Ein Bericht von der 52. Assistententagung
von Jan Sturm*
Seit 1961 führt die Assistententagung Öffentliches Recht nichthabilitierte Wissenschaftler im öffentlichen Recht zusammen, vom 13. bis zum 16. März 2012 war Hamburg der Tagungsort. Diesmal nahmen an der „kleinen Staatsrechtslehrertagung“ etwa 250 Juniorprofessorinnen, Assistentinnen und Wissenschaftliche Mitarbeiter teil. Ein heterogenes Teilnehmerfeld: Manch einer hat die Entscheidung für den Wissenschaftsberuf längst getroffen, viele schnuppern erstmals herein, wieder andere erleben die Tagung noch einmal mit, bevor sie mit Referendariat, Justizdienst oder Anwaltstätigkeit beginnen.
Veranstaltet wurde die Tagung durch ein sechzehnköpfiges Organisationsteam von drei Hochschulen, nämlich der Universität Hamburg, der Helmut-Schmidt-Universität und der Bucerius Law School. Gerade darum war es ein schöner Gedanke, die Veranstaltung unter das Generalthema „Kollektivität“ zu stellen.
I. Kollektivität als Thema
„Kollektivität“ weist eine Qualität auf, die ein gutes Tagungsthema braucht: Vagheit. Der Begriff ist offen für vielerlei Assoziationen und reich an Facetten, die beleuchtet werden wollen, sei es aus nationaler verwaltungs- oder verfassungsrechtlicher Sicht, sei es aus europäischer oder völkerrechtlicher Perspektive. Kollektivität kann man als Gegenbegriff zur Individualität mit dem Gemeinwohl assoziieren, das Kollektiv lässt sich aber auch als vielgestaltige Größe zwischen dem Einzelnen und der Allgemeinheit verstehen. Die zu sechs Querschnittsthemen1 zusammengefassten dreizehn Referate zeichneten sich daher durch ganz unterschiedliche Zugriffe aus, die von der Analyse des dogmatischen Details über den informierenden Überblick bis hin zum Grundsatzbeitrag mit innovativer These reichten. Mehrere Redner blickten in die Ökonomie oder Sozialwissenschaften (Kaupa, Schnelle, Haversath), andere nahmen Impulse aus anderen Ländern (Hailbronner, Schaarschmidt) oder den Grundlagenfächern (Burchardt) auf.
„Kollektivität“ ist auch geeignet, Misstrauen zu wecken. „Niemand hat die Absicht, das subjektive öffentliche Recht abzuschaffen“, versicherte daher Mitveranstalter Stefan Martini dem Auditorium gleich zu Beginn. Die grundsätzlichste Behandlung und Infragestellung von Kollektivität nahm Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in ihrer Festrede vor. Im wissenschaftlichen Programm fehlte die Grundsatzkritik, die Arbeit am einzelnen Themenaspekt stand im Vordergrund.
II. Tagungsbericht als Kollektion
Eine etymologische Verwandte des Kollektivs2 ist die Kollektion. Als Tagungsbericht, als Sammlung von Kurzfassungen der Referate, hat sie den Sprung in den Formenkanon der Wissenschaftsliteratur geschafft. Ihre Berechtigung ist freilich prekär, nimmt doch der Interessierte an der Tagung selbst teil oder versichert sich mithilfe des Tagungsbandes3 der vorgestellten Ideen. Der nachfolgende Überblick mag immerhin andeuten, in welche Richtung die vielfältigen Überlegungen auf der 52. Assistententagung gingen.
Ganz grob ließen sich inhaltlich zwei Gruppen von Beiträgen unterscheiden: Während manche Vortragende Kollektivinteressen als Gegenstand rechtlicher Regelung betrachteten, widmeten sich andere Kollektiven als Akteuren im Recht. Aufmerksamkeit erfuhren dabei natürlich die Phänomene und Trends, die sich vom vertrauten Normalfall unterscheiden, der sich für Deutschland mit wenigen undifferenzierten Strichen wie folgt skizzieren lässt: In der repräsentativen Demokratie obliegt die Gemeinwohldefinition zuvorderst dem Parlament. Subjektive Rechte Einzelner setzen dem rechtlichen Gestalten von Legislative und Exekutive Grenzen, deren Einhaltung der Einzelne in einem auf Individualrechtsschutz und Inhaltskontrolle ausgerichteten Rechtsschutzsystem erzwingen kann. International ausgelöste Anpassungs- und Lernprozesse stärken demgegenüber die prozeduralen Elemente im deutschen Recht.
