Gastbeitrag: Freiheit verpflichtet? Der Balanceakt im Eigentumsrecht

von Professor Dr. Hans-Bernd Schäfer*

An der Küste zum Indischen Ozean in Mumbai kostet eine 100 qm große Wohnung mit Meerblick fast 2 Mio US Dollar. Zwischen und neben den hohen Apartmenthäusern breitet sich ein Slum aus. Warum gibt es dort nicht mehr moderne Wohnungen und weniger Slum? Bei den hohen Immobilienpreisen würden die Immobiliengesellschaften alle Slumbewohner auskaufen und ihnen eine Neubauwohnung finanzieren, um die Flächen freizubekommen. Das ist nicht möglich. Die Slumbewohner dürfen zwar vom rechtmäßigen Eigentümer der Grundstücke nicht aus ihren Hütten vertrieben werden, können aber ihr Bleiberecht auch nicht wirksam verkaufen. So ändert sich die faktische Nutzung des Areals nur langsam. Würde man dieses Recht der Slumbewohner, das heute eine bloße Vetoposition ist, übertragbar machen, bekämen diese richtige Wohnungen, wenn auch in einer weniger privilegierten Wohngegend, und die Preise für Luxusimmobilien würden nicht ins Unermessliche steigen. Dies ist einer von vielen Fällen, in denen die Rechtsordnung die effiziente Nutzung von Ressourcen erschwert, weil sie ein absolutes Recht mit Vetopositionen ausgestattet hat, die durch Verträge nur schwer zu überwinden sind. Solche Fehlsteuerungen werden nach einem vielzitierten Aufsatz von Michael Heller als „Tragedy of the Anticommons“ (1998) bezeichnet, die zur Unternutzung von Ressourcen führt, ganz im Gegensatz zur „Tragedy of the Commons“ (Tragödie des Gemeinschaftseigentums), welche bekanntlich deren Übernutzung zur Folge haben kann. Die Eigentumsordnung steht immer in Gefahr, eine dieser beiden Tragödien auszulösen, wenn sie Eigentumsrechte entweder zu schwach oder zu stark schützt. Das kann das ökonomische Schicksal ganzer Regionen und Industrien bestimmen. Es kommt stets darauf an, eine den wirtschaftlichen Verhältnissen angemessene Mischung aus Duldungspflichten des Eigentümers und seinen Rechten zu erreichen. Manchmal schützt die Rechtsordnung das Eigentum durch einen Abwehranspruch, mit dem eine Störung unterbunden werden kann. Manchmal muss die Störung hingenommen werden und die Rechtsposition des Eigentümers wird reduziert auf einen Schadensersatzanspruch. Und manchmal muss der Rechtsinhaber die Störung einfach hinnehmen, ohne einen Anspruch auf Schadensersatz geltend machen zu können. Oft hat die Rechtsordnung die schwerwiegenden gesamtwirtschaftlichen Nachteile eines zu umfangreichen Eigentumsschutzes nicht oder nur mit großer Verzögerung erkannt.

Wer eine Dampferfahrt auf dem Rhein macht, kann sich die malerischen Burgruinen der „Räuberbarone“ dort auf den Höhen ansehen. Über Jahrhunderte hatte jeder Eigentümer das Recht, ein Zollhäuschen an seinem Flussabschnitt aufzubauen und sich die Durchfahrt bezahlen zu lassen. An eine vernünftige Bewirtschaftung der gesamten Wasserstraße war daher überhaupt nicht zu denken, bis der Fluss schließlich verstaatlicht und zu einer der wichtigsten Verkehrsadern Deutschlands entwickelt wurde. Über Jahrhunderte hinweg zogen es viele Kaufleute vor, ihre Waren auf dem volkswirtschaftlich viel teureren Landwege – ein Ochse fraß alle 50 Kilometer sein eigenes Gewicht – zu transportieren. Dies war eine typische von Heller näher beschriebene „tragedy of the anticommons“, die zur Unternutzung des Rheins führte, weil durch einen übermäßigen Eigentumsschutz zu viele Vetopositionen errichtet wurden.*

