert angesehen werden kann, und seine Formulierung lässt darauf schließen, dass er von der Schutzfähigkeit des Protokolls ausging.35 Insofern gibt dieser Ansatz einer Subsumtion Aufschluss über ein sehr niedriges Schutzniveau des autonomen Werkbegriffs: Verwendete man diesen Schutzstandard werkübergreifend, würde jede Ergebnisliste einer Suchmaschine, die notwendigerweise aus Textausschnitten anderer Urheber besteht, eine Vielzahl von Urheberrechtsverletzungen bedeuten.36
Infopaq setzt damit einen neuen Maßstab für das Schutzniveau von Gebrauchsgegenständen. Die sehr niedrige Schutzschwelle ist wegweisend für die folgenden Entscheidungen, die auf den werkübergreifenden europäischen Werkbegriff37 aus Infopaq aufbauen und vor allem das Originalitätskriterium präzisieren. Der Schluss vom besonderen auf das allgemeine Urheberrecht wird als Methode der Begriffsentwicklung in den beiden folgenden Entscheidungen wiederkehren.
2. EuGH, GRUR 2011, 220 – BSA/Kulturministerium (C-393/09)
a) Das Urteil
In BSA/Kulturministerium entschied der EuGH, dass Benutzeroberflächen keine Ausdrucksform eines Computerprogramms seien, weil durch sie das Computerprogramm nicht vervielfältigt werden könne. Ein urheberrechtlicher Schutz nach der Computer-RL schied damit aus. Eine Benutzeroberfläche könne aber in den Genuss des urheberrechtlichen Schutzes der Infosoc-RL kommen, wenn es sich bei ihr um eine geistige Schöpfung des Urhebers handelt.38 Das Kriterium der Originalität sei allerdings nicht erfüllt, wenn der Ausdruck der einzelnen Teile der Benutzeroberfläche durch ihre technische Funktion vorgegeben ist.39
b) Schlussfolgerungen für den Werkbegriff
Dass nun die Benutzeroberfläche nicht unter die Computer-RL fällt, sondern dem allgemeinen Urheberrecht der Infosoc-RL unterliegt, macht die Entscheidung für das Verständnis des einheitlichen autonomen Werkbegriffs bedeutsam.
BSA/Kulturministerium bestätigt den einheitlichen autonomen Werkbegriff aus Infopaq. Das wird in der wörtlichen Anlehnung und dem ausdrücklichen Verweis auf Infopaq40 deutlich. Bemerkenswert dabei ist, dass der Gerichtshof die Grundsätze aus Infopaq ohne weitere Begründung übernimmt. In diesem Schweigen gibt er zu erkennen, dass die Grundsätze keiner Begründung mehr bedürfen, weil der entwickelte Begriff nunmehr ein feststehender ist. BSA/Kulturministerium ist damit der erste Schritt zu einer verfestigten Rechtsprechung des EuGH zum autonomen Werkbegriff.
BSA/Kulturministerium erschöpft sich jedoch nicht in der Wiederholung der Rechtssätze aus Infopaq. Vielmehr legt es darüber hinaus die Schutzanforderungen fest, die an den europäischen Werkbegriff zu stellen sind. Notwendigerweise beschränke der Gebrauchszweck einer Benutzeroberfläche, die Anwendung von Computerprogrammen zu erleichtern, die Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Elemente.41 Daraus leitet der Gerichtshof ab, dass das Kriterium der Originalität nicht erfüllt sei, „wenn der Ausdruck dieser Komponenten durch ihre technische Funktion vorgegeben ist, denn die verschiedenen Möglichkeiten der Umsetzung einer Idee sind so beschränkt, dass Idee und Ausdruck zusammenfallen“42. Die Originalität als maßgebliches Werkkriterium aus Infopaq ist damit bestätigt und zugleich weiterentwickelt, indem es nunmehr negativ definiert ist.
c) Auswirkungen auf das Schutzniveau von Gebrauchsgegenständen
Es drängt sich nun die Frage auf, inwiefern diese negative Definition des Originalitätskriteriums noch den niedrigen Schutzanforderungen aus Infopaq entspricht. Sollte die europäische „kleine Münze“43 in BSA/Kulturministerium größer und damit die Schutzanforderungen höher geworden sein?