1. Kollektivinteressen als Gegenstand rechtlicher Regelung
a) Wie reagiert das Recht, wenn Kollektivinteressen mit anderen Interessen in Widerstreit geraten? Benjamin Rusteberg (Freiburg)4 untersuchte den Konflikt zwischen Gemeinwohl und den Grundrechten des Grundgesetzes. In seinem Vortrag unternahm er einen Angriff auf die herrschende Grundrechtstheorie und -dogmatik: Ein Verständnis der Grundrechte als Werteordnung und die fast umfassende Möglichkeit, Grundrechte und gegenläufige Gemeinwohlbelange in eine Abwägung einzustellen, stelle Grundrechte unter einen Gemeinwohlvorbehalt. In der Abwägung bestehe eine strukturelle Disbalance zum Nachteil der Individualposition. Nachdem Rusteberg Korrekturversuche innerhalb des Abwägungsmodells verworfen hatte, setzte er ein Modell dagegen, in dem die Grundrechte wohldefinierte „Trümpfe“5 (statt weiter Abwägungstopoi) sind und in einem kategorialen Unterscheid zum Gemeinwohl stehen. Diese Grundannahme setzte er in Grundrechtsdogmatik um, indem er vorschlug, den grund-
* Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Commerzbank Stiftungslehrstuhl Grundlagen des Rechts bei Prof. Dr. Christian Bumke (Bucerius Law School, Hamburg).
1 Sie lauteten: I. Kollektivinteressen in der Abwägung – eine Dekonstruktion (Referate von Rusteberg und Kaupa); II. Die Einbeziehung des Kollektiven – Akteure (Hailbronner, Günzel, Schaarschmidt); III. Die Einbeziehung des Kollektiven – Verfahren (Müller, Ricke); IV. Kollektivität als Motor dogmatischer Innovation (Schnelle, Burchardt); V. Alle für einen – Einstandspflichten aus Solidarität? (Haversath, Kümper); VI. Tyrannei der Mehrheit – Macht der Minderheit (Häcki, Lehner).
2 Die Wörter ,Kollektiv‘ und ,kollektiv‘ leiten sich vom lateinischen collectivus ab, was so viel wie ,angesammelt‘ bedeutet.
3 Der Tagungsband soll noch in diesem Jahr im Nomos-Verlag erscheinen.
4 Grundrechtsdogmatik als Schlüssel für das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft.
5 Rusteberg machte hier Anleihen bei Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously (1977); A Matter of Principle (1985).
rechtlichen Gewährleistungsgehalt als Kategorie der Schutzbereichsbestimmung hinzuzunehmen. Für das einzelne Grundrecht sei vor dem Hintergrund der historischen Gefährdungslage, auf die es reagiere, ein objektiver Freiheitsbegriff zu entwickeln. Art. 2 Abs. 1 GG fungiere ergänzend als Gewährleistung formaler Freiheit.
Clemens Kaupa (Wien)6 sezierte die Abwägung als dominante Methode in der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten. Auf der einen Seite die Grundfreiheiten als (ökonomische) Individualinteressen, auf der anderen (nichtökonomische) Gemeinwohlinteressen als mögliche Rechtfertigungsgründe einer Grundfreiheitseinschränkung – von dieser Dichotomie gehe der EuGH aus. Nach Kaupa ist diese Zweiteilung aber irreführend: Jede Seite sei sowohl als Individual- wie als Gemeinwohlinteresse reformulierbar. Die Konfliktlösung bedürfe einer Metatheorie, die sich den Europäischen Verträgen jedoch nicht entnehmen lasse. Die substantiellen Regulierungsfragen entscheide daher häufig der EuGH und damit eine juristische Funktionselite. Kaupa fragte in seinem gedankenreichen Vortrag danach, ob sich dadurch nicht ein demokratisches Defizit auftue, und prüfte die Möglichkeiten, die substantiellen Ordnungsfragen legislativ zu beantworten. Ein Positivbeispiel sah er in der Rechtsprechungslinie des EuGH zu Sozialversicherungen7 , in der der Gerichtshof Toleranz gegenüber den verschiedenen mitgliedstaatlichen Regelungssystemen übt (und sowohl marktförmig als auch solidarisch strukturierte Systeme akzeptiert), wobei er die von den nationalen Parlamenten getroffenen Entscheidungen auf Konsistenz überprüft.
