Freiheitliche Ordnung, wehrhafte Demokratie und Staatsschutzstrafrecht

von Dr. Christian Becker*

I. Einleitung

Horst Dreier hat den freiheitlichen Verfassungsstaat kürzlich im Titel eines äußerst lesenswerten Aufsatzes als „riskante Ordnung“ bezeichnet.1 Er bringt damit zum Ausdruck, dass ein Staat, der sich im Kern durch die individuelle Freiheit seiner Bürger – gebündelt als Pouvoir Constituant – im wahrsten Sinne des Wortes konstitutiert,2 stets den Unsicherheiten und Wagnissen ausgesetzt ist, die mit der Ausübung von „Freiheit schlechthin, Freiheit subjektiven Beliebens“3 einhergehen. Ein derart verfasstes Gemeinwesen muss insbesondere darauf verzichten, von seinen Bürgern eine Verfassungstreue, also eine innere Wertbejahung einzufordern und deren Fehlen ggf. mit Zwangsmitteln zu bekämpfen; allein äußerlichen Rechts-, also Gesetzesgehorsam darf und muss der Staat verlangen, mag ein solcher Gehorsam auch von subjektiver Missbilligung oder gar Verachtung gegenüber der freiheitlichen Ordnung getragen sein.4 Das Risiko, dass ein solcher Staat womöglich „auf Sand gebaut“ sein könnte, scheint beinahe augenfällig.5 Auch Johannes Masing hat jüngst auf die „Gefahren“ der Freiheit hingewiesen und dabei speziell die Meinungsfreiheit in den Blick genommen.6 Bei ihm liest man: „Wenn Freiheit Freiheit ist, ist rechtlich nicht gewährleistet, daß sie – zumal als gleichberechtigte Freiheit aller – schließlich zum Guten führt“.7 Der guten Ordnung halber sei erwähnt, was für jeden, der die juristische/publizistische Vita der beiden Autoren kennt, selbstverständlich ist: Beide Publikationen zielen nicht etwa auf eine polemische Kritik an einem schwächlichen oder verweichlichten Staatsverständnis ab, sondern sind leidenschaftliche Plädoyers für ein auf individuelle Freiheit gegründetes Gemeinwesen, das die damit einhergehenden Risiken auszuhalten vermag.

Aus dem soeben angedeuteten Gedanken folgt, dass ein mit Zwangsmitteln durchgesetzter Staatsschutz in einer freiheitlichen Ordnung immer auch selbstwidersprüchlichen Charakter hat. Denn wenn der Staat Zwang gegen seine Bürger anwendet oder jedenfalls androht, um sich selbst (vor seinen Bürgern!) zu schützen, kann dadurch die ureigenste Grundvoraussetzung einer freiheitlichen Ordnung unterminiert werden: die individuelle Freiheit des Bürgers, die schließlich vor allem eine solche von staatlichem Zwang ist. Bei dieser Sichtweise wird der Begriff des „Schutzes der freiheitlichen Ordnung durch staatlichen Zwang“ daher schnell zu einem Oxymoron.8 Indes: Die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes ist – nicht zuletzt aus bekannten historischen Gründen –9 als streitbare oder wehrhafte Demokratie konzipiert.10 Neben dem – bisher lediglich in zwei Fällen ausgesprochenen – Parteienverbot und dem praktisch bedeutsameren verwaltungsrechtlichen Vereinsverbot ist nicht zuletzt der strafrechtliche Schutz des Staates als eine Ausprägung jener wehrhaften Demokratie anzusehen.11 Damit wird nun aber ein diffiziler Bereich betreten. Das Strafrecht ist bekanntlich das „schärfste Schwert“ des Staates. Angesichts der notwendigen Sensibilität, die ein freiheitlicher Staat beim Bemühen um


* Der Autor ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Professor Dr. Thomas Rönnau an der Bucerius Law School in Hamburg.

1 RW 2010, 11 ff.

2 Dazu H. Dreier, RW 2011, 11, 14 ff. mit umf. Nachw.; vgl. zu diesem „Rechtsprojekt der Moderne“ auch K. Günther, in: FS f. Simon, 2005, 255 ff.

3 H. Dreier, RW 2010, 11, 22.

4 Eindringlich dazu H. Dreier, RW 2010, 11, 24 ff. m.w.N.; Poscher, in: Oebbecke/Pieroth/Towfigh (Hrsg.), Islam und Verfassungsschutz, 2007, 11, 13 f.; vgl. auch BVerfGE 124, 300, 320 m.w.N. aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung.

5 Nachweise zum Ursprung dieser Formulierung bei H. Dreier, RW 2010, 11, 30 m. Fn. 85.

6 Masing, JZ 2012, 585 ff.

7 Masing, JZ 2012, 585.

8 Hufen, in: FS f. Falter, 2009, S. 101, 102 spricht von einer „eigentümlichen Paradoxie“; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 1, 6 von einem „Dilemma“.

9 Allerdings ist die Vorstellung, die Weimarer Republik sei gegenüber „Verfassungsfeinden“ rechtlich „wehrlos“ gewesen, historisch fragwürdig und jedenfalls zu undifferenziert, vgl. dazu Deiters, in: Thiel (Fn. 8), S. 291, 311 m. Fn. 77; monographisch Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, 1991, passim.

10 H. Dreier, RW 2010, 11, 28 spricht insoweit von einer „letzten Grenze“ der Freiheitsbetätigung, stellt allerdings auch die „verfassungspolitische Klugheit“ darauf gestützter Maßnahmen in Frage; vgl. bereits ders., JZ 1994, 741, 750 ff. mit dem Fazit, dass die theoretische Grundlegung des Konzepts der wehrhaften Demokratie schlüssiger ausfällt, als seine praktische Umsetzung; eine eingehende Darstellung von Ausprägung und Reichweite der wehrhaften Demokratie mit umf. Nachw. zu Rspr. und Lit. bietet Thiel, in: ders. (Fn. 8), S. 1 ff.; monographisch etwa Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, 1982; Lameyer, Streitbare Demokratie: Eine verfassungshermeneutische Untersuchung, 1978.