Dagegen spricht zunächst der systematische Zusammenhang der Entscheidung zu Infopaq. Hier entwickelte der Gerichtshof das Originalitätskriterium aus den niedrigen Schutzvoraussetzungen für Computerprogramme, Datenbanken und Fotografien.44 Indem der Gerichtshof in BSA/Kulturministerium ausdrücklich auf dieses Kriterium in der Infopaq-Entscheidung verweist,45 übernimmt er das Kontextverständnis des Originalitätskriteriums aus den Richtlinien und damit das weite Werkverständnis mit seinen niedrigen Schutzanforderungen. Zudem findet sich in BSA/Kulturministerium keine ausdrückliche Abgrenzung zu Infopaq. Im Wortlaut der Definition des Originalitätskriteriums klingt indes ein anderes Verständnis
34 EuGH, GRUR 2009, 1041 Rn. 48 – Infopaq.
35 Vgl. EuGH, GRUR 2009, 1041 Rn. 47 – Infopaq; dieser Interpretation zustimmend: Metzger, GRUR 2012, 118, 121; Schlüter (Fn. 18), S. 239, 240; dagegen: Erdmann (Fn. 12), S. 61, 66.
36 Metzger, GRUR 2012, 118, 121.
37 Metzger, GRUR 2012, 118, 121; a.A.: Erdmann (Fn. 12), S. 61, 66.
38 EuGH, GRUR 2011, 220 Rn. 46 – BSA/Kulturministerium; vgl. bereits EuGH, GRUR 2009, 1041 Rn. 33-37 – Infopaq.
39 EuGH, GRUR 2011, 220 Rn. 49 – BSA/Kulturministerium.
40 EuGH, GRUR 2011, 220 Rn. 45 – BSA/Kulturministerium.
41 Vgl. EuGH, GRUR 2011, 220 Rn. 49 – BSA/Kulturministerium i.V.m. Bot, Schlussanträge BSA/Kulturministerium, Rn. 75.
42 EuGH, GRUR 2011, 220 Rn. 49 – BSA/Kulturministerium.
43 Dazu zum deutschen Urheberrecht Elster, Gewerblicher Rechtsschutz, S. 40.
44 EuGH, GRUR 2009, 1041 Rn. 35 – Infopaq.
45 EuGH, GRUR 2011, 220 Rn. 45 – BSA/Kulturministerium.
an. Das Ausschlusskriterium technisch notwendiger Gestaltungen legt dem Schaffenden höhere Schutzanforderungen auf als noch das in der Subsumtion angedeutete Schutzniveau in Infopaq. Damit gibt der EuGH eine „größere Sensibilität“46 für die Gemeinfreiheit zu erkennen und trägt dem für Gebrauchsgegenstände typischen Spannungsverhältnis zwischen Schutzinteresse des Urhebers und Gemeinwohlinteresse an der Zugänglichkeit der Errungenschaft Rechnung.
Der Werkbegriff hat durch diese Entscheidung klarere Konturen erhalten und steht weiter in der Tradition niedriger Schutzanforderungen. Die negative Definition des Originalitätskriteriums berücksichtigt nunmehr die Funktion eines Gegenstands, um seine Werkqualität zu beurteilen.