Thorsten Ricke (Münster)8 gab einen Überblick über das Netzausbaubeschleunigungsgesetz (NABEG) und zeigte, auf welche Weise dieses Gesetz bei der Verfolgung des gesamtgesellschaftlichen Interesses an einem schleunigen Ausbau der Stromnetze die Interessen von organisierten Kollektiven (etwa Gemeinden, BUND) und unorganisierten Kollektiven (z.B. künftigen Generationen als fiktivem Kollektiv) einbindet. Nach Ricke erfüllt das NABEG weitgehend die Anforderungen, die man an einen guten gesetzlichen Interessenausgleich stellen kann. Problematisch sei die Ausgestaltung der Möglichkeit, dass Gemeinden mit Energieversorgern Kompensationszahlungen für den Ausbau im Gemeindegebiet vereinbaren, da hier weder eine finanzielle Beteiligung der betroffenen Kollektive noch eine Zweckbindung der Zahlungen vorgesehen sei.
b) Kollektiver Verbundenheit als Regelungsgegenstand und -struktur widmeten sich ebenfalls drei Vorträge. Eva Marie Schnelle (Berlin)9 unternahm es, die bislang wenig untersuchten juristischen Bezüge der Commons-Theorie von Elinor Ostrom10 näher zu beleuchten. Ostrom schaffte es mit ihrer Untersuchung von Allmenden (wie z.B. gemeinschaftlich genutzten und nichtstaatlich verwalteten Almwiesen), design principles für eine erfolgreiche Bewirtschaftung gemeinschaftlich verwalteter rivaler und nicht exklusiver Güter herauszuarbeiten und so die bis dahin vorherrschende Vorstellung von der „Tragik der Allmende“ (Hardin)11 zu widerlegen. Schnelle fragte danach, welche eigentumsrechtliche Zuordnung den Allmende-Gütern angemessen sei und ob nicht die (vom Gesetzgeber vorzunehmende) positive Zuschreibung eines selbstständigen kollektiven Eigentumsrechts, das zu bestimmten Nutzungen und Gestaltungen berechtige, für die Gütererhaltung förderlich sei. Zudem widmete sie sich den Verwaltungsstrukturen für Commons und wies einer rechtswissenschaftlichen Begleitung die Aufgabe zu, ein ausreichendes demokratisches Niveau einer polizentralen Governance der Commons sicherzustellen.
Peter Haversath (Berlin)12 untersuchte, inwieweit Solidarität als Rechtsprinzip verwendet werden kann. Eine Solidargemeinschaft beschrieb er als Gemeinschaft von Gleichen, die bei unverschuldeter Notlage (Solidarfall) voneinander Beistand erwarten, wofür beispielhaft die Versicherung stehe. Solidarität wirke dabei auch prohibitiv, schließe also Unterstützung außerhalb des Solidarfalls aus. Inwieweit kann ein so verstandenes Solidaritätsprinzip nun als Rechtsprinzip wirken? Und wo ist im geltenden Recht ein solches Prinzip nachweisbar? Haversath nahm an, dass Solidarität grundsätzlich der Verrechtlichung zugänglich sei. Im positiven Recht verneinte er jedoch auf verfassungsrechtlicher Ebene die Existenz eines umfassenden Solidaritätsprinzips, das über die Summe grundrechtlich geschützter Ausprägungen des Solidaritätsgedankens (wie die – wenn auch nur schwach geschützte – freie Verbandsbildung oder die gleichheitsrechtlichen Direktiven für die Ausgestaltung von Sozialversicherungssystemen) hinausgeht. Demgegenüber nahm Haversath auf Unionsebene die Existenz eines integralen Solidaritätsprinzips an, das integrationsfördernd wirke. Zu seiner vollständigen Erfassung seien auch die prohibitiven Gehalte zu beachten, die sich etwa in dem Bailout-Verbot zeigten.
