Vagheit im Recht (Teil II)

von Philipp Lassahn*

E. Außerrechtliche Erklärungsmodelle

Im vorhergehenden Beitrag (BLJ 1/2012) wurde das Phänomen der Vagheit dargestellt. Es wurde festgestellt, dass Vagheit das Recht jedenfalls auf den ersten Blick vor eine Reihe von Problemen stellt, die sich mit rechtsimmanenten Mitteln nicht zufriedenstellend lösen lassen. Im Folgenden werden daher zunächst außerrechtliche Erklärungsmodelle betrachtet, wobei stellvertretend so genannte logische und epistemische Herangehensweisen diskutiert werden.1 Im Mittelpunkt des Interesses steht freilich die Eignung der Modelle, die Behandlung rechtlicher Folgefragen vorzubereiten.

I. Logische Ansätze

Logische Erklärungsmodelle begreifen Vagheit als eigentümlich semantische Eigenschaft, die ihren Ursprung also in der Unzulänglichkeit von Zeichen haben soll.2 Bei der Anwendung vager Begriffe sei eine feste Grenze nicht nur unerkennbar, sondern schlichtweg inexistent.3 Solche Modelle setzen vornehmlich an der logiktheoretischen Darstellung von Vagheit an, d.h. sie suchen nach einer Erklärung des Sorites-Paradoxons.4 Wenn sich begreifen lässt, weshalb wir dieses als Widerspruch empfinden, so die Überlegung, dann lässt sich der zentrale Funktionsmechanismus von Vagheit offenlegen. Aus Platzgründen wird im Folgenden allein der Ansatz der mehrwertigen („fuzzy“) Logik exemplarisch untersucht.5

1. Darstellung

Ausgangspunkt ist das grundsätzliche Vagheitsdilemma der klassischen Logik, nämlich die Unmöglichkeit, einem Grenzfall einen klassischen Wahrheitswert (0 oder 1) zuzuweisen. Eine nahe liegende Antwort auf dieses Dilemma ist die Einführung zusätzlicher Wahrheitswerte. Prädikationen werden dann Wahrheitswerte nicht nur von 0 oder 1 zugeschrieben, wobei von dreiwertiger bis hin zu unendlichwertiger Logik alle Spielarten denkbar sind.6 Das Konzept unendlichwertiger Logik scheint hierbei die Vorstellung fließender Bedeutungsgrenzen, d.h. Vagheit, am eindringlichsten beschreiben zu können. Einer Prädikation wird also ein beliebiger Wahrheitswert aus dem Intervall [0;1] zugeschrieben, etwa wird die Aussage „Ein Bleistift ist ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 I Nr. 2 Var. 2 StGB“ zu 0,632 als wahr bezeichnet.7 In der Tat vermag nun solche mehr- bzw. unendlichwertige Logik das Sorites-Paradoxon im Grundsatz zu erklären. Der Wahrheitswert der Prädikation verändert sich dann nämlich auch bei minimaler Abweichung der prädikationsrelevanten Eigenschaften. Damit ist der Wahrheitswert des Induktionsschrittes des Paradoxons nicht mehr 1, sondern abhängig von der Wahrheitswertrelation zwischen Prämisse und Konklusion.8 Die menschliche Neigung, dem Induktionsschritt dennoch zuzustimmen und dadurch in der Verknüpfung der Aussagen einen Widerspruch zu erblicken, lässt sich dann unter Verweis auf fehlgeleitete Intuition erklären.

2. Diskussion

Für den Ansatz der mehrwertigen Logik scheint zunächst die weitgehende Übereinstimmung mit dieser Intuition zu sprechen. So deckt sich die Vorstellung, dass eine Aussage nur zu einem bestimmten Bruchteil wahr bzw. falsch ist, mit der in Grenzfällen spürbaren Neigung, der Aussage weder zustimmen, noch sie ablehnen zu wollen.9 Gegen nicht unendliche Mehrwertlogik lässt sich freilich das Problem der Vagheit höherer Ordnung argumentativ in in Stellung bringen.10 Denn bei Grenzfällen höherer Ordnung ist gerade unklar, ob ein anderer Wahrheitswert als 0 oder 1 anzusetzen ist oder


* Der Autor ist Student an der Bucerius Law School, Hamburg. Fortsetzung und Schluss zu Lassahn, BLJ I/2012, 14-19.

1 Daneben existieren etwa „ontische“ oder „semantische“ Modelle, vgl. hierzu Poscher, Ambiguity and Vagueness in Legal Interpretation, 2011, S. 23, 28. Zu als „nihilistisch“ und „stipulativistisch“ bezeichneten Ansätzen s. Sorensen, Legal Theory 7 (2001), 387, 395.

2 Vgl. etwa die Bezeichnung von mehrwertiger Logik als „Semanticist Solution“ bei Endicott, Vagueness in Law, 2000, S. 78 ff.

3 Hyde, Sorites Paradox, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2011, http://plato.stanford.edu/entries/sorites-paradox/ (10.07.2012).

4 Zum Sorites-Paradoxon s. BLJ I /2012, S. 15.

5 S. Hajek, Fuzzy Logic, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2010, http://plato.stanford.edu/entries/logic-fuzzy/ (10.07.2012). Für das Modell der Wahrheitslücken sowie den Supervaluationismus s. Smith, Vagueness and Degrees of Truth, 2008, S. 71 ff., 76 ff.; vgl. auch Sorensen, Legal Theory 7 (2001), 387 (396) bzw. Endicott (Fn. 3), S. 79 f.; Hyde (Fn. 4).

6 S. Pinkal, Vagheit und Ambiguität, in: v. Stechow et al. (Hrsg.), Semantik. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung, 1991, S. 250, 258 ff.