11 Knapper Überblick über die einschlägigen Normen bei Thiel, in: ders. (Fn. 8), S. 2 f.

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seinen eigenen Schutz an den Tag legen muss, ist Vorsicht geboten, wenn gerade hier mit der grobschlächtigsten Waffe operiert werden soll.12 In diesem Beitrag werden denkbare Grundzüge eines sinnvollen und verfassungstheoretisch stimmigen Strafrechts zum Schutze von Staat und Verfassung skizziert.

Es gibt keine einheitliche Definition für ein politisches Strafrecht bzw. ein Staatsschutzstrafrecht.13 Die Abschnitte eins bis neun des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs, die man bei einem denkbaren weiten Verständnis alle diesem Bereich zuordnen könnte, enthalten Delikte von zum Teil deutlich unterschiedlicher Couleur. Im Folgenden werde ich mich auf die Erörterung einiger Delikte des ersten Abschnitts beschränken, wobei das Ziel nicht darin besteht, deren Anwendungsvoraussetzungen in allen Einzelheiten darzustellen. Vielmehr soll anhand einer Auseinandersetzung mit ausgewählten Aspekten der Hochverratsvorschriften (§§ 81-83a StGB, dazu I.), der „politischen Organisationsdelikte“ (§§ 84-86a StGB, dazu II.) sowie der „Verunglimpfungsdelikte“ (§§ 90-90b StGB, dazu III.) gezeigt werden, wo und inwieweit ein strafrechtlicher Staatsschutz seine Berechtigung, aber auch seine Grenzen hat. Ausgespart bleiben dabei aus dem ersten Abschnitt – neben den praktisch wenig bedeutenden Vorschriften über den „Friedensverrat“ (§§ 80-80a StGB) sowie den weitgehend historisch überholten „Sabotagedelikten“ (§§ 87-89 StGB) – vor allem die jüngst eingeführten §§ 89a, 89b, 91 StGB. Diese Beschränkung ist nicht nur dem Rahmen, sondern auch der Konzeption des Beitrags geschuldet, die auf die Erörterung der generellen Legitimität eines Staatsschutzstrafrechts in dem eingangs skizzierten Spannungsfeld abzielt, nicht auf die Behandlung spezifischer Einzelprobleme. Zudem ist zu den zuletzt genannten Vorschriften bereits hinreichend (kritisch) im Schrifttum Stellung genommen worden, worauf hier verwiesen sei.14

II. Hochverrat: Verfassungsschutz und Bestandsschutz oder Verfassungsschutz durch Bestandsschutz?

Der Hochverrat im Sinne des StGB kommt ausweislich des § 81 Abs. 1 StGB15 in zwei Formen vor: als sog. Bestandshochverrat (§ 81 Abs. 1 Nr. 1 StGB) sowie als sog. Verfassungshochverrat(§ 81 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Hierin kommen die beiden zentralen Schutzgüter des Staatsschutzstrafrechts zum Ausdruck, denn es erweisen sich – wie es in der grundlegenden Habilitationsschrift von F. C. Schroeder heißt – „der Bestand des Staates und seine Verfassung oder kürzer, Staat und Verfassung als die beiden Pole, um die die Staatsverbrechen zu gruppieren sind“.16 Mit dem Bestand des Staates meint das Gesetz die „Freiheit von fremder Botmäßigkeit“, die „staatliche Einheit“ sowie die territoriale Integrität (vgl. § 92 Abs. 1 StGB). Was genau unter der „auf dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beruhenden verfassungsmäßigen Ordnung“ i.S.v. § 81 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu verstehen ist, ist insbesondere im Verhältnis zu den Verfassungsgrundsätzen des § 92 Abs. 2 StGB sowie zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des GG nicht eindeutig; letztlich können aber doch keine vernünftigen Zweifel daran bestehen, dass damit die Wesensmerkmale der freiheitlichen Ordnung umschrieben werden, also insbesondere die in Art. 79 GG als unabänderlich verankerten Prinzipien und Staatszielbestimmungen sowie die Grundrechte.17 Einen Hochverrat im Sinne von § 81 StGB begeht demnach sowohl derjenige, der mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt18 versucht (§ 81 StGB ist ein Unternehmensdelikt!19 ), auf dem Gebiet der Bundesrepublik einen totalitären Staat zu errichten (Verfassungshochverrat), als auch derjenige, der die Abspaltung eines Teils des Bundesgebiets hin zu einem selbständigen – sei es auch demokratischen – Staat oder den Anschluss an einen anderen, u. U. ebenfalls demokratischen Staat betreibt (Bestandshochverrat).