3. EuGH, GRUR 2012, 386 – Dataco/Yahoo (C-604/10)
a) Das Urteil
In Dataco/Yahoo stellte der EuGH fest, dass ein Fußballspielplan urheberrechtlich nicht geschützt sei, wenn Regeln und Zwänge seine Erstellung bestimmen, die für künstlerische Freiheit keinen Raum lassen. Ein bedeutender Arbeitsaufwand und eine besondere Sachkenntnis des Urhebers bei der Erstellung der Spielpläne würden den urheberrechtlichen Schutz eines Spielplans nach der Datenbank-RL nicht rechtfertigen.
b) Schlussfolgerungen für den Werkbegriff
Zwar findet sich in Dataco/Yahoo keine Aussage zum allgemeinen europäischen Urheberrecht der Infosoc-RL. Rückschlüsse auf den allgemeinen Werkbegriff sind dennoch möglich. Denn der EuGH entwickelte in Infopaq den allgemeinen Werkbegriff mitunter aus dem Werkverständnis der Datenbank-RL. Ihre Auslegung wirkt sich damit mittelbar auch auf den allgemeinen Werkbegriff aus.
Der EuGH stellt fest, dass das Kriterium der Originalität erfüllt sei, wenn der Urheber der Datenbank „über die Auswahl oder Anordnung der in ihr enthaltenen Daten seine schöpferischen Fähigkeiten in eigenständiger Weise zum Ausdruck bringt, indem er freie und kreative Entscheidungen trifft und ihr damit seine ,persönliche Note’ verleiht“47. Das Originalitätskriterium ist nun positiv definiert. Besonders aufschlussreich dabei ist die Übernahme der „persönlichen Note“ aus der Entscheidung Painer/Standard.48 Sie stellt klar, dass das Werk mehr als das Ergebnis menschlicher Mühe ist49 und mit der Prüfung einer gewissen Schöpfungshöhe einhergeht. War vor Dataco/Yahoo nicht sicher, ob dieses Kriterium der Schöpfungshöhe für andere Werkarten als Fotografien über Painer/Standard hinaus gelten solle,50 verschafft Dataco/Yahoo nunmehr Gewissheit. Der EuGH greift die „persönliche Note“ hier im anderen Werkkontext der Datenbanken auf und verleiht ihr damit werkübergreifenden Charakter. Sie ist nun fester Bestandteil des europäischen Originalitätskriteriums. Eine Abweichung vom niedrigen Schutzniveau der beiden vorigen Entscheidungen ist in Dataco/Yahoo nicht erkennbar.
4. Schlussbetrachtung: Der europäische Werkbegriff
Von der Grundlagenentscheidung Infopaq ausgehend hat der EuGH in einer Mischung aus Bestätigung und Fortentwicklung der bis dahin angewendeten Kriterien und einem beständigen argumentativen Wechselspiel zwischen besonderem (Datenbanken, Computerprogramme und Fotografien) und allgemeinem (Infosoc-RL) Urheberrecht51 einen europäisch autonomen Werkbegriff entwickelt, der folgendermaßen zusammenzufassen ist: Bei einem Werk muss es sich um ein Original in dem Sinne handeln, dass es eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers ist (Infopaq). Originell ist ein Gegenstand nicht, wenn seine Erstellung durch seine technische Funktion vorgegeben ist (BSA/Kulturministerium), sondern wenn die schöpferischen Fähigkeiten des Urhebers in eigenständiger Weise zum Ausdruck kommen, indem er freie und kreative Entscheidungen trifft (Dataco/Yahoo) und dem Gegenstand damit seine „persönliche Note“ verleiht (Dataco/Yahoo und Painer/Standard).
II. BGH GRUR 2012, 58 – Seilzirkus
Auch der BGH hatte in Seilzirkus über die Auslegung des Werkbegriffs zu entscheiden. Seine Entscheidung verdient deshalb insbesondere hinsichtlich ihres Verhältnisses zur EuGH-Judikatur Beachtung.