7 Eine solche Aussage darf nicht als Wahrscheinlichkeitsurteil missverstanden werden, vgl. Hajek (Fn. 6).

8 Endicott (Fn. 3), S. 80 f.

9 Vgl. Smith (Fn. 6), S. 86.

10 Endicott (Fn. 3), S. 82 ff.

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nicht. Zwar kann man dann auch der Prädikation „x ist ein Grenzfall“ wiederum eine beliebige rationale Zahl aus dem Intervall [0;1] als Wahrheitswert zuweisen, doch stellt sich das Problem auf jeder Ordnungsebene erneut, so dass eine infinite Wiederholung des Bewältigungsvorganges erforderlich wäre.11 Eine solche Endlosschleife ist allerdings im Rahmen rationaler Zahlen als Wahrheitswerte logisch ausgeschlossen, da eine unumstößliche Prämisse des Verständnisses von Vagheit die Existenz eines Bedeutungskernbereiches ist.12 Wenn nun aber an einem gewissen Punkt die Ausgangsprädikation den Wahrheitswert 1 annehmen muss, so darf auf einer bestimmten Ordnung eben nicht mehr fraglich sein, ob es sich um einen Grenzfall des n-ten Grenzfalls handelt;13 mit anderen Worten setzt eine nicht unendlichwertige Logik letztlich doch die Existenz scharfer Grenzen voraus, kann also Vagheit nicht schlüssig beschreiben.

Unendlichwertige Logik hat hingegen mit Vagheit höherer Ordnung keine größeren Schwierigkeiten, sondern ermöglicht eine logisch-mathematische Darstellung des Fehlens scharfer Grenzen. Es bestehen in einem solchen System nämlich ganz einfach keine „Lücken“ zwischen Wahrheitswerten (denn es lässt sich keine materielle Differenz zwischen 1 und 1-1/∞ ausmachen), sondern ein stets asymptotisches Verhältnis zwischen den einzelnen Wahrheitswerten – alles fließt. Es drängt sich bei einem solchen Verständnis freilich der Verdacht auf, dass unendlichwertige Logik letztlich bloß die Abbildung eines grundsätzlich ontischen Konzepts von Vagheit ist: Weil das Sein selbst vage ist, müssen es auch unsere Mittel zu seiner Bezeichnung sein.

Unendlichwertige Logik scheint daher zwar geeignet, unsere Vorstellung von einer ungewissen Welt mit ungewissen Begriffen plastisch abzubilden.14 Sie entfernt sich damit aber faktisch vom semantischen Ausgangspunkt, da Bedeutung und ihre vermeintlichen Grenzen nicht mehr aus rein analytischer Betrachtung von Zeichen und Begriffen heraus erklärt werden. Mit Blick auf das Ziel, Vagheit besser verständlich zu machen, scheint neben der bereits als solcher nicht unproblematischen Abkehr von klassischer Logik und der Gültigkeit ihrer Operationsregeln15 auch der Rekurs auf Unendlichkeit ungeeignet, da wir aus der Darstellung von Unendlichkeit in aller Regel außer der mathematischen Hilfestellung zur Formulierung einer dumpfen Ahnung keinen Mehrwert ziehen können: Unendlichkeit ist kein semantisch handhabbares Konzept.

Auch im Rechtskontext vermag unendlichwertige Logik keine überzeugende Erklärungsgrundlage zu liefern. In der rechtlichen Entscheidung würde nämlich gerade die Ermittlung der Wahrheitswerte die maßgebliche Rolle spielen – dafür aber vermag das Modell keine Antwort zu liefern. In diesem Kontext wird zudem bisweilen auf den binären Charakter rechtlicher Entscheidungen verwiesen, die eine Anwendung mehrwertiger Logik deplatziert erscheinen ließe16 – so kann etwa ein Angeklagter nicht zu einem Drittel freigesprochen werden.17 Für die Mehrzahl juristischer Entscheidungssituationen trifft dies sicherlich zu; allerdings blendet eine solche Argumentation aus, dass die konkreten Folgen solcher Entscheidungsprozesse durchaus aus einer gewissen Bandbreite zu schöpfen sind. So kann ein Angeklagter zwar nicht zu zwei Dritteln nach § 224 I StGB verurteilt werden; sehr wohl kann er jedoch (minder schwere Fälle einmal ausgenommen) zu einer Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und zehn Jahren verurteilt werden. Vielleicht könnte eine rechtssoziologische Untersuchung darüber, inwiefern Richter das Vorliegen eines Grenzfalls nicht doch in der Strafzumessung (bzw. Sachwertbestimmung, Konstruktion von Mitverschuldensquoten etc.) berücksichtigen, belegen, dass die Vorstellung mehrwertiger Logik, wenn schon nicht rechtsmethodisch, so doch zumindest tatsächlich wirkmächtig ist.

Da eine intuitive Vermutung dieser Art sich nicht ohne weiteres widerlegen lässt, ist zusammenfassend festzuhalten, dass mehrwertige Logik zwar kein handhabbares Instrument zur Entwicklung befriedigender Antworten auf die oben aufgeworfenen Rechtsfragen bereitstellt, zumindest aber unsere Vorstellung vom rechtstatsächlichen Umgang mit vagen Begriffen hilfreich zu illustrieren vermag.

II. Epistemischer Ansatz

1. Darstellung

Dem epistemischen Erklärungsansatz eignet die Überzeugung, dass scharfe Grenzen von Begriffsbedeutungen existieren und lediglich nicht erkennbar sind.18 Vagheit ist also keine dem Sein und unseren Zeichen anhaftende Eigenschaft, sondern entsteht erst im Prozess einer unzulänglichen Wahrnehmung. Die Auflösung des Sorites-Paradoxons gelingt dem Epistemiker, indem er den Induktionsschritt um die Bedingung ergänzt, dass eine präzise – lediglich unerkennbare – Grenze nicht überschritten wird.19

2. Diskussion

Ein epistemisches Modell hat den offensichtlichen Vorteil für sich, dass selbst Vagheit höherer Ordnung keine Probleme bereitet, da schließlich Grenzfälle gar nicht existieren bzw.


11 Eine – wenig überzeugende – Alternative besteht darin, die Existenz Vagheit höherer Ordnung zu leugnen; so vermutet Smith (Fn. 6), S. 57 ff., dass sich eine präzise Abtrennung jedenfalls von Grenzfällen und klaren Fällen vornehmen lässt. Für eine Ablehnung dieser Alternative unter Rekurs auf die Vagheit von Komparativen s. Endicott (Fn. 3), S. 82 f.