Nach der Bedeutung von Individualität und Kollektivität als Grundlagen der Staatshaftung fragte Boas Kümper (Münster)13 . Während Kümper unter Individualität die Rechtsstellung des Einzelnen (vornehmlich den Kreis seiner subjektiven Rechte) verstand, diente ihm Kollektivität als Sammelbegriff, unter den er einerseits die durch Staatshaftung beförderten Gemeinwohlbelange (Rechtsstaatlichkeit, Steuerungsfunktion des Haftungsrechts), andererseits Solidarität fasste. Kümpers Analyse führte zu dem Schluss, dass der Solidaritätsgedanke im Staatshaftungsrecht nicht verwirklicht werde, während gemeinwohlbezogene überindividuelle Elemente zwar durchaus bedeutsam seien, nicht aber als selbstständig haftungsbegründende Faktoren begriffen werden könnten. Rechtspolitisch empfehle sich eine verstärkte Aufnahme kollektiver Elemente in das Staatshaftungsrecht nicht.
2. Kollektive als Akteure im Recht
a) Die Frage, inwieweit Kollektiven Rechtsfähigkeit eignet, ist dort interessant, wo Personenmehrheiten nicht in den bekannten Formen, insbesondere als juristische Person, verfasst sind. Ein besonderes Kollektiv als potentielles
6 Juristische Eliten und kollektives Interesse – die irreführende Dichotomie von Marktfreiheiten vs. Allgemeininteressen im Binnenmarktrecht.
7 U.a. EuGH, Urteil vom 17.02.1993, Rs. C-159/91 – Poucet und Pistre; Urteil vom 16.11.1995, Rs. C-244/94 – FFSA.
8 Lösungsstrategien für das kollektive Konfliktpotential von Energiewende und Netzausbau – Instrumente, Effektivität und Rechtmäßigkeit des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes.
9 Commons – Die Neuerfindung der Allmende: Rechtliche Aspekte einer kooperativen Verwaltung von Gemeingütern.
10 Governing the Commons (1990). 2009 erhielt Ostrom den Wirtschaftsnobelpreis.
11 Garrett Hardin, The Tragedy of the Commons, Science 162 (1968), pp. 1243-1248.
12 Das Solidaritätsprinzip im Recht: Gegenseitige Verbundenheit als Grund und Grenze hoheitlichen Handelns.
13 Individualität und Kollektivität im Recht der öffentlichen Ersatzleistungen.
Rechtssubjekt nahm Dana Burchardt (Berlin)14 in den Blick – die zukünftigen Generationen. Da sie sich von der Verleihung von Rechtssubjektivität einen effektiveren Schutz des Interesses künftiger Generationen an der Nachwelterhaltung verspricht, unternahm sie es, zunächst die rechtstheoretische Denkmöglichkeit darzulegen, künftige Generationen als Rechtssubjekt anzuerkennen. Der Schwierigkeit, die Gesamtheit der Interessen künftiger Generationen zu bestimmen, begegnete Burchardt mit der Reduktion auf die Anerkennung von eindeutig bestimmbaren Grundbedürfnissen wie dem Interesse an Existenz, Nahrung oder Wasser, die die gegenwärtige Generation zu achten habe. Für diese rechtstheoretisch konstruierbaren Rechte sieht Burchardt bereits im geltenden Völkerrecht eine Grundlage: Das Prinzip der intergenerationellen Gerechtigkeit lasse sich so konkretisieren, dass es die Generation als Rechtssubjekt konstituiere, während das Prinzip der nachhaltigen Ressourcennutzung die generationellen Rechte inhaltlich bestimme.
Einen umfangreichen Katalog an Gruppenrechten enthält die African Charter on Human and Peoples’ Rights (Banjul Charter), die vor dem Hintergrund von Kolonialerfahrungen, Zukunftsängsten afrikanischer Staaten und einem andersartigen Grundverständnis des Verhältnisses zwischen Individuum und Gemeinschaft zu begreifen ist. Zu der Charta hat die African Commission on Human and Peoples’ Rights eine stetige, allerdings bislang wenig beachtete Praxis an Empfehlungsaussprüchen entwickelt. Julia Schaarschmidt (Halle)15 stellte diese Spruchpraxis vor; sie warb damit für die Bereitschaft, Afrika auch einmal als Vorbild zu begreifen und das Kollektiv als Rechtssubjekt stärker zu beachten.