1. Das Urteil
Der BGH entschied, dass Kletternetze kein schöpferisches Werk im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 UrhG seien. Es bestehe lediglich ein technischer, aber kein künstlerischer Gestaltungsspielraum. Die ästhetische Gestaltung reiche nicht aus, um von einer künstlerischen Leistung zu sprechen.52
2. Technisch notwendige und technisch bedingte Formgestaltung
Ob ein Gegenstand in Ausnutzung eines künstlerischen Gestaltungsspielraums geschaffen und damit in den Genuss des urheberrechtlichen Schutzes gelangt, ist nicht mehr einheitlich zu beurteilen.53 In vorigen Urteilen54 stellten die Gerichte darauf ab, ob die Form eines Gebrauchsgegenstands zwingend aus seinem technischen Zweck folgt. Nur eine technisch notwendige Formgestaltung schloss demnach den urheberrechtlichen Schutz aus, denn in diesem Fall bestehe kein Gestaltungsspielraum, der dem Entwerfer eine kreative und damit schützenswerte Leistung ermöglichen würde.55
46 Heinze, 2 JIPITEC (2011), 97 Rn. 34.
47 EuGH, GRUR 2012, 386 Rn. 38 – Dataco/Yahoo.
48 EuGH, GRUR 2012, 166 Rn. 92 – Painer/Standard.
49 Metzger, GRUR 2012, 118, 122.
50 Metzger, GRUR 2012, 118, 122.
51 Vgl. dazu Heinze, JIPITEC (2011), 97 Rn. 34: Der Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine dürfte die „europäische Urheberrechtswissenschaft weiter in Atem halten.“
52 Vgl. BGH, GRUR 2012, 58 Rn. 31 – Seilzirkus.
53 Eingehend zu technisch notwendiger und bedingter Gestaltung: Zentek, ZUM 2012, 42 f.
54 Vgl. BGH, GRUR 1961, 635, 637 – Stahlrohrstuhl; bestätigend: BGH, GRUR 1981, 820, 822 – Stahlrohrstuhl II sowie OLG Köln, GRUR 1990, 356, 357 – Freischwinger.
55 Vgl. Zentek, ZUM 2012, 42, 45.
Im Ausgangspunkt klingt dieses Verständnis in Seilzirkus noch an: Eine persönliche geistige Schöpfung sei ausgeschlossen, wenn „für eine künstlerische Gestaltung kein Raum besteht, weil die Gestaltung durch technische Erfordernisse vorgegeben ist“56. Ob die Formgestaltung allerdings technisch vorgegeben ist, beurteilt sich nicht mehr allein danach, ob die Formmerkmale bei gleichartigen Erzeugnissen zwingend verwendet werden müssen. Technisch vorgegeben sind nach Ansicht des BGH auch Formmerkmale, „die zwar aus technischen Gründen verwendet werden, aber frei wählbar oder austauschbar sind“57. Nicht mehr eine technisch notwendige, sondern bereits eine technisch bedingte Formgestaltung verschließt damit nach höchstrichterlicher Rechtsprechung Gebrauchsgegenständen den urheberrechtlichen Schutz. Verbleibende Gestaltungsspielräume sind demnach kein Argument mehr, um urheberrechtlichen Schutz in Anspruch nehmen zu können. Vielmehr ist nun ein Schutzausschluss auch bei Gestaltungsspielräumen möglich geworden, sofern der Gebrauchsgegenstand „allein aus zwar frei wählbaren oder austauschbaren, aber technisch bedingten Merkmalen besteht und keine künstlerische Leistung erkennen lässt“58.
3. Auswirkungen auf das Schutzniveau von Gebrauchsgegenständen
Die urheberrechtlichen Schutzanforderungen an Gebrauchsgegenstände haben sich mit der Messlatte der technisch bedingten Gestaltung aus Seilzirkus erhöht.59 Es ist Gebrauchsgegenständen eigen, dass ihre kreative Schaffung von technischen Merkmalen bestimmt ist.60 Die technische Determinierung in dieser Form stellt nun viele Gebrauchsgegenstände ins urheberrechtliche Abseits.