12 Ein solcher Kernbereich ist nicht zuletzt Prämisse des Sorites-Paradoxons. Auch müsste man andernfalls die Möglichkeit, Lauten einen Sinn zuzuschreiben, grundsätzlich in Frage stellen.

13 Das Problem benennt bereits Cargile, The British Journal for the Philosophy of Science 20 (1969), 193, 201; vgl. auch die aufschlussreiche Grafik bei Endicott (Fn. 3), S. 87.

14 Für die ontische Verortung der Vagheit im Modell mehrwertiger Logik s. auch Smith (Fn. 6), S. 70 f.

15 Zum Bestreben, klassische Logik nach Möglichkeit beizubehalten vgl. Weatherson, Vagueness and Pragmatics, 2002, http://brian.weatherson.org/Ch_8.pdf (10.07.2012), S. 82.

16 Poscher (Fn. 2), S. 17; s. auch Solan, Vagueness and Ambiguity in Legal Interpretation, in: Bhatia et al., Vagueness in Normative Texts, 2005, S. 73, 82, 94.

17 Mit dieser Überlegung (insbesondere vor dem gedanklichen Hintergrund des Falls der Millionen Annahmen) lässt sich auch begründen, weshalb die von Smith vorgeschlagene Bewältigung des Problems der Grenzziehung jedenfalls im rechtlichen Kontext nicht verfangen kann. Smith (Fn. 6), S. 145 ff., 308 ff., 317 ff., behauptet, dass die Ähnlichkeit der Wahrheitswerte zweier Aussagen, von denen eine im klaren Fall und die andere im Grenzfall getroffen wird, die Problematik der Grenzziehung entschärft; dies kann aber in juristischen Entscheidungen auf Grund der sich bei rechtlichen Qualifizierungen ergebenden gravierenden Unterschiede und der letztlich eben doch regelmäßig binären Entscheidung (Vertragsschluss oder nicht) keine Abhilfe schaffen – auch eine minimale Abweichung des Wahrheitswertes führt ggf. zu großen rechtlichen Unterschieden.

18 Sorensen., Legal Theory 7 (2001), 387, 395 f.; ders., Vagueness, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2012, http://plato.stanford.edu/entries/vagueness/ (10.07.2012); vgl. auch Poscher (Fn. 2), S. 21 f.

19 Vgl. Smith (Fn. 6), S. 35 f.

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alle Einordnungszweifel (lediglich) epistemische Ursachen haben. Vagheit höherer Ordnung ist dann unter Hinweis auf mangelnde Erkenntnisfähigkeit recht einfach zu erklären.

Auch lassen sich die teilweise erbittert geführten juristischen Streitigkeiten über das „richtige“ Verständnis vager Begriffe und von Rechtssystemen wie Rechtsakteuren erhobene Richtigkeitsansprüche21 leichter erklären, wenn man annimmt, dass jeder von der Existenz der einzig richtigen Antwort ausgeht.22 Ebenso kann ein epistemisches Modell eine Erklärung dafür liefern, weshalb bei der Entscheidung von (zumindest als solche wahrgenommenen) Grenzfällen rechtsexterne, etwa moralische Standards zu Rate gezogen werden:23 Der Rechtsanwender ist ganz einfach darauf angewiesen, seinen Mangel an Erkenntnisfähigkeit durch Ausschöpfung eines möglichst breiten Spektrums an Erkenntnisquellen auszugleichen.

Dem lässt sich jedoch entgegenhalten, dass mit dieser Argumentation auch die tatsächliche Erkennbarkeit der scharfen Grenzen vorausgesetzt sein müsste, denn andernfalls würde ein Streit um die richtige Antwort ebenso wenig sinnvoll sein. Auch ist die Existenz scharfer Grenzen schlicht kontraintuitiv, da zwischen zwei minimal voneinander abweichenden Fällen das Bestehen eines für die normative Einordnung relevanten materiellen Unterschieds geradezu undenkbar ist. Neben diesem – zugegebenermaßen die prima facie – Überzeugungskraft des Induktionsschrittes im Sorites-Paradoxon schlicht wiederholenden – Argument ergeben sich allerdings weitere, erhebliche Schwierigkeiten, wenn man sich auf den Gedanken des Bestehens scharfer Grenzen einzulassen versucht. Auf Grund der komplexen Wechselwirkungen zwischen Benutzung und Bedeutung eines Begriffes24 können jedenfalls starre, also unveränderliche Grenzen nicht gemeint sein. Dynamische Grenzen aber wären auf Grund eben dieses wechselseitigen Beeinflussungs- und Supervenienzverhältnisses von Benutzung und Bedeutung wohl derart unbeständig, dass sinnvolle Aussagen über solche Bedeutungsgrenzen beinahe undenkbar scheinen25 und sie in zeitlicher Dimension wohl auch keine nennenswerte Lebenserwartung hätten. Schließlich würde bereits die Aussage über eine bestimmte Grenze eine – wenn auch minimale – Bedeutungsänderung der in der Aussage enthaltenen Begriffe nach sich ziehen. Ob also ausgehend von solchen superdynamischen Bedeutungsgrenzen die Vorstellung von der Existenz scharfer Grenzen überhaupt noch sinnvoll sein kann, bleibt zumindest zweifelhaft.

Ein zusätzliches Problem ergibt sich, wenn sich ein Objekt in seinen prädikationsrelevanten Eigenschaften fortlaufend entwickelt. Wenn eine Kaulquappe sich kontinuierlich zum Frosch entwickelt, so muss nach dem epistemischen Modell ab einem ganz bestimmten Zeitpunkt die Bezeichnung Kaulquappe unzutreffend und das Wesen als Frosch zu bezeichnen sein.26 Da Zeit aber nicht punktuell, sondern als Kontinuum zu begreifen ist, kann es einen solchen exakten Zeitpunkt nicht geben, und auch die Frage nach der exakten semantischen Grenzziehung wird sinnlos.

