Editorial: „Flashmob“ als zulässiges Arbeitskampfmittel? Bundesarbeitsgericht auf Abwegen!

von Professor Dr. Matthias Jacobs*

Das Bundesarbeitsgericht hat in über 50 Jahren im Wege richterlicher Rechtsfortbildung ein weithin stimmiges Arbeitskampfrecht entwickelt, das die Tarifpraxis bislang in großem Umfang befriedet hat. Ausreißer, bei denen der rechtspolitische Gestaltungswille überwog, waren in der Vergangenheit selten. Zu nennen sind etwa die unseligen Entscheidungen über Aussperrungsquoten, die der für das Arbeitskampfrecht zuständige 1. Senat später nicht mehr aufgegriffen hat, über den verhandlungsbegleitenden „Warnstreik“, den er heute jedenfalls terminologisch nicht mehr so bezeichnet, oder über die suspendierende „Betriebsstilllegung“, die es dem Arbeitgeber im Umfang des Streikbeschlusses ermöglicht, die Vergütungspflicht gegenüber Streikbrechern und vor allem Außenseitern zu suspendieren.

Seit einiger Zeit werden die Ausreißer indessen zum Regelfall: Ein Urteil von 2003 erlaubt die Einbeziehung von Außenseiterarbeitgebern in den Verbandsarbeitskampf, und zwei Entscheidungen aus 2007 erklären zuerst den Streik um den sogenannten „Tarifsozialplan“ und sodann den Sympathiestreik (neuerdings: Unterstützungsstreik) entgegen der bislang herrschenden Meinung für grundsätzlich zulässig. Der vorläufige Schlusspunkt in dieser Reihe ist ein Urteil des 1. Senats vom 22.9.2009. Sogenannte „Flashmob“-Aktionen als streikbegleitende Maßnahmen sind seither „nicht generell unzulässig“. Sie sind nach Auffassung des Senats als koalitionsspezifische Verhaltensweise von der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Betätigungsfreiheit der Koalitionen umfasst. Einzige Grenze der nunmehr in den Mittelpunkt gerückten freien Kampfmittelwahl soll der – ebenfalls modifizierte – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sein: Der Arbeitskampf ist nur rechtswidrig, wenn die Kampfmaßnahme offensichtlich ungeeignet, offensichtlich nicht erforderlich oder unangemessen ist: beim „Flashmob“ für den 1. Senat alles kein Problem.

Worum ging es? Ver.di hatte mehr als ein Jahr lang erfolglos den Einzelhandel bestreikt – erfolglos vor allem, weil sich nur wenige Arbeitnehmer an dem Streik beteiligten, außerdem wurden die wenigen Streikenden vom Arbeitgeber durch Zeitarbeitnehmer ersetzt. Daraufhin rief die Gewerkschaft per SMS und Internet „Gewerkschaftsmitglieder und alle, die uns unterstützen wollen“, in eine Einzelhandelsfiliale, wo einige Dutzend Personen eine Dreiviertelstunde lang wahllos „Pfennigartikel“ in 40 Einkaufswagen füllten und diese an den Kassen stehen ließen. Eine Teilnehmerin erklärte nach dem Einscannen der Ware unter lautem Applaus der anderen Teilnehmer, sie habe leider ihr Portemonnaie vergessen.

Ein Editorial ist kein geeigneter Ort, um das Urteil zum „Partisanenkampf“ (Franz Josef Säcker), das wie schon die Entscheidung zum Unterstützungsstreik das Verhandlungsgleichgewicht weiter zu Lasten der Arbeitgeberseite verschiebt, und die neue Kampfrechtsdogmatik des 1. Senats insgesamt kritisch zu würdigen. Jedenfalls für den „Flashmob“ trifft es die Überschrift im Leitkommentar der F.A.Z. zu dem Urteil vom 22.9.2009 aber auf den Punkt: „Arbeitsrichter auf Abwegen“.