Ob der BGH darüber hinaus an den höheren Anforderungen an die Gestaltungshöhe angewandter Kunst festhält, hat er ausdrücklich offen gelassen. Solange die Frage nicht höchstrichterlich entschieden ist, muss man vom Fortbestand der tradierten Rechtsprechung61 dazu ausgehen.
D. Vergleich
Die Gemeinsamkeiten und Differenzen der Entscheidungen sind an ihren Auswirkungen auf das urheberrechtliche Schutzniveau von Gebrauchsgegenständen zu messen.
I. Gemeinsamkeit: Individualität und Originalität als entscheidende Abgrenzungskriterien
Während der EuGH eine originelle Schöpfung verlangt, setzt der BGH einen Gegenstand individueller Prägung voraus, um urheberrechtlichen Schutz zu gewähren. Auch wenn keine begriffliche Identität zwischen Originalität und Individualität besteht, ist mit ihnen dasselbe gemeint. Es kommt auf die Schöpfungshöhe62 des Gegenstands oder, anders ausgedrückt, den Gestaltungsspielraum63 des Urhebers an. Dass dieser Maßstab die urheberrechtliche Schutzfähigkeit maßgeblich beeinflusst, ergibt sich für den BGH aus der deutschen Urheberrechtsdogmatik.64 Der EuGH stellte in Dataco/Yahoo fest, dass die Originalität sogar das einzige Kriterium zur Bestimmung der Schutzfähigkeit eines Gegenstands ist.
Die Gemeinsamkeit ist Ausdruck der dogmatischen Nähe zwischen europäischem und deutschem Werkbegriff.65 Sie lässt in ihrer abstrakten Gemeinsamkeit aber keine Rückschlüsse auf das konkrete Schutzniveau für Gebrauchsgegenstände zu. Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht vielmehr die Differenzen.
II. Differenzen
1. Vielfalt und Einheit des Werkbegriffs
Zunächst zeigt sich in den Urteilen der Gegensatz zwischen einheitlicher und vielfältiger Begriffsbildung. Dass der BGH in Seilzirkus die Entscheidung offen lässt, ob für die angewandte Kunst weiterhin höhere Anforderungen gelten, ist Zeichen der starken Tradition im deutschen Urheberrecht, werkabhängige Schutzanforderungen zu bilden.66
Dem steht im Ausgangspunkt der Infopaq-Entscheidung ein werkübergreifender und damit einheitlicher europäischer Werkbegriff gegenüber. Der EuGH differenzierte in seiner Werkdefinition der „eigenen geistigen Schöpfung“ aus Infopaq nicht zwischen verschiedenen Werktypen und schuf so einen werkübergreifenden Begriff. In der fortschreitenden Konkretisierung des Werkbegriffs fand aber insbesondere die werkspezifische Besonderheit von Gebrauchsgegenständen, namentlich ihre Funktion und der naturgemäß geringere Gestaltungsspielraum, Berücksichtigung. Die Methode des EuGH, vom besonderen auf das allgemeine Urheberrecht zu schließen und umgekehrt, sowie sein Anliegen, besonderes wie allgemeines Urheberrecht einander anzunähern,67 verraten zwar, dass werkabhängige Definitionen und Schutzanforderungen nicht intendiert sind. Eine Ausnahme gilt aber nach BSA/Kulturministerium für Gebrauchsgegenstände, deren Gestaltung nicht durch ihre technische Funktion vorgegeben sein darf, um urheberrechtlich schutzfähig zu sein. Auch wenn die Definition auf jeden Werktyp anwendbar ist, bezieht sich der Definitionsteil der technisch vorgegebenen Form ausschließlich auf Gebrauchsgegenstände. Indem der europäische Werkbegriff präziser geworden ist, hat er an werkübergreifendem Charakter verloren.