Diese prima facie in § 81 Abs. 1 StGB zum Ausdruck kommende Gleichsetzung von Bestands- und Verfassungshochverrat ist nun für unsere Untersuchung von besonderem Interesse. Denn bei näherer Betrachtung wird schnell erkennbar, dass die Rechtsgüter nicht beziehungslos nebeneinanderstehen.20 Die freiheitliche Ordnung bedarf eines Staates gleichsam „als Gefäß“, weshalb ein Angriff auf diesen zugleich häufig, wenn auch nicht zwingend, ein Angriff auf jene sein wird. Ebenso ist es denkbar, dass Beeinträchtigungen der freiheitlich demokratischen Grundordnung mit dem (vermeintlichen) Schutz des Staatsbestandes legitimiert werden, etwa wenn die Bekanntmachung von verfassungswidrigen Praktiken einer Behörde unter Berufung darauf eingeschränkt werden soll, es handele sich um ein Staatsgeheimnis, dessen Veröffentlichung zu einer Bestandsgefährdung führen könne.21 Kurz gesagt: es kann sich die Frage stellen, welchem der oben als zentral für das Staatsschutzstrafrecht ausgemach-


12 Tatsächlich zeigt ein Blick in die einschlägigen Abschnitte eins bis neun des Besonderen Teils des StGB, dass der Staat für sich selbst einen durchaus umfassenden strafrechtlichen Schutzanspruch geltend macht, so zutr. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung, 1992, S. 92; vgl. zu dem hier skizzierten Spannungsfeld – insbesondere mit Blick auf eine weitreichende Vorverlagerung der Strafbarkeit – auch Hefendehl, in: FS f. F.C. Schroeder, 2006, 453, 457 f.; ferner kommt das hier Gemeinte prägnant in einer (problematischen) Formulierung des zur Zeit der Einführung der „Staatsgefährdungsdelikte“ amtierenden Bundesjustizministers zum Ausdruck: „Wir müssen ein Freiheitsopfer bringen, um die Freiheit zu bewahren“, zitiert nach Copic, Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art, 1967, Vorwort.

13 Vgl. zu unterschiedlichen Begriffen aus strafrechtlicher und kriminologischer Sicht Hefendehl, in: FS f. F.C. Schroeder (Fn. 12), S. 454 ff. Von einem etwaigen politischen Strafrecht strikt zu unterscheiden ist die politische Justiz, worunter sich in Anlehnung an den Untertitel des gleichnamigen Werks von Otto Kirchheimer die „Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken“ verstehen lässt; freilich „eignet“ sich politisches Strafrecht besonders für die Zwecke einer politischen Justiz, was Alexander v. Brünneck in einer eingehenden Studie für die Handhabung des Staatsschutzstrafrechts gegen die Kommunisten im Nachkriegsdeutschland gezeigt hat, siehe ders., Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968, 1978, S. 80 ff. und passim.

14 Umfassende Literaturnachweise bei Fischer, StGB, 59. Aufl., 2012, § 89a Rn. 1a.

15 Der Landeshochverrat in § 82 StGB ist aufgrund der föderalen Ordnung des GG weitgehend bedeutungslos.

16 F. C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung, 1970, S. 337 sowie a.a.O., S. 324 ff. zur Kritik an der bis dahin gebräuchlichen Systematisierung nach Hoch- und Landesverrat; zust Lampe/Hegmann, in: MüKoStGB2, 2005, § 81 Rn. 10; krit. zur Bestimmbarkeit von Rechtsgütern und Rechtsgutsobjekten im Staatsschutzstrafrecht Beck (Fn. 12), S. 94 ff.

17 Becker, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), StGB, 2013, § 81 Rn. 3 m.w.N.; vgl. auch Deiters, in: Thiel (Fn. 8), S. 292.

18 Zu den Tatmitteln des Hochverrats, insbesondere zum tatbestandsspezifischen Gewaltbegriff Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 81 Rn. 6 ff. m.w.N.

19 Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 81 Rn. 1.

20 Zum Folgenden näher F. C. Schroeder (Fn. 16), S. 339 ff. m.w.N.; ferner Deiters, in: Thiel (Fn.8 ), S. 293; zusf. Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 81 Rn. 5.

21 Vgl. BGHSt 20, 342, 356 ff. – Fall Pätsch; dazu F. C. Schroeder (Fn. 16), S. 349.

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ten Rechtsgüter im Kollisionsfall der Vorrang einzuräumen ist. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes ist die Antwort auf diese Frage – zwar nicht mit Wirkung für alle denkbaren Fälle, aber doch im Sinne eines abstrakten Rangverhältnisses – prinzipiell eindeutig: Der institutionalisierte Staat ist kein Selbstzweck, sondern findet seine Rechtfertigung in der Verwirklichung der materiellen Verfassungsziele.22 Diese bedürfen zwar eines bestehenden Staates zu ihrer Verwirklichung, nicht aber eines bestimmten Staates.23 Daraus folgt, dass die Gleichsetzung von Bestands- und Verfassungshochverrat fragwürdig ist. Wenn z. B. der Anschluss des Saarlands an Frankreich mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt betrieben würde,24 ist dies – unbeschadet einer eventuellen Verwirklichung anderer Straftatbestände – mit Blick auf den Hochverrat nicht in derselben Weise strafwürdig, wie der Versuch, in der Bundesrepublik eine totalitäre Willkürherrschaft zu errichten. Ein „reiner“ Bestandshochverrat, soweit er überhaupt tatsächlich vorkommen sollte, wäre daher richtigerweise zumindest als minder schwerer Fall im Sinne des § 81 Abs. 2 StGB einzustufen.25 Dies gilt nicht zuletzt angesichts der beinahe absurd hohen Strafandrohung, die kaum dadurch erträglicher wird, dass man darin einen symbolischen Selbstbehauptungswillen des Staates erblickt.26