Die Geschichte der frühen Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert bietet nicht nur in Deutschland ein weiteres Lehrstück fehlerhaft spezifizierten, weil zu stark ausgeprägten Eigentumsschutzes, der das Potenzial hatte, die industrielle Revolution fast in ihrer Wiege zu ersticken. Sie ist aber auch ein Beispiel für die Innovationsfähigkeit des Rechts, letztlich jene Normen bereitzustellen, die die weitere Wirtschaftsentwicklung nicht behindern, sondern fördern. Nach klassischer römischrechtlicher Auffassung, wonach Eigentum die umfassende und weitgehend unantastbare Herrschaft über eine Sache ist, konnte ein Grundstückseigentümer, gestützt auf den nachbarrechtlichen Abwehranspruch (actio negatoria) Gerüche und Geräusche von seinem Grundstück abwehren und neu aufkommende Industriebetriebe fast nach Belieben still legen. Beeinträchtigungen des Eigentums durch Immissionen waren nach damaliger Rechtsauffassung Zwangsservituten, eine unerlaubte Nutzung fremden Eigentums. Der große Rechtsgelehrte Rudolf von Jhering, der später seine Meinung grundlegend änderte, brachte dies noch 1860 mit den folgenden Worten zum Ausdruck:


* Der Autor ist Affiliate Professor und Programmkoordinator für das wirtschaftswissenschaftliche Ausbildungsprogramm an der Bucerius Law School.

Schäfer, Freiheit verpflichtet? Der Balanceakt im Eigentumsrecht (BLJ 2013, 50)51

„Dann mögen sie entweder die Vorrichtungen treffen, um die nachtheiligen Wirkungen zu beseitigen, oder sie mögen von den benachbarten Grundeigenthümern die erforderlichen Servituten aquiriren und dieselben für die Nachtheile, die sie ihnen zufügen, entschädigen oder endlich in dem Umkreise ihres Einwirkungsgebiets das Land aufkaufen.“

Dies ist ein großartiger Gedanke der erst 100 Jahre später bei Ronald Coase, einem der Gründungsväter der ökonomischen Analyse des Rechts, wieder in aller Klarheit auftauchte. Aber von Jhering erkannte zunächst nicht, wie schwierig es ist, derartige privatautonome Transaktionen bei einer unübersehbaren und unbekannten Zahl von Geschädigten faktisch zu verwirklichen. Er verkannte die hohen Transaktionskosten vertraglicher Problemlösungen. Er übersah zunächst, dass ein solch weitgehender Abwehranspruch um jeden emittierenden Industriebetrieb zahllose Vetopunkte einrichtete, jeder von ihnen potenziell existenzbedrohend. Diese Vetopunkte entstanden nicht wie im obigen Beispiel in Mumbai, weil ein Recht de lege, sondern weil es wegen der Transaktionskosten de facto unübertragbar war. Erst die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 ersetzte die actio negatoria durch einen einfachen Schadensersatzanspruch, wenn die Anlage staatlich genehmigt war. Später trat mit dem neu eingeführten Rechtsbegriff der „Ortsüblichkeit“ eine bedeutsame Differenzierung hinzu. Das Konzept der Ortsüblichkeit stellte einen neuartigen Mechanismus zur Verfügung, der es Gerichten ermöglichte, dem belasteten Eigentümer unter bestimmten Voraussetzungen kein Abwehrrecht zuzuerkennen und ihn entweder auf einen Schadensersatzanspruch zu beschränken oder ihn sogar zur Duldung ohne einen Schadensersatzanspruch zu verpflichten. Beide Neuerungen waren rechtliche Meilensteine, die den Aufstieg Deutschlands zur Industrienation mit ermöglichten, der actio negatoria ihr destruktives Potenzial nahmen und die „tragedy of the anticommons“ beendeten.