56 BGH, GRUR 2012, 58 Rn. 20 – Seilzirkus.
57 BGH, GRUR 2012, 58 Rn. 20 – Seilzirkus.
58 BGH, GRUR 2012, 58 Rn. 30 – Seilzirkus.
59 Vgl. Zentek, ZUM 2012, 42, 42.
60 Vgl. Zentek, ZUM 2012, 42, 43.
61 Vgl. BGH, GRUR 2011, 803 Rn. 31 – Lernspiele; BGH, GRUR 1987, 903, 904 – Le Corbusier.
62 So wörtlich Bot, Schlussanträge BSA/Kulturministerium, Rn. 75; Rn. 75 ausdrücklich übernommen in EuGH, GRUR 2011, 220 Rn. 49 – BSA/Kulturministerium.
63 Metzger, GRUR 2012, 118, 121 f.; vgl. Heinze, 2 JIPITEC 2011, 97 Rd. 29.
64 Loewenheim, in: Schricker/Loewenheim (Hrsg.), Urheberrecht4, 2010, § 2 Rn. 23 („das zentrale Kriterium“).
65 Die Gemeinsamkeit liegt in der individualistischen Konzeption des Urheberrechts im Gegensatz zum copyright, nach dem bereits eine eigenständige („skill, judgment, labour“), also nicht notwendigerweise individuelle Schöpfung genügt, vgl. McGuire, (Fn. 14), S. 1085, 1151.
66 Zu geringeren Schutzanforderungen z.B. für Darstellungen wissenschaftlicher oder technischer Art (§ 2 Abs. 1 Nr. 7 UrhG): BGH, GRUR 2011, 803 Rn. 62 – Lernspiele.
67 Vgl. Heinze, 2 JIPITEC (2011), 97 Rn. 34.
2. Technisch notwendige und technisch bedingte Formgestaltung
Aus Seilzirkus und BSA/Kulturministerium ist ersichtlich, dass der Urheberrechtsschutz von Gebrauchsgegenständen mit zweierlei Maß gemessen wird: Die Anforderungen auf deutscher Ebene sind höher als auf europäischer Ebene.
Der BGH entschied in Seilzirkus, dass bereits technisch bedingte Gestaltungen nicht mehr dem urheberrechtlichen Schutz unterliegen. Ein technischer Spielraum genüge nicht, vielmehr komme es auf eine künstlerische Gestaltung an. Anders hingegen ist die Entscheidung BSA/Kulturministerium zu verstehen. Der EuGH sieht nur Gegenstände vom Urheberrecht ausgeschlossen, bei denen die „Möglichkeiten der Umsetzung einer Idee […] so beschränkt [sind], dass Idee und Ausdruck zusammenfallen“68. Wenn Idee und Ausdruck zusammenfallen, existiert kein technischer oder künstlerischer Spielraum mehr. Der Ausdruck folgt der Idee in technisch notwendiger Weise. Nur wenn kein Spielraum besteht, ist der urheberrechtliche Schutz der Gestaltung also nach Ansicht des EuGH ausgeschlossen. Er verweigert damit nur technisch notwendigen und nicht bereits technisch bedingten Formgestaltungen den urheberrechtlichen Schutz.
Die Begriffe der technisch bedingten und technisch notwendigen Formgestaltung führen zu einem wesentlichen Unterschied im urheberrechtlichen Schutzniveau von Gebrauchsgegenständen: Auf europäischer Ebene sind die Schutzanforderungen niedriger und das Schutzniveau höher als nach dem deutschen höchstrichterlichen Werkbegriff aus der Entscheidung Seilzirkus.
3. Schlussbetrachtung
Der Vergleich zeigt, dass sich nicht die Gemeinsamkeit, sondern die Differenzen zwischen europäischem und deutschem Werkbegriff auf das Schutzniveau von Gebrauchsgegenständen auswirken. Beide Werkbegriffe berücksichtigen zwar die technische Funktion von Gebrauchsgegenständen, kommen aber in der Bestimmung der Schutzfähigkeit zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der EuGH steht weiterhin in der Tradition der niedrigen Schutzanforderungen aus Infopaq, während der BGH die Messlatte urheberrechtlichen Schutzes mit dem Kriterium der technisch bedingten Gestaltung höher gesetzt hat.