Für das hier verfolgte Ziel, die Umrisse eines legitimen Staatsschutzstrafrechts zu skizzieren, lässt sich aus der vorstehenden Befassung mit dem Hochverrat folgendes (Zwischen-)Ergebnis formulieren: Das bedeutendste Rechtsgut im Staatsschutzstrafrecht muss die verfassungsmäßige Ordnung, der Sache nach also die freiheitlich demokratische Grundordnung sein. Diese darf mit Recht als prinzipiell strafrechtlich schutzwürdig angesehen werden. Ein darüber hinausgehender Schutz des Staatsbestandes wird in der Regel „abgeleiteter“ Natur sein, da der Bestand des Staates im Wesentlichen deshalb geschützt wird, weil (und soweit) dieser Staat sich als Verwirklichung der ihm zu Grunde liegenden freiheitlichen Verfassung darstellt.27 Der „Verfassungshochverrat“, verstanden als ein auf die gewaltsame Beseitigung der freiheitlichen Ordnung zu Gunsten eines totalitären Regimes gerichtetes Unternehmen,28 darf daher mit Recht als das schwerste unter den Staatsschutzdelikten des ersten Abschnitts bezeichnet werden.29 Darüber hinaus erweist sich die konkrete Ausgestaltung des strafrechtlichen Schutzes der freiheitlichen Ordnung als durchaus schwierig. Dies zeigt sich zunächst beim Blick auf die „politischen Organisationsdelikte“ der §§ 84 ff. StGB, von denen im folgenden Abschnitt dieses Beitrags die Rede sein soll.

III. Die §§ 84 ff. StGB und das Merkmal der organisierten Bekämpfung der freiheitlichen Ordnung als Kernelement strafwürdigen Unrechts

In den §§ 84-86a StGB werden unterschiedliche Formen der politischen Betätigung in oder im Umfeld von verfassungsfeindlichen Organisationen unter Strafe gestellt.30 Mit dieser kurzen Umschreibung wird bereits deutlich, dass sich diese Delikte mitten in dem Spannungsfeld befinden, in das der – zumal strafrechtliche – Schutz des Staates in einer freiheitlichen Ordnung beinahe zwangsläufig gerät und das in der Einleitung beschrieben wurde. Denn das Recht auf freie politische Betätigung ist eines der vorzüglichsten Freiheitsrechte in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen,31 was im Grundgesetz vor allem in den Art. 5 Abs. 1, 8, 9, 21, 38 GG zum Ausdruck kommt.32 Dabei dient der öffentliche politische Diskurs auch der demokratischen Kontrolle der Staatsorgane.33 Vor diesem Hintergrund ist äußerste Zurückhaltung geboten, wenn der Staat mit strafrechtlichen Mitteln in diesen Prozess eingreift. Bei welchem Verständnis dies – mit Blick auf die §§ 84-86a StGB – nach Ansicht des Verfassers gleichwohl in verfassungsrechtlich hinnehmbarer Weise möglich ist, wird im Folgenden zu zeigen sein.

Sämtliche der in den genannten Vorschriften unter Strafe gestellten Verhaltensweisen beziehen ihren Unrechtsgehalt nicht aus der individuellen politischen Betätigung als solcher, sondern aus ihrem Bezug zu einer verbotenen Partei, Vereinigung usw. Kennzeichnend ist also jeweils der Organisationsbezug der politischen Tätigkeit; es handelt sich um sog. Organisationsdelikte.34 Dieses Element, in Verbindung mit der in der Regel erforderlichen aggressiv-kämpferisch verfassungsfeindlichen Ausrichtung der Organisation, ist nach meiner Auffassung grundsätzlich geeignet, die Strafwürdigkeit zu begründen – vorausgesetzt, der strikte Organisationsbezug wird bei strittigen Auslegungsfragen als entscheidender Maßstab zu Grunde gelegt. Der Staat muss individuelle politische Betätigung unter dem Gesichtspunkt einer möglichen „Staatsgefährdung“ – eine Strafbarkeit etwa nach den §§ 111, 130 StGB bleibt unbenommen – grundsätzlich zulassen, mag sie auch inhaltlich offen verfassungsfeindlich sein. Die politische Aktivität eines Einzelnen kann niemals eine abstrakte Gefährdung der freiheitlichen Ordnung in einem Ausmaß zur


22 Lampe/Hegmann, in: MüKOStGB (Fn. 16), § 81 Rn. 10.

23 Deiters, in: Thiel (Fn. 8), S. 293; vgl. auch Schmitt Glaeser, Missbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, 1968, S. 310 f.

24 Zu entsprechenden Bestrebungen, allerdings lediglich durch das Verbreiten von Schriften (vgl. § 93 StGB a. F.) F. C. Schroeder (Fn. 16), S. 345; vgl. auch Schmitt Glaeser (Fn. 23), S. 311.

25 Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 81 Rn. 5.

26 Krit. dazu Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 81 Rn. 17. Das Hauptproblem besteht darin, dass im Zusammenhang mit der Vorschrift über die tätige Reue in § 83a StGB ein Spielraum bei der Strafzumessung zwischen lebenslanger Freiheitsstrafe und Straflosigkeit entstehen kann, dazu Becker, a.a.O., § 83a Rn. 1 m.w.N.

27 Das bedeutet freilich nicht, dass der freiheitlichen Ordnung stets der Vorrang vor dem Schutz des Staatsbestandes zu gewähren ist. Vielmehr sind selbstverständlich Fälle denkbar, in denen eine Freiheitsbeschränkung von geringer Eingriffsintensität aufgrund einer drohenden Staatsgefährdung größeren Ausmaßes gerechtfertigt sein kann.

28 Vgl. zum dahinter stehenden Gedanken der Zweck-Mittel-Verknüpfung als Kernelement des Hochverrats Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 81 Rn. 5 m.w.N. zu ähnlichen Auffassungen.

29 Vgl. zur Selbstverständlichkeit eines Schutzes des Staates bzw. der Verfassung gegenüber einem drohenden gewaltsamen Umsturz Deiters, in: Thiel (Fn. 8), S. 296.

30 Kritisch zu den Vorgängervorschriften Hefendehl, in: FS f. F.C. Schroeder (Fn. 12), S. 459 f.; Deiters, in: Thiel (Fn. 8), S. 312.