Zumindest aber ist das epistemische Modell für eine abschließende Erklärung rechtlicher Folgefragen ungeeignet. Dies liegt daran, dass eine triviale materielle Abweichung im Tatsächlichen die Anwendung einer ggf. gravierend abweichenden Rechtsfolge nicht rechtfertigen kann.27 Das wird spätestens für den Fall einer sinnlich nicht mehr wahrnehmbaren Differenz deutlich, in dem die Behauptung einer zwingend unterschiedlichen normativen Kategorisierung schlicht unsinnig erscheint. Ein epistemisches Modell kann daher jedenfalls im Rechtssystem nicht sinnvoll verarbeitet werden.

III. Zusammenfassende Einschätzung der diskutierten Modelle

Zwar können beide Ansätze helfen, Vagheit in Teilaspekten begreiflich zu machen. So liefern die Modelle Deutungsmuster für mögliche Ursachen von Vagheit ebenso wie für menschliche Probleme beim Denken von Vagheit (Unverzichtbarkeit der Idee des Unendlichen, Unerkennbaren). Es fehlt allerdings jeweils an einer überzeugenden ganzheitlichen Übertragbarkeit der Erkenntnisse auf rechtliche Folgeprobleme. Diese gelingt allenfalls partiell (Beschreibung der Strafzumessung in Grenzfällen als Anwendung mehrwertiger Logik, Berücksichtigung rechtsexterner Erwägungen zur Kompensation epistemischer Ungewissheit). Auch ist eine Integration der verschiedenen Ansätze nicht denkbar, verorten doch die Modelle den Ursprung von Vagheit grundsätzlich verschieden (unendlichwertige Logik sieht sie als Eigenschaft der phänomenalen Dimension des Seins,28 Epistemik in der Unzulänglichkeit unserer Erkenntnisfähigkeit).

Eine rechtliche Untersuchung von Vagheit kann sich allerdings nicht mit einer bloßen Beschreibung von Teilaspekten der phänomenalen Dimension begnügen. Sie muss zumindest zu beschreiben versuchen, wie die Bewältigung von Vagheit im Rechtsstaat gelingen, d.h. einen sachgerechten Umgang finden kann. Die rechtsstaatlich gebotene Legitimierung der Bewältigung juristischer Entscheidungen auch im Grenzfall und die Einordnung entsprechender Bewältigungsmuster sind daher im Folgenden eigenständig zu thematisieren.

F. Rechtfertigung und Einordnung des Umgangs mit Vagheit im Recht

Ausgangspunkt für Legitimierung und Beschreibung des rechtlichen Vorgehens bei der Entscheidung im Grenzfall ist die Erkenntnis, dass es in einem solchen Fall keine „richtige“ Antwort gibt bzw. sie sich zumindest – gleich welchen Aufwand man betreiben möchte – nicht ermitteln lässt. Vagheit ist mit anderen Worten Kristallisationspunkt der Relativität des Richtigen29 in ihrer sprachlichen Dimension. Die Ent-


21 Vgl. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992, S. 62, 64 ff.

22 Poscher (Fn. 2), S. 23; ähnlich Sorensen, Legal Theory 7 (2001), 387, 401 f.

23 Sorensen, Legal Theory 7 (2001), 387, 401; s. auch Alexy (Fn. 21), S. 118 f., 121 ff.

24 Vgl. Endicott (Fn. 3), S. 101; s. auch Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1953, §§ 7 ff., 43, 381.

25 Dieser Gedanke drängt sich auf, wenn man an evaluative Begriffe wie „lecker“, „witzig“ etc. anknüpft; vgl. Endicott (Fn. 3), S. 127 ff.

26 Vgl. Cargile, The British Journal for the Philosophy of Science 20 (1969), 193, 193 f., 201 f.

27 Vgl. Endicott (Fn. 3), S. 128 ff., 160 ff.; Die Kritik bei Soames,Vagueness and The Law, 2012, http://www. bcf.usc.edu/ soames/sel_pub/ Vagueness_and_the_Law.pdf (10.07.2012), S. 20 f., vermag allerdings nicht zu überzeugen. Soames behauptet, dass der Epistemiker davon ausgehen müsse, dass der Gesetzeswortlaut bereits die Zuordnung eines jeden Grenzfalles festlege und daher bei identischen Objekten eine situationsbedingt unterschiedliche Normanwendung nicht rechtfertigen könne. Diese Argumentation verkennt m.E., dass sich das epistemische Modell zwanglos mit einer pragmatisch bedingten, d.h. einzelfallabhängigen Bedeutungszuweisung vereinbaren lässt.

28 Ähnlich Smith (Fn. 6), S. 70.

29 Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2003, S. 9,28.

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scheidung im Grenzfall ist somit nicht mehr als Rechtsfindung im engeren Sinne zu verstehen, denn rechtliche Argumentation wird in solch einer Situation beliebig.30 Es ist einzugestehen, dass die Entscheidung notwendig im freien Ermessen des Rechtsanwenders steht, ein entsprechender Richterspruch also ein Akt der Willkür ist.31

I. Rechtfertigung und Gestaltung der Verwendung vager Begriffe

Zunächst ist im Rahmen der Rechtfertigung des Umgangs mit Vagheit zu fragen, ob der Gesetzgeber im Rechtsstaat sich überhaupt vager Normen bedienen darf oder die soeben beschriebene richterliche Willkür so weit wie möglich zu vermeiden hat. Zwar ist eine Präzisierung von Rechtsvorschriften oftmals möglich und wird nicht selten angestrebt (man denke etwa an die Festsetzung von Grenzwerten in TA Luft und TA Lärm)32 . Indes ist nicht zu verkennen, dass auch Präzisierung zu mitunter willkürlichen Ergebnissen führen kann.33 So fährt ggf. ein Autofahrer bei 110 km/h sicherer als ein anderer bei 90 km/h; dennoch übertritt nur der erste eine Geschwindigkeitsvorschrift34 , obwohl deren Telos letztlich doch die Gewährleistung der Sicherheit des Straßenverkehrs ist. Daher findet mit der Wahl einer vagen Formulierung lediglich eine Verlagerung von notwendig willkürlich zu treffenden Entscheidungen statt; der Gesetzgeber delegiert die Grenzziehung an den Rechtsanwender. Es handelt sich hierbei grundsätzlich um verschiedene Arten der Willkür,35 wobei es nicht Aufgabe des Gesetzgebers ist, die eine zu Gunsten der anderen per se zu vermeiden, sondern vielmehr, die jeweils adäquate Form zu ermitteln.