E. Konsequenzen für das deutsche Urheberrecht
Darf es nun überhaupt einen Unterschied zwischen autonomem und deutschem Werkbegriff geben? Die Antwort ergibt sich aus dem Verhältnis von EuGH-Judikatur zur nationalen Rechtsprechung.
I. Keine Vorlagepflicht des BGH
Aufgrund der Unterschiede im Werkverständnis ist es verwunderlich, dass sich der BGH in Seilzirkus nicht mit der EuGH-Judikatur von Infopaq und BSA/Kulturministerium auseinandersetzt.69 Ein Urteil verstößt gegen das verfassungsrechtliche Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG), wenn es von der Rechtsprechung des EuGH ohne Vorlage abweicht.70 Eine Ausnahme von der Vorlagepflicht gilt aber insbesondere, wenn die „gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist“71. Mangels Entscheidungserheblichkeit in Seilzirkus war der BGH jedenfalls nicht zur Vorlage der Frage verpflichtet, ob an den höheren Schutzanforderungen für die angewandte Kunst festzuhalten ist. Unabhängig von der Vorlagepflicht bleibt der BGH allerdings zur unionsrechtskonformen Auslegung des Werkbegriffs verpflichtet.
II. Unionsrechtskonforme Auslegung
Den Auslegungsurteilen des EuGH kommt jedenfalls de facto eine Bindungswirkung außerhalb des Ausgangsverfahrens zu (erga omnes-Wirkung).72 Die faktische Bindungswirkung ist in der unionsrechtskonformen Auslegung zu berücksichtigen.
1. Kein Auslegungsspielraum auf Definitionsebene
Die entscheidende Frage dabei ist, ob den nationalen Gerichten ein Auslegungsspielraum bei der unionsrechtskonformen Auslegung des Werkbegriffs verbleibt. Einigkeit besteht insofern, als die drei Richtlinien als unionsrechtliche Sonderregelungen keinen Auslegungsspielraum zulassen.73 Für Gebrauchsgegenstände existiert indes keine allgemeine sekundärrechtliche Werkdefinition. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die Urteile des EuGH zum autonomen Werkbegriff für das mitgliedstaatliche Werkverständnis verbindlich sind – insbesondere im Hinblick auf die höheren Schutzanforderungen für Gebrauchsgegenstände.
Nach Infopaq sah man in der eigenen geistigen Schöpfung als europäische Vorgabe noch den „kleinste[n] gemeinsame[n] Nenner“, der höhere Anforderungen bei bestimmten Werkarten nicht ausschließe.74 Der weite Regelungsrahmen der eigenen geistigen Schöpfung ermögliche den Mitgliedsstaaten, nach ihren eigenen urheberrechtlichen Maßstäben bestimmen zu dürfen, was schutzfähig ist.75
Diese Ansicht ist unter Berücksichtigung der Entscheidungen BSA/Kulturministerium und Dataco/Yahoo überholt. Der autonome Werkbegriff ist nicht bei Infopaq stehen geblieben, sondern hat in den folgenden Urteilen konkrete Formen angenommen. Mitunter berücksichtigt der autonome Begriff die Besonderheit, dass der Gestaltungsspielraum bei Gebrauchsgegenständen wegen ihres Funktionscharakters eingeschränkt ist, und stellt für die Beurteilung ihrer Schutzfähigkeit seit BSA/Kulturministerium einen griffigen Maßstab bereit. Die Fortentwicklung des Werkbegriffs nach
68 EuGH, GRUR 2011, 220 Rn. 49 – BSA/Kulturministerium.
69 Dataco/Yahoo (Entscheidung vom 01.03.2012) konnte wegen ihres späteren Entscheidungsdatums nicht in Seilzirkus (Entscheidung vom 12.05.2011) berücksichtigt werden.