31 Zutr. Deiters, in: Thiel (Fn. 8), S. 296 und S. 310.

32 Eine umfassende Darstellung findet sich bei Dietlein, in: Stern (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, § 114, passim, wo die politische Willensbildung innerhalb der Bevölkerung als zweite Komponente der Gesamtwillensbildung des Souveräns neben der Ausübung von Staatsgewalt durch Wahlen bezeichnet wird (a.a.O. S. 5); dazu auch H. Dreier, JZ 1994, 741 f.

33 Vgl. Dietlein, in: Stern (Fn. 32), S. 34 m.w.N. in Fn. 116.

34 Allg. zu diesem Deliktstypus v. Heintschel-Heinegg, in: ders., Beck’scher Online-Kommentar StGB, Stand: 01.09.2012, Deliktstypen, Rn. 34 ff. m.w.N.; die §§ 86, 86a sind insoweit mittelbare Organisationsdelikte, vgl. Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 86 Rn. 1 und § 86a Rn. 2, – jew. m.w.N.

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Folge haben, dass dadurch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten eine Kriminalisierung legitimiert werden könnte.35 Hier wird vielmehr nicht das eingangs beschriebene Maß an Gefährdung überschritten, das jeder freiheitlichen Ordnung notwendig innewohnt.36 Anders verhält es sich, wenn sich mehrere Personen zu einer Organisation zusammenschließen, um so aktiv gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung zu kämpfen. Dies muss der Staat nicht hinnehmen; er braucht nicht zuzusehen, wie in organisierter Form die Abschaffung seiner materiellen Grundlagen betrieben wird. Die Freiheit zu politischer Betätigung findet hiernach ihre (strafrechtliche) Grenze also in der organisierten politischen Aktivität mit dem Ziel der Beseitigung der freiheitlichen Ordnung – und diese bildet den materiellen Unrechtskern der §§ 84 ff. StGB.37

Während nun die §§ 84, 85 StGB, die vor allem an die Betätigung in verbotenen Parteien und deren Ersatzorganisationen anknüpfen, schon aufgrund der Seltenheit von Parteiverboten praktisch weitgehend ohne Bedeutung sind, trifft dies auf die §§ 86, 86a StGB (Verbreiten von Propagandamitteln bzw. Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) nicht zu. Diese Vorschriften haben insbesondere deshalb eine deutlich größere praktische Relevanz, weil sie über § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB, auf den § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB verweist, auch auf die Verbreitung von Propagandamaterial/die Verwendung von Kennzeichen „einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation“ anwendbar sind. So ist etwa das Hakenkreuz unstreitig ein Kennzeichen im Sinne des § 86a Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 86 Abs. 1 Nr. 4, ebenso der Hitlergruß (Ausstrecken des rechten Arms) sowie die Grußformeln „Sieg Heil“ und „Heil Hitler“.38 Insofern ist unschwer vorstellbar, welche Bedeutung die genannten Vorschriften bei strafrechtlichen Ermittlungen im rechtsextremen Milieu erlangen können.

Mit Blick auf den oben als zentrales unrechtsbegründendes Merkmal auch der §§ 86, 86a StGB ausgemachten Organisationsbezug erweist sich dieser Hauptanwendungsbereich der Vorschriften jedoch als problematisch. Denn gerade bei nationalsozialistisch/neonazistisch ausgerichteter Propaganda fehlt es häufig an einem unmittelbaren Organisationsbezug, da eher selten eine Verbindung zu einer konkreten ehemaligen nationalsozialistische Organisation besteht. Der Regelfall wird vielmehr eher die allgemeine Bezugnahme auf nationalsozialistisches Gedankengut sein. Damit droht der an sich konstitutive Organisationsbezug verloren zu gehen und die Vorschriften wandeln sich zu Tatbeständen, die nationalsozialistische Inhalte um ihrer selbst willen bekämpfen.39 Dies entspricht aber nicht dem hier soeben skizzierten Charakter der Delikte.40 Dennoch halte ich die Anwendung der §§ 86, 86a auf Propaganda und Kennzeichen der „rechten Szene“ im Ergebnis für nicht verzichtbar.41 Die Grundrechte gelten auch für Menschen, die diese dazu nutzen wollen, sich für totalitäre Ideologien stark zu machen.42 „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“, ist insoweit letztlich eine freiheitsfeindliche Losung.43

Gleichwohl hat das BVerfG in der „Wunsiedel-Entscheidung“ meines Erachtens zu Recht darauf abgestellt, dass angesichts „des einzigartigen Unrechts und des Schreckens, die [diese] Herrschaft unter deutscher Verantwortung über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der für die Identität der Bundesrepublik Deutschland prägenden Bedeutung dieser Vergangenheit“ im Hinblick auf den rechtlichen Umgang mit nationalsozialistischen Bestrebungen bisweilen besondere Anforderungen gelten können.44 In der Entscheidung ging es um die – vom Ersten Senat des BVerfG bejahte – Frage, ob § 130 Abs. 4 StGB auch als nichtallgemeines Gesetz mit Art. 5 Abs. 1/Abs. 2 GG vereinbar ist.45 In unserem Zusammenhang lassen sich die dahinterstehenden Gedanken dahingehend fruchtbar machen, dass eine Bestrafung des Verbreitens von Propaganda bzw. der Verwendung von Kennzeichen bei „ehemaligen nationalsozialistischen Organisation“ auch ohne den unmittelbaren Bezug zu einer konkreten (ehemaligen) NS-Organisation nach den §§ 86, 86a strafbar sein kann.46 Voraussetzung ist allerdings, dass nicht lediglich ein Bezug zu „rechtem Gedankengut“ in einem diffusen Sinne existiert; erforderlich ist vielmehr eine Verbindung zu Kerninhalten des NS-Regimes, und zwar genau zu den Aspekten, die für dessen Charakter als totalitäres Unrechtsregime sowie als „Gegenentwurf“ zum Grundgesetz47 prägend sind. So fällt etwa das Verbreiten von Schrif-


35 Letztlich handelt es sich hier jedoch weniger um eine empirisch feststellbare Gefährdung, sondern eher um eine normative Entscheidung.