Zwar mag es keinen numerus clausus der Kampfmittel geben. Ein Handeln wird jedoch entgegen der Meinung des 1. Senats nicht alleine deshalb zum zulässigen Kampfmittel, weil es mit dem Ziel der Druckausübung zur Erzwingung eines Tarifvertrags erfolgt. Der historisch gewachsene Wesenskern des Arbeitskampfs besteht darin, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zurückzuhalten. Das folgt schon aus der Hilfsfunktion des Arbeitskampfs für die Tarifautonomie, die ihrerseits kollektiv ausgeübte Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien ist. Diesen Wesenskern haben die Gewerkschaften selbst bei „neuen“ Kampfformen wie zum Beispiel dem „Teilstreik“, dem „Wellenstreik“ oder dem „Unterstützungsstreik“ nicht in Frage gestellt. Beim „Flashmob“, an dem überwiegend und typischerweise Dritte teilnehmen, spielt die Zurückhaltung der Arbeitsleistung indessen keine Rolle. Er ähnelt in seiner Wirkung vielmehr der grundsätzlich


* Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Arbeits- recht und Zivilprozessrecht an der Bucerius Law School.

Jacobs, „Flashmob“ als zulässiges Arbeitskampfmittel? (BLJ 2010, 1)2

unzulässigen Betriebsbesetzung und -blockade. Beide werden allenfalls dann für zulässig gehalten, wenn Streiks wie zum Beispiel auf Hochseeschiffen typischerweise nicht möglich sind. Dass der Streikaufruf nicht ausreichend Gehör findet, ist demgegenüber eine durch den geringen Organisationsgrad und die unzureichende Mobilisierungsfähigkeit bedingte

„Marktschwäche“ der Gewerkschaft, die von Art. 9 Abs. 3 GG, der den Koalitionen keinen Kampferfolg garantiert, nicht kompensiert wird.

Hinzu kommt, dass Dritte, die zum betroffenen Arbeitgeber in keinem Arbeitsverhältnis stehen, sich ohnehin nicht auf den Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG berufen können. Da sie vom angestrebten Tarifabschluss nicht profitieren, sind sie auch nicht mit Außenseitern vergleichbar, die mitstreiken dürfen, weil sie am Tariferfolg typischerweise teilhaben. Damit hängt ein weiteres Problem zusammen: „Flashmobs“ verschieben die Kampfparität massiv zugunsten der Gewerkschaften. Anders als die Arbeitnehmer beim Streik tragen die Teilnehmer an „Flashmob“-Aktionen kein eigenes wirtschaftliches Risiko, da kein Verlust des Vergütungsanspruchs droht. Das für den Arbeitskampf typische Element der Selbstschädigung und seine kampfregulierende Wirkung fehlen. Umgekehrt erleidet der Arbeitgeber bei solchen Aktionen regelmäßig zusätzliche Schäden, etwa wenn kaufwillige Kunden wegen des „Flashmobs“ die Filiale verlassen. Den 1. Senat stört das nicht: Der Arbeitgeber könne sein Hausrecht ausüben oder den Betrieb (vorübergehend) schließen. Die dogmatisch zweifelhafte suspendierende „Betriebsstilllegung“ schadet als Reaktion auf einen

„Flashmob“ allerdings anders als beim Streik vorwiegend dem Arbeitgeber. Das Hausrecht hilft auch nicht weiter. In dem vom 1. Senat entschiedenen Fall dauerte der „Flashmob“ eine Dreiviertelstunde. Bis das Personal den Sinn der Aktion begriffen hatte, war diese praktisch schon beendet. Außerdem ist im Einzelfall vom Personal nicht präzise zu ermitteln, welche der „Kunden“ echte Käufer und welche Aktionisten sind.

Damit bleibt einziger Kontrollmaßstab der modifizierte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Er ist dem Arbeitgeber allerdings kein Trost, da der Senat der kampfführenden Gewerkschaft bei der Beurteilung der Erforderlichkeit und der Geeignetheit der Kampfmaßnahme eine Einschätzungsprärogative bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs zugesteht. Der Senat macht damit den Bock zum Gärtner:

„Flashmob“ ist erforderlich und geeignet, weil die Gewerkschaft ihn dafür hält. Damit bleibt die Angemessenheitsprüfung. Erst sie gestattet eine Berücksichtigung von Grundrechten des Arbeitgebers und arbeitswilliger Arbeitnehmer. Sie ist aber stark einzelfallbezogen und deshalb eine wenig justitiable Grenze.

Das letzte Wort in Sachen „Flashmob“ ist noch nicht gesprochen. Gegen das Urteil ist Verfassungsbeschwerde eingelegt worden. Man darf hoffen, dass Karlsruhe den 1. Senat auf den richtigen Weg eines ausgewogenen Arbeitskampfrechts zurückführen wird.