b) Kollektive treten zuweilen als Akteure in staatlichen Verfahren auf – seien es Verbände als Repräsentanten von überindividuellen und häufig ideellen Interessen, sei es die einbezogene Öffentlichkeit. Einen internationalen Trend hin zu einer verstärkten Einbeziehung kollektiv organisierter Interessen in staatliche Prozesse jenseits der parlamentarischen Parteiendemokratie diagnostizierte Michaela Hailbronner (Berlin)16 – als Beispiele führte sie die Public Interest Litigation in Indien an, die notice an die Öffentlichkeit bei legislativer Tätigkeit US-amerikanischer agencies und die Öffentlichkeitsbeteiligung im südafrikanischen Gesetzgebungsverfahren. Demgegenüber sei in Deutschland, vor dem Hintergrund einer Ausrichtung auf inhaltliche Richtigkeit, die Einbeziehung kollektiver Akteure selten und ihre Missachtung zudem schwach sanktioniert. Zur Nachahmung empfahl Hailbronner eine offene Öffentlichkeitsbeteiligung an parlamentarischer und exekutiver Rechtsetzung, die durch eine isolierte prozedurale Kontrolle von exekutiven Normierungsentscheidungen und deren Begründung effektiviert werden sollte.
Angelika Günzel (Trier)17 widmete sich Art. 11 Abs. 2 EUV. Die Vorschrift sieht vor, dass die Unionsorgane einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft pflegen. Gibt es einen Demokratiezuwachs durch einen solchen Dialog? Günzel bewertete den Dialog zwar als grundsätzlich geeignetes Mittel der Demokratieförderung, doch sah sie noch nicht gewährleistet, dass die Dialogpartner für die europäische Gesellschaft repräsentativ seien. Es drohe, dass die Unionsorgane selbst selektiv darüber entschieden, wer als repräsentativ gelte. Verbesserungsbedürftig sei auch die Transparenz des Dialogs.
Bilun Müller (Dublin)18 stellte in ihrem Vortrag am Beispiel der Trianel-Entscheidung des EuGH19 dar, welcher Anpassungsdruck vom Unionsrecht auf das deutsche Verwaltungsprozessrecht ausgeht. Das Europarecht verlangt nämlich in weitem Umfang, dass Umweltverbände die Möglichkeit erhalten, umweltrechtliche Zulassungsentscheidungen wegen fehlerhafter Öffentlichkeitsbeteiligung gerichtlich anzugreifen. Diese weite Rechtsschutzeröffnung entspricht nicht der deutschen Tradition mit ihrer Fokussierung auf das subjektive öffentliche Recht, das über Klagebefugnis und gerichtlichen Kontrollumfang entscheidet. Müller zeigte auf, inwiefern auch § 2 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 UmwRG keine vollkommene Umsetzung europarechtlicher Vorgaben darstellt, und mahnte eine Änderung des UmwRG an.
c) Ein besonderes Kollektiv stellt das Wahlvolk dar, das seine Interessen scheinbar unvermittelt verwirklichen kann, wenn es durch Plebiszite Sachfragen entscheidet. Mehrheitswillen und Minderheitenschutz können gerade hierbei kollidieren. Rafael Häcki (Bern)20 präsentierte Charakteristika des Schweizer Modells, einer auf Ausgleich bedachten Demokratie. Art. 139 der Schweizerischen Bundesverfassung eröffnet die Möglichkeit, die Verfassung per Volksentscheid zu ändern. Die einzige materielle Schranke solcher Teilrevisionen der Verfassung stellt derzeit die Verletzung zwingenden Völkerrechts dar, was in letzter Zeit verstärkt zu dem Problem der Grundrechte (oder nicht zwingendes Völkerrecht) verletzenden Volksinitiative geführt hat.21 Die Lösung für die dadurch aufgeworfenen Probleme sieht Häcki nicht in engeren Gültigkeitskriterien für eine Teilrevision und auch nicht allein in der Einführung einer materiellen Vorprüfung mit Empfehlungscharakter. Vielmehr solle eine Kollisionsnorm in der Verfassung den Vorrang der Grundrechte und rechtsstaatlicher Grundsätze sichern, deren Durchbrechung nur bei ausdrücklicher Anordnung im Initiativtext möglich sei. So würden die demokratischen Rechte gestärkt (der Bürger wisse, wofür er abstimme), der ausdrücklich als grundrechtsverletzend intendierten Initiative könne und solle im politischen Diskurs entgegengetreten werden.