36 Dieser zutr. Gedanke findet sich bereits bei Beck (Fn. 12), S. 110.

37 Krit. zu dieser Sichtweise mit Blick auf ihre fragliche rechtspolitische Zweckmäßigkeit aber Deiters, in: Thiel (Fn. 8), S. 320 ff.

38 Nachw. zu zahlreichen Beispielen aus der Rspr. bei Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 86a Rn. 4 ff.

39 Vgl. dazu und zu weiteren Nachw. aus dem Schrifttum Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar zum StGB, Bd. 1, 3. Aufl., 2010, § 86 Rn. 22; Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 86 Rn. 9 f.; aber auch BVerfGE 124, 300, 323: kein Sonderrecht.

40 Bei § 86a StGB stellt sich das Problem zunächst scheinbar nicht in dieser Schärfe, da die entsprechenden Symbole häufiger einer bestimmten ehemaligen nationalsozialistischen Organisation zugeordnet werden können. Doch bereitet diese Vorschrift Schwierigkeiten bei der Anwendung des Tatmerkmals „Verwenden“, da bei streng wortsinngemäßer Auslegung auch die Verwendung im Rahmen antifaschistischer Symbole (etwa ein durchgestrichenes Hakenkreuz) tatbestandsmäßig sein müsste. Solchen erkennbar sinnwidrigen Ergebnissen wirkt der BGH mit einer teleologischen Reduktion des Tatbestandes entgegen, die jedoch im Einzelnen unberechenbar und teilweise auch widersprüchlich ist, vgl. dazu Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 86a Rn. 11 ff. m.w.N. sowie instruktiv Hörnle, NStZ 2007, 698, 699. Nach Ansicht des Verfassers (a.a.O. Rn. 12 f.) ist zur Lösung dieser Probleme auf den Charakter des § 86a StGB als (mittelbares) Organisationsdelikt abzustellen und zu fordern, dass die Verwendung des Kennzeichens in einer Weise erfolgt, die objektiv geeignet ist, die betreffende Organisation zu fördern. Dies kann für den Hauptanwendungsfall – Kennzeichen ehemaliger nationalsozialistischer Organisationen – indes nur bedeuten, dass es nicht um die Förderung dieser (nicht mehr existierenden) Organisationen, sondern letztlich um die Förderung rechtsextremistischer (aber: zumindest rudimentär organisierter) Bestrebungen geht.

41 Explizit a. A. aber beispielsweise Schmitt Glaeser (Fn. 23), S. 305 f.

42 Für die Meinungsfreiheit vgl. BVerfGE 124, 300, 320; einschränkend Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121, 122 ff., mit der Argumentation, dass Meinungen, deren Durchsetzung im politischen Meinungskampf nach dem GG ausgeschlossen ist, jedenfalls nicht an der demokratisch-funktionalen Überhöhung der Kommunikationsgrundrechte teilnehmen, womit freilich der Schutz entsprechender Meinungsäußerungen als kommunikative Persönlichkeitsentfaltung bliebe (a.a.O. S. 125).

43 Krit. zu dieser auf den Jakobiner Saint Just zurückgehenden Formulierung auch Thiel, in: ders. (Fn. 8), S. 24.

44 BVerfGE 124, 300, 321 und 327 ff.; ergänzend Masing, JZ 2012, 585, 589 ff.

45 Nachw. zur überwiegend kritischen Rezeption der Entscheidung in dieser Hinsicht bei Masing, JZ 2012, 585, 590 m. Fn. 53; insoweit der Entscheidung zust. dagegen etwa Fischer, in: FS f. Puppe, 2011, S. 1119, 1123.

46 Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 86 Rn. 10.

47 Vgl. BVerfGE 124, 300, 328: „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung“; ferner Hufen, in: FS f. Falter(Fn. 8), S. 101: „geistiges und normatives Fundament des Grundgesetzes“; Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121, 124: NSDAP als „Mutter aller verbotenen Parteien“.

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ten, in denen die Familienpolitik in Deutschland zwischen 1933 und 1945 lobend erwähnt wird, nicht unter § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB.48 Ferner dürfte es angebracht sein, zwischen Bestrebungen innerhalb der – zumindest rudimentär – organisierten „rechten Szene“ und dem Verhalten von Einzelpersonen zu unterscheiden, mag diese Unterscheidung häufig auch schwierig zu treffen sein. Nur bei Handlungen im zuerst erwähnten Kontext ist es sachangemessen, das Unrecht mit dem einer im engeren Sinne organisationsbezogenen Tätigkeit gleichzusetzen, wie sie von den §§ 86, 86a StGB an sich vorausgesetzt wird. Wo dagegen ein Einzelner völlig losgelöst von jener „rechten Szene“ entsprechendes Gedankengut verbreitet oder Kennzeichen verwendet, ist eine teleologische Reduktion angezeigt.49