Überdies lassen sich bestimmte Konzepte ganz einfach nicht präzise darstellen; Abstraktion bringt bisweilen notwendig Vagheit mit sich, die nicht weiter zu beschränken ist.36 Dies gilt etwa für den Vertretensmaßstab der Fahrlässigkeit: Es ist unmöglich, jeden denkbaren Sorgfaltsverstoß präzise aufzulisten, so dass das Zurückgreifen auf einen vagen Begriff unausweichlich ist. Aus diesen beiden Gründen ist Vagheit in der Gesetzgebung sinnvollerweise nicht zu vermeiden. Wenn nun aber der Gesetzgeber notwendig auf vage Begriffsdarstellungen zurückgreifen muss, so lässt sich auch der Umgang mit Vagheit durch den Rechtsanwender, insbesondere den Richter, mit bloßer Notwendigkeit begründen und rechtfertigen: Wenn der Justizgewährungsanspruch37 den Richter zur Entscheidung auch im Grenzfall zwingt und solche Grenzfälle sich nicht vermeiden lassen, so ist die notwendig willkürliche Entscheidung legitimiert.

Daher verlangt auch das eingangs problematisierte rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot nicht nach einer weitestmöglichen, sondern lediglich nach einer adäquaten Vermeidung von Vagheit. Vagheit gefährdet erst im Übermaß die Rechtssicherheit,38 weshalb es sich mit ihr nicht anders verhält als mit anderen Rechtsphänomenen.39

Vagheit stellt sich somit auch nicht als Bedrohung für den rechtsstaatlich essentiellen nulla poena – Grundsatz dar; eingedenk der bereits oben aufgezeigten Unzulänglichkeit einer Extremisierung der Regel in dubio pro reo muss auch der willkürliche Schuldspruch im Grenzfall möglich sein. Wollte man anderes behaupten und Verurteilungen auf Fälle absoluter Subsumtionsevidenz beschränken, so wäre ein reaktionsfähiges und im eigentlichen Sinne juristisches Strafrecht nicht denkbar.

Ähnliches gilt für die Auswirkungen von Vagheit auf das allgemeine Gleichheitsgebot. Eine Ungleichbehandlung an der Grenze ist schlicht notwendig – irgendeine Millisekunde muss die Annahme eines Vertragsangebots eben doch verhindern.40 Die Rechtfertigung ergibt sich in solchen Fällen also unmittelbar aus dem grundgesetzlichen Justizgewährungsgebot.

Sofern Vagheit Fragen der Gewaltenteilung, etwa unter dem Topos der Wesentlichkeitstheorie41 , aufwirft, kann die Antwort ebenfalls nicht in einer kategorischen Ablehnung von Vagheit bestehen, sondern muss sich darauf konzentrieren, Unbestimmtheit im Bereich des für die Grundrechtsverwirklichung Wesentlichen wiederum, so weit wie es adäquat erscheint (nicht: möglich ist), zu vermeiden.

In der Frage, ob der Richter im Grenzfall vor dem Hinter des Art. 20 III GG noch nach geltendem „Recht“ entscheidet, ist festzuhalten, dass es tatsächlich bisweilen keine guten Gründe für eine bestimmte Grenzziehung geben mag. Da aber die Idee von Recht als einem umfassenden Ordnungssystem verlangt, dass nicht nur sinnvoll regelbare Fragen, sondern alle potentiell streitigen Verhältnisse (wie etwa der Fall der Millionen Annahmeerklärungen) eine rechtliche Qualifizierung erfahren können, sind auch die Grenzziehungen in solchen Fällen grundsätzlich als schöpferische Rechtsanwendung und damit als Teil des Rechts zu begreifen. Den Vorgaben des Art. 20 III GG droht daher durch das Phänomen der Vagheit keine existentielle Gefahr.

Den eingangs als problematisch thematisierten rechtlichen Implikationen von Vagheit ist damit großteils unter Hinweis auf schiere Notwendigkeit zu begegnen. Es findet ein Paradigmenwechsel von der Frage nach dem „Ob“ des Umgangs mit Vagheit hin zum „Wie“ der konkreten Ausgestaltung der rechtlichen Bewältigung dieses Sprachphänomens statt. Dies mag man zwar als unbefriedigend empfinden, es scheint allerdings kein Weg daran vorbeizuführen.

Diese Einsicht leitet über zur zentralen Fragestellung, wie die


30 Endicott (Fn. 3), S. 27, 35, spricht von „absence of reason“.

31 So auch Solan, (Fn. 17), S. 73, 82 f.

32 Eine verbleibende triviale Vagheit bleibt außer Betracht, d.h. ein in Zahlen dargestellter gesetzlicher Grenzwert gilt als präzise, obschon auch die Einhaltung eines solchen Grenzwertes niemals mit absoluter Exaktheit ermittelt werden kann. Würde man stets auf solche Mikrovagheit rekurrieren, ließe sich die Diskussion nicht mehr sinnvoll führen, vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts4, 2005, S. 117.

33 Sorensen, Legal Theory 7 (2001), 387, 396.

34 Vgl. hierzu § 41 I StVO sowie Anlage 2 Zeichen 274 StVO.

35 Endicott, The Value of Vagueness, in: Bhatia, et al., Vagueness in Normative Texts, 2005, S. 27 (36 ff.).

36 Endicott (Fn. 35), S. 27, 31 ff., 40 ff.

37 Vgl. BVerfGE 54, 277, 291; Huster/Rux, in: Becking/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar GG14, 2012, Art. 20 Rn. 186.