70 Classen, in: Mangoldt/Klein/Stark, Grundgesetz6, Bd. 3, 2010, Art. 101 GG Rn. 55.
71 EuGH, EuGHE 1982 IV, 3415 Rn. 21 – C.I.L.F.I.T.
72 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge5, 2009, Art. 267 AEUV Rn. 60.
73 G. Schulze, GRUR 2009, 1019, 1020; vgl. Erdmann (Fn. 12), S. 61, 63 f.
74 Erdmann (Fn. 12), S. 61, 66; so auch: Ungern-Sternberg, GRUR 2010, 273.
75 Vgl. G. Schulze, GRUR 2009, 1019; so auch noch nach BSA/Kulturministerium: Ungern-Sternberg, GRUR 2012, 224, 225.
Infopaq lässt damit für die mitgliedstaatlichen Werkbegriffe keine Abweichung mehr zu.76 In der kontinuierlichen Präzisierung des Werkbegriffs kommt der starke Wille des EuGH zur Harmonisierung des Urheberrechts zum Ausdruck. Dem Harmonisierungswillen ist Rechnung zu tragen und versperrt den Mitgliedsstaaten jeglichen Auslegungsspielraum in der Werkdefinition.
2. Auslegungsspielraum auf Subsumtionsebene
Dennoch können die mitgliedstaatlichen Gerichte das urheberrechtliche Schutzniveau beeinflussen. Der EuGH wird nicht müde zu betonen, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte seine Rechtssätze anzuwenden haben.77 Darin drückt sich aus, was dogmatisch zwingend ist: Die Anwendung, anders als die Auslegung, des EU-Rechts ist aufgrund strikter Zuständigkeitstrennung zwischen EuGH und vorlegendem Gericht alleinige Aufgabe des nationalen Richters.78 Den nationalen Gerichten steht damit zwar nicht auf Definitions-, aber auf Subsumtionsebene ein „erheblicher Einschätzungsspielraum“79 offen – ein Einfallstor für die Aufrechterhaltung unterschiedlicher Schutzstandards, die das Anliegen eines europäischen Werkbegriffs konterkarieren können. Freilich setzt der Grundsatz der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) diesem Einschätzungsspielraum Grenzen. Die Mitgliedstaaten haben demnach in der Rechtsanwendung die einheitliche Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen.80 Hohe Schutzanforderungen würden diesem Prinzip zuwiderlaufen.
III. Schlussbetrachtung
Die Höhe der Schutzanforderungen ist damit beschränkt und im deutschen Urheberrecht insbesondere für Gebrauchsgegenstände künftig abzusenken, für die nun die „kleine Münze“ zu gelten hat.81 Auf die einheitliche autonome Definition bleiben die nationalen Gerichte in der unionsrechtskonformen Auslegung ihres Werkbegriffs festgelegt, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass sie mit ihrem Spielraum auf Subsumtionsebene Einfluss auf das praktizierte Schutzniveau nehmen. Die Entscheidungen der vorlegenden Gerichte sind aus diesem Grund wachsam zu verfolgen.
76 Vgl. Handig, GRUR Int. 2012, 9, 11; vgl. auch: ders., ÖBl. 2010, 52, 53; mit zutreffender Prognose bereits 2009: ders., UFITA: Archiv für Urheber- und Medienrecht, 2009, 55, 69.
77 EuGH, GRUR 2012, 386 Rn. 43 – Dataco/Yahoo; EuGH, GRUR 2011, 220 Rn. 47 – BSA/Kulturministerium; EuGH, GRUR 2009, 1041 Rn. 51 – Infopaq.
78 Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Fn. 71), Art. 267 AEUV Rn. 10.
79 Heinze, 2 JIPITEC (2011), 97 Rn. 28.
80 Vgl. Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar3, 2012, Art. 4 EUV Rn. 36.
81 Berger, ZUM 2012, 353, 354.