Heute steht die Rechtsordnung vor neuen anticommons Herausforderungen, die sich besonders bei den gewerblichen Schutzrechten stellen. Während sich die Idee des Privateigentums an Grundstücken faktisch und auch konzeptuell gemeinwohlorientiert entwickelte – mit Abwehrrechten, aber auch mit Duldungspflichten – sind wir bei den gewerblichen Schutzrechten davon noch weit entfernt. Deren ökonomische Ratio besteht in der Generierung neuen Wissens, neuer Produkte und neuer Produktionsmethoden. Die konkreten Regeln dienen diesem Ziel aber nur sehr bedingt und sind ihm oft sogar abträglich. Dies ist besonders schädlich, weil heute wirtschaftliche Entwicklung nicht mehr vornehmlich durch den besseren Einsatz vorhandener Ressourcen und die Akkumulation von Kapital erreicht wird, sondern mehr und mehr durch Generierung und Anwendung neuen und überle genen Wissens. Dieses Wissen ist zudem zunehmend vernetzt und viele können für sich in Anspruch nehmen, einen Beitrag für eine bestimmte Anwendung des Wissens geliefert zu haben. Dies führt beispielsweise und insbesondere in der biomedizinischen Forschung zu einem „anticommons“ Problem wie Heller und Eisenberg (1998) es beschrieben haben. Wiederum steht die Rechtsordnung in Gefahr, multiple Vetopositionen zu errichten, die durch privatautonome Transaktionen nur mühsam, wenn überhaupt überwunden werden können. So ist es problematisch, die Entschlüsselung einzelner Genfragmente aus einer DNA-Sequenz zu patentieren. Oft führt erst die kombinierte Verwendung hunderter solcher Sequenzen durch nachfolgende Forschung und Entwicklung zu einer medizinisch wertvollen Anwendung dieses Wissens. Stattet die Rechtsordnung jeden, der eine einzelne Sequenz entschlüsselt hat, mit einem Patent aus, errichtet sie wie früher bei der Nutzung des Rheins hunderte von kleinen Zollstationen. Die Entscheidung des US Supreme Court von 2013, kein Patent dafür zu gewähren, ist daher zu begrüßen, während die andersartige Rechtslage in der Europäischen Union Kritik verdient.

Die Entwicklung von Rezeptoren ist ein weiteres Beispiel. Rezeptoren werden für den Test neuer Medikamente in der vorklinischen Phase verwendet, um alle möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen identifizieren zu können. Dazu ist die Verwendung vieler Rezeptoren notwendig. Bei einer Patenterteilung für die Entwicklung jedes einzelnen Rezeptors werden wiederum viele Zollstationen um das Unternehmen herum aufgebaut, das ein neues Medikament testen will. Wenn somit die sogenannte „upstream“ Forschung zu stark durch Eigentumsrechte geschützt wird, kommt die „downstream“ Forschung und Entwicklung zum Stillstand.

Ein derartiges gewerbliches Rechtsschutzdickicht mit multiplen Vetopositionen tritt in vielen Bereichen, im Internet, beim elektronischen Handel, der Entwicklung von Halbleitern und Mikroprozessoren auf. Viele Rechtsökonomen, allen voran der in Berkeley lehrende William Shapiro, haben hierzu warnend ihre Stimme erhoben. Die rechtspolitischen Aufgaben, die sich heute stellen, sind komplexer als jene zu Beginn der industriellen Revolution, aber sie weisen die gleiche Struktur auf. Heute geht es darum, bei der Ausgestaltung von Eigentumsrechten des gewerblichen Rechtsschutzes eine Mitte zu finden, welche für die Wissensproduktion insgesamt förderlich ist und nicht durch inflationär ausgeweitete Abwehrrechte Forschung und Entwicklung behindert statt sie zu fördern. Dazu sind nicht nur Reformen und Einschränkungen des gewerblichen Rechtsschutzes notwendig. Auch das Wettbewerbsrecht, das den privatautonomen Versuch erschwert, durch Kooperation von Unternehmen im Bereich von Forschung und Entwicklung Schneisen in das Dickicht zu schlagen, steht auf dem Prüfstand.