38 So auch Endicott (Fn. 3), S. 190 f. Ab wann ein solches Übermaß anzunehmen ist, kann eingedenk der Unwägbarkeit von Vagheit analytisch wohl kaum verbindlich ermittelt werden, vgl. Endicott (Fn. 3), S. 91 ff.

39 Man stelle sich etwa die vollständige Durchsetzung des strafprozessualen Legalitätsprinzips vor: Wegen der Ubiquität von Kriminalität (vgl. etwa Kunz, Kriminologie4, 2004, § 26 Rn. 1 ff.) wäre eine Normalisierung von (Vor-)Bestrafung die Folge, das Strafrecht verlöre damit die Abschreckungswirkung und könnte den Rechtsgüterschutz nicht mehr bewirken. „Absolute Rechtsstaatlichkeit“ ist daher eine Illusion, vgl. Endicott (Fn. 3), S. 192 ff.

40 Zum Beispiel der Millionen Annahmeerklärungen s. BLJ I/2012, S. 18.

41 Vgl. Herzog/Grzeszick , in: Maunz/Dürig (Begr.), Kommentar zum GG8, 64. EL 2012, Art. 20 Rn. 105 f.

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rechtliche Bewältigung der Entscheidung im Grenzfall zu gestalten ist. So könnte man meinen, dass das Rechtssystem sich offen zu seinen willkürlichen Momenten bekennen und in der Entscheidung eines Grenzfalls auf rechtsförmige Darstellung verzichten könnte.

Allerdings wird bspw. der Richter regelmäßig wohl nicht einmal bemerken, dass er es mit einem begrifflichen Grenzfall im hier vorausgesetzten Sinne zu tun hat.42 Er wird vielmehr die tradierten Auslegungsmethoden anwenden und je nach Anwendung der Kanones und persönlicher Voreinstellung zu einem bestimmten Ergebnis gelangen.43 Die Entscheidung ist letztlich Niederschlag der persönlichen Ansichten und psychologischen Dispositionen des Richters. Und selbst wenn er einen Grenzfall als solchen erkennt, so wird das Ergebnis kaum per Los bestimmt (obwohl dies nicht zu einem weniger rationalen Ergebnis führen würde!), sondern in irgendeiner Art und Weise argumentativ entwickelt werden.

Die Darstellung der Entscheidung muss auch notwendig argumentativ aufbereitet und in rechtlichen Kategorien kodiert werden. Selbst wenn sich ein konkretes Sollen im Grenzfall materiell nicht begründen lässt, sorgt dies jedenfalls dafür, dass die Entscheidung in das soziale System Recht integriert wird.44 Rechtsförmigkeit und Systemintegration dienen erstens dazu, berechtigte Erwartungen der Normunterworfenen an das Zustandekommen juristischer Entscheidungen nicht zu enttäuschen. Die Akzeptanz eines Urteils ist im Rechtsstaat Selbstzweck45 und auch im Grenzfall die Entscheidung mit Zwang durchsetzbar. Zweitens dient das Erfordernis der Rechtsförmigkeit der „juristischen Selbstdisziplinierung“46 , mithin der Bewahrung des Respekts der Rechtsentscheider vor der ihnen zugewiesenen Aufgabe. Nicht zuletzt kann auch eine jede argumentative Analyse des vorhandenen Rechtsstoffes zur Weiterentwicklung des Rechts dienen – und sei es allein der juristischen Methodologie.

Selbstregulierungskräfte des Systems47 müssen hierbei dafür sorgen, dass die einzelne Entscheidung sich an die Entwicklung des dogmatischen Systems anknüpfen lässt und sich damit im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält. Bei Einhaltung dieser Anforderungen ist damit die notwendige Anwendung vager Normen rechtsstaatlich legitimiert.

II. Einordnung der Entscheidung im Grenzfall

Fraglich bleibt, ob in der Sinnzuschreibung im Grenzfall (also etwa der Qualifizierung einer Annahmeerklärung als „sofort“) auch eine Weiterentwicklung der jeweiligen Begriffsbedeutung zu sehen ist. Zwar kann eine Grenzfallentscheidung bereits wegen der materiellen Unbegründbarkeit keine Präzedenzkraft entfalten,48 und an eine Beeinflussung des allgemeinen Sprachgebrauchs ist erst recht nicht zu denken.49 Der Kern der Frage ist jedoch ein anderer: Es geht darum, ob durch die Grenzfallentscheidung eine zumindest punktuelle sprachliche Sinnzuschreibung im Rechtssystem erfolgt. Geht es dem Richter also darum, die Annahmeerklärung mit dem (Rechts-)Begriff „sofort“ in Verbindung zu bringen? Näher liegt es doch wohl, diesen Begriff im Grenzfall lediglich als notwendiges, leeres Vehikel für eine bestimmte rechtliche Qualifizierung eines Lebenssachverhaltes (die Bejahung eines Vertragsschlusses) anzusehen. Da diese Qualifizierung aber im Grenzfall beliebig ist, kann auch die vorgelagerte Sinnzuschreibung keinerlei Wirkungen entfalten. Sie ist Sinnzuschreibung nur insoweit, als der Entscheidungszwang als eigentümliches Institut des Rechts nach einer Kodierung verlangt. Ein solcher Vorgang ist linguistisch sinnlos und lediglich juristisch geboten. Rechtliche Qualifizierung kann folglich als von Sprache emanzipiert gedacht werden. Hierin zeigt sich die Autonomie des Rechts als Autonomie der Materie gegenüber ihrer Form. Die juristische Entscheidung im Grenzfall ist daher als in gewissem Sinne konstruktivistisch50 und auf das Rechtssystem beschränkt zu begreifen. Das soziale System Recht konstruiert mit den ihm eigenen Instrumenten und unter den ihm eigenen Zwängen eine Entscheidung und damit eine Grenzziehung im semantischen wie pragmatischen Vakuum.

Bei konstruktivistischer Betrachtung stellt sich auch das Problem der Vagheit höherer Ordnung nicht in aller Schärfe, da ohnehin in jedem Entscheidungsvorgang eine rechtsdogmatische Konstruktion des Ergebnisses gesehen wird. In absolut klaren Fällen wird diese ohne großen Aufwand gelingen; je handgreiflicher jedoch die Vagheitsprobleme in der Begriffsanwendung werden,51 desto größer wird bereits der vom einzelnen Akteur auf Grund seiner systemischen Vorprägung empfundene Konstruktionsaufwand.52

Die Eigenlogik des Rechtssystems ermöglicht damit eine sachgerechte Bewältigung von Vagheit; die Entscheidung im Grenzfall lässt sich begreifen und einordnen als rechtsspezifischer Konstruktionsakt, welcher – unter der Bedingung der Rechtsförmigkeit – seine Legitimation aus bloßer Notwendigkeit ziehen kann.53 Vagheit ist keine Bedrohung für


42 Vgl. Solan (Fn. 17), S. 73, 94.

43 Zur tradierten Methodik vgl. BVerfGE 122, 248, 283 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre. Eine Einführung in die Grundprobleme der Rechtswissenschaft, 1982, S. 166 ff., S. 176 ff., 182; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie5, 2010, Rn. 702.

44 Vgl. hierzu den Gedanken der „dogmatischen Anschlussfähigkeit“, etwa bei Voßkuhle, VVDStRL 62, 266, 283; zum Argumentationszwang im Rechtssystem s. Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstruktivistischer Sicht, 2010, S. 92; Poscher (Fn. 2), S. 32, scheint hierin bereits einen Beleg für die Autonomie des Rechts zu sehen.

45 Ähnlich Endicott (Fn. 3), S. 199.

46 Vgl. Endicott (Fn. 3), S. 201.

47 Vor allem eine kritische, nicht selbstherrliche Rechtswissenschaft sollte sich hierzu berufen fühlen.

48 Ähnlich Endicott (Fn. 3), S. 27, 36 f.; grundsätzlich zur begrenzten Reichweite einmaliger Sinnzuschreibung Lee, (Fn. 44), S. 171 f.

49 Bildet sich im Rechtssystem jedoch eine gleichmäßige Übung (jedenfalls im Sinne einer „allgemeinen Ansicht“) im Umgang mit einem Grenzfallproblem heraus, so kann dies gleichwohl zu solchen Wirkungen führen; ähnlich Sorensen, Legal Theory 7 (2001), 387, 399 f.

50 Zwar ist sprachliche Sinnzuschreibung grundsätzlich auch der im rechtlichen Konstruktivismus relevante Vorgang, vgl. etwa Lee (Fn. 44), S. 95. Als konstruktivistisch wird hier jedoch verstanden, dass in einem sozialen System Sinnzuschreibungen derart konstruiert werden können, dass sich darin allein die materielle Struktur des spezifischen Systems niederschlägt. Der Konstruktionsakt lässt sich lediglich nicht anders als sprachlich darstellen.

51 Vagheit lässt sich freilich nicht exakt messen, s. Endicott (Fn. 3), S. 91 ff., 203.

52 So steigt etwa bei intuitiv als besonders vage empfundenen Begriffen zumeist der juristische Argumentationsbedarf.

53 Vgl. hierzu Poscher (Fn. 2), S. 31 f.; mit dieser originär juristischen Rechtfertigung ist allerdings – wohl entgegen der Ansicht von Poscher – noch nicht belegt, dass Vagheit niemals eine Bedrohung für Rechtsstaatlichkeit darstellen kann; schließlich ist auch in einem Rechtssystem mit nur einer einzigen Norm der Art „Rechtsstreitigkeiten sind in einem fairen Verfahren einem angemessenen Ergebnis zuzuführen“ die dogmatische Anreicherung und daran anknüpfende Einzelfallentscheidung denkbar, obwohl ein solches System gerade auf Grund von Vagheit kein nach unserem Verständnis rechtsstaatliches wäre. Die Frage, ob mit Vagheit umgegangen werden kann, ist zu trennen von der Frage, in welchem Maße sie erträglich ist.

Lassahn, Vagheit im Recht (Teil II) (BLJ 2012, 52)57

Rechtsstaatlichkeit, sondern ein unumgänglicher Bestandteil der praktischen Funktionsweise von Sollensordnungen.

G. Vagheit als Wert

Wenn sich der Umgang mit Vagheit in der konkreten Entscheidungssituation rechtsstaatlich verteidigen und rechtssystematisch qualifizieren lässt, stellt sich noch die Frage, ob Vagheit überdies ein eigener Wert im Rechtssystem zukommt oder ob sie lediglich ein in Kauf zu nehmendes Übel ist.

Ein absoluter Wert kann ihr nur dann zukommen, wenn auch in einem idealen Rechtssystem, das die Möglichkeit hat, absolut präzise Begriffsdarstellungen zu verwenden, auf Vagheit zurückgegriffen würde. Dies ist allerdings nicht der Fall: In einem solchen System, in dem sich jeder Fall antizipieren und präzise vorentscheiden lässt, hat Vagheit keinen Platz. Weshalb sollte ein vager Begriff gewählt werden, wenn der Normgeber genau weiß, welche Fälle er wie behandeln will (also auch keine Unbestimmtheit der Ideen herrscht) und in der Lage ist, die entsprechenden Sollensbefehle absolut präzise darzustellen? Diese Einsicht ändert aber nichts daran, dass Vagheit ein relativer – nämlich an den Umständen unserer beschränkten Fähigkeiten zu bemessender – Wert zukommen kann.

So folgt bereits aus dem Umstand, dass bisweilen bewusst vage Begriffe vorgezogen werden, obwohl Präzisierungen möglich sind, ein – in strengem Sinne – relativer Wert von Vagheit. Zwar lässt sie sich auch als bloßer Nebeneffekt sprachlicher Abstraktion begreifen – je größer die Chance für eine sachgerechte und präzise Taxonomie ist, desto weniger spielt Vagheit schließlich eine Rolle.54 Dennoch kommt es auf Grund der Unbestimmtheit gesetzgeberischer Vorstellungen bisweilen ja gerade darauf an, die Bedeutungsgrenzen nicht vorzugeben, sondern dem Richter einen Freiraum zu belassen. Die bereits angedeutete Delegationsfunktion von Vagheit,55 sorgt dafür, dass die Entscheidung im Grenzfall von besser informierten (schon weil näher am konkreten Fall arbeitenden) Akteuren getroffen werden kann.56 Diese Wirkung schafft tatsächlich erst die Eigenschaft der Grenzenlosigkeit eines Begriffes, mithin seine Vagheit. So ist im Fall der Millionen Annahmen zwar das abstrakte Prinzip klar (Schutz des Antragenden)57 , dennoch kann die Grenzenlosigkeit des dieses Prinzip verkörpernden Begriffes („sofort“) als davon abgetrennt begriffen werden. Erst sie eröffnet dem Richter einen Entscheidungsspielraum. Vagheit kann folglich durch Verlagerung des notwendigen Willküraktes vom Gesetzgeber auf den Richter der materiellen Einzelfall-gerechtigkeit Vorschub leisten.58

Teilweise wird Vagheit darüber hinaus ein Wert beigemessen, da vage Gesetzes- oder Vertragsformulierungen konsensfähiger seien als präzise Bestimmungen und so die Entscheidung über umstrittene Fragen vertagen und Konflikte verbergen könnten.59 Zwar kann auch die Wahl solcher Begriffe, deren Dekodierung lediglich ein gewisses Maß an Recherche erfordert (mithin lediglich für relative Grenzfälle anfällige Begriffe), zur Konfliktverschiebung beitragen. Es ist jedoch einzusehen, dass dies durch vage Begriffe noch besser gelingen kann, wobei dann zu fragen ist, ob in der bloß zeitlichen Verschiebung von Konflikten ein hinreichender Wert zu sehen ist. Mit der Überlegung, dass Konflikte mitunter eine lediglich scheinbare Relevanz für die involvierten Parteien haben und ein Streit grundsätzlich nur dann ausgefochten werden sollte, wenn es unausweichlich ist, lässt sich dies bejahen. Vagheit trägt also – nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht – zur Kostenminimierung durch Entlarvung von Scheinkonflikten bei.60

Zudem wird Vagheit teilweise ein Wert beigemessen, weil vage Rechtsbegriffe geeignet seien, die Akteure im Rechtssystem und vor allem Normadressaten zum Nachdenken über die hinter den vagen Begriffen stehende Problematik anzuregen.61 Dies ist allerdings nicht ohne weiteres nachvollziehbar, da eine solche Anregung auch denkbar ist, wenn Begriffe allein für relative Grenzfälle anfällig sind. Anregung zum Nachdenken wird bereits durch prima facie – Unbestimmtheit geschaffen; Vagheit wird zur Erklärung dieses Effekts nicht benötigt. Ähnliches gilt für die gelegentlich zu findende Behauptung, Vagheit erhöhe die allgemeine Rechtstreue, da sich der Normadressat nicht sicher sein könne, ob sein Verhalten von der fraglichen Vorschrift erfasst werde oder nicht,62 sowie für den Gedanken, dass vage Regeln die Kreativität der Adressaten zur Erreichung von Normkonformität steigere.63 Der Verweis auf Rechtstreue erscheint zirkulär, da im Grenzbereich – zumindest ex ante – ja gar kein Sollen ermittelbar ist und ein „Überschießen“ in die eine wie in die andere Richtung schaden kann. Die Förderung vorauseilender Normkonformität ist zumindest im entwickelten Rechtsstaat nicht per se wünschenswert.64

Es ist damit festzuhalten, dass Vagheit im Recht jedenfalls ein relativer Wert zukommt. Dieser ergibt sich erstens bereits daraus, dass wir Vagheit benötigen, um richterlichen Entscheidungsfreiraum zu erklären und auf Präzision bisweilen auch dann bewusst verzichten, wenn sie möglich ist. Zweitens beruht der relative Wert darauf, dass Vagheit zur Entlarvung von Scheinkonflikten beitragen kann.

H. Fazit

Vagheit ist nach alldem ein notwendiger Bestandteil des Rechts; ihre Bewältigung im rechtlichen Entscheidungsprozess lässt sich am besten als spezifisch juristische Konstruktion begreifen. Sie stellt in Maßen und bei rechtsförmiger Behandlung keine Bedrohung für Rechtsstaatlichkeit dar. Darüber hinaus kommt ihr im Rechtssystem jedenfalls ein relativer Wert zu.


54 Sorensen, Legal Theory 7 (2001), 387, 406; in diese Richtung wohl auch Poscher (Fn. 2), S. 33 f.

55 Endicott (Fn. 35), S. 27, 42 f.; s. auch Sorensen, Legal Theory 7 (2001), 387, 396 ff.

56 Schäfer/Ott (Fn. 32), S. 118.

57 Kramer, in: Rebmann/Säcker/Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. I, 1. Halbbd.5, 2005, § 147 Rn. 1.

58 In der Relativität dieser Nützlichkeit mag man eine Ausprägung des Radbruch’schen Spannungsverhältnisses zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit erblicken, vgl. Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie², 1959, S. 32 f.

59 Poscher (Fn. 2), S. 34 ff., unter Hinweis auf Carl Schmitts Ausdruck vom dilatorischen Formelkompromiss.

60 Auch hierin kann kein absoluter Wert von Vagheit gesehen werden. Denn in der absolut präzisen Idealwelt existieren keine bloßen Scheinkonflikte. Hier zeigt sich allerdings die begrenzte Leistungsfähigkeit der Hilfskonstruktion einer solchen Idealwelt.

61 Poscher (Fn. 2), S. 37.

62 Abl. auch Sorensen, Legal Theory 7, 387, 410 f.

63 Endicott (Fn. 35), S. 27, 43 f.

64 Zudem können sich Private durch vage Standards zu exzessiven Kosten genötigt sehen, um Konformität sicherzustellen, vgl. Cooter/Ulen, Law and Economics6, 2012, S. 222.