Die Befassung mit den §§ 84 ff. StGB hat für die hier beabsichtigte Herausarbeitung eines legitimen strafrechtlichen Schutzes des freiheitlichen Staates somit folgenden Ertrag erbracht: Eine (abstrakte) Gefährdung der freiheitlichen Ordnung durch politische Betätigung überschreitet nach der hier vertretenen Ansicht dann die Schwelle zur Strafwürdigkeit, wenn diese in einem unmittelbaren Bezug zu einer Organisation steht, die aktiv die freiheitlich demokratische Grundordnung bekämpft. Dem tragen die §§ 84-86a StGB – bei einer an diesem Grundgedanken orientierten Auslegung – Rechnung. Freilich musste das Erfordernis des Organisationsbezuges für den praktisch bedeutsamsten Anwendungsbereich dieser Delikte relativiert werden, da es im rechtsextremistischen Bereich (§ 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB) häufig am Bezug zu einer konkreten Organisation fehlt. Dennoch wurde die Anwendung der entsprechenden Tatbestände in diesem Zusammenhang – in Anlehnung an einen Kerngedanken der „Wunsiedel-Entscheidung“ des BVerfG – als legitim erachtet. Da somit grundsätzlich aber die individuelle politische Betätigung als solche nach der hier befürworteten Ansicht nicht geeignet ist, eine strafwürdige Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates zu begründen, sind bereits die Weichen gestellt, um im letzten Abschnitt dieses Beitrags die verfassungsrechtliche Legitimation der §§ 90-90b StGB einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

IV. Die Verunglimpfungstatbestände (§§ 90 ff. StGB) oder: Was der freiheitliche Staat aushalten muss

In den §§ 90-90b StGB wird die Verunglimpfung, das Beschimpfen oder (böswillige) Verächtlichmachen des Staates, seiner Symbole oder Organe unter Strafe gestellt. Diese Vorschriften sind, geht man von dem hier entwickelten Verständnis eines verfassungsrechtlich begründbaren Staatsschutzstrafrechts aus, aufgrund der fehlenden Strafwürdigkeit unverhältnismäßig. Im Einzelnen:

Im ersten Zugriff könnte man zu der Auffassung gelangen, dass durch die §§ 90-90b StGB ein selbständiger Schutz des Ansehens oder der Würde des Staates (des Bundespräsidenten, von Verfassungsorganen usw.) bezweckt wird. Diese ließen sich dann – da ein verselbständigter strafrechtlicher Ehrschutz für den Staat als solchen höchst fragwürdig wäre50 – wiederum als gegenüber den „eigentlichen“ Schutzgütern (Staatsbestand und freiheitliche Ordnung) vorgelagerte Rechtsgüter begreifen, weil das Untergraben der staatlichen Autorität aufgrund von Kumulationseffekten51 „letztlich“ zu einer Gefährdung jener eigentlichen Schutzgüter führen könnte.52 Eine solche Konzeption ist allerdings nicht tragfähig. Begreift man die §§ 90-90b StGB tatsächlich als „echte“ Staatsgefährdungsdelikte, erreichen die tatbestandlich vertypten Handlungen nicht ein Maß an abstrakter Gefährlichkeit, das eine Kriminalisierung unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten rechtfertigen kann. Denn diese Gefährlichkeit muss sich bei diesem Ausgangspunkt eben auf Staatsbestand und/oder freiheitlich demokratische Grundordnung beziehen. Oben wurde jedoch gesagt, dass die individuelle politische Betätigung unter dem Gesichtspunkt einer „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates“ niemals strafwürdig sein kann (III).53 Das Verächtlichmachen, Beschimpfen oder Verunglimpfen des Staates oder seiner Symbole bzw. Organe kann im Einzelfall volksverhetzenden Charakter haben und somit nach § 130 StGB strafbar sein. Bei persönlichen Ehrverletzungen können ferner die §§ 185 ff. StGB zur Anwendung gelangen. Schließlich ist bei „Hetztiraden“ mit entsprechend aufwieglerischem Charakter an eine Strafbarkeit nach § 111 StGB oder § 80a StGB zu denken. Aber unter dem Gesichtspunkt einer Staatsgefährdung i.S.d. ersten Abschnitts kann die Schwelle zur Strafbarkeit nach dem hier befürworteten Verständnis nicht überschritten werden, solange nicht auch eine Eignung zur zumindest mittelbaren Förderung einer organisierten Bekämpfung der Verfassung vorliegt.54

Die jüngste Rechtsprechung des BVerfG geht im Grundsatz in eine ähnliche Richtung; sie geht dabei allerdings nicht weit genug. Es sei die Zielrichtung des § 90a StGB „wie sämtlicher Staatsschutznormen […], den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Länder und ihrer verfassungsgemäßen Ordnung zu gewährleisten und zu erhalten“.55 Insoweit sei „[D]ie Schwelle zur Rechtsgutverletzung […] im Falle des § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB [mithin] erst dann überschritten, wenn auf Grund der konkreten Art und Weise der Meinungsäußerung der Staat dermaßen verunglimpft wird, dass dies zumindest mittelbar geeignet erscheint, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, die Funktionsfähigkeit seiner staatlichen Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden“.56 Lässt man die Gefährdung der „Friedlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland“ beiseite, die auf das anderweitig zu verortende, nicht


48 Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 86 Rn. 10.

49 Zur Diskussion im Zusammenhang um die teleologische Reduktion des Merkmals „Verwenden“ in § 86a StGB Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 86a Rn. 11 ff.

50 Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 257; vgl. auch BVerfG NJW 2012, 1273, 1274.

51 Zu sog. Kumulationsdelikte vgl. v. Heintschel-Heinegg, in: ders., Beck’scher Online-Kommentar StGB (Fn. 34), Rn. 32 m.w.N.

52 Dafür insbesondere F. C. Schroeder, JR 1979, 89, 90; weitere Nachw. zur Diskussion bei Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 90 Rn. 1.

53 Nochmal: Diese Einschätzung beruht primär auf einer normativen Entscheidung, bei der insbesondere die grundrechtliche Bedeutung der potentiell strafbaren Verhaltensweisen in Rechnung gestellt wird, nicht auf empirisch überprüfbaren Erwägungen.