Auch Roman Lehner (Göttingen)22 widmete sich in seinem geschliffenen Vortrag den Elementen direkter Demokratie, die in den Landesverfassungen der deutschen Bundesländer vorgesehen sind. Die Volksgesetzgebung problematisierte er verfassungstheoretisch in mehrfacher Hinsicht: Zum einen zeigte er eine Dominanz privilegierter kampagnenfähiger Gruppen auf, die über die Formulierung der Abstimmungs-
14 Zukünftige Generationen – Träger kollektiver Rechte?
15 Gruppenrechte als Menschenrechte? Erkenntnisse aus dem afrikanischen Völkerrecht.
16 Wer hat Angst vorm Kollektiv? Deutsche Erscheinungen von Kollektivität im internationalen Vergleich.
17 Der Dialog mit repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft: Eine Stärkung der Demokratie in der Europäischen Union?
18 Die Öffentlichkeitsbeteiligung im Recht der Europäischen Union und ihre Einwirkungen auf das deutsche Verwaltungsprozessrecht.
19 EuGH, Urteil vom 12.05.2011, Rs. C-115/09 – Trianel.
20 Das Volk hat immer Recht? Grundrechtsverletzende Volksinitiativen als Herausforderung für eine auf Ausgleich bedachte Demokratie.
21 Am bekanntesten die Initiative „Gegen den Bau von Minaretten“, die 2009 zur Einführung des Art. 72 Abs. 3 BV führte: „Der Bau von Minaretten ist verboten.“
22 Direkte Demokratie und Gruppenrechte – Probleme der Kollektivierung individueller Partizipation in plebiszitären Rechtsetzungsverfahren.
frage die Individualpartizipation in der Abstimmung anleiten und aufgrund einer Selbstselektion der Unkundigen (Merkel/Petring)23 auch die Abstimmung beherrschen. Zum anderen beeinträchtige die permanente Gruppendemokratie die Funktion der Legislaturperiode als „Ruhezeit des demos“ (Lehner). Lehner zeigte eine Vielzahl von Möglichkeiten auf, Volksgesetzgebungsverfahren besser in die Mechanismen parlamentarischer Repräsentation zu integrieren.
III. Kolloquium und Kolorit
Das dreitägige wissenschaftliche Programm fand je einen Tag an den beteiligten Hochschulen statt und war eingefasst in einen festlichen Rahmen, zu dem unter anderem Richterin am EGMR Angelika Nußberger mit ihrem Festvortrag24 beitrug. Ein reiches Freizeitangebot mit Hafenrundfahrt und Abschlussfeier im Hotel Hafen Hamburg rundete die Tagung ab. Die nächste Assistententagung wird 2013 in Bern stattfinden, dann zu dem Thema: Das letzte Wort. Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie.
Als persönliches Fazit bleibt: Ein einheitliches Bild von Kollektivität als rechtlicher Kategorie hat sich bei mir nicht eingestellt, vielmehr der Eindruck einer Vielfalt von Entwicklungen und Ideen, die insgesamt freundlich und offen diskutiert wurden. Großes Lob gebührt den Veranstaltern für die hervorragende Organisation.
PS: Als anekdotischer Nachhall sei ein Buffetgespräch vom Eröffnungsabend geschildert, dessen Zeuge der Verfasser wurde. Es könnte zum Tagungsthema passen und einen Zusammenhang aufzeigen zwischen analytischer Beschreibung durch den Außenstehenden und habitueller Bestätigung durch das Kollektiv. Bundesverfassungsrichter a.D. Wolfgang Hoffmann-Riem, den man ebenfalls als Festredner gewinnen konnte, hatte soeben über neue Formen der Kollektivität im Internet gesprochen und gezeigt, wie das Netz das Recht durcheinander wirbelt.25 „Was digital natives sind, wussten wir nicht“, gestand man sich am Sektausschank. „Wir mussten das erst mal googeln.“
23 Vgl. Wolfgang Merkel/Alexander Petring, Partizipation und Inklusion, Demokratie in Deutschland 2011 – Ein Report der Friedrich-Ebert-Stiftung, http://www.demokratie-deutschland-2011.de/common/pdf/Partizipation_und_Inklusion.pdf, S. 23.
24 Auf der Suche nach einem europäischen Konsens – zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
25 Neue Kollektivität – wie das World Wide Web das Recht durcheinander wirbelt.