54 Nicht unähnlich, im Ergebnis jedoch weniger weitgehend ist die – an die klassische Sonderrechtslehre anknüpfende – Auffassung des BVerfG in der Wunsiedel-Entscheidung, wonach eine strafrechtlich relevante Gefährdung (dort bzgl. des an sich problematischen Rechtsguts des öffentlichen Friedens) durch eine Meinungsäußerung nur in Betracht kommen soll, wenn diese darauf abzielt, durch Appelle oder Emotionalisierungen rechtsgutsgefährdende Handlungsketten in der Außenwelt in Gang zu setzen, vgl. BVerfGE 124, 300, 334 f.; ferner Masing, JZ 2012, 585, 586 ff. m.w.N.

55 Zuletzt BVerfG NJW 2012, 1273, 1274 m.w.N.

56 BVerfG a.a.O. (vorige Fn.).

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minder problematische Rechtsgut des öffentlichen Friedens hindeutet,57 so entspricht das weitgehend der hierbefürworteten Ansicht – wobei dann zu ergänzen wäre, dass eine solche Gefährdung allein durch ein Verunglimpfen des Staates nicht vorstellbar ist.58 So hat der BGH in einer vom BVerfG ausdrücklich gebilligten Entscheidung59 einen Angeklagten nach § 90a StGB bestraft, der in einem „offenen Brief an alle Mitglieder des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung“ u.a. folgendes zu Papier brachte: „Sie alle haben aus der Bundes- eine Bimbes-Republik gemacht, einen käuflichen Saustall, über dem als Wichtigstes Ihr Glaubensbekenntnis steht: Es darf nie wieder einen selbstbewussten, wirklich souveränen deutschen Staat geben. Nur allzu willig und übereifrig unterwerfen Sie sich französischen, amerikanischen, vor allem aber jüdischen Wünschen oder Befehlen. … Die Bundesrepublik ist kein Staat! … Das Grundgesetz ist keine Verfassung und wurde nicht in freier Entscheidung vom deutschen Volke beschlossen, kann also auch niemals eine Verfassung oder gar die Grundlage eines souveränen Staates werden. … Das Grundgesetz ist Besatzungsrecht. … Folglich wäre es die Pflicht der Bundesregierung gewesen, 1990 auch das Besatzungsprovisorium BRD aufzulösen. … Statt dessen hat sie das Grundgesetz, ein Willkürprodukt der Feindmächte, zur Quasiverfassung erhoben. … Das Reich muss wieder her! Die BRD gehört zum traurigsten und würdelosesten Abschnitt unserer deutschen Geschichte und muss so schnell wie möglich beendet und durch das Reich ersetzt werden. Das Reich muss uns doch bleiben!“ Bei allem Befremden über derartige Pamphlete, ist nicht ersichtlich, weshalb sie nicht voller Vertrauen dem öffentlichen Meinungskampf überantwortet werden sollten (sofern sie dort überhaupt ernsthaft wahrgenommen werden). Wo entsprechend polemische und hetzerische Äußerungen in der Bevölkerung auf so fruchtbaren Boden fallen, dass von einer abstrakten Staatsgefährdung gesprochen werden kann, dürfte in Wahrheit die Beeinträchtigung des Schutzgutes bereits vorhanden und die Akzeptanz der Äußerungen eher ihre Folge als ihre Ursache sein. Die §§ 90 ff. StGB sind nach dem hier befürworteten Verständnis somit mangels Verhältnismäßigkeit verfassungswidrig und ersatzlos zu streichen.60

V. Zusammenfassung

Der freiheitliche Staat ist prinzipiell befugt und gehalten, sich selbst strafrechtlich zu schützen. Nach der hier befürworteten Ansicht beginnt diese Schutzwürdigkeit – im Hinblick auf originäre Staatsgefährdungsdelikte, also jenseits des hinsichtlich seiner grundsätzlichen Legitimation unproblematischen Hochverrats – dort, wo eine organisierte aggressiv-kämpferische Tätigkeit gegen die freiheitliche Ordnung gefördert wird. Hier ist es legitim, wenn der Staat auch mit seinem schärfsten Schwert zu Werke geht, um sich selbst wehrhaft zu erhalten. Dies ist freilich kein Selbstzweck, denn „Zweck an sich selbst“ ist – in Anlehnung an die berühmten Worte Kants – nur der Mensch; allein weil und soweit der Staat dessen persönliche Freiheit gewährleistet (und zugleich deren Produkt ist), ist er selbst auch in seinem Bestand schutzwürdig.

Auch mit einem etwaigen strafrechtlichen Schutz wird die freiheitliche Ordnung aber eine „riskante Veranstaltung“ bleiben. Das Risiko gehört zur Freiheit, diese kann letztlich nicht ohne jenes gedacht werden. Das Strafrecht ist nicht nur nicht in der Lage, dieses Risiko vollständig zu beseitigen; es sollte vielmehr bereits den Versuch unterlassen, da dieser letztlich dem Versuch zur Beseitigung der Freiheit selbst gleichkäme.


57 Dazu eingehend Hörnle, Grob anstößiges Verhalten (Fn. 50), S. 90 ff.; krit. jüngst in Auseinandersetzung mit der Wunsiedel-Entscheidung auch Fischer, in: FS Puppe (Fn. 45), S. 1119 ff.

58 Nicht unähnlich offenbar Masing, JZ 2012, 585, 588 f., der den Anwendungsbereich des§ 90a StGB unter dem Grundgesetz als „sehr eng“ bezeichnet.

59 BGH NStZ 2003, 145 f.; zust. BVerfG NJW 2012, 1273, 1274.

60 Becker, in: Matt/Renzikowski (Fn. 17), § 90 Rn. 1 f.; im Ergebnis wie hier Hörnle, Grob anstößiges Verhalten (Fn. 50), S. 266 m